Hoffnung fürdie Menschheit

HandelsblattNr. 245 vom 18.12.2015 Seite 064
Gastkommentar
Hoffnung für die Menschheit
Stefan Oschmann beschreibt, wie die Ausrottung vernachlässigter Tropenkrankheiten gelingen kann.
E
ten Arabischen Emirate sowie die betroffenen Länder und führenden NGOs beteiligt
waren. Gemeinsam haben sich die Partner
verpflichtet, in Zusammenarbeit mit der
WHO bis zum Jahr 2020 zehn vernachlässigte Tropenkrankheiten einzudämmen
oder auszurotten.
Seit der Unterzeichnung haben Pharmaunternehmen Medikamente im Wert
von 17,8 Milliarden Dollar für die Behandlung dieser Krankheiten gespendet. Mehr
als 5,5 Milliarden Tabletten wurden ausgegeben, um mehr als 3,5 Milliarden Behandlungen für schwer erreichbare Bevölkerungsgruppen in Risikoregionen zur Verfü-
Seit 2012 haben
Pharmaunternehmen
Medikamente im Wert
von 17,8 Milliarden
Dollar für die
Behandlung von
Tropenkrankheiten
gespendet.
PR [M]
rinnern Sie sich noch an
die Preisträger des diesjährigen Medizin-Nobelpreises? Es ist noch gar nicht
lange her, da gingen die Bilder von Menschen mit vernarbten Augen oder Elefantenbeinen um die Welt. Diese Menschen
leiden an Flussblindheit oder Elefantiasis –
Krankheiten, die von parasitären Würmern verursacht werden. Nachdem das
Komitee den Nobelpreis für Medizin zur
Hälfte an den irischen Forscher William C.
Campbell und den Japaner Satoshi Omura
verliehen hatte, standen diese Krankheiten plötzlich weltweit im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit.
Die beiden Wissenschaftler wurden dafür geehrt, dass sie mit der Entwicklung
des Wirkstoffs Avermectin und dem daraus
entwickelten Ivermectin einen Paradigmenwechsel in der Behandlung dieser
Krankheiten ausgelöst haben. Die andere
Hälfte des Preises ging – nicht weniger bedeutend – an die Chinesin Youyou Tu für
ihre revolutionären Fortschritte in der Malariaforschung. Dank der Forschung dieser
drei Nobelpreisträger konnten Flussblindheit und Elefantiasis beinahe ausgerottet
und Millionen von Leben gerettet werden.
Die Folge: Das Leben vieler Menschen in
den ärmsten Regionen der Erde hat sich
erheblich verbessert und Dutzende Volkswirtschaften konnten gestärkt werden.
Zum Zeitpunkt der Nobelpreis-Verleihung hätte man kurzzeitig die These wagen können, dass die sogenannten „neglected tropical disesases“ – die vernachlässigten oder vergessenen Tropenkrankheiten – ihren Namen nicht mehr verdienen.
Doch so schnell das Thema in aller Munde
war, so schnell ist es zumindest in der breiten Öffentlichkeit anscheinend auch schon
wieder in Vergessenheit geraten.
Dennoch – oder gerade deshalb – ist die
Arbeit der Nobelpreisträger ein Lehrstück
dafür, wie unermüdlicher Forscherdrang
(jenseits der Öffentlichkeit), visionäre Führung und die Zusammenarbeit zwischen
Institutionen, Politik und Wirtschaft zu
bahnbrechenden Ergebnissen führen können. Es lohnt sich also, einen Blick hinter
die Kulissen zu werfen, um zu verstehen,
wie es dazu kam.
Wissens- oder Forscherdrang oder auch
einfach die Neugier Einzelner haben in der
Geschichte der Menschheit immer wieder
zu großen Veränderungen geführt. Welchen Einfluss aber hatten Neugier und Beharrlichkeit auf die Arbeit von Satoshi
Omura und William Campbell?
Im Fall von Avermectin begann alles mit
einer Bodenprobe und einer Idee. Omura
und sein Team an der Kitasato-Universität
in Tokio hatten sich zum Ziel gesetzt, Bakterien zu isolieren und zu kultivieren, um
sie auf Wirksamkeit gegen schädliche Mikroorganismen zu testen. Die Idee: Vielleicht können die Bakterien bestimmte
Wirkstoffe produzieren, um sie gegen
Krankheiten bei Tieren und Menschen einzusetzen. Omura wählte in unermüdlicher
Kleinarbeit aus Tausenden Bakterienkulturen die 50 erfolgversprechendsten aus und
züchtete sie im Labor, damit Wissenschaftler auf der ganzen Welt sie weiter untersuchen konnten. In den Laboren des amerikanischen Pharmaunternehmens MSD fanden Forscher dann heraus, dass sich ein
Bestandteil der Bakterien als außerordentlich wirksam gegen Parasiten bei Haustieren und Nutzvieh herausstellte.
Hier kommt der Parasitenbiologe Campbell ins Spiel. Er nämlich stellte die entscheidende Frage: Kann das auf Avermectin basierende Medikament Ivermectin,
das zur Behandlung von Parasitenbefall bei
Pferden genutzt wurde, auch zur Bekämpfung oder gar Vermeidung von Flussblindheit eingesetzt werden? Auch diese Krankheit wird schließlich durch Parasiten verursacht. Von Louis Pasteur stammt das geflügelte Wort: „Der Zufall trifft nur den vorbereiteten Geist.“ Campbell war vorbereitet.
Aber das allein hat natürlich noch nicht
gereicht, um die Millionen Menschen zu
erreichen, die von der Flussblindheit betroffen sind. Wirklich große Veränderungen bedürfen der weitsichtigen Führung
und der Risikobereitschaft. Nachdem
Campbell und seine Kollegen nach fast einem Jahrzehnt harter Arbeit bewiesen hatten, dass Ivermectin die Ausbreitung der
Flussblindheit verhindern kann, veränderte sich die Fragestellung: Wie können wir
die betroffenen Menschen erreichen?
Flussblindheit ist seit jeher eine Krankheit, die Bevölkerungsgruppen in den
ärmsten und abgelegensten Regionen der
Erde mit entsprechend schlechter Infra-
Bei der Bekämpfung
der Flussblindheit
kam es zu einer
beispielgebenden
Zusammenarbeit
von Forschern
an Universitäten
und der Industrie.
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struktur betrifft. Das erkannte auch der
damalige Chairman und CEO von MSD,
P. Roy Vagelos, und traf daraufhin eine
kühne Entscheidung: Er wollte Ivermectin
so lange kostenlos zur Verfügung stellen,
bis die Krankheit ausgerottet ist. Erst diese
beispiellose Entscheidung machte es möglich, dass das Medikament zu denen kam,
die es benötigten. Als das Spendenprogramm 1987 gestartet wurde, bezeichnete
es der US-Senator Edward M. Kennedy
nicht umsonst als Antwort auf das Gebet
für Menschen in Entwicklungsländern, in
denen sich die Flussblindheit epidemisch
ausgebreitet hatte.
Die Beispiele von Omura, Campbell und
Vagelos haben eine ganze Generation inspiriert, ähnliche Projekte zu starten. Das Modell der öffentlich-privaten Zusammenarbeit stand Pate für eine Reihe von Allianzen
zwischen Pharmaunternehmen, Entwicklungs-NGOs, Organisationen wie der Weltbank oder der Weltgesundheitsorganisation
und den Regierungen der betroffenen Länder. Diese dienten wiederum als Ideengeber für neue Programme, mit dem Ziel, die
oft vermeidbaren und vor allem durch Armut verursachten vernachlässigten Tropenkrankheiten einzudämmen.
Trotzdem sollte es noch ein Vierteljahrhundert dauern, bis ein Erfolg im Kampf
gegen die mehr als eine Milliarde Menschen betreffenden Tropenkrankheiten erzielt wurde. Erst ein umfassendes Konzept
der Weltgesundheitsorganisation und der
Zusammenschluss sämtlicher Einzelinitiativen markierten den Wendepunkt.
Im Jahr 2012 wurde die London-Deklaration unterzeichnet, an der nicht nur führende Pharmaunternehmen, sondern
auch wichtige Institutionen wie die Billund-Melinda-Gates-Stiftung, die Regierungen der USA, Englands und der Vereinig-
gung zu stellen. Allein im Jahr 2012 wurden mehr als 800 Millionen Menschen mit
Medikamenten gegen von Parasiten verursachte Krankheiten behandelt. Heute erreichen die gespendeten Tabletten Hunderte Millionen Menschen. Mein eigenes
Unternehmen Merck hat sich verpflichtet,
jedes Jahr bis zu 250 Millionen Tabletten
zur Bekämpfung der Wurmkrankheit Bilharziose zu spenden.
Welche Schlüsse lassen sich nun aus all
dem ziehen? Erstens: Die Anerkennung
der Pionierarbeit von Campbell und Omura hat enorme Bedeutung. Sie würdigt die
Art von Neugierde und Forscherdrang, die
nach Jahren der Sisyphusarbeit im Labor
und kleinster Fortschritte einen Durchbruch für die Menschheit brachte. Zweitens: Erst durch die visionäre Entscheidung von Vagelos und die Bündelung der
Kräfte unterschiedlichster Parteien konnten die Ergebnisse das Leben von Millionen von Menschen verändern. Und drittens: Es gibt Grund zu Optimismus. Kanzlerin Angela Merkel hat vernachlässigte
Tropenkrankheiten auf die Agenda ihrer
G7-Präsidentschaft gesetzt, und die Uno
hat die Einbeziehung dieser Krankheiten
in die kürzlich verabschiedeten Ziele zur
nachhaltigen Entwicklung beschlossen.
Trotzdem sind wir noch nicht am Ziel –
weder in der Forschung noch bei der Umsetzung. Mein Wunsch ist, dass sich meine
Kollegen in der Industrie, aber auch in Regierungen, NGOs und an den Universitäten
von ihrem Forscherdrang leiten lassen,
Hürden in der Zusammenarbeit überwinden und bereit sind, ihren Visionen zu folgen – damit wir irgendwann tatsächlich
keinen Grund mehr haben, von vernachlässigten Tropenkrankheiten zu sprechen
und sie zu Recht aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden sind.
Der Autor ist Präsident des Weltverbands
forschender Pharmaunternehmen und
Verbände der IFPMA sowie Mitglied der
Geschäftsleitung von Merck, deren Vorsitz
er im April 2016 übernimmt.
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