Zum Nachweis einer unfallbedingten HWS

LG Nürnberg-Fürth, Endurteil v. 27.11.2015 – 8 S 1900/15
Titel:
Zum Nachweis einer unfallbedingten HWS-Verletzung bei Geltendmachung von
Entgeltfortzahlungsansprüchen
Normenketten:
EFZG § 6 I
ZPO §§ 286, 287
§ 6 Abs. 1 EFZG
§ 286 ZPO
§ 287 ZPO
EFZG § 6 I
Leitsatz:
1. Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens ist ausnahmsweise nicht
geboten, wenn das Attest des behandelnden Arztes keinerlei verwertbare Anknüpfungstatsachen
enthält und sich in der Feststellung "Diagnose: HWS-Distorsion" erschöpft. (amtlicher Leitsatz)
Schlagworte:
HWS-Distorsion, HWS-Verletzung, Verkehrsunfall, medizinisches Sachverständigengutachten,
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, Indizwirkung, Verdienstausfallanspruch, Haftung
Vorinstanz:
AG Nürnberg Endurteil vom 11.02.201521 C 7658/14
Entscheidungsgründe
Landgericht Nürnberg-Fürth
Az.: 8 S 1900/15
Im Namen des Volkes
Verkündet am 27.11.2015
21 C.7658/14 AG Nürnberg
Leitsatzvorschlag:
In dem Rechtsstreit
...
Kläger und Berufungskläger
Prozessbevollmächtigte: ...
gegen
1) ...
- Beklagte und Berufungsbeklagte
2) ... Haftpflicht-Unterstützungs-Kasse kraftfahrender Beamter Deutschlands a. G.
vertreten durch d. Vorstand, B-platz ..., C., Gz.: ...
Beklagte und Berufungsbeklagte
Prozessbevollmächtigte zu 1 und 2: ...
wegen Lohnfortzahlung nach Verkehrsunfall
erlässt das Landgericht Nürnberg-Fürth - 8. Zivilkammer - durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht
Dr. ... die Richterin ... (und den Richter am Landgericht Dr. ... (aufgrund der mündlichen Verhandlung vom
11.11.2015 folgendes
Endurteil
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 11.02.2015, Az. 21 C
7658/14, wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufüngsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Amtsgerichts Nürnberg ist ohne
Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 2.822,46 € festgesetzt.
Gründe:
A. Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§§ 517, 519 f.
ZPO). In der Sache bleibt das Rechtsmittel aber ohne Erfolg.
I.
In tatsächlicher Hinsicht wird auf den Tatbestand des Ersturteils Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
ZPO).
Das Amtsgericht hat die auf Zahlung von 2.822,46 € in der Hauptsache und 334,75 € vorgerichtliche
Rechtsverfolgungskosten gerichtete Klage vollumfänglich abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Berufung
des Klägers, der seine erstinstanzlichen Anträge in vollem Umfang weiter verfolgt.
Eine Beweisaufnahme hat nicht stattgefunden. Im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze samt
Anlagen Bezug genommen.
II.
Das Amtsgericht hat eine Haftung der Beklagten zu Recht abgelehnt. Die Kammer hält das angegriffene
Urteil für überzeugend begründet. Dem Kläger ist der Nachweis einer unfaIlbedingten Verletzung seiner
Angestellten nicht mit der hinreichenden Überzeugung gelungen. Folglich kann der Kläger auch keine auf
ihn nach § 6 Abs. 1 EFZG übergegangenen Verdienstausfallansprüche geltend machen.
1. Die Frage, ob sich ein Geschädigter überhaupt eine (HWS-)Verletzung zugezogen hat, betrifft den von
ihm zu führenden Nachweis der haftungsbegründenden Kausalität, so dass die strengen Anforderungen des
Vollbeweises nach § 286 ZPO gelten (st. Rspr. BGH VersR 2008, 1133). Es ist demnach keine absolute
oder unumstößliche Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ an
Überzeugung erforderlich, sondern nur ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der
Zweifeln Schweigen gebietet (st. Rspr. BGH VersR 2088, 1133). Erst mit dem Nachweis, dass der
Verkehrsunfall zu einer HWS-Distorsion und damit zu einer Körperverletzung geführt hat, steht der
Haftungsgrund fest. Ob über diese Primärverletzung hinaus der Unfall dann auch für die HWSBeschwerden des Geschädigten ursächlich ist, ist eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, die sich
gem. § 287 ZPO beurteilt. Zwar ist auch eine haftungsausfüllende Kausalität nur feststellbar, wenn die
Überzeugung vom Ursachenzusammenhang gewonnen werden kann. Im Rahmen der Beweiswürdigung
gem. § 287 ZPO werden aber geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt. Hier genügt,
je nach Lage des Einzelfalles, eine höhere oder deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für die
Überzeugungsbildung (st. Rspr. BGH VersR 2008, 1126 m. w. N.).
