Rede von Dr. Tomas Jelinek

Die Situation der NS-Verfolgten in Tschechien
Dr. Tomas Jelinek, Geschäftsführer des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds,
informiert in seinem Vortrag über geschichtliche Hintergründe und die aktuelle
Lage der Opfer des Nationalsozialismus in Tschechien. Das anschließende
Zeitzeugengespräch mit Frau Zuzanna Skácelová aus Olomouc, dem ASFFreiwilligen Benjamin Brow und Viola Jakschova von Živá paměť, Prag,
moderierte Thomas Heldt von Aktion Sühnezeichen – Friedensdienste.
Liebe Frau Skácelová,
sehr geehrte Damen und Herren,
der Einladung zu der heutigen Veranstaltung bin ich besonders gerne gefolgt.
Denn die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wachzuhalten und
den deutsch-tschechischen Dialog - insbesondere unter Einbeziehung der
jüngsten Generation - zu fördern, gehört zu den wichtigsten Anliegen des
Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds seit seiner Gründung. Das heutige
Podiumsgespräch ist allerdings keine Veranstaltung des Zukunftsfonds. Umso
mehr bin ich dafür unseren Partnern dankbar: der Stiftung EVZ, der Aktion
Sühnezeichen - Friedensdienste und dem gemeinnützigen Verein Živá paměť,
mit denen uns eine lange Zusammenarbeit und viele gemeinsame Ziele
verbinden.
Am heutigen Abend wollen wir unser Augenmerk insbesondere auf die Lage
der NS-Opfer in Tschechien richten. Dies geschieht genau 76 Jahre nach dem
Tag, als die tschechische Bevölkerung zum ersten Mal im sogenannten
„Protektorat Böhmen und Mähren“ aufwachte.
Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft begann auf dem
tschechoslowakischen Boden allerdings bereits ein halbes Jahr früher, als die an
Deutschland angrenzenden und mehrheitlich deutsch bewohnten Gebiete der
Tschechoslowakei in Folge des Münchner Abkommens von deutschen Truppen
besetzt wurden. Es wird Sie nicht überraschen, dass zu den ersten NS-Opfern in
Böhmen und Mähren auch Deutsche gehörten. 10.000 Sudetendeutsche – vor
allem Sozialdemokraten und Kommunisten – wurden in den ersten Monaten
verhaftet, schätzungsweise weitere 30.000 sind in das tschechoslowakische
Inland geflüchtet.
Auch die Verfolgung der tschechoslowakischen Juden begann in den
Grenzgebieten. In mehreren Wellen flüchteten sie in die RestTschechoslowakei vor Diskriminierung und Terror, die in der
Reichspogromnacht gipfelten. Allerdings war die Zweite Tschecho-Slowakische
Republik von den Idealen der Demokratie und Freiheit bereits weit entfernt,
und antisemitische Einstellungen begannen sich im politischen und öffentlichen
Leben immer mehr zu etablieren. Nach der definitiven Zerschlagung der
Tschechoslowakei unterschied sich das Schicksal der jüdischen Bevölkerung im
Protektorat vom übrigen Reichsgebiet nur wenig: 80.000 Menschen fanden im
Holocaust den Tod, 30.000 flüchteten und 13.000 überlebten.
Es gab allerdings einen Unterschied zum Deutschen Reich, der heute Abend
von einer besonderen Bedeutung ist: Die ersten jüdischen Deportationen aus
dem Protektorat begannen bereits im Oktober 1939. Mit dem Ziel Nisko am
San im östlichen Polen wurden Transporte im Rahmen des ersten und
misslungenen Versuchs durchgeführt, die Vernichtung der europäischen Juden
vorzubereiten. In einem der drei Transporte aus dem Protektorat war auch der
Vater von Frau Skácelová.
Zu der am stärksten betroffenen Opfergruppe auf dem tschechischen Gebiet
gehörten auch die böhmischen und mährischen Sinti und Roma. Nach Ihrer
Inhaftierung in den Lagern in Lety und Kunštát im Jahre 1942 wurden sie in den
folgenden zwei Jahren nach Auschwitz deportiert und umgebracht. Den Krieg
überlebten in Tschechien nur etwa 600 bis 800 Sinti und Roma.
