Häufiges Lesen schadet doch den Augen – bei Mutationen im

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ÿ Häufiges Lesen schadet doch den Augen – bei Mutationen im APLP2-Gen
ÿ Mollicutes-related endobacteria in Pilzen: eine doppelte Endosymbiose
ÿ Nobelpreis für die Entwicklung des Anthelminthikums Ivermectin
© Springer-Verlag 2015
Gen in den Schlagzeilen
Häufiges Lesen schadet doch den Augen – bei Mutationen im APLP2-Gen
ó Zu den Zeiten, als es noch keine Handys
und kein Internet gab, haben manche Kinder
viel gelesen, manchmal sogar unter der Bettdecke. Von den Eltern gab es dann die Ermahnung, dass dadurch später die Augen
schlechter werden. Jetzt hat ein internationales Konsortium aus den USA und Europa dazu die genetisch-epidemiologische Begründung geliefert. Andrei und Tatiana Tkatchenko, Jeremy Guggenheim und andere haben in
verschiedenen Kohorten mit zusammen fast
50.000 Teilnehmern das Auftreten von Kurzsichtigkeit (Myopie) in einer genomweiten
Assoziationsstudie untersucht (Tkatchenko AV
et al., PLoS Genetics (2015) 11:e1005432). In
dieser Arbeit zeigten die Autoren zunächst eine schwache Assoziation von Myopie mit Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNPs) aus der
5‘-Region des APLP2-Gens (amyloid βA4 precursor-like protein 2). Die Risikoallele dieser
SNPs kommen mit einer Frequenz von etwa
ein Prozent relativ selten in der kaukasischen
Population vor; die Assoziation nimmt mit der
Gendosis des Risikoallels zu (homozygote Trä-
Abb.: Und die Eltern hatten doch recht: bei
Leseratten im Alter zwischen 8 und 9 Jahren
können Einzelnukleotid-Polymorphismen im
APLP2-Gen später zu Kurzsichtigkeit führen
(Bild: Claudia Ludy).
ger des A-Allels haben ein höheres Risiko als
heterozygote G/A; und heterozygote haben
ein höheres Risiko als homozygote Träger des
häufigen Allels G). Die schwache Assoziation
steigt jedoch deutlich an, wenn die Autoren
nur die Probanden berücksichtigen, die besonders im Alter zwischen 8 und 9 Jahren viel
gelesen haben. Das zunehmende Alter der
Probanden ist damit ein weiterer Risikofaktor.
Die Autoren haben sich aber nicht auf statistische Überlegungen beschränkt, sondern ein
Mausmodell entwickelt, in dem das Aplp2-Gen
ausgeschaltet wurde. Dabei zeigen die homozygoten Mutanten zwar eine deutliche Fehlsichtigkeit (∼10 Dioptrien!), sie reagieren aber
deutlich schlechter auf eine experimentell induzierte Myopie, was die Autoren auf ver änderte Feedback-Mechanismen in der Retina (insbesondere in den amakrinen Zellen) zurückführen können.
Y Die Autoren zeigen hier in einer sehr gründlichen Arbeit eine Gen-Umwelt-Wechselwirkung,
wie wir sie für eine Vielzahl von Volkskrankheiten postulieren. Die zusätzlichen Mausdaten
weisen darauf hin, dass eine Überexpression
des APLP2-Gens für die Myopie bei jugendlichen Leseratten verantwortlich ist, und die
Autoren deuten an, dass eine Hemmung der
APLP2-Aktivität in der Retina ein therapeutischer Ansatzpunkt sein könnte
Jochen Graw, Neuherberg ó
Mikroorganismus in den Schlagzeilen
Mollicutes-related endobacteria in Pilzen: eine doppelte Endosymbiose
ó Seit die Pflanzen vor etwa 450 Millionen
Jahren an Land kamen, leben sie mit Pilzen des
Phylums Glomeromycota in einer beiden nützenden Endosymbiose: der arbuskulären
Mykorrhiza (AM). Dabei versorgen diese AMPilze die Pflanzen über ihre Arbuskel (verzweigte Hyphen) mit mineralischen Nährstoffen und erhalten im Austausch Kohlenhydrate.
Vor 50 Jahren entdeckte man zytoplasmatische Einschlüsse in AM-Pilzen und bezeichnete sie als bacteria-like organisms. Analysen der
ersten kompletten Genome (Torres-Cortés G
et al., Proc Natl Acad Sci USA (2015)
112:7785–7790; Naito M et al., Proc Natl Acad
Sci USA (2015) 112:7791–7796) zeigen nun die
phylogenetische Position dieser mollicutes-related endobacteria (MRE) und deuten auf einen
Abb.: Pflanze und
arbuskulärer Mykorrhizapilz tauschen
Kohlenhydrate
gegen mineralische
Nährstoffe an den
pilzlichen Arbuskeln
aus. Im Zytoplasma
des Pilzes leben
mollicutes-related
endobacteria, deren
Genome Sequenzen
eukaryotischen
Ursprungs enthalten. Diese Gene
könnten für Effektoren codieren, die
den Stoffwechsel
des pilzlichen Wirtes
steuern.
BIOspektrum | 07.15 | 21. Jahrgang
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eindeutig von den eukaryotischen Wirten über
horizontalen Gentransfer (HGT) auf die MREs
übertragen wurden. Diese Sequenzen könnten
für Effektoren codieren, die man auch bei
Pathogenen findet, und mit denen Symbionten
in der Lage sind, den Stoffwechsel der Wirte
zu manipulieren.
Y Diese beiden Studien zeigen den evolutionären Ursprung einer Bakterien-Pilz-Endo-
Wirtswechsel von Tieren zu Pilzen weit vor der
Entstehung der Glomeromycota hin. Die Genome sind stark reduziert, und viele essenzielle Stoffwechselfunktionen fehlen. Auf der
anderen Seite fanden die Autoren in mehr als
dem halben Genom orphan genes ohne bekannte Funktion, was auf unbekannte Stoffwechselwege hindeutet. Interessanterweise
gibt es daneben eine Reihe von Sequenzen, die
symbiose und geben Hinweise auf die Wechselwirkungen zwischen diesen doch sehr unterschiedlichen Organismen. Zu klären bleibt die
Rolle der MREs für die AM-Pilze und damit für
die bedeutendste terrestrische Symbiose. Dies ist
besonders wichtig angesichts des Ziels, die
Mykorrhiza in nachhaltigen Pflanzenproduktionssystemen einzusetzen.
Philipp Franken, Erfurt ó
Arzneimittel in den Schlagzeilen
Nobelpreis für die Entwicklung des Anthelminthikums Ivermectin
Flußblindheit (Onchocerca volvulus) und den
Erreger der Elephantiasis tropica (Wuchereria
bancrofti). Ivermectin aktiviert als allosterer
Agonist Glutamat-gesteuerte Chloridkanäle in
den Nervenzellen der Würmer mit hoher Affinität und Spezifität, wodurch Zellmembranen
hyperpolarisiert werden und es nachfolgend
zur Lähmung und zum Tod der Parasiten
kommt. Ivermectin penetriert jedoch nicht
durch die Blut-Hirn-Schranke beim Menschen
und blockiert humane Neutrotransmitterregulierte Ionenkanäle nur mit sehr niedriger
Affinität. Diese Eigenschaften erklären die
hohe Sicherheit in der therapeutischen Anwendung von Ivermectin.
ó Der diesjährige Nobelpreis für Physiologie
und Medizin wurde an drei Forscher verliehen,
die sich mit der Erforschung und pharmakologischen Behandlung von Tropenerkrankungen befassen. Jeweils ein Viertel des Nobelpreises ging an Satoshi Omura und an William
Campbell für die Entwicklung des Antihelminthikums Ivermectin. Die andere Hälfte des
Preises ging an Youyou Tu für die Entwicklung
des Malariamittels Artemisinin, das im Journal
Club des BIOspektrums schon besprochen
wurde.
Ivermectin wirkt sehr effektiv und mit sehr
geringen unerwünschten Wirkungen gegen
pathogene Fadenwürmer, z. B. den Erreger der
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Glutamat
Ivermectin
Glutamataktivierter
ChloridKanal
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ClFadenwurm
Hyperpolarisation
Parasiten-Tod
BIOspektrum | 07.15 | 21. Jahrgang
Abb.: Ivermectin blockiert mit hoher Selektivität und Affinität
Glutamat-gesteuerte
Ionenkanäle in Nervenzellen von pathogenen
Fadenwürmern, aber
nicht die Ionenkanäle
im menschlichen
Gehirn.
Die Entwicklung von Ivermectin zu einem
äußerst erfolgreichen Arzneimittel erfolgte in
enger Zusammenarbeit eines japanischen Forschungsinstituts (geleitet vom Omura) mit
einem Forschungsteam in der Pharmafirma
MSD (geleitet von Campbell). Im Jahr 1973 isolierte Omura aus japanischen Erdproben das
Bakterium Streptomyces avermectinus; 1975
wurden daraus Laktonverbindungen aus der
Klasse der Avermectine dargestellt und anschließend zum semisynthetischen Antihelminthikum Ivermectin weiterentwickelt.
Y Ivermectin ist so sicher, dass es im großen
Umfang kostenlos und ohne spezifische ärztliche Verschreibung an die Bevölkerung in von
Flussblindheit und Elephantiasis tropica betroffenen Regionen abgegeben wird. Im Jahr 2013
wurden insgesamt mehr als 300 Millionen Menschen mit Ivermectin behandelt. Dadurch ist
die Prävalenz der beiden Tropenerkrankungen
dramatisch zurückgegangen. In zwei sehr
lesenswerten Übersichtsarbeiten geben Omura
(Omura S und Crump A, Trends Parasitol
(2014) 30:445–455) sowie Campbell (Campbell WC, Curr Pharm Biotechnol (2012) 13:853–
865) persönliche Rückblicke auf eine spannende Entdeckungsreise, die nach 40 Jahren
mit der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung belohnt wurde. Die Erfolgsstory
Ivermectin wurde ermöglicht durch enge
Zusammenarbeit von Mikrobiologen, Chemikern und Parasitologen und die richtige
Mischung aus gerichteter und explorativer Forschung.
Roland Seifert, Hannover,
und Lutz Hein, Freiburg ó