Hanno Millesi: Das innere und das äußere Sonnensystem

Hanno Millesi: Das innere und das äußere Sonnensystem
©Luftschacht Verlag Wien 2010
Dicht unter meiner Haut beginnt das sprachlose Gebiet. Bis
hierher dringt kein Wort. Es wird weder gesprochen noch
geschrieben. Knapp unterhalb meiner Haut ist es still. Keine Silbe, kein Satz, keine grammatikalische Spitzfindigkeit
gelangt durch diese Poren.
Hier unten herrscht flüssiges Einverständnis, ein allgegenwärtiger Kreislauf. Blutdruck wird ausgeübt, der Herzschlag
macht sich in tonangebender Rhythmik und fühlbarer Lautstärke bemerkbar.
Unter meiner Haut waltet kein Schicksal. Hier existieren
keine Willkür, sondern Drüsen und Organe. Fasern, Zellen,
Moleküle. Alles dient ein und derselben Idee des lebenserhaltenden Transports von Säuren, Zucker und Eiweiß. Diesseits der Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt geht
eine biologische Funktion vonstatten, deren Vokabular aus
Nerven, Sehnen, Adern, Muskeln und Venen besteht. Eine
stumme Motorik.
Hier drinnen gibt es keine Missverständnisse und Diskussionen, weder Aussprache noch Irrtümer. Hier werden keine Gespräche geführt; es wird nicht geredet, noch nicht einmal geflüstert.
Im Einflussbereich meiner inneren Organe fallen alle Entscheidungen wortlos. Niemand hört zu. Käme ein Sprecher
auf die Idee, Botschaften in diesen Kreislauf einzuschleusen, liefe er Gefahr, Arterien mit einer Bitte oder einem
Fragezeichen zu verstopfen. Stattdessen herrscht Verschwiegenheit. Niemand sagt etwas. Blutzirkulation benötigt keine Kommentare; Tränendrüsen und Verdauungsvorgänge
ebenso wenig. Wer schon einmal hier war, weiß das. Für die
Übertragung von Phrasen und Behauptungen sind keinerlei Einrichtungen vorgesehen. Kommas, Daten, Fußnoten
sind Kuriositäten. Schall verstummt, anstatt sich wellenförmig auszubreiten. Einzelne Buchstaben und Satzzeichen,
die versehentlich hier hereingeraten, werden vorübergehend in der Harnblase aufbewahrt. Keiner befiehlt, sondern
der gesamte Organismus ist der faszinierenden Allgegenwart einer vegetativen Kraft verfallen: dem Stoffwechsel.
Ein Aggregatzustand, der es Verben oder Substantiven erlaubt, hier einzudringen, ist nicht vorstellbar. Hier gibt es
. weder Nischen, Lücken oder Klammern. Worte kommen unausgesprochen vor; als Sekrete im Magentrakt.
Unterhalb der Epidermis kommunizieren wir problemlos.
Mit Bronchien und Kopfhaut gleichermaßen wie mit Zwerchfell oder Speiseröhre:Sprache im engeren Sinn wird nicht
benötigt. In einem derart intimen Bereich, in unmittelbarer
Nähe zum Herzen, zu den Nieren, den Atmungsorganen und
Kohlehydraten ist das Verständigungssystem ein Bausatz
nicht artikulierter Äußerungen; bar jeglicher Grammatik.
Jede einzelne Verlautbarung ist Element eines verschwiegenen Schaltplans — Zwitschern, Wimmern, Wiehern—und ruft
eine Reaktion hervor. Damit sind die Voraussetzungen für eine Dialogsituation geschaffen. Zappeln, Keuchen, Schaben.
Hier wird nicht gestammelt, nicht gepredigt und niemand
wird benachrichtigt. Kein Satz ist lang genug um hier herein zu reichen. Was sich in dieser pulsierenden Enge befindet, ist entweder Teil der Vitalkapazität oder Fremdkörper.
Fremdkörper werden über die Atemwege oder den Darmkanal verabschiedet.
Das Vorhandensein in diesem feuchten Kreislauf ist gleichbedeutend mit einem maßgeblichen Beitrag. Es gibt nichts
Überflüssiges. Niemand moderiert. Kein Funktionsträger
äußert sich über Anstrengung, Infinitivformen oder die eigene Beschäftigungslosigkeit.
Unter meiner Haut ist es bei 36 Grad zu heiß für eine Unterhaltung. Alle Anmerkungen gehen auf unbedingte Notwendigkeit zurück. Hier wird bestenfalls um Hilfe gerufen, nicht geplappert. Gespräche sind nicht vorgesehen.
Der extremen Situation entsprechend eventuell Kommandos, Stichworte, akustische Signale als Barometer des persönlichen Durchsetzungsvermögens. Sirenen, Alarmstufe, Startschuss. Hier unten, wo alles so eng nebeneinander
liegt, dass weder Endungen noch Silben Spielraum haben,
herrscht fortwährend Ausnahmezustand.
Dicht unter meiner Haut beginnt eine wortlose Zone. In diesem Bereich wird alles von meinem Immunsystem gesteuert. Vitaminosen, Proteine, Blutkörperchen. Kein Bedarf an
Ansagern. Innerhalb dieser Biosynthese weiß jedes Spurenelement, worin seine Aufgabe besteht, und kommt ihr gemäß
einer universellen Abmachung nach. Unsere Körper unterhalten sich mit Hormonen und Adrenalin; tauschenfette,
Säuren, Basen. Nichts muss eigens betont werden, um diese Kommunikation aufrechtzuerhalten. Weder Pronomen
noch Artikel belegen Nasenhöhlen oder Atemwege. Die Respiration funktioniert ungehindert. Das Transportgewebe erfüllt alle Erwartungen, periphere Nerven durchziehen den
Organismus wie ein feingliedrig sensibles Netzwerk. Erklärungen sorgen höchstens für Verwirrung.
Unterstützt wird mein Immunsystem von einer Schleimhaut, die das Eindringen von Gerede und Erregern bereits im
Vorfeld verhindert. Obwohl die Innenwelt durch Atmung
mit der Außenwelt verbunden ist, dringen keinerlei Fragen
hier herunter. Filter sorgen für absolute Ruhe. Was vereinzelt durchschlüpft, verliert seine Bedeutung im Plasma.
Es herrschen enge räumliche Verhältnisse; kein Platz um
Anliegen zu formulieren. Energieverschleiß und Sauerstoffverbrauch laufen auf Hochtouren. Zwischen Aufgaben wie
diese passt nicht einmal ein Wörtchen. Unter meiner Haut
ist nicht der Ort um etwas zu bereden.