Vorsicht vor Verhärtung - Die Repressions

Vorsicht vor
Verhärtung
Die Repressions- und
Schließungspolitik der
chinesischen Führung
gefährdet die Zukunft
Chinas
Von Kristin Shi-Kupfer, Leiterin des Forschungsbereichs Politik, Gesellschaft und Medien
am Mercator Institut für China Studien (MERICS)
(Dieser Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 03. März 2016 in der Rubrik
„Aussenansicht“ der Süddeutschen Zeitung.)
Vor Beginn der Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses, das Quasi-Parlament Chinas, hat
Partei- und Staatschef Xi Jinping seine Kontrolle über das Land demonstrativ verschärft: Durch live
übertragene Redaktionsbesuche und Disziplinarkontrollen schwört er die Medien auf Parteilinie
ein. Online-Publikationen von ausländischen Unternehmen oder Joint-Ventures, seien es Bücher
oder Computerspiele, sind ab sofort verboten. Gleichzeitig wird der Umfang der Parteikontrolle
deutlich ausgeweitet: Kritische Chinesen geraten ebenso wie Ausländer, die wegen „Gefährdung
der nationalen Sicherheit“ verdächtig sind, nun auch jenseits der chinesischen Grenzen in die
Fänge der Sicherheitsbehörden. Jüngste Beispiele: Buchhändler in Hongkong, die China-kritische
Werke im Angebot hatten oder ausländische Mitarbeiter von Nichtregierungsinstitutionen. Im
Staatsfernsehen werden sie zu „Geständnissen“ gezwungen. Nur so meint Xi, seine Vision für die
Volksrepublik unter der Führung der Kommunistischen Partei im 21. Jahrhundert verwirklichen zu
können. Um den (Wieder)Aufstieg zur Weltmacht zu schaffen, muss das Land politisch
handlungsfähig, wirtschaftlich hochentwickelt und gesellschaftlich stabil sein. Aus Sicht von Xi ist
eine Zivilgesellschaft mit Stabilität nicht vereinbar, stattdessen muss eine "zivilisierte“ Gesellschaft
her.
Konkret heißt dies, die Bürger dürfen nur noch in den Bereichen aktiv sein, die von der Führung
festgelegt werden: Sie sollen noch mehr konsumieren, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.
Nahezu jeder darf inzwischen ein Unternehmen gründen. Denn Peking möchte mit einer entfachten
Begeisterung für Startups arbeitslose Akademiker in Lohn und Brot bringen und Innovation
befördern. Wissenschaftler sollen Spitzenforschung betreiben und den Nachwuchs gewissenhaft
ausbilden. Gleichzeitig aber werden die Online-Zugänge zu ausländischen Datenbanken immer
stärker kontrolliert. Forschungsreisen und -kooperationen werden auf den Verdacht „westlicher
Infiltration“ geprüft, bevor sie genehmigt werden. Westliche Lehrbücher, insbesondere in den
Geisteswissenschaften, stehen auf dem Prüfstand. Dozenten lehren vielerorts unter Beobachtung:
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Installierte Videokameras sollen dokumentieren, wer zu kritisch oder „zu negativ“ über China
spricht. Gute Taten und vor allem großzügige Spenden für sozial schwächere Gruppen sind von
Seiten gesellschaftlicher Akteure hoch willkommen, sofern die Regierenden nicht für die
Missstände verantwortlich gemacht werden.
Wer versucht, kollektive Interessen autonom zu organisieren und zu artikulieren, wird offen
eingeschüchtert oder gleich weggesperrt - so wie nie zuvor seit Beginn der Reform- und
Öffnungspolitik. Seit dem Amtsantritt von Xi Jinping im Frühjahr 2013 hat die Führung zuerst
Blogger ins Visier genommen, dann Journalisten, Wissenschaftler, Künstler, Rechtsanwälte und
zuletzt Arbeiteraktivisten. Und das, obwohl Arbeiter laut Verfassung wie auch Parteistatuten immer
noch die „führender Klasse des Proletariats“ bilden. Selbst die Strafprozessrechtsordnung scheint
für die Führung nicht viel wert zu sein: TV-Schuldgeständnisse bzw. die Selbstbezichtigung von
Verdächtigten vor Prozessbeginn verbietet diese klar. Dennoch ist beides an der Tagesordnung.
In China dominiert die Staatsräson: Modellhaft und medial wirkungsvoll sollen alle potentiellen
„Feinde“ abgeschreckt werden. Gesetz hin oder her. Wenn nötig, erlässt der unter KP-Kontrolle
stehende Oberste Volksgerichtshof schnell eine „Justizerklärung“, die jede Strafverschärfung
rechtfertigt und langwierigere Gesetzgebungsverfahren „erspart“.
Die Folgen für die Zukunft Chinas sind verheerend. In den letzten sechs Monaten haben
Unternehmen und Einzelpersonen rund eine Billion US-Dollar außer Landes gebracht. Nach
Berichten des Forschungsinstituts Hurun Report Inc. sind zwei Drittel der befragten Millionäre
bereits ausgewandert oder planen dies zu tun. Die Beweggründe sind immer die gleichen: bessere
Bildung für die Kinder, saubere Luft und sichere Nahrungsmittel, unausgesprochen aber auch
Schutz vor Überwachungsbehörden, die womöglich das eigene Vermögen antasten wollen. Wer
nicht gehen kann, riskiert mitunter im eigenen Land den Protest: Laut der Hongkonger
Arbeiterrechteorganisation China Labour Bulletin hat sich Zahl der Streiks 2015 im Vergleich zum
Vorjahr verdoppelt. Allein in diesem Januar gab es so viele Proteste wie in den Jahren 2011 und
2012 zusammen.
Auch die chinesische Mittelschicht, die lange Zeit vom Wachstum profitiert und das System gestützt
hat, beginnt die Geduld zu verlieren: Misstrauische Angehörige von verstorbenen Patienten
attackieren Krankenschwestern und Ärzte mit Messern. In den letzten fünf Jahren hat sich die Zahl
der Zwischenfälle dieser Art auf rund 70.000 verfünffacht. Proteste gegen den Bau von potentiell
umweltschädlichen Fabriken brechen selbst in einer streng unter Kontrolle stehenden Metropole
wie Shanghai aus – zuletzt im Sommer mit an die 10.000 Teilnehmern. Selbsternannte Patrioten
fahren mit Booten aufs Meer, um auf den von China beanspruchten Inseln Flaggen zu hissen,
oftmals gegen den Willen der Regierung in Peking. Zusammen mit Ultranationalisten setzen sie
die chinesische Führung unter Druck,
der aggressiven Rhetorik des Außen- und
Verteidigungsministeriums im südchinesischen Meer endlich Taten folgen zu lassen. „Liefern
anstatt nur schwafeln sollen die“ - so wie Vladimir Putin, heißt es in den Forderungen.
Eine verunsicherte Ober- und Mittelschicht kann weder in unserem wirtschaftlichen noch
politischen Interesse sein. Ein geistig ersticktes Bürgertum war nie ein Garant für eine offene
Gesellschaft oder eine Öffnung des Landes nach außen. Eine psychotische Polarisierung der
Massen gefährdet vielmehr den sozialen Frieden, der die Voraussetzung für Prosperität und
Wachstum bildet. Westliche Regierungen, die eng mit China kooperieren, dürfen nicht schweigen.
Denn dadurch werden demokratische und rechtsstaatliche Errungenschaften stillschweigend
relativiert, wenn nicht gar infrage gestellt. Der chinesischen Führung sollten klare rote Linien im
Umgang mit Rechtsverletzungen aufgezeigt werden. Gesellschaftlichen Partnern in China gilt es,
Gesprächsbereitschaft und Unterstützung anzubieten: IT-Unternehmern, die sich für ein offenes
Internet einsetzen; Rechtsanwälte, die unerschrocken für rechtsstaatliche Prinzipien eintreten,
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oder Chinesen im Ausland, welche die Vorteile der Demokratie und des Rechtstaats
demonstrieren. Letztlich werden diese gesellschaftlichen Kräfte - nicht aber Xi Jinping - über die
Zukunft der Volksrepublik entscheiden.
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