Die Okkupationspolitik gegenüber der tschechischen Bevölkerung zeichnete
sich einerseits durch die brutale Unterdrückung jeglicher
Widerstandsaktivitäten aus und anderseits durch die Ausbeutung der
vorhandenen Arbeitskraft. Die Repressionsmaßnahmen wurden sowohl
zielgerichtet gegenüber aktiven Widerstandskämpfern eingesetzt, als auch
flächendeckend gegenüber unschuldigen Menschen. Die Bevölkerung sollte
eingeschüchtert und ihr aktiver und passiver Widerstandswille gebrochen
werden. Verfolgt und inhaftiert wurden mindestens 100.000 Personen.
Die Nutzung der Arbeitskraft wurde ab dem Jahr 1942 zu einem
Massenphänomen. Ganze Jahrgänge junger tschechischer Zwangsarbeiterinnen
und Zwangsarbeiter wurden ins Deutsche Reich deportiert. Insgesamt wird
deren Anzahl auf über 450.000 geschätzt.
Mit dieser kurzen Übersicht über die größten Opfergruppen in der damaligen
Tschechoslowakei wollte ich, meine Damen und Herren, nur den historischen
Hintergrund unseres heutigen Themas etwas konkreter umreißen. Jetzt erlaube
ich mir einen Sprung um 70 Jahre, um der Frage nachzugehen, wer sich in der
Tschechischen Republik dafür einsetzt, dass die hochbetagten Überlebenden
der nationalsozialistischen Verfolgung ein glücklicheres und würdevolles Leben
führen können. Und wie dies umgesetzt wird?
Die Hauptlast in der Linderung der Folgen von NS-Unrecht trug immer der
tschechische Staat. Den Grundstein der staatlichen Unterstützung bildet nach
wie vor ein Gesetz aus dem Jahr 1946, das die staatlich anerkannten NSVerfolgtengruppen definiert. Das Problem dieses Gesetzes liegt in der aus der
heutigen Perspektive eng gefassten Definition der anerkannten Opfergruppen.
Das Gesetz berücksichtigt nämlich keine Opfer, die weniger als drei Monate in
ihrer Freiheit eingeschränkt wurden. Auch Zwangsarbeit wird nicht als NSVerfolgung anerkannt. Die meisten Roma, die nach dem Krieg nach Tschechien
aus der Slowakei kamen, können ihre Freiheitsbeschränkung meistens nicht
nachweisen. Auch zur Verfolgung vieler Sudetendeutschen ist es noch vor der
Besetzung der Tschechoslowakei gekommen, die als Anfang der offiziell
anerkannten Verfolgungszeit gilt. Somit liegt die Anzahl der lebenden
ehemaligen politischen Häftlinge nach diesem Gesetz unter 1.500 Personen,
obwohl die Anzahl aller lebenden NS-Opfer in Tschechien, inklusive der
ehemaligen NS-Zwangsarbeiter, auf über 10.000 geschätzt wird.
Im System der Altersfürsorge bildet allerdings der Opferstatus nach dem Gesetz
255 aus dem Jahre 1945 nach wie vor eine Grundvoraussetzung für die
Besserstellung der NS-Opfer. Diese steht heute auf zwei Pfeilern: der erste ist
ein monatlicher Zuschlag zur Altersrente und der zweite die kostenlose
Gewährleistung der Pflegedienstleistungen.
Eine bedeutende Unterstützung erhielten und erhalten die tschechischen NSOpfer teilweise auch noch heute aus dem Ausland. Seit den 50er Jahren
unterstützt die Jewish Claims Conference aus ihren laufenden Programmen
auch tschechische Holocaust-Überlebende mit finanziellen Hilfeleistungen.
Bereits vor dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es in einem geringen Maße
auch Entschädigungszahlungen direkt von der Bundesrepublik Deutschland. Zu
einer globalen Entschädigung aller rassisch und politisch Verfolgten und aller
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter kam es dann schließlich in den
Jahren 1997 – 2006 im Rahmen von zwei Entschädigungsprogrammen:
zunächst aus den Mitteln des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und ab
dem Jahr 2002 durch die Stiftung EVZ und den österreichischen
Versöhnungsfonds.
Was die nichtstaatlichen Akteure angeht, sind im Bereich der spezifischen
Betreuung von NS-Opfern in Tschechien insbesondere zwei Organisationen
tätig: die Föderation der jüdischen Gemeinden und der gemeinnützige Verein
Živá paměť (Lebendige Erinnerung). Die Föderation betreibt ein Tschechienweites Netz von Sozialberatungszentren und bietet Holocaust-Überlebenden
komplexe Pflegedienstleistungen, sowohl mittels stationärer Pflege als auch
durch ambulante und häusliche Pflege.
Der Verein Živá paměť ist sozusagen ein Kind des Deutsch-Tschechischen
Zukunftsfonds. Er wurde von den Mitarbeitern des Zukunftsfonds gegründet,
als die großen Entschädigungsprogramme zu Ende gingen und als es klar war,
dass die Menschen weiterhin unterstützt und die Erinnerung gepflegt werden
muss. Seitdem entwickelt der Verein – neben dem Bildungsbereich – seine
Tätigkeit vor allem im Sozialbereich. Im Rahmen des am längsten laufenden
Projekts von Živá paměť betreuen deutsche Freiwillige tschechische NS-Opfer.
Weiter betreibt der Verein fünf Treffpunkte für NS-Opfer in Prag, Ostrau,
Olmütz, Budweis und Aussig, die eine Gelegenheit zur Begegnung und zum
generationsübergreifenden Dialog bieten, und die das Leben der Senioren um
gemeinsame Kultur-, Bildungs- oder Freizeitaktivitäten bereichern. Auch
psychosoziale Beratung wird in diesem Rahmen angeboten. Mit einer
Anschubfinanzierung durch den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds werden
die Treffpunkte maßgeblich durch die Stiftung EVZ finanziert. Seit dem letzten
Jahr koordiniert Živá paměť ein Konsortium von mehreren Organisationen mit
dem Ziel, die Anzahl der betreuten NS-Opfer zu erhöhen und auch nicht mehr
mobile NS-Opfer in Seniorenheimen zu erreichen. Was die Aktivitäten des
Vereins einzigartig macht, ist seine Ausrichtung auf einen breiten Kreis von NSOpfern: Von Holocaust-Überlebenden über politisch Verfolgte und Sinti und
Roma bis zu ehemaligen Zwangsarbeitern.
Trotz all dem Gesagten ist die Lage der NS-Opfer in Tschechien insgesamt nicht
zufriedenstellend. Die hochbetagten NS-Opfer sind in einem stärkeren Maße
allen Risiken Ihres hohen Alters ausgesetzt. Neben Ihren gesundheitlichen
Problemen müssen sie öfter mit ihren Traumatisierungen, sozialer Isolation und
Armut kämpfen. Schlechter psychischer Zustand führt zwangsläufig zu einer
Verschlechterung der physischen Kondition. Vor allem Holocaust-Überlebende
haben einerseits oft nur ein relativ kleines Familienumfeld, anderseits leiden
ihre Partner und Kinder nicht selten unter einer sekundären Viktimisierung. Auf
den wachsenden Antisemitismus und auf die vielen Krisensituationen in der
Welt reagieren Holocaust-Überlebende und andere NS-Opfer besonders
sensibel.
Es ist daher notwendig, die finanzielle Unterstützung oder zumindest die
kostenlose Gewährleistung von Pflegedienstleistungen auf alle Opfer des NSUnrechts auszuweiten. Vor allem sollte aber allen ehemaligen NS-Verfolgten
ermöglicht werden, ihre geistigen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse zu
befriedigen. Das kann nur durch eine Ausweitung und gleichmäßige Verteilung
der spezifischen Angebote für diese Zielgruppe erreicht werden. Ein
besonderes Augenmerk sollte dabei den Opfern aus der Roma-Minderheit
gewidmet werden.
Das alles kann allerdings der Staat nicht alleine leisten. Die Rolle der
Zivilgesellschaft ist in dieser Hinsicht unersetzbar. Daher halte ich die
Förderung von zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich für die Sensibilisierung
der Gesellschaft für die Belange der NS-Opfer einsetzen oder psychosoziale
Dienstleistungen anbieten, weiterhin für enorm wichtig. Regelmäßige soziale
Kontakte mit NS-Opfern zu pflegen, gemeinsame Erlebnisse in einem familiären
Umfeld mit ihnen zu teilen, sich ihre Erzählungen über das erlebte Leid und
Unrecht anzuhören und eine dauerhafte gesellschaftliche Anerkennung ihres
schweren Schicksals zu erlangen, das sind die wichtigsten Verpflichtungen
unserer Zivilgesellschaften, die zu einem glücklicheren Leben der Betroffenen
maßgeblich beitragen können.
In diesem Sinne wünsche ich Frau Skácelová und Benjamin Brow noch viele
gemeinsame unvergessliche Augenblicke, der Aktion Sühnezeichen
Friedensdienste und dem Verein Živá paměť weiterhin viele zufriedene Klienten
und bei der Stiftung EVZ bedanke ich mich – auch in meiner Rolle als
stellvertretender Kurator – für ihre hervorragende Arbeit.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit !