Zwingt die Umsetzung der EU-Rahmenbeschlüsse Januar 2015 in

StraFo
Strafverteidiger Forum
Heft 1 Januar 2015
G 26104
Aufstze
Salditt, Strafverteidiger in streitiger Hauptverhandlung
Heydenreich, Zwingt die Umsetzung der EU-Rahmenbeschlsse
Freiheitsstrafen und Bewhrungsberwachung zur Vollstreckung
unverhltnismßiger oder auf rechtsstaatswidrigen Verfahren
beruhender Sanktionen in Deutschland?
Entscheidungen
OLG Mnchen: Kritik an Amtshandlungen ist nicht stets beleidigend
HansOLG Hamburg: Bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation
ist dem Verletzten die Akteneinsicht in aller Regel wegen Gefhrdung des
Untersuchungszwecks zu versagen – Durch den Fortgang der Hauptverhandlung kann sie (auch sukzessiv) entfallen
OLG Rostock: Auch wer als Zeuge ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht hat, muss dennoch erscheinen, damit ihn das Gericht
provozieren und seine Reaktion wrdigen kann m. Anm. Wollschlger
LG Regensburg: Wer sich gesetzestreu verhalten will und verhalten
hat, steht nicht allein deshalb unter Generalverdacht
AG Bautzen: Beweisverwertungsverbot nach Durchsuchung auf
einen anonymen Anruf hin
BGH, OLG Karlsruhe: Zu den Voraussetzungen der konkludenten
Beiordnung
OLG Nrnberg: Der Vergtungsanspruch des vertretungsweise beigeordneten Rechtsanwalts umfasst alle verwirklichten Gebhrentatbestnde
LG Essen: Die Vertretung der Arrestbetroffenen im Arrestverfahren zur
Sicherung der Rckgewinnungshilfe lçst die Wertgebhr nach Nr. 4142
aus m. Anm. Mosiek
Seiten 1–44
www.ag-strafrecht.de
Herausgeber
RA Dr. Heiko Ahlbrecht
RA Prof. Dr. Ferdinand Gillmeister
RAin Dr. Gina Greeve
RAin Dr. Ines Kilian
RA Dr. Dirk Lammer
RA Dr. Klaus Leipold
RA Prof. Dr. Werner Leitner
RA Dr. Panos Pananis
RA Dr. Manfred Parigger
RA Christof Pschel
RA Dr. Christian Rode
RA Prof. Dr. Ulrich Sommer
RA Dr. Rainer Spatscheck
und die
Arbeitsgemeinschaft
Strafrecht des DAV
Redaktion
RA Prof. Dr. Ferdinand Gillmeister
RA Dr. Klaus Leipold
RA Prof. Dr. Werner Leitner
RA Michael Rosenthal
Schriftleitung
RA Dr. Klaus Leipold
RA Michael Rosenthal
Heydenreich, Zwingt die Umsetzung …
StraFo 1/2015
Zwingt die Umsetzung der EU-Rahmenbeschlsse Freiheitsstrafen
und Bewhrungsberwachung zur Vollstreckung unverhltnismßiger oder auf rechtsstaatswidrigen Verfahren beruhender Sanktionen
in Deutschland?
Rechtsanwalt Carl W. Heydenreich, Bonn
Der Gesetzgeber steht vor der Aufgabe, die EU-Rahmenbeschlüsse Freiheitsstrafen1 und Bewährungsüberwachung2
umzusetzen. Sinn des RB Freiheitstrafen ist, verbindliche Standards der EU-Staaten für die Übertragung der Vollstreckung
freiheitsentziehender Sanktionen,3 zu denen eine Person im
Ausland verurteilt worden ist, auf den Staat zu schaffen, in
dem sie ihren Lebensmittelpunkt hat. Der um Vollstreckung
ersuchte Mitgliedsstaat soll die Übernahme nur in engen, ausdrücklich formulierten Grenzen ablehnen können. Der RB
Bewährungsüberwachung regelt ergänzend die Übertragung
der Überwachung von Bewährungsauflagen vom Urteilsstaat
auf den Staat des Aufenthalts der Person. Zweck beider Rahmenbeschlüsse ist, bessere Resozialisierungsbedingungen der
verurteilten Person in ihrem angestammten sozialen Umfeld zu
ermöglichen und die Zurückhaltung der Gerichte bei der Verhängung von Bewährungsstrafen gegen ausländische Staatsangehörige abzubauen.
Wie immer beim Versuch der Umsetzung europäischer Vorgaben, die den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung
justizieller Entscheidungen zur Grundlage haben, ist man mit
der Frage der Vergleichbarkeit der rechtlichen Standards und
damit der Anerkennungsfähigkeit an sich konfrontiert. Diese
Frage stellt sich naturgemäß in besonderer Schärfe dort, wo es
um die Vollstreckung ausländischer Sanktionen im Inland
8
geht. Denn bei der Strafvollstreckung wird die Diskrepanz
des Strafniveaus und die sich hierin spiegelnde Unterschiedlichkeit der Rechtssysteme besonders deutlich. Das Bundesjustiz- und Verbraucherschutzministerium hat im Juli einen
Entwurf vorgelegt.4 Der hält sich allerdings mit der ohnehin
schon problematischen Suche nach Antworten auf Fragen der
Vollstreckungsfähigkeit im EU-Kontext nicht lange auf. Er
sieht – über die Vollstreckungshilfe zwischen den Mitgliedsstaaten hinaus – zugleich generelle, den genannten Rahmenbeschlüssen nicht geschuldete Regelungen zur Übernahme
der Vollstreckung von mit unserer Rechtsordnung nicht zu
vereinbarenden Sanktionen vor: von überlangen, weil das in
Deutschland vorgesehene Höchstmaß überschreitenden, und
solchen Freiheitsstrafen, die auf EMRK-widrigen Verfahren
1
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3
4
Rahmenbeschluss 2008/909/JI v. 27.11.2008 über die Anwendung des
Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen,
durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird,
für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der EU.
Rahmenbeschluss 2008/947/JI v. 27.11.2008 über die Anwendung des
Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen.
Freiheits- oder Jugendstrafen, Maßregeln der Sicherung und Besserung.
Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Internationalen Rechtshilfe
bei der Vollstreckung von freiheitsentziehenden Sanktionen und bei der
Überwachung von Bewährungsmaßnahmen.
StraFo 1/2015
beruhen oder deren Vollstreckung in Deutschland der Grundsatz ne bis in idem oder Verjährungsgründe an sich entgegenstehen würden. Dies wirft die grundsätzliche Frage der Zulässigkeit der hoheitlichen Vollstreckung solcher Sanktionen
in Deutschland auf. Bevor ich mich hiermit näher befasse,5
seien die übrigen wesentlichen Grundzüge des Gesetzentwurfs kurz dargestellt.6
Heydenreich, Zwingt die Umsetzung …
rungsaspekte und damit Belange des Verurteilten im Fokus
haben.9 Ansonsten überwiegt die Kritik. Auch bleiben Freiräume, die die Rahmenbeschlüsse kreativer Anpassung an
die innerstaatliche Rechtslage lassen, weitgehend ungenutzt.
Auf die aus meiner Sicht gravierenden Schwachstellen sei
kurz eingegangen.
1. Anwendungs- und praxisfeindlich
I. Allgemeines zum Referentenentwurf
Durch das Umsetzungsgesetz sind die Voraussetzungen der
Übertragung der Vollstreckung deutscher Urteile ins EUAusland und die möglichen Ablehnungsgründe der Übernahme der Vollstreckung ausländischer Urteile im Inland
entsprechend den Vorgaben der Rahmenbeschlüsse zu konkretisieren. Der nun vorgelegte Entwurf folgt der schon
bislang praktizierten Vorgehensweise,7 der auf das Prinzip
der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen
gegründeten Rechtsetzung der EU durch jeweils einzelne
Ergänzungen der Vorschriften des IRG Rechnung zu tragen.
Das IRG erhält so neben seinen bisherigen generellen Regelungen einen parallelen und speziell dem Rechtshilfeverkehr
innerhalb der EU gewidmeten Teil. Bei der allgemeinen,
vertragsfreien Vollstreckungshilfe regelt es die Vollstreckungsübernahme ausländischer Erkenntnisse bislang in
den §§ 48 ff. und die Vollstreckungsübertragung an ausländische Staaten in § 71. In den §§ 84 bis 84n und 85 bis 85f
IRGE sieht der Referentenentwurf nunmehr zahlreiche Detailregelungen für den europäischen Vollstreckungshilfeverkehr vor, die sich am Wortlaut des RB Freiheitsstrafen
orientieren. Gleiches gilt für den RB Bewährungsüberwachung in den §§ 90a bis 90n IRGE. Hierbei hält sich der
Entwurf eng an die bisherige Systematik der Rechtshilfe,
insbesondere bleibt die überkommene Zweistufigkeit von
Zulässigkeits- und Bewilligungsentscheidungen unangetastet. Ein entsprechendes Vorgehen ist auch für die spätere
Umsetzung von Gegenständen gegenseitiger Anerkennung
zu erwarten.8 Sprachlich nimmt der Entwurf von dem Erfordernis des „Ersuchens“ Abstand und wird damit dem Umstand gerecht, dass nach den zugrunde liegenden Rahmenbeschlüssen sowohl der Vollstreckungs- oder Urteilsstaat als
auch der Betroffene selbst initiativ werden können. Zugleich
nutzt er die Notwendigkeit einer gesetzlichen Neuregelung
zur Schaffung geschlechtsneutraler Formulierungen.
Das Positive an dem Entwurf ist fraglos, dass er endlich
vorliegt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gegenständen europäischer Strafrechtssetzung, die der Effektivierung
der Strafverfolgung dienen, hat sich der Gesetzgeber dafür
reichlich Zeit gelassen. Die Rahmenbeschlüsse nennen eine
Umsetzungsfrist bis Dezember 2011; ab Ende 2014 droht ein
Vertragsverletzungsverfahren. Die Umsetzung ist vor allem
deshalb überfällig, weil die Rahmenbeschlüsse Resozialisie-
Vor allem stößt auf, dass die Umsetzung europäischer Vorgaben trotz ihrer strukturellen und inhaltlichen Vergleichbarkeit nicht aus einem Guss gerät. Es wird je nach aktuellem
Bedarf und Rahmenbeschluss gesondert angestückelt. Dies hat
eine Verweistechnik, Komplexität und Unübersichtlichkeit des
Gesetzes zur Folge, die es unansehnlich, wenig handhabbar und
für jeden Nichtjuristen10 unverstehbar macht.11 Zahlreiche der
bei der Umsetzung der verschiedenen Gegenstände der EURechtsetzung geschaffenen bzw. vorgesehenen Zulässigkeitsund Bewilligungsvoraussetzungen und deren erneute Einschränkung durch Ausnahmeklauseln sind identisch oder inhaltsgleich.12 Es drängt sich auf, diese Kriterien übersichtlich
zusammenzufassen und hierfür einen „allgemeinen europäischen“ und anschließend dann dort, wo sich Abweichungen
ergeben, jeweils einen „besonderen“, allein den jeweiligen
Regelungsgegenstand betreffenden Teil vorzusehen. Bereits
ein solches Vorgehen würde die Übersichtlichkeit und Verstehbarkeit deutlich erhöhen. Wenig nachvollziehbar ist insbesondere die nochmalige Aufspaltung in Zulässigkeits- und ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzungen in den §§ 84a, 84b, 90b
und 90c IRGE.
2. Zustndigkeiten, Ablufe und Wege
Der Vollstreckungshilfeverkehr leidet bislang unter komplexen
Abläufen, die unnötig zu massiven Verzögerungen führen. Nur
selten dauert eine Vollstreckungsübertragung ins benachbarte
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12
Weiter unten II.
Zum Gesetzentwurf insgesamt vgl. die im Wesentlichen inhaltsgleiche
Stellungnahme von RAV und Strafverteidigervereinigungen:
http://www.strafverteidigertag.de/Material/Stellungnahmen/
IRG_okt_2014.html oder http://www.rav.de/publikationen/mitteilungen.
So u.a. beim Rahmenbeschluss über den EU-Haftbefehl (2002/584/JI) im
Achten Teil, §§ 78 ff., und über die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (2005/214/JI) in Abschnitt 2 des Neunten Teils,
§§ 86 ff. IRG.
So bei der Überwachungsanordnung oder der Europäischen Ermittlungsanordnung.
Das gilt gleichermaßen für den Rahmenbeschluss 2009/829/JI vom
23.10.2009 zur gegenseitigen Anerkennung von Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft.
Und nicht nur für den.
Die zwangsläufige Folge, jeweils Fälle notwendiger Beistandsleistung
anzunehmen, realisiert der Referentenentwurf nicht.
Dies betrifft die bei der gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und
Geldbußen in §§ 86 ff. IRG geschaffenen Vorschriften ebenso wie Regelungen, die sich aus der Berücksichtigung des Rahmenbeschlusses Abwesenheitsentscheidungen ergeben; es gilt ähnlich für den EU-Haftbefehl.
9
Heydenreich, Zwingt die Umsetzung …
Ausland weniger als ein Jahr. Der Gesetzentwurf unterlässt es,
dieses Gestrüpp zu lichten und Zuständigkeiten, Abläufe und
Wege zu straffen und zu vereinfachen; ganz im Gegenteil wird
durch gesonderte Regelungen für den europäischen Verkehr die
Unübersichtlichkeit noch erhöht.
StraFo 1/2015
Erwägungen haben insbesondere vor dem Hintergrund keinen
Raum, dass Art. 8 Abs. 2 RB eine Umwandlung dem Vollstreckungsstaat ausdrücklich versagt und allenfalls eine Anpassung auf das dort vorgesehene Höchstmaß zulässt.
4. Maßregeln und Beistandschaft
Grundsätzlich begrüßenswert ist sicherlich die Verlagerung
der Bewilligungszuständigkeit von der Ministerial- auf die
Vollstreckungsebene; der Gesetzgeber hätte sich jedoch einheitlich entweder für die Staatsanwaltschaft oder die Vollstreckungsbehörde entscheiden13 und eine gleichlautende
Regelung auch für den vertragsfreien Verkehr14 vorsehen
sollen. Ebenso hätte es ausgereicht, gerichtliche Zulässigkeitsentscheidungen einheitlich der Strafvollstreckungskammer zuzuweisen;15 der besonderen Zuständigkeit des Oberlandesgerichts bedarf es ersichtlich nicht. Schließlich ist die
Zuständigkeitszuweisung an Gerichte für die Erklärung der
Zustimmung zur Überstellung16 ebenso unnötig wie zeitraubend. Sachgerecht wäre allerdings eine – einheitliche –
Verbesserung des Rechtsschutzes der verurteilten Person
dahingehend, ihr gegen belastende Entscheidungen der
StVK die Beschwerde zum OLG zu ermöglichen.
3. Das Bewilligungsermessen der Staatsanwaltschaft
Nach § 85 Abs. 1 IRGE (und vergleichbar § 90l Abs. 1 IRGE)
kann die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Sanktion einem anderen Mitgliedsstaat
übertragen. Bewilligt die Vollstreckungsbehörde die von der
verurteilten Person begehrte Übertragung nicht und beantragt
diese die richterliche Entscheidung, so weist das Gericht den
Antrag zurück, wenn die Vollstreckungsbehörde ihr Ermessen
fehlerfrei ausgeübt hat. Ist der Antrag dagegen zulässig und
begründet, erklärt das Gericht die Vollstreckung in dem anderen Mitgliedsstaat für zulässig (§ 85b Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3
IRGE). Ermessenskriterien nennt der Gesetzentwurf keine.
Ein derart uferloser Ermessensspielraum und die gänzlich
unterlassene Bindung der Vollstreckungsbehörde sind nicht
akzeptabel. Es bedarf daher einer gesetzlichen Konkretisierung des Bewilligungsermessens der Vollstreckungsbehörde
in §§ 85 Abs. 1, 90l Abs. 1 IRGE.
Nach Art. 3 Abs. 1 RB 2008/909/JI ist Zweck des Rahmenbeschlusses, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen
Wiedereingliederung der verurteilten Person Regeln der
Vollstreckungsübertragung zu formulieren. Die Orientierung
am Ziel der bestmöglichen Resozialisierung der verurteilten
Person findet im Rahmenbeschluss an zahlreichen weiteren
Stellen Erwähnung. Es wäre wünschenswert, diese ausdrückliche Zweckbindung so auch in das den Rahmenbeschluss
umsetzende Gesetz zu übernehmen. In der Begründung des
Gesetzentwurfs erneut aufscheinende diffuse Kriterien wie
die der „Belange der Rechtspflege an einer wirksamen inländischen (?) Strafvollstreckung“ oder etwa generalpräventive
10
Es wäre sicherlich hilfreich, wenn sich der Entwurf detaillierter zu Fragen der Übertragung von Maßregeln der Sicherung und Besserung verhalten hätte. Es handelt sich um
einen noch weitgehend ungeklärten Bereich, in dem jedoch
die Resozialisierungsbedürftigkeit und Dringlichkeit der Regelung besonders im Vordergrund stehen.17 Nach Art. 1b RB
Freiheitsstrafen ist übertragbare Sanktion jede Freiheitsstrafe
oder freiheitsentziehende Maßnahme aufgrund einer strafgerichtlichen Verurteilung. Wie sich aus dem Versagungsgrund des Art. 9 Abs. 1 lit. k des RB ergibt, zählen hierzu
auch Maßnahmen der psychiatrischen Betreuung oder der
Gesundheitsvorsorge. Der Referentenentwurf erwähnt dies
nur am Rande in § 84a Abs. 1 Nr. 2 IRGE.
Schließlich erscheint in der Praxis eine Überarbeitung der
Vorschriften der notwendigen Beistandschaft gerade auch im
Bereich der Vollstreckungshilfe besonders dringlich. Die zuständigen Gerichte neigen in aller Regel dazu, trotz der Bedeutung der Angelegenheit und der Komplexität der Materie die
Voraussetzungen notwendiger Beistandschaft i.S.v. § 53 Abs. 2
IRG abzulehnen.18 An dieser Stelle besteht erheblicher gesetzlicher Ergänzungsbedarf.