Bei der Prüfung, ob ein Unfall eine HWS-Distorsion verursacht hat, sind stets die Umstände des Einzelfalls
zu berücksichtigen (BGH VersR 2003, 474; BGH VersR 2008, 1133). Dass es bei einem Heckunfall lediglich
zu einer im Niedriggeschwindigkeitsbereich liegenden kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung im
Bereich zwischen 4 und 10 km/h gekommen ist (sog. „Harmlosigkeitsgrenze“), schließt eine Verletzung der
HWS nicht generell aus (BGH VersR 2003, 474; BGH VersR 2008, 1133; die Revision gegen ein anders
lautendes Urteil wurde von BGH VersR. 2008, 1697 aus anderen Gründen zurückgewiesen).
Folgende Umstände können bei der Überzeugungsbildung eine Rolle spielen: Die Angaben des
Geschädigte erscheinen glaubhaft und die von ihm geklagten Beschwerden werden von keinem
Sachverständigen letztlich in Zweifel gezogen (BGH VersR 2003, 474). Vorerkrankungen als etwaige
Alternativursachen können nicht festgestellt werden und es besteht ein enger zeitlicher Zusammenhang
zwischen dem Unfall und den Beschwerden (je BGH VersR 2003, 474; BGH VersR 2008, 1126). Alleine der
zeitliche Zusammenhang zwischen Unfallereignis und dem Auftreten geklagter Beschwerden reicht zum
Nachweis aber nicht aus (OLG Hamm RuS 2000, 153). Zeitnah nach einem Unfall erstellte ärztliche Atteste
sind eher von untergeordneter Bedeutung, da der Arzt, der einen Unfallgeschädigten untersucht und
behandelt, diesen nicht aus der Sicht eines Gutachters betrachtet, sondern ihn als Therapeut behandelt; die
Benennung der Diagnose als solche ist für ihn zunächst von untergeordneter Bedeutung. Solche Diagnosen
sind deshalb im Allgemeinen nur eines unter mehreren Indizien ohne dass ihnen eine ausschlaggebende
Bedeutung beizumessen ist (BGH VersR 2008, 1133).
2. Gemessen am Vorstehenden ist dem Kläger der Nachweis einer unfallbedingten HWS-Verletzung seiner
Angestellten nicht mit der erforderlichen Sicherheit gelungen.
Insoweit kann die Kammer zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des Amtsgerichts Bezug nehmen.
Auch war entgegen der Berufung hier die Einholung eines medizinischen Sachverständigengut- achtens
ausnahmsweise nicht geboten: Das Attest der Dr. ... enthält keinerlei verwertbare Anknüpfungstatsachen.
Es erschöpft sich in der Feststellung „Diagnose: HWS-Distorsion“. Die über eine Woche nach dem Unfall
erfolgte Untersuchung im Neurozentrum führte zwar zur Erhebung von z.T. auch objektiven Befunden. Dass
diese gerade auf den streitgegenständlichen Verkehrsunfall zurückzuführen sind, kann daraus aber nicht
geschlossen werden, da es sich nicht um spezifisch unfallbedingte Beschwerden handelt. Dabei muss
zudem gesehen werden, dass das Attest des N ... vom 18.06.2012 bereits von dem zu beweisenden
Umstand – dem Vorliegen eines „Schleudertraumas“ - ausgeht (vgl. a. a. O.,. Anamnese S. 1). Einem
medizinischen Sachverständigen wäre allenfalls eine Plausibilitätskontrolle der von der Arbeitnehmerin des
Klägers geklagten Beschwerden möglich. Eine solche Plausibilität kann allerdings unterstellt werden, da sie
angesichts der außerordentlich geringen Differenzgeschwindigkeit nicht zum Nachweis einer
Primärverletzung i. S. d. § 286 ZPO ausreichen würde.
3. Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus dem Umstand, dass hier nicht die Geschädigte selbst eigene
Ansprüche geltend macht, sondern es um auf den Kläger als Arbeitgeber nach § 6 Abs. 1 EFZG
übergegangene Ansprüche geht.
In diesem Kontext kann den vom Arbeitnehmer dem Arbeitgeber (dem Kläger) vorgelegten
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen maßgebliche Bedeutung beikommen (BGH, Urteil vom 16. Oktober
2001 - VI ZR 408/00, r+s 2002, 63). Hierauf hat die Kammer bereits mit Hinweis vom 20.05.201.5
hingewiesen. Unabhängig davon, ob dieser Rechtsprechung zu folgen wäre (vgl. Burmann/Jahnke NZV
2013, 313, 317; Lemcke r+s 2002, 64) und ob diese auf die streitgegenständliche Konstellation überhaupt
anwendbar ist, ist festzuhalten, dass Arbeitsunfähigkeitbescheinigungen i. S. d. 5 Abs. 1 S. 2 EFZG im
Streitfall nicht vorliegen. Nur diese könnten eine Indizwirkung entfalten.
B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs, 1. die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf
§§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.