inprekorr Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF November/Dezember INTER NATIONA LE PR ESSEKOR R ESPONDENZ COP 21 – GIPFEL DER VERLOGENHEIT 6/2015 Ausgabe 6/2015 International Europa WELTWEITE FLÜCHTLINGSKRISE UND KRISE DER EU DIE EUROPÄISCHE (DES-)INTEGRATION Ökologie Ökosozialismus Ökonomie COP 21 – GIPFEL DER VERLOGENHEIT DIE DROHENDE ÖKOLOGISCHE KATASTROPHE WELCHES PRODUKTIVISTISCHE MODELL? Die dramatische Zunahme der Migration hat viele Gründe: endlose Kriege, Klimakrise, Auflösung des sozialen Zusammenhalts, Zerstörung der Existenzgrundlagen etc. Die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der Europäische Union geht immer weiter auseinander, mit verheerenden Folgen für die Menschen im Süden. 12 Der COP 21-Gipfel verspricht, ein Gipfel der Lüge, der Geschäfte und des Klimaverbrechens zu werden. Das System treibt in Richtung sozialer und ökologischer Zerstörung. 17 Ökosozialismus als emanzipatorisches Gesellschaftsmodell und rettende Chance. Denn die Katastrophe liegt weder in der Natur der Sache noch in der des Menschen begründet. Angesichts der Umweltprobleme ist ein nicht produktivistisches Modell nicht vorstellbar, ohne die Grundlagen des kapitalistischen Funktionierens infrage zu stellen. von Pierre Rousset von Yann Cézard Von Daniel Tanuro Von Daniel Tanuro Von Michel Husson 4 7 26 I N H A LT Subsahara-Afrika IMPERIALISTISCHE FREMDHERRSCHAFT IN NEUER GESTALT die internationale Griechenland BENJAMIN UND TROTZKI: 1940 LINKSREFORMISMUS IN DER DEFENSIVE ERKLÄRUNG ZU DEN WAHLEN AM 30.9. In Afrika verleitet das gegenwärtige Wirtschaftswachstum manche zur Annahme, dass Afrikas „große Zeit“ bevorstünde oder – so Nelson Mandela 2005 – gar schon gekommen sei. Mehr als das gemeinsame Todesjahr des russischen Revolutionärs und des deutschen Philosophen hat den Verfasser zu dieser überraschenden Synopse veranlasst. 56 Syrizas Niederlage ist eine Niederlage für den Linksreformismus in Europa. Ein Blick auf die Unterschiede zwischen revolutionärer und reformistischer Strategie. Der Wahlausgang vom 20. September hat eine völlig andere Bedeutung als der vom Januar. Er verdeutlicht die gegenwärtigen Grenzen der Arbeiterbewegung Von Jean Nanga Von Helmut Dahmer Von Mikael Hertoft Von OKDE-Spartakos 34 die internationale 52 60 I N T E R N AT I O N A L WELTWEITE FLÜCHTLINGSKRISE UND KRISE DER EU Die dramatische Zunahme der Migration hat vielfältige Gründe: die endlosen Kriege, die Klimakrise, die Auflösung des sozialen Zusammenhalts. Pierre Rousset Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg haben notgeborene Bevölkerungsverschiebungen solche Ausmaße erreicht und noch nie waren sie so mörderisch und gefährlich durch viele Unwägbarkeiten für so viele Kinder, Frauen und Männer, die unmenschlichen Lebensbedingungen und unerträglichen Leiden ausgesetzt waren. Diese echte Tragödie offenbart die blanke Wahrheit der neuen internationalen Ordnung, wie sie die kapitalistische Globalisierung installiert hat. Und wie es die wachsende Vielfalt und zunehmend weltweite Ausdehnung der Migrationsströme bezeugen. Die Aufmerksamkeit richtet sich heute auf die Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten, doch gibt es reichlich weitere militärische Konflikte, vor allem in Afrika, die die Bevölkerung in die Flucht treiben. Es ist noch nicht lange her, da standen die Millionen von Opfern des Klimawandels in Asien im Focus der Aufmerksamkeit. Wie viele sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge auch immer es derzeit gibt – sie unterliegen Zwängen (sind somit politisch). Denn sie werden aus ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen gerissen durch die Angriffe des Neoliberalismus und durch die Gewaltherrschaft von Regimes, die von den westlichen Mächten gestützt werden. Migration gab es auch vorher. Noch in der jüngsten Vergangenheit kehrten die Menschen aus Perspektivlosigkeit der Heimat den Rücken – wie zum Beispiel die philippinische Lehrerin, die nun in Italien illegal als Haushaltshilfe arbeitet. Derzeit erleben wir, dass es bei der Flucht ums blanke Überleben geht. In Europa ist es noch nicht soweit, jedoch – Zeichen der Zeit – erleben wir auch hier wieder regelrechte Emigrationsströme aus Ländern wie Spanien und Griechenland, denn der Jugend dort ist die 4 Inprekorr 6/2015 Zukunft verbaut. So etwas hat es seit Jahrzehnten nicht gegeben. