Philosophie des staates Phl10sophisches seminar

Philosophie des staates
Phl10sophisches seminar SS.1958
!.
Gegenstand der Philosophie des staates ist die Erkenntnis dessen,
was "staat" bedeutet. Sie sucht den "Sinn" des Staates zu erkennen. Die so
gestellte Sinnfrage wird uns nahegelegt durch die Erfahrung des konkreten,
geschichtlichen staates, insbesondere des staatep unserer Gegenwart. Darin,
'
dass die philosophische Frage nach dem staate an der Wirklichkeit des staates
erwacht, bewährt sich das allgemeine Prinzip der Bezogenbe it aller Philoso phie auf Erfahrung. Es ist der geschichtlich-koYikrtte staat, mit dem wir Uns
p:lltäglich"auseinanderzusetzen haben, der in uns die Frage nach dem Sinn
~nd Bedeutung des staates als solchen erweckt.
Die Philosophie des staates gehört in den Rahmen der Philosophie der
Existenz. Alle Philosophie des staates setzt eine Philosophie der Existenz
voraus. die im Hinblick auf die letzten Voraussetzungen und Grundlagen auch
der staatlichen Existenz zu einer wohl begründeten Erkenntnis gelangt iS~lJd
Alle po1itischenWirklichkeit ist be stimrnt und bewegt von Intentionen, l:n~
sie auf einen so oder so verstandenen Sinn des Staates' ausgerichtet ist. ln
der geschichtlichen Existenz des staates ist der Sinn des staates als solcher
aller Verkennung und Verkehrung seiner wahren Bedeutung ausgesetzt. Alle verkehrte Staatswirklichkeit ist aber.so zu verstehen, dass mit ihr der wahre
Sinn des St~es "gemeint" ist. Insofern ist alles geschichtlich-konkrete
Staatsleben intentional auf den Sinn des Staates ausgerichtet.- Die intentio.
nale Ausrichtung des politischen Lebens auf verfehlte staatsprinzipien und
/
über sie hinaus auf einen letzten, haltbaren Sinn des Staates gehört zur
existentiellen Wirklichkeit des geschichtlichen Staates, wie er in der Zeit
in die Erscheinung tritt. Durch die grundsätzliche Einbeziehung des Inten tionalen in die politische Wirklichkeit wird die Vorstellung eines in sich
geschlossenen "empirisch vorhandenen" Staates als unhaltbar erwiesen.
Der "Sinn" des staates ist ein prinzip des Seins, sowie ein Prinzip des
Sollens. Insofern als die geschichtliche Wirklichkeit des staates seinem
ursprünglichen Sinn gerecht wird, beruht er in seinem Sein auf eben diesem
sinngebenden Prinzipe. Insofern hingegen die geschichtliche Wirklichkeit
des Staates seinem ursprünglichen Sinn widerstreitet, bedeutet dces Prinzip
des Staates für den geschichtlichen Staat ein Sollen, ein Tv18..?s, eine Norm. Dassl: die po Ld t Ls cben.Int.errt
Ion in Einem auf ein Sein und ein Sollen des sinngebenden Prinzips des Staates ausgericbtet ist, kann auf die letzten Voraussetzungen der Existenzphilosophie zurückgeführt werden.
Wenn unsere staatsphilosophie grundsätzlich der Auseinandersetzung mit
dem geschichtlichen staat erwächst, dann bedeutet dies nicht, dass die Ge schichte der staaten in ihrer Totalität in ihrem Blickpunkte stehen müsse.
Aus der Geschichte der Auffassungen des stacatßs heben wir in bewusster Be..,.
schränkung das Pvoblem unseres demokratischen Staates heraus.- Wir werden
uns zwar zunächst mit derjenigen Bedeuttmgo:"staat" zu befassen haben, die
für alle Zeiten und Räume zurecht bestehen dürfte. Doch werden wir dazu übergehen, den Sinn der für uns aktuellen Wirklichkeit des gegenwärtigen, demokratischen staates in den Bereich unserer philosophischen Un te r-au chung zu
Zlenen.
•
1
11.
Bevor vJir auf die Frage der philosophischen Bedeutung des stacctes ein treten, setzen wir uns mit folgendem Probleme von grundsätzlicher Ordnung
auseinander: Wie verhält sich die Philosophie des St~es zu den Fragen der
aktuellen Politik, vor die sich der konkrete geschichtliche staat ges~ellt
sieht? Welche Tragweite hat diese Philosophie für die geschichtliche Gegenwart eines staates? - Zwischen der staatsphilosophie und den aktuellen Problemen des geschichtlichen staates scheint eine unübersteigbare Kluft zu
bestehen: Während die erstere den Anschein erweckt, sich in reinen PrÜlzipin
und Beg~'iffen und in zeitlosen Idealvostellungen zu ergehen, hat sich die
aktuelle Politik mit den harten Gegebenheiten der politischen Wirklichkeit
eines Landes in einer bestimmten Zei~e
auseinander zusetzen. Wir ~ewinnen
zunächst den Eindruck, dass die staatsphilosophie einer aktuellen beziehung
zum wirklichen Staatsleben entbehre.
Wir betreten nicht den platonisCh en Weg der Ausarbeitung des Begriffes
von einem S'taate, wie er "sein soll", also eines Idealstaates mit einer
Idealverfassung. Wir verzichten auch auf eine rationalistisch-naturrechtlicae
Konstruktion von staat und Recht, da sie nicht in der Lage ist, der Kontin genz des geschichtlichen St~es gerecht zu werden und sich seine Prolerne zu
eigen zu machen. Und wir gründen uns auch nicht in der Lehre Hegels von ei ner immanenten Vernunft des staates, durch die die konkrete Besonderung des
geschichtlichen StCit,esin das Eidetisch-Allgemeine, in den Bereich des "objektiven Geistes", aufgehoben wird.
Sache der staatsphilosophie ist es nicht, den Begriff des "richtigen staates" auszuarbeiten und von der Politik die Ausrichtung auf diesen Begriff
zu fordern. Dies würde zu einer "doktrinären" Staatsgesinnung führen. Aller
Doktrinarismus meint die pol~tischen Entscheidungen von festgelegten Begriffen aus vorwegnehmen zu dürfen.- Hier ist ein Fehler von grundsätzlicher
Bedeutung im Spiele. Es wird dem Eidos als solchem zugetraut, dass ihm Erkerm~
nis der Wirklichkeit zu entnehmen sei. So ist auch die staatsphilosophie
in Versuchung, dem Eidos eine für die politische Wirklichkeit schlechthin
wegweisende Bedeutung zuzuschreiben. Allein wir müssen davon absehen, dieSEr
Wirklichkeit in ideologischen Postulaten zu begegnen.
Der Staat ist ein Werk des Menschen. Wir finden uns vor in der Wirklich keit dieses Werkes, wie es sich in einem bestimmten Lande und zu besttmmter
Zeit darstellt. Diese Wirklichkeit stellt uns vor die Frage nach dem Sinn
und der Bestimmung unseres Staatswerkes. Der staatstheoretische Begriff und
das staatsphilosophische Prinzip ist an sich wohl geeignet, Sinn und Bestimmung dieses Werkes zu erhellen. Solche Erhellung bedeutet aber nicht die
Subsumption der politischen Wirklichkeit unter vorgegeben Begriffe und PrinT
zipien. Wir verstehen unter der philosophischen Erhellung unseres Staatswerkes vielmehr die Erkenntnis der politischen Wirklichkeit in ihrer intentio nalen Ausrichtung, sofern sich dieSle Intention durch Begriffe und Prinzipien
bestimmen lässt.
Die Frage der politischen Zielsetzung kann nicht durch das Geltendmachen
von zeitlosen Forderungen beantwortet werden. Die Erkenntnis des vveges, der
in der Vollführung des Staatswerks eingeschlgen werden soll, setzt eine Erkenntnis der geschichtlichen Ausgangslage voraus. Diese Lags erschöpft sich
nicht in einem Bestande von empirischen politischen Sachverhalten. Sie umfasst
die politische Wirklichkeit in ihren intentionalen Beziehungen. Je tiefer
die Intention eines bestimmten politischen Verhaltens erfasst wird, desto
näher rückt uns die Erkenntnis, auf welchem Wege der Staat unserer Geschichte
seiner Bestimmung am besten gerecht wird.
.111.
Wir treten an die Frage heran, worin wir die Wirklichkeit des staates Zu
erblicken hab~n. - Eine. naive .Aoff"b<$l1ung sieht ~en staat ~n der;.b~stirnmten _
~JIenschenverkorpert, - an denJ en rgen Menschen, an denen s Lch d Ie :::3taatsgewal
t
dar:?tellt. Gefährlicher ist die Vorstellung, dass die Gesamtheit der Menschen
eines bestimmten Bereiches in ihrem Zusam.mensein den staat ausmacht. Denh es
wird so die verfehlte Auffassung nahegelgt, dass die Menschen als solche dem
staate zugehören. Der staat darf aber nicht als eine Integration der Menacnai
eines bestimmten Bereiches aufgefasst werden. Denn vom Anspruch des staates
wird nicht ihre ExIstenzials solche erfasst. - Umgekehrt legen uns die modernen Verhältnisse nah e , den staat vor Rllem als eine technische Institution,
die sich einer weitverzweigten Apparatur bedient, ins Auge zu fassen. Diese
Versachlichung des staates ist ihrerseits abzulehnen. Der staat ist eine Angelegenheit der menschlichen Existenz.
Die Wirklichkeit des staates besteht in einem bestimmten menschlichen Wol len, das in einem bestimmten Handeln in Erscheinung tritt. Im Staate tritt
der Mensch in Sicht, sofern seine Existenz in einem bestimmten Wollen ihren
Inhalt findet. Wir haDen es also bei der Wirklichkeit des staates nicht mit
der Existenz der Menschen als solcher zu tun, sondern mit einer bestimmten Möglichke it der Aktualisierung menschlicher Existenz.
Auch das staatliche Wollen ist ein Wollen von I~inzelnen. Wohl besteht der
trügerische SChein, dass wir es hier mit einem kollektiven Wollen zu tun haben.
staatlictes Wollen trägt zwar das Merkmal, dass Viele dasselbe wollen. Die Ge- /'
meinsamkeit des Wollens liegt aber in seinem Gegenstande. Es sind auch im Staate die Einzelnen, die etwas wo Ll.en , indem sie weithin dasselbe wollen. - Hier
droht eine Mythologisierung des Staates, die geignet ist, das Verständnis unserer Existenz zu verfälschen. Wir eri'Dern an die Lehre vom "Mo L corrmun" und
vom "Volksgeiste ". Ein über den Einzelnen stehendes Subjekt staatlichen Wollen;
einen das Staß.tsgebäude tragenden Kollektivwillen oder eine hinter dem staatsleben wirksame staatspersönlichkeit metaphysischer Ordnung dürfen wir nicht
anerkennen. In der Abwehr einer IVfystifikationdes staates wenden wir uns gegen,
die von Hegel und der Romantik inspirierte Staatstheorie.- Die deutsche Staatsphilosophie darf uns nicht dazu verführen, im Staate ein Wollen höherer Ordnun,§
zu sehen. Im Bereiche geschichtlich-konkre-ter Existenz besitzt das staatliche
Wollen keine besondere, wohl gar metaphysische Tiefe.
Staatliches Wollen ist ein Wollen der Inanspruchnahme von menschlichem Wollen. Es will sich in einem bestirmnten Bereiche von menschlichem Wollen als
massg@bendes Wollen durchsetzen. Das so in Anspruch genomme:r.menschliche Wollen macht sich den Gegenstand staatlichen Wollens zu eigen.' Die Wirklichkeit
des staates wirkt sich aus in derjRN±g~ Relation desjenigen Wollens, das sich
durchsetzen will-, und desj enigen WOllens, in dem jener Wille sich durchsetzt,.Der Staat besteht in einer bestürmten Herrschaftsbeziehung. Denn "Herrschen"
bedeutet ein WOllen, das sich im Wollen von andern Menschen durchsetzen will
und kann. Die auf herrschaft Anspruch erhebenden Menschen nehmen menschliChes
Wollen für sich in Anspruch rnit der Zumutung, dass es sich ihrem eigenen WollEn
unterwirft. Sie stellen diese Zumutung in der Intention, das zugemutete Wollen
wenn nötig mit Gewalt durchzusetzen. Das staatliche Wollen will für einen Be reich von Menschen verbindlich sein und schliesst in sich den Willen zu einEr'
eventuellen Nötigung der von ihm in Anspruch genommenen Menschen.
IV.
Der staat ist ein Werk des Menschen, und zwar eines seiner grössten Werke.
Wir reden vom 11 Staatswerk" in dem Sinne, dass mit diesem Ausdruck in Einem ein
bestimmtes menschliches Wirken und dessen Wirkung gemeint ist (wie z.B. mit
"Elektrizitätswerk"). Der staat ist eine Betätigung, sofern sie sich in bestimm
ten Tatbeständen auswirkt. Er ist "Institution", als eine Einheit von schaffen- '
der Tat und geschaffenem Tatbestand.- Das "Werk" oder die "Institution" des
modernen Staates stellt sich äusserlich dar in einer weitverzweigten, riesigen
APparatur, in technischen Einrichtungen, die der staatlichen Wirklichkeit weithin das Gepräge geben. Es darf aber nicht vergessen werden, dass der "Staatsapparat" nichts Anderes XXX als das sachliche Instrument eines be st.Immt.en menschlichen Wollens bedeutet.
Wie jedes "Werk" seine Grenzen hat, so ist auch das Staatswerk ein begren~tel:
menschliches Werk. Diese Begrenzung wird vor JUlem daran sichtbar, dass der st ,
für sein Wollen nicht alle Menschen, sondern diejenigen eines bestimllten uebietes in Anspruch nimmt. Das "Territorium" hat für die Bestimmung des Bereiches
staatlicher Inanspruchnahme konstituierende Bedeutung. (Es hat für sie nicht
ausschliessliche Bedeutung, wie die staatlich-rechtlichen Verhältnisse zur See
und im Luftraum zeigen.)- Das Vorurteil konservativ-romantischer Staatsauffas sung, dass sich das Staatsgebiet in einem "Lande" (im geographischen Sinne)
darstellen müsse, ist abzuweisen.
Die Wirklichkeit eines "Werkes" (im angegebenqs Inne ) erschöpft sich nicht in /"
dem in ihm sich vollziehenden aktuellen oder effektiven Wollen und Handeln. So
ist auch das Staatswerk nicht nur im Vollzuge aktueller Betätigung zu erkennen.
Zum Staatswerk gehört auch ein weiter Bereich von konditionalem oder eventuellem Wollen, das unter dem Vorbehalte de s Eintretens einer be st im.nt.en Lage steht
(z.B. die Anwendung eines Gesetzes bei Eintreten dieses oder jenes Falles).Es ist endlich mit dem wesentlichen Sachverhalte einer Potentialität staatli chen;.'~lVollens
zu rechnen. Von den bewussten staatlich-politischen Entsche idungen
ist zu unterscheiden der weite Raum unbewusst bleibendeNr "Einstellung oder
"Bereitschaft" zu staatlichem Wollen. Diese potentielle Wollen, das die zeit lich-genetische Voraussetzung des Ereignisses aktuellen staatlichen Wollens
und Handelus ist, muss als integrierendes Moment der staatlichen Existenz des
Menschen angesehen werden.
ll
=============~===~==~=======
Eine territorial pegrenzte Willkürherrschaft, die sich an keine Gesetze bindet, bedeutet uns nicht "Staat". Das "Recht" ist konstituierende Bestimmung des
Staates, Als "staatliche~" Wollen können wir nur ein geregeltes und geordnetes
Wollen anerkennen. Das Staatswerk kann sich nicht in einer Folge von zusamrnenhanglosen und sinnlosen Entscheidungen vollziehen. Das "staatliche" Wollen bedarf, um seinem Begriffe gerecht zu werden, eine Qualifizierung, die ihm einen
menschlichen Sinn verleiht. Was staatlich gewollt wird, bedarf einer rationalen
Bestimmung und Unterscheidung. Sie ist die Voraussetzung einer "Gesetzgebung",
d.h. einer eidetischen Bestimmung und Festlegung der an die Staatszugehörigkeit
gerichteten Anforderung. Wir können aber als "stas.t" nur den "Rechtstaat" an erkennen. Die gemeingiltige Festlegung des staatlichen Anspruches in gesetzlichen Bestimmungen, Verordnungen, Verfügungen bewirkt eine rechtliche Ordnung
menschlich en Zusammenlebens und die IJIöglichkei
t einer "Gle ichheit" der Staatszugehörige~egenüber
der staatlichen Anforderung.- Diel\echtsordnung ist aber
nicht nur Iogische Ordnung oder Ordnung des reinen Sollens. Das Moment einer
wenigstens relativen Geltung ist ihr unerlässlich • Diese Urdnung ist nich t nur
staatlich gewollt. Als "Re chtpo r'dnung " kann sie nur aufgefasst werden, sofern sit
sich zum mindesten in gewissem rvlasse{fm
staate als wirklich geltend durchgesetzt
hat. Diese "Geltung" kommt der Bedeutung des "Rechtes" in einem Rechtsstaat in
einem wesentlichen Sinne zu.
V.
Das Recht erhebt Ansprüche auf Sinnhaftigkeit, die über seine rein tatsächliche Geltung hinausgehen. Die positivistische Auffassung, dass es in
dieser Geltung seine Grundlage habe, muss abgelehnt werden. "Soziale Rege lung" ist als solche hoch nicht Recht. Zum "Rechte" wird sie erst durch ihre übergreifende Intention auf "Gerechtigkeit". Die "geschriebenen" Gesetze
setzen die""ftgeschriebenen"voraus. - Wir bekennen uns aber nicht zu einer
naturrechtlichen Konstruktion des Rechtes. Das "positive Recht" ist zufolge
der Kontingenz seines geschichtlichen Vorkommens rational unableitbar.- Die
Rechtsordnung ist ein wesentliches Element des "staatawerkes". Im Ausbau dEr'
Rechtsordnung wird das vorgefundene Staatswerk weitergeführt, in der Konti nuität des geschichtlich gewordnen Rechtes, und in der Ausrichtung auf~~etzte:
übergeschichtliche Voraussetzung aller geschichtlichen Rechtsordnung.
Staat und Recht sind nicht die FunRtion eines hinter ihnen stehenden Kollektiven Ganzen, etwa einer Nation, aus deren Sein das Staatswerk erst be gründet werden müsste. Der Staat ist auf eine ihn tragende Nation n i cht," an gewiesen. Er setzt kein "Nationalgefühl" oder dergleichen voraus, indem er
selbst in der Lage ist, einen politischen Gemeingeist zu schaffen. Wir anerkennen keine Priorität des natürlichen Volkstums vor dem staat, und keine Ver
pflichtung dep Staates gegenüber einem Volkstum, das ihm zugrundeliegen soll.Der Staat ist nich t eine "höhere", organisatorische Einhe.it, als deren Elemenl
te sich die natürlichen Individuen darstEillen, noch eine Integration menschlicher Existenzen zu solcher ~inheit. Denn dies würde bedeuten, dass die
~
Menschen als solche dem staate zugehören und ihm total verfallen sind.- Der
Bereich der staatlichen Anforderung darf daher nicht unbegr-enzt x.s eIn, Die
Menschen sind nicht als SOlche, sondern nur in einer Möglichkeit ihrer Exi stenz Staatsbürger. - Eine Verteidigung der "staatsfreien Existenz" setzt freilich voraus, dass es nicht ein Vakuum von Nichtigkeiten ist, was verteidigt
wird. Sonst wird kein Widerstan9_gegen den Tot~taat möglich sein.
Auch im besten Fall bestehtf':aasDesiderat einer grundsätzlichen Rechtfer tigung des Staates. Denn es ist fraglich, ob der Staat dem Menschen je ge recht werden kann. Der Mensch existiert in seinen eigenen, verantwortlichen
Entscheidungen. Doch der staat macht ihm verbindliche Zumutungen, denen er
mit seiner Gewalt Nachachtung verschafft. Zwei Ansprüche treten in honkurren~
deren Ausgleich unmöglich erscheint. Umsonst hat sich die de~tsche Staatsphilosophie bemüht, den hier sich auswirkenden existentiellen Konflickt auf dem
Wege der Ganzheitsspekulation zu überwinden. Bei diesem Probleme wird unver kennbar , dass das Leben in Widersprüchen gelebt wird, und dass es'''darumge--:;.,
hen kann, in jeder Lage den "besten Ausweg" zu finden. In der Ause inander setzung mit dem staate muss einerseits vermieden werden eine philosophische
Hamonisierung des Gegensatzes, ander~eits die schwarmerische Berufung auf
das Liebesgebot, mit dem man allein dem Delikte begegnen dürfe. Die Koerzi tion des Bösen ist unvermeidlich und angezeigt. Sie hat aber keine Löaende..
Bedeutung. Diese Koerzition ist, als ~kt der Gewalt, ihrerseits böse, aber
wohl weniger böse, als was ohne sie zugelassen würd~. Der Staat kann die
"Freiheit der Entscheidung" nicht um den Preis anerkennen, dass ein <6usam menleben der Menschen überhaupt unmöglich wird.
Wir behalten auch aie höheren Ebenen des Staatslebens im Auge: seine Sorge
für den öffentlichen Unterrrecht und kulturelle Belange all~ Art, für die
Wirtschaft und die ökonomische Sicherung der an ihr Beteiligten usf. Die Realisierung dieser Anliegen muss durch Eingriffe in die persönliche Sphäre der
Menschen erkauft werden. - Die Philosophie des staates muss auf der Respektierung der Persönlichkeit des Einzelnen bestehen. Sie anerkennt aber die Ahlieg81a des staates insofern, als er sich zu seinen Anforderungen durch die
Probleme der Koexistenz der Vielen aufgerufen sieht.
VI.
Wir haben bis dahin das Staatsproblem ins Auge gefasst unter dem Gesichtspunkte, wozu staatliches 'Nollen das \fvolleneines bestimmtes Kreises von Menschn
in AnsprUc'flnimmt, indem wir fragten, worin das sinnvoll geschaffene Gebilde
des Staatswerkes besteht oder bestehen soll. Die Frage des staatswerkes kann
Q'er auch unter dem Ge$ichtspunkte gestellt werden, dass gef'ragt wird, wer in
einem human begründeten staate Subjekt dieser Inanspruchnahme ist oder seTn
soll. Dies bedeutet die Frage nach dem Menschen, sofern er im Staatswerk wirksam ist oder sein soll und führt zu der Frage nach dem Träger der Regierungsgewalt (potestas). Auch die Frage nach dem Subjekte staatlichen Wollens ist
eine philosophische Frage. Sie hat in erhöhtem Maaae den Menschen im Blickpunkte.
Die antike Staatsphilosphie war - wie besonders an Plato zu ersehen ist primär darauf geriChtet, da~ ontische Gebilde des wahren, idealen Staates zu
erkennen. Die Frage, wer zu staatlichem Wollen und zur Staatsführung berufen
sei, wurde dahin entschieden, dass herrschen solle, wer die tiefste IGinsicht
in das Wesen des staates besitzt. Es ist dies der Philosoph. Sofern das platonische Denken ausschliesslich nach der besten Möglichkeit einer Vollführung
des Staatswerkes fragt, gelangt es zum Ideal bilde einer Aristokratie des Geistes. Dass die grosse Menge aus der staatlichen Willensbildung ausgeschlossen
wird, ist die fraglos hingenommene Folge.
In der christlichen Aera setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass
am Staatswerke, das ja ein Anliegen Aller ist, nach Möglichkeit Alle als SUb- /'
jekte staatlichen Wollens beteiligt sein solJ:1en.Das zunächst ideologische Postulat der Beteiligung der Vielheit von staatsbürgern am Staatswerke ist anzusehen als eine Auswirkung der christlIchen Auffassung von der Pepsönlichkeit
de s Einzelnen. So wird denn in der N euze it die Frage nach dem letzten Inhal::e
r
der Staatsgewalt aktuell.- In der Verfolgung der Tendenz, den Kreis der Träger
lfterStaatsgewalt auszuweiten, wurden dem "Volke" ursprüngliche Herrschafts rechte zugeschrieben. So kam es zur Lehre von der "Volkssouveränität" und zu
der Theorie vom "Vertrage", in dem die staatliche "potestas" ursprünglich vom
Volke auf Einzelne oder auf' ein Gremium von Wil,nigenübertragen worden sei. biese Lehre lässt allerlei Fragen offen. Dass in'y~as "Volk" solche Auszeichnung
erfährt, ist aber eine Sache einer höher entfalteten Hwnanität. Denn unter dem
"Volke" können wir nicht eine Kollektivperson, sondern nur die staatszugehörigen Menschen in ihrer transzendental begründeten menschlichen Koexistenz verstehen.
Auch in der Demokratie ist es übrigens nicht das"Volk", das als Träger der
staatsgewalt angesprochen werden kann. Der Begrif'f einer "Volkssouveränität"
entspringt einer ideologischtibersteigerten Redeweise. Das "Volk" als solches
ist in keinem Staate in der Lage zu regieren. Die stim~berechtigte Bürger schaft, der bestimmte Zuständigkeiten zukommen, ist nicht das Volk. Zum VOlke
gehören auch die Kinder, die Benachteiligten, die disqualifizierten Personen.
ehne Fr'auene t immr-echt, kann in der Demokratie von einer "Souveränität'des Volkes" von vorneherein nicht die Rede sein.
~n der Berufung auf den so und so zutage tretenden "Willen 'des Volkes" werden in der Demokratie gewisse politische Entscheidungen ideologisch sanktio niert. Es besteht die Tendenz, ihnen durch solche Berufung eine absolute Dignität und einen Nimbus der Idealität zu verleihen. Es wird übersehen, dass.es
auch hier Einzelne sind, die - verantwortlich oder unverantwortlich - po+itisehe EntSCheidungen vollziehen,- eine Mehrheit von Einzelnen, die das Recht
zur Beteiligung an der Bildung des staatswillen~ besitzen.
Das Wesen der Demokratie liegt nicht in der Ausdehnung der Souveränität,
auf das Volk; ihre Auszeichnung besteht darin, dass sie den Kreis der am staate aktiv Beteiligten nach Möglichkeitßusweitet, um so der Persönlichkeit des
StaatSbürgers so gut es sein kann gerecht zu werden.
VII.
In einem humanen staate wird das "Volk", in dem wir die Koexistenz von
menschlichen Persänlichkei ten wahrnehmen, mit derselben Unbegingthei t re spektiert.werden, mit der der Wraasch als solcher - nach Kant - "Acbtungll genie;
sen darf. - Was ergibt sich daraus aber für die Frage der "Verfassung" des
staates? Aus einer "Gleichheit" der Volkszugehörigen lässt sich keineswegs im Sinne der Ideologie der französischen Revolution - eine Gleichheit der
Rechte und Ansprüche auf Beteiligung. an der staatsgewalt ableiten. Denn Gle Lch
he it besteht zwischen den Volkszugehörigen ausschliesslich im Hinblick auf die
Alle,n gemeinsame Würde der menschlichen Persönlichkeit.· Für gewisse Sektierer
und Pneumatiker des Mittelalters bedeutete das "Volk" d,ie Gemeinschaft der
Einzelnen, die~hrer Gotte~nähe und Gotteskindschaft "gleich" sind. Bei Rou ss,
kommt noch einmal das Pathos der - freilich säkularisierten - Behauptung einer
ursprünglichen Gleichhe it der Menschen ZU,11 Dr-uchbr'uc h, - Die Fr-age der "Verfassung" eine.s stqt;es kann nur in der Berücksichtigung der geschicbtlichen Exi stenz eine s Volkes beantwortet werden. In der konkreten Existenz der Mensch an
ist aber unendliche Mannigfaltigkeit und Ungleichheit festzustell.en. Also ist
aus dem Prinzip der "Gleichheit" unmittelbar keine Vorzüglichkeit der Demokratie abzuleiten.
.
Die Berufung auf "Gleichheit" bedeutet für unser Problem, dass die staats -,
zugehörigen Menschen grundsätzlich in gleicher weise am Anliege!)tlesstaats werkes beteiligt sind. Davon wird allerdings die humane Bedeutung eines Staat~1
abhängig sein, ob und inwiefern er in seiner Verfassung diesem Sachverhalt ge- /
recht wird. Die existentielle Begründung der Demokrat:i:eläuft in unserer .6eit
Gefahr, von einem rein dynamisch-technischen Aspekt des pOlitischen Problems
verdeckt zu werden. Hier steht im Blickpunkt nicht die Aktualisierung des Sinnes menschlicher Existenz, vielmehr derjenige Leistungseffekt, der als Er-ge bn it
dieser Existenz angesehen wird. Der gegenwärtige lensch wird leicht fa~ziniert
durch gewiase Leistungen, die dem totalen staate v,ielleicht besser als dem
demokratischen gelingen. Das "Wie?" des Vollzuges einer Leistung ist aber existentiell wesentlich. So ergibt sich ein existentiell relevater Unter"schied,
ob staatliche Zielsetzung durch absolute staatsgewalt in der willentlichen :Bete iligung einer grossen Zahl von Staatszugehörige.n:Ltustande kommt. Ein staat
darf nicht nur danach beurteilt werden, wieviel ihm gelingt. Es ist immer in
Rücksicht zu ziehen, auf welchem Wege und um welchen Preis es ihm gelingt.
In dem Aufrufe des Einzelnen zur verantwortlichen Beteiligung an der staat~
lichen Willensbildung liegt eine Bejahung seiner Persönlichkeit. Darin liegt
auch die existentielle Rechtfertigu~g der Demokratie.- Es ist aber zu beden ken, dass zur politischen EntSCheidung nicht das Volk, sondern die stirnnberech
tigte Bürgerschaft aufgerufen wird. Sie ist ein Ausschnitt aus dem Volke( und
eine Minderheit, wo kein Frauenstirrmrecht besteht)~ Die Kluft zwischen Volk
und Bürgerschaft verhindert uns, die Demokratie mit einem }idLeai1.en
Nimbus zu
umkleiden. Die demokratisch vollzogeneE:ntscheidung i~t nicbt "Ausdruck des
Volkswillens" , sondern eine Entscheidung der Bürgerschaft, die in dem "Dienste
des Volkes" vollzogen werden soll. In Wahl und Abstimmung handelt die Bürger schaft in der Legitimation durch die Verfassung, die ihr besti~nte Zuständigkeiten zugewiesen hat. Beides darf nicht als "AusfÜhrung des Volkswillensll
idealisiert werden. Es ist nicht mehr als ein - freilich wesentlicher - Beitrag zur staatlichen Vlillensbildung.
Das demokratische "Mehrheitsprinzip" wird angefochten,- etwa in der Redensart , man solle die StimlTIennicht Zählen, sondern wägen. Hier' wird mit Unrecht
vorausgesetzt, dass jemand das Mass für das qualitative Gewicht der Stirrmen
zur Verfügung habe. Ein Risiko der Fehlentscheidung bleibt in jedem Falle bestehen.- Das Recht des Mehrheitsprinzips ist daraus abzuleiten, dass die Entscheidungen der Einzelnen grundsätzlich als gleichwertig angesehen werden
müssen.
I
VIII.
Im demokratischen staate ist die stimmberechtigte Bürgerschaft nicht "der
Souver5II", sondern eine Instanz, die an deJt>staatlichen Vv'illensbildungmit beteiligt ist. Neben ihr bestehen die Instanzen des Parlamentes und der Regierung mit ihren besonderen Zuständigkeiten.- In den parlamentarisch organisierten staaten des 19.Jhd. wurden die "gesetzgebenden Versammlungen" mit einem ge- ,
wissen Nimbus umkleidet. Er kam darin zum Ausdruck, dass das Pa1'lament als "R.epräsentation des Volkes" und seine Mitglieder als "Volksvertreter" verstanden
wurden. Die Auffassung des Parlamentes als "Volksvertretung" legt die Vorstellung n ahe , dass im Akte der "Wahl" das Volk diej enigen als seine Vertreter bestimmt, die es für die Ausführung seines Willens geeignet hält. Das Parlament
hat dann die Aufgabe, "den Willen des Volkes " auszuführen.
Worin soll aber das Volk im Parlament "vertreten" sein? Wir dürfen keinen
"Volkswillen" voraussetzen, der dann von einem Parlament vertretungsweise vollstreckt würde. Auch der Begriff der "Repr-äaen t.at.Lon " (Vergegenwärtigung) ist
fragwürdig. Ein Parlament ist nicht dazu da, Volk oder Bürgerschaft gleichsam
in kleinerm Rahmen zu wiederholen. Es müsste dann ja die ge istige Höhenlage der'
Wählerschaft getreu widersp~eln,
ohne vor ihr im Vorsprung zu sein.- In einem
Parlament werden neue, noch nicht vollzogene Vlillensakte verwirklicht, die somit nicht einen schon vorhandenen'Gemeinwillen
"vertreten" können. Der Akt der
Wahl in ein Parlament darf daher nicht bedeuten, dass dem Gewählten der Auftrag
gegeben wird auszuführen, "was dem Willen des Volkes entspricht", vielmehr eigene, verantwortliche Willensentscheidungen zu vollziehen. Ein Grundübel der
/"
Demokratie liegt in der Tendenz zur Verlagerung der Verantwortlichke Lt.en , Vor
Allem \On den bestellten sta&tlichen Instanzen zurück auf die unfassbare Grö sse
"VOlk", auf die sich zu berufen eine wohlfeile Zuflucht bedeutet. Auch die
Wahl der Regierung darf nicht den Auftrag zur Ausführung eines vorhandenen
öffentlichen Willens bedeuten, viel:nehr das Mandat zum Vollzuge von bestimmten
EntSCheidungen, die diesem Gremium von der Verfässung in die Hand gelegt werden. Zu Unrecht wird eine Regierung als "Exekutive" be zeLchne t , Hat sie doch
zu ihrem Teile die staatliche Willensbildung neu zu erzeugen.
In einer heute zurückliegenden Phase wurde gegen die Demokratie der "Kor por,ationenstaat" ausgespielt. Der staat sollte entsprechend der Gld.ederung der
staatsbürger in Berufsgruppen aufgebaut werden. Wir haben keinen Anlass mehr,
uns mit diesem staatsprinzip auseinander zusetzen. Doch ist die wachsende politische Bedeutung von wirtschaftlichen Verbänden, Assoziationen, Genossenschaf.ten aller Art in der gegenwärtigen Demokratie nicht zu übersehen. Es besteht
die Gefahr, dass der Einzelne mit dem staatlichen Leben nur mehr durch Ver mittlung von kotporativen Gebilden in Berührung steht. Gegenüber ihren Ansprüchen auf eine auch den staat beherrschende Vormachtstellung muss die Priorität
der demokratisch organisierten staatlichen Willensbildung mit Nachdruck behauptet werden. Der Staatswillen soll sich gegenüber den Interessen der Verbände a.1::
Korrektiv auswirken.
Wiewohl das Parteiwesen weithin auf einem Konflikte materieller Interes.sen
beruht, ist doch die Partei von Hause aus mehr als eine blosse Interessengrupp~
Sie ist nicht ein Zweckverband zur Wahrung von bestimmten Interessen, sond~n
ein Zusammenschluss von Bürgern, die der st~atlichen Willensbildung eine be stimmte Richtung geben wollen. Im Unterschiede zum Verbande ist die Partei
grundsätzlich auf den Staat ausgerichtet.- Die Parteien sind für die Willensbildung des demokratischen staates unentbehrlich. Sie dienen L.U einer summarischen Best.Lmrnmg , Gliederung und Qrg?!lisielf'ung
des in der Bürgerschaft lebendigen staatlichen Wollens. Die Schranke des Parteiwesens liegt in der Annahme,
dass sich das gesamte politische Handeln, der Bürger wie der Behörden,als Ausfluss von vorgegebenen Tendenzen und Richtungen verstehen lasse. Der wahre
staatsmann sieht sich aber zu neuer, unvorgeseh:ner staatlicher Willensbildung
berufen. Darum besteben gegenüber dem proportionalen Wahlverfahren begründete
Bedenken.
H
~-----------------------_
.._-------
-
IX.
Wir befassen uns endlich mit der Frage, in welcher Betätigung der gegen wärtige demokratische staat seiner Bestimmung gerecht wird.- Sofern eine
grundsätzliche Wegweisung gegeben werden soll, ist diese Frageso zu beantworten: Der Staat hat die Aufgabe, sich in den Dienst der humanen Anliegen des
Staatsvolks zu stellen. Dies bedeutet aber etwas, was sich nicht von selbst
versteht: Dass der Dienst des staates allen einzelnen Gliedern des staats volkes zugute kommt. Die beliebte Parole, der staat sollte die "Gesamtinteressen" wahren, ist zu wenig eindeutig. Unter den "Gesamtinteressen" versteht
man vermutlich die wirtschaftlichen Interessen eines breiten Durchschnitts
und einer offenkundigen Mehrheit. Die Demokratie wird aber ihre Probe erst
dort bestehen, wo sie auch dem Anliegen der Mi nde: heiten gerecht -ztLwerden ver
sucht. \Ilirdenken hier nicht nur an wirtschaftliche, sonder-n auch an kul turelle und geistige Anliegen, die von Minderheiten geltend gernacht. werden. Der
staat darf nicht nur auf die Interessen der breiten Massen ausgerichtet sein.
Er soll auch die in Minderheit stehenden Träger einer qualitativen Besonderung
und ihre wenig populären Anliegen in Rücksicht ziehen.
Der Staat hat auf Schutz und Erhaltung der staatszugehörigen Menschen be dacht zu sein. Er soll sie in Schutz nehmen: gegen die überall drohende Willkür, Selbstsucht und Gewalttätigkeit; nach aussen: gegen den Ansturm der Kollektivgewalten, die ihr Leben bedrohen. Die in Staat und Volk beschlossenen
menschlichen relevanten Realitäten sollen nicht wehrlos preisgegeben werden,
sondern nach Möglichkeit behauptet werden.- Auch der neutrale Staat darf sich /
in seinem politischen Horizonte nicht auf sich selbst und sein Staatsvolk
beschränken. Er soll sich das Anliegen einer internationalen Ordnung und eines
wirksamen Völkerrechtes zu ,eigen machen. Die Aussenpolitik ist auch für den
neutralen staat ein Feld von Verpflichtungen, die über alle konventionellen
Auffassungen hinaus irmnerwieder neu erwogen werden müssen.
Das Schaffen einer Rechtsordnung ist eine Zielsetzung staatlicher. Wirk samkeit, ohne die von einem "staate" überhaupt nicht die Rede sein könnte.Wir übersehen auch diejenigen staatlichen Belange nicht, in denen er der öffentlichen Wohlfahrt dient, inaem er dringenden materiellen Anliegen gerecht
wird. In ihnen scheint kein Problem zu liegen.- Auch daran kann ein Zweifel
nicht bestehen, dass der modeme Staat Wirtschaftspolitik treiben muss. Zwei
GesiChtspunkte stehen hier in dauernder Konkurrenz: Das Recht des Einzelnen
auf eigenständiges Schaffen und Gestalten in Entfaltung p~ sönlicher Initia tive; und die Auswirkung der wirtschaftlichen Produktion. auf die Existenz der
Vielen, mögen sie an dieser Produktion aktiv beteiligt oder bloss als Kon sumenten unbeteiligt sein. Wir haben mit einem unaufhebbaren Antagonismusw~
individualistischen und sozialistischen Tendenzen zu rechnen. Der Staat wird
darauf bedacht sein, einer mög Li.crrat. grossen Zahl von Volkszugehörigen zur
Erfüllung ihrer menschlichen Bestimmung zu verhelfen, sei es durch staatliches
Eingreifen in die Wirtschaft oder gerade umgekehrt durch Freihalten eines
Raumes individueller EntSCheidung. Beide Wege können dem einen Anliegen der
Humanität des Staatsvolks dienen. Es geht hier offenbar nicht um eine Alter native.
Der heutige staat stellt sich dar als eine Apparatur, die der allgemeinen
utilität dienen soll. Er ist "Wohlfahrtsstaat"; wobei vorausgesetzt wird, dass
das "Wohl" in der Befriedigung von äusseren Bedürfnissen besteht. Wenn sich
dieser staat nichtsdestoweniger die Förderung von Kunst und Wissenschaft angelegen sein lässt, dann setzt die~ voraus, dass er aus seiner armseligen geisti
gen Neutralität heraustritt und sich die höheren Anliegen der Humanität zu
eigen macht.- An der Institution der staatsschule, die sich der Aufgabe der
'Volkserziehung nicht endgiltig in jene Neutralität begeben kann, in der er als
ein völlig geistloses Gebilde erscheinen müsste. Denn die Erziehung setzt eine übergreifende Zielsetzung voraus. Ohne einen Anspruch auf geistig-sittliche Autorität vJird sich der staat auf die Länge auch nicht als Rechtsstaat
behaupten können.