II. bernahme der Vollstreckung unverhltnismßiger oder auf rechtsstaatswidrigen Verfahren beruhender Sanktionen
Vor allem die Regelungen des Gesetzentwurfs zur Übernahme
der Vollstreckung unverhältnismäßiger oder auf EMRK-widrigen Verfahren beruhender Sanktionen begegnen gravierenden Bedenken, besonders im allgemeinen, letztlich aber auch
im EU-Kontext.
Der Rahmenbeschluss Freiheitsstrafen räumt dem ersuchten
Mitgliedsstaat bei der Übernahme der Vollstreckung einer frei13
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18
§ 84e IRGE sieht bei der Vollstreckungsübernahme die Staatsanwaltschaft
und § 85 IRGE bei der Vollstreckungsübertragung die Vollstreckungsbehörde vor.
Hier verbleibt es nach dem Entwurf bei der (delegierbaren) Zuständigkeit
der Bundesregierung.
Bei der Vollstreckungsübertragung nach wie vor das OLG.
§§ 85 Abs. 2 S. 2, 90l Abs. 2 S. 2 IRGE.
Es erscheint bezeichnend, dass diese Problemstellung gänzlich vernachlässigt wird, wohingegen die gegenseitige Anerkennung bei der Vollstreckung von Geldstrafen oder Geldbußen bereits lange detaillierte Regelung
erfahren hat.
Manche eine Beiordnung ablehnenden Beschlüsse lesen sich so, als sei die
Sach- und Rechtslage einfach, weil das OLG ja ohnehin eine richtige
Entscheidung treffe.
StraFo 1/2015
heitsentziehenden Sanktion eines anderen Mitgliedsstaates gegen eigene Staatsangehörige oder im Inland wohnende Personen einen nur sehr geringen Ablehnungsspielraum ein,19
zumal wenn die verurteilte Person zustimmt. Eine Umwandlung der Sanktion ist i.d.R. ausgeschlossen, eine Anpassung nur
möglich in Fällen, in denen die Dauer der erkannten Strafe mit
dem Recht des Vollstreckungsmitgliedsstaates nicht vereinbar
ist, und allenfalls bis auf die dort vorgesehene Höchststrafe.
Angesichts des noch immer bestehenden stark unterschiedlichen Straf- und Rechtsschutzniveaus unter den Mitgliedsstaaten birgt dies zwangsläufig für manchen Vollstreckungsstaat
Friktionen im Hinblick auf die eigene Rechtsordnung. Der
Referentenentwurf widmet sich dieser Problematik eingehend:
Er orientiert sich strikt an den Versagungsmöglichkeiten des
Rahmenbeschlusses und sieht in § 84g Abs. 4 IRGE die
Ermäßigung einer Strafe auf das Höchstmaß der in Deutschland
vorgesehenen Strafe vor, sofern diese in dem Erkenntnis überschritten ist.20 Dies mag bis hierhin nach den Vorgaben europäischen Rechts im Regelfall unumgänglich21 sein.
Heydenreich, Zwingt die Umsetzung …
bindliche Vollstreckungsgrundlage schaffen, solche Sanktionen der hiervon betroffenen Person gegenüber in Deutschland
zwangsweise durchzusetzen? Und darf der deutsche Staat
dies dem (Unrechts-) Urteilsstaat gegenüber verbindlich gewährleisten? Die Betrachtung soll sich beschränken auf die
Frage der Vollstreckung freiheitsentziehender Sanktionen,
die auf mit der EMRK nicht zu vereinbarenden Verfahren
beruhen oder wegen ihrer Höhe mit unserem Rechtsverständnis nicht vereinbar sind. Letzteres kann durchaus auch im
europäischen Kontext der Fall sein, wenn gem. Art. 8 Abs. 2
RB, § 84g Abs. 4 IRGE eine Absenkung der im Ausland
erkannten Strafe nur bis auf das in Deutschland angedrohte
Höchstmaß vorgenommen wird.
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22
Der Referentenentwurf geht jedoch weiter. Er schafft ohne Not
und erkennbaren Anlass, wohlgemerkt im allgemeinen, nicht
nur auf die Mitgliedsstaaten der EU bezogenen Teil, einen
neuen § 54a Abs. 1 IRGE, demzufolge in Fällen, in denen der
Urteilsstaat dies zur Bedingung macht, die Vollstreckung einer
freiheitsentziehenden Sanktion gegen eine Person deutscher
Staatsangehörigkeit über die im Inland vorgesehene Höchststrafe hinaus auch dann für zulässig erklärt oder eine Reststrafenaussetzung von der Zustimmung des Urteilsstaates abhängig gemacht werden kann, wenn
1. sich die verurteilte Person damit einverstanden erklärt hat
und
2. die Vollstreckung unter Beachtung der Interessen der verurteilten Person nicht den wesentlichen Grundsätzen der
deutschen Rechtsordnung widersprechen würde.22
Und in § 49 Abs. 3 IRGE wird bestimmt, dass unter denselben
Voraussetzungen möglich ist, die Vollstreckung einer im Ausland verhängten freiheitsentziehenden Sanktion für zulässig zu
erklären, die in einem Verfahren ergangen ist, welches mit der
Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten nicht im Einklang steht, im Inland bereits
verjährt wäre oder deren Vollstreckung an sich die fehlende
gegenseitige Strafbarkeit oder der Grundsatz ne bis in idem
entgegenstünden.23 Vergleichbares findet sich im EU-Zusammenhang in den §§ 84b Abs. 2 und 84g Abs. 4 S. 2 IRGE, der
explizit auf § 54a IRGE verweist. Begründet wird all dies mit
humanitären Belangen und Bedürfnissen einer im Ausland
verurteilten und gefangenen Person.
Die Frage ist grundsätzlicher Natur: Darf der Gesetzgeber,
wie es der Entwurf vorsieht, die hoheitliche Vollstreckung
auf rechtsstaatswidrigen Verfahren beruhender oder nach
deutschem Rechtsverständnis unverhältnismäßiger ausländischer Sanktionen sanktionieren? Darf er eine rechtlich ver-
23
Art. 9 RB; vornehmlich in Fällen eines Verstoßes gegen ne bis in idem,
Strafmündigkeits-, Verjährungs- und Immunitätsvorschriften des Vollstreckungsstaates sowie in bestimmten Fällen fehlender beiderseitiger Strafbarkeit und von Abwesenheitsentscheidungen.
Und in Abs. 5 die Umwandlung etwa in Jugendstrafe bei Vorliegen der
Umwandlungsvoraussetzungen.
Es entspricht im Wesentlichen auch dem bisherigen Rechtszustand.
§ 54a IRGE lautet auszugsweise:
Vollstreckung langer freiheitsentziehender Sanktionen
(1) Hat der Urteilsstaat die Bedingung gestellt, dass ab der Überstellung die
freiheitsentziehende Sanktion noch für einen bestimmten Zeitraum in der
Bundesrepublik Deutschland vollstreckt wird, kann das Gericht
1. abweichend von § 54 Abs. 1 S. 3 auch eine Sanktion festsetzen, die das
Höchstmaß der im Geltungsbereich dieses Gesetzes für die Tat angedrohten Sanktion überschreitet, und
2. die Vollstreckung des Restes der in der Bundesrepublik Deutschland
vollstreckbaren Freiheitsstrafe gem. § 57 Abs. 2 nur nach Zustimmung des
Urteilsstaates zur Bewährung aussetzen.
(2) Eine Entscheidung des Gerichts nach Abs. 1kann nur ergehen, wenn
1. sich die verurteilte Person damit einverstanden erklärt hat und
2. die Vollstreckung unter Beachtung der Interessen der verurteilten Person
nicht den wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde.
… (Regelungen zur Abgabe des Einverständnisses) Das Einverständnis
kann nicht widerrufen werden. Die verurteilte Person ist zuvor über die
Rechtsfolgen ihres Einverständnisses und dessen Unwiderrufbarkeit zu
belehren.
§ 49 IRGE lautet auszugsweise:
(1) Die Vollstreckung ist zulässig, wenn
1. ein vollständiges rechtskräftiges und vollstreckbares Erkenntnis vorliegt,
2. das ausländische Erkenntnis in einem Verfahren ergangen ist, welches
mit der Europäischen Konvention … zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten … im Einklang steht,
3. auch nach deutschem Recht … wegen der Tat, die dem ausländischen
Erkenntnis zugrunde liegt,
a) eine Strafe, eine Maßregel der Besserung und Sicherung oder eine
Geldbuße hätte verhängt werden können, …
4. keine Entscheidung der in § 9 Nummer 1 ergangenen Art ergangen ist …
(ne bis in idem)
(2) …
(3) Die Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Sanktion, die gegen eine
Person mit deutscher Staatsangehörigkeit in einem ausländischen Staat
verhängt worden ist, kann abweichend von Abs. 1 Nummer 2 bis 5 für
zulässig erklärt werden, wenn
1. sich die verurteilte Person damit einverstanden erklärt hat und
2. die Vollstreckung unter Beachtung der Interessen der verurteilten Person
nicht den wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde.
… (Regelungen zur Abgabe des Einverständnisses)
Das Einverständnis kann nicht widerrufen werden. Die verurteilte Person
ist zuvor über die Rechtsfolgen ihres Einverständnisses und dessen Unwiderrufbarkeit zu belehren.
11
Heydenreich, Zwingt die Umsetzung …
1. Vollstreckung trotz Verstoß gegen EMRK im Urteilsstaat
Bei der Vollstreckung von Sanktionen aufgrund EMRK-widriger Verfahren ist ein klares Nein angesagt. Die Vollstreckung solcher Sanktionen ist Unrecht, egal ob der Verurteilte
zustimmt oder nicht. Der Staat darf seinen Bürgern gegenüber
kein Unrecht zwangsweise durchsetzen. Die Frage ist schon,
was Grundlage der hoheitlichen Vollstreckung wäre: Das in
dem makelbehafteten Verfahren ergangene Urteil, die Einwilligung des Betroffenen oder etwa ein Mix aus beidem?
Gegen die gesetzliche Regelung der Vollstreckung solcher
„Unrechtsentscheidungen“ spricht zumal, dass sie diese aufwertet, vor allem aber, dass sie mit Blick auf den Urteilsstaat
(und die eigene Verlässlichkeit für Folgefälle) einen (gesetzlichen) Regelfall schafft, auf den dieser sich berufen kann. Die
Möglichkeiten diplomatischer Einflussnahme werden so konterkariert. Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung könnte
zudem den Rechtsanwender veranlassen, sie, da kodifiziert,
als gesetzlich geregelte Normalität hinzunehmen. Jede einmal
für Ausnahmefälle geschaffene Regelung entwickelt mit der
Zeit ihre Eigendynamik und die Praxis ist nur zu gern bereit,
sich hierauf einzulassen.
Nichtssagend, nicht praktikabel und nicht akzeptabel ist zudem
die vom Gesetzgeber vorgenommene Unterscheidung in Verfahren, die mit der EMRK in Einklang stehen, solchen, die dies
nicht tun, jedoch unter Beachtung der Interessen der verurteilten Person nicht den wesentlichen Grundsätzen der deutschen
Rechtsordnung widersprechen, und solchen, die nicht einmal
dies vermögen. Verfahren, die mit der EMRK nicht in Einklang
stehen, jedoch den wesentlichen Grundsätzen der deutschen
Rechtsordnung genügen, sind nach dieser nicht vorstellbar.
Nicht hinnehmbar ist, dass die Rechtsstaatswidrigkeit des Verfahrens in Relation zu den Interessen der betroffenen Person
gesetzt, die Rechtmäßigkeit also relativiert und unter einen
Verhältnismäßigkeitsvorbehalt gestellt wird. Danach wären
die Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens
umso geringer, je schlimmer die Vollstreckungsumstände im
Urteilsstaat sind: ein Paradoxon. Selbstredend werden humanitäre Belange immer umso dringlicher sein, je weniger die
Verhältnisse im Urteilsstaat und das dort ergangene Erkenntnis
den Anforderungen der EMRK oder den wesentlichen Grundzügen der deutschen Rechtsordnung genügen. Es betrifft Verfahren und Vollstreckungssituation gleichermaßen. In dieser
Situation macht es keinen Sinn, zwischen humanitären Aspekten und Verfahrensmängeln abzuwägen, ein bisschen Folter
etwa noch so eben hinnehmen, das durch massive Folter erzwungene Geständnis jedoch zum Hinderungsgrund einer Vollstreckungsübernahme machen zu wollen.
Es geht dem Referentenentwurf erkennbar allein darum, einen
nichtssagenden, im Einzelfall je nach Interessenlage dehn12
StraFo 1/2015
baren Topos zu schaffen. Ein solcher ist für die Praxis völlig
untauglich: Was wäre die Konsequenz, wenn der Verurteilte
nach Beginn der Vollstreckung im Inland gegen diese mit der
Begründung klagt, die gesetzlichen Voraussetzungen der Vorschrift hätten nicht vorgelegen, die Vollstreckung widerspreche sehr wohl den wesentlichen Grundsätzen der deutschen
Rechtsordnung? Man sieht, es handelt sich um Konstellationen, die sich abstrakt-gesetzlicher Regelung entziehen, in
denen vielmehr immer im Einzelfall mit den Mitteln der
Diplomatie und Politik versucht werden muss, eine annähernd
befriedigende Lösung zu finden.
Gänzlich unrealisierbar erscheint der verbindlich geregelte
Ausschluss der Möglichkeit des Widerrufs eines vom Verurteilten im Urteilsstaat unter den dortigen Bedingungen erklärten Einverständnisses, wie § 49 Abs. 3 S. 3 IRGE dies
vorsieht, sei dieses Einverständnis auch noch so formvollendet
entgegengenommen. Je nachvollziehbarer die humanitäre
Dringlichkeit der Vollstreckungsübernahme angesichts der –
ihrerseits menschenrechtswidrigen – Vollstreckungsbedingungen im Urteilsstaat sein wird, desto weniger von einem freien
Willen getragen ist ein unter diesen Bedingungen abgegebenes
„Einverständnis“, mit der Folge, dass sein Widerruf nicht ausschließbar ist. Was wäre gar dann Grundlage der Vollstreckung, wenn das Einverständnis – ohne Rechtsgrundlage –
widerrufen wird? Mit der Möglichkeit des späteren Widerrufs
verliert die Regelung allerdings jeden Sinn.
2. Unverhltnismßige Sanktion
Ähnliche Bedenken sind gegen die Einführung einer Regelung wie der des § 54a IRGE geltend zu machen. Die
Vollstreckung einer das Höchstmaß der für die Tat im Inland
angedrohten Strafe überschreitenden Sanktion ist nicht verhältnismäßig. Das gilt bei deutlich niedrigerem Strafniveau
im Regelfall auch für die ausnahmslose Vollstreckung der im
Inland angedrohten Höchststrafe, wie sie Art. 8 Abs. 2 RB,
§ 84g Abs. 4 IRGE vorsehen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genießt Verfassungsrang und ist Teil des ordre
public. Eine solche ausdrückliche gesetzliche Regelung
wird der Urteilsstaat gar als Einladung verstehen können,
entsprechende Bedingungen zu stellen.
III. Resmee
Unter der Geltung des Grundgesetzes kann der deutsche
Gesetzgeber keinen generellen Erlaubnistatbestand für die
Vollstreckung unverhältnismäßiger oder auf rechtsstaatswidrigen Verfahren beruhender Sanktionen formulieren, auch
vor dem Hintergrund nicht, dass humanitäre Erwägungen in
Einzelfällen danach verlangen, dem Betroffenen zu helfen.
Dieses Bemühen muss im jeweiligen Einzelfall Gegenstand
politscher Einflussnahme und der Diplomatie sein; es ver-
StraFo 1/2015
schließt sich einer allgemeinen gesetzlichen Regelung, deren
Nachteile bei einer Gesamtschau schon wegen ihrer Signalwirkung deutlich überwögen. Dies gilt erst recht für den
Vollstreckungshilfeverkehr innerhalb der EU. In einem
Raum gegenseitigen Vertrauens, der Voraussetzung der gegenseitigen Anerkennung ist und sein muss, darf es für
Übermaßvollstreckung und die Vollstreckung auf nach unserem Rechtsverständnis fragwürdigen Verfahren beruhender Sanktionen keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage
geben, wie sie etwa in den §§ 84b Abs. 2 und 84g Abs. 4 S. 2
IRGE vorgesehen ist.
Entscheidet sich der Gesetzgeber gegen diese Bedenken und
hält daran fest, vermeintlich humanitären Gesichtspunkten
durch eine ausdrückliche gesetzliche Regelung Rechnung
tragen zu wollen, so sollte er sich von der Formel, der zufolge
die Vollstreckung wesentlichen Grundsätzen der deutschen
Rechtsordnung nicht widersprechen darf, konsequenterweise
gänzlich verabschieden. Der Gesetzgeber wäre dann allerdings, wie auch bei der Vollstreckung unverhältnismäßiger
Sanktionen, gehalten, begleitende Vorkehrungen, etwa gesonderte Vollstreckungs- und Strafaussetzungsregelungen zu
schaffen, um entstehende Härten abzufangen und einem ggf.
anderen Vollstreckungsregime im Urteilsstaat Rechnung tragen zu können. Dies gilt genauso im Verhältnis zu EU-Staaten
für die Fälle, in denen im Hinblick auf Art. 8 Abs. 2 RB die
Vollstreckung der im Inland angedrohten Höchststrafe nach
EU-Recht unvermeidbar ist.
Es ist nicht nur das Strafniveau, gerade auch in den EU-Mitgliedsstaaten, z.T. sehr unterschiedlich; sehr unterschiedlich
sind auch die begleitenden Vollstreckungsvorschriften, ohne
die man oft eine erkannte Strafe nicht verstehen kann. So
bestehen unterschiedliche Systeme der Strafzeitberechnung,
unterschiedliche Strafaussetzungs- und auch Therapiemöglichkeiten und Unterschiede in der Art der Vollstreckung. Jedes
System mag für sich kohärent sein (oder auch nicht), wenn man
jedoch bei der Vollstreckung der erkannten Strafe allein die
Strafhöhe zum Maßstab macht und die weiteren Vollstreckungsumstände in eine Regelung nicht mit einbezieht, entsteht
zwangsläufig eine Inkohärenz.24 Der Gesetzentwurf wird diesem Problem nur peripher gerecht; es fehlen zahlreiche begleitende Vorschriften, die bei einer Vollstreckungsübernahme
hierdurch entstehende Härten vermeiden helfen.
Heydenreich, Zwingt die Umsetzung …
in den verschiedenen Rechtsordnungen unterschiedlich, auch
die Voraussetzungen sind es. So macht § 57 Abs. 2 StGB die
Halbstrafenaussetzung vom Vorliegen besonderer Umstände
in Tat und Person abhängig; nach z.B. britischem Recht ist
sie der Regelfall. Die Erfahrung lehrt, dass Vollstreckungsbehörden und Strafvollstreckungskammern sich am Gesetzeswortlaut orientieren und im Umstand der Vollstreckung
ausländischer Sanktionen keine besonderen Umstände i.S.v.
§ 57 Abs. 2 StGB erkennen. Änderungsbedarf besteht auch
im Hinblick auf § 35 BtMG und die dortige Zweijahresregelung.25 Gleiches gilt bei der Strafzeitberechnung. In
Deutschland wird jeder Tag Freiheitsentziehung eins zu eins
berechnet. Es gibt zahlreiche Staaten, in denen dann, wenn
der Verurteilte in Haft arbeitet, eine höhere Anrechnung
stattfindet. Bei der Vollstreckung nach hiesigem Rechtsverständnis unverhältnismäßig hoher Strafen26 stellt sich die
Frage, ob hierfür nicht besondere Einrichtungen vorzusehen
sind. Es drängt sich eine Regelung dergestalt auf, dass derartige Strafen grundsätzlich in Einrichtungen des Offenen
Vollzuges zu vollstrecken sind.
Und auch bei der nach Art. 8 Abs. 2 RB vermeintlich
zwingenden Begrenzung einer Anpassung auf die im Inland
angedrohte Höchststrafe sind Freiräume einer erträglicheren
Gestaltung zugänglich. So sollten Straftatbestände und Strafrahmen in Einzelfällen daraufhin untersucht werden, ob man
sie nicht im Hinblick auf den RB ändern und dessen Vorgaben entsprechend im Sinne einer größeren Kompatibilität
mit dem deutschen Sanktionensystem anpassen muss. Ich
denke hier vor allem an Struktur und Strafrahmen des BtMG.
Verstöße gegen Betäubungsmittelvorschriften machen einen
Großteil der für die Vollstreckungshilfe im EU-Verkehr
relevanten Fälle aus. Eine wesentlich größere Flexibilität
wäre erreicht, unterschiede man auf Tatbestands- und
Rechtsfolgenebene – endlich – nach Art und Gefährlichkeit
der Betäubungsmittel, wie dies etwa in den Niederlanden seit
jeher der Fall ist.27
Und es gibt Fälle, in denen auch im EU-Rahmen eine nachhaltigere Anpassung als lediglich auf die im Inland angedrohte Höchststrafe möglich ist. Grundsätzlich wird sich der
deutsche Gesetzgeber den Vorgaben des Rahmenbeschlusses
nicht entziehen können, jedenfalls dann, wenn der deutsche
24
Konkret: Positiv ist, dass der Referentenentwurf in § 84k
Abs. 1 S. 3 IRGE die Entscheidung über eine mögliche
Reststrafenaussetzung auf den Zeitpunkt vorzieht, in dem
eine solche nach dem Recht des Urteilsstaates frühestmöglich wäre. Dies reicht jedoch erkennbar nicht, bereits deshalb
nicht, weil die Bestimmung sich allein auf EU-Staaten bezieht; eine vergleichbare Regelung für die Vollstreckungsübernahme gem. §§ 48 ff. IRG(E) fehlt. Und nicht nur der
Zeitpunkt einer frühestmöglichen Reststrafenaussetzung ist
25
26
27
Den Gesetzgeber holt ein, was vor der Rechtsetzung der EU und der
bedingungslosen Verfolgung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung unterblieben ist: eine gründliche Untersuchung und der Vergleich der
jeweiligen nationalen Gegebenheiten und rechtlichen wie tatsächlichen
Bedingungen.
Es gibt EU-Staaten wie Griechenland, die eine deutlich frühere Therapieund Zurückstellungsmöglichkeit und ihr folgende Bewährungsentscheidung vorsehen.
Seien es gar nicht angepasste oder gem. Art. 8 Abs. RB auf das inländische
Höchstmaß abgesenkte.
Dann könnte etwa beim Besitz nicht geringer Mengen weicher Drogen die
im Inland angedrohte Höchststrafe deutlich niedriger liegen als die bislang
angedrohten 15 Jahre.
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Heydenreich, Zwingt die Umsetzung …
Staat selbst keinen Anlass für die der Strafe zugrunde
liegende Verurteilung gegeben und nicht an dem Verfahren
mitgewirkt hat. Anders sieht dies jedoch aus, wenn er eine
derartige Bestrafung erst ermöglicht hat. So ist es in Fällen
der Auslieferung an den Urteilsstaat aufgrund EU-Haftbefehls. Hier sieht der RB zum Europäischen Haftbefehl28
in Art. 5 Nr. 3 die bedingungsfreie Rücküberstellung dann
vor, wenn der an den Urteilsstaat Ausgelieferte Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaates ist oder in diesem lebt.
In dieser Konstellation besteht ein Konflikt der Rahmenbeschlüsse EU-Haftbefehl und Freiheitsstrafen, der den
Vollstreckungsstaat zu einer weitergehenden Anpassung berechtigt. Es wird nicht übersehen, dass auch die EU-Rechtsetzung diesen Konflikt gesehen und in Art. 25 RB Freiheitsstrafen dahingehend gelöst hat, dass der RB Freiheitsstrafen
grundsätzlich Vorrang hat; aber seinem Wortlaut nach eben
auch nur zwecks Vermeidung der Straflosigkeit der betreffenden Person. Dies bedeutet, dass der RB Freiheitsstrafen
und die dort getroffene Regelung immer, aber auch immer
nur dann vorrangig ist, wenn andernfalls Alternative allein
die Straflosigkeit der verurteilten Person ist. Eine Anpassung
wird also nicht ausgeschlossen. Das hat auch der Niederländische Gesetzgeber so gesehen und in 2.11 WETS berücksichtigt. Die Regelung lautet29:
4. Wenn die auferlegte Freiheitsstrafe höher ist als die nach
niederländischem Recht für die Tat anzuwendende Maximalstrafe, wird die Dauer der Freiheitsstrafe auf dieses Strafmaximum reduziert.
5. Wenn der Verurteilte mit der Garantie der Rücküberstellung
ausgeliefert wird, … wird Artikel 4 nicht angewandt, sondern
es wird geprüft, ob die auferlegte freiheitsentziehende Maßnahme mit einer entsprechenden Strafe für die jeweilige Tat in
den Niederlanden vereinbar ist. Sofern notwendig, wird die
Strafe entsprechend umgewandelt, wobei die im die Strafe
auferlegenden Mitgliedsstaat geltende Auffassung bezüglich
der Schwere der Tat berücksichtigt wird.
Eine vergleichbare Regelung sollte auch der deutsche Gesetzgeber finden.
IV. Mçgliche Anwendungssituationen
Die Relevanz der vom Referentenentwurf vorgesehenen Regelungen ergibt sich in der Betrachtung erdachter und möglicher Anwendungsfälle.
Etwa Hussein A.: Er wird in Ägypten als vermeintlicher
Anhänger der Muslimbrüder in einem nur eintägigen Massenverfahren gegen mehrere hundert Angeklagte ohne Beweisaufnahme und Verteidigungsmöglichkeit zur Todesstrafe verurteilt, die später im Gnadenweg in lebenslange Freiheitsstrafe
umgewandelt wird. Und gegen Ali B. wird in Marokko nach
einem islamistischen Terroranschlag auf einer Ferieninsel auf
Grundlage eines auf Folter beruhenden Geständnisses in nicht
öffentlicher Hauptverhandlung wegen Mitgliedschaft in einer
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terroristischen Vereinigung eine Freiheitsstrafe von 30 Jahren
verhängt. Beiden ist gemeinsam, dass sie deutsche Staatsangehörige und unter inhumanen und z.T. grob menschrechtswidrigen Bedingungen in den jeweiligen Urteilsstaaten gefangen
sind. Beide wünschen ihre Überstellung nach Deutschland und
stimmen der dortigen Vollstreckung der Strafen und der Unwiderruflichkeit ihrer diesbezüglichen Erklärung zu. Und in
beiden Fällen macht der Urteilsstaat die Vollstreckung von
jedenfalls mindestens 20 Jahren der erkannten Haftstrafe zur
Bedingung einer Überstellung. Hier kumulieren, zugegebenermaßen in einer extremen Zuspitzung, Rechtsstaatswidrigkeit
der Verfahren und Unverhältnismäßigkeit der Strafen. Und es
erscheint nachgerade zwingend, beiden Verurteilten aus ihrer
jeweiligen Vollstreckungssituation zu helfen. Aber um den
Preis einer gesetzlich geregelten Anerkennung derartiger Vollstreckung in Deutschland? Um den weiteren Lauf der Dinge
vorweg zu nehmen: Hussein A. widerruft nach Überstellung
und Vollstreckungsübernahme sein Einverständnis und erhebt
Klage und Verfassungsbeschwerde gegen die weitere Vollstreckung des ägyptischen Urteils, mit denen er die Nichtigkeit
seiner Einverständniserklärung und Rechtswidrigkeit der Vollstreckung geltend macht. Ihm wird sein formvollendet erklärtes Einverständnis entgegengehalten. Ali B. begehrt nach
Vollstreckung der Hälfte Strafaussetzung. Die Strafvollstreckungskammer lehnt im Hinblick auf das fehlende Einverständnis des Urteilsstaates gem. § 54a Abs. 1 Nr. 2 IRGE ab –
oder wegen Nichtvorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen
des § 57 Abs. 2 StGB. Theorie? Mitnichten, die Möglichkeiten
sind im Gesetz so angelegt.
Ähnliche Friktionen drängen sich auch im europäischen
Vergleich auf, ohne dass es eines Rückgriffs auf § 54a
IRGE bedürfte. Klaus C. wird in Rumänien mit 5 Gramm
Heroin guter Qualität angetroffen und zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt. Heike D. erhält in Griechenland wegen Handelns mit Betäubungsmitteln in großer
Menge eine 16-jährige Freiheitsstrafe, weil in ihrem Hotelzimmer nach der Abreise 100 Gramm Marihuana gefunden
werden.30 Sie war nach ihrer Rückkehr von einer Ferienreise
aufgrund eines in Griechenland ausgestellten europäischen
Haftbefehls nach dort ausgeliefert und dann dort verurteilt
worden. Ohne dass es einer gesonderten Bedingung des
Urteilsmitgliedsstaates bedürfte, werden beide Strafen bei
Überstellung nach Deutschland in Höhe von 15 Jahren für
vollstreckbar erklärt.31 War bei Heike D. nur ein kleiner Joint
gefunden worden, beträgt die angepasste und für vollstreck28
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Rahmenbeschluss 2002/584/JI.
In deutscher Übersetzung.
Vergleichbare Beispiele lassen sich bilden für die Vollstreckung von
Abwesenheitsurteilen oder in Fällen von Doppelverfolgung oder Verjährung im Inland.
§ 29a BtMG sieht für Besitz von und Handeltreiben mit Betäubungsmitteln
in nicht geringer Menge einen Strafrahmen von einem bis zu 15 Jahren vor,
es sei denn, es lägen minder schwere Fälle vor. Strafzumessungsregelungen haben allerdings bei der Anpassung außer Betracht zu bleiben.
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bar erklärte Freiheitsstrafe noch immer 5 Jahre. Es ist die
andere Seite der Freiheit des Personenverkehrs innerhalb der
EU. Die Erfahrung lehrt, dass spätere Gnadengesuche der
Verurteilten mit der Begründung abgelehnt werden, es sei
Verfahrensrecht
nicht Aufgabe der Gnadengewährung, etwa völkerrechtliche
Vereinbarungen zu umgehen.
Der Gesetzgeber ist erkennbar über den vorgelegten Referentenentwurf hinaus gefordert.
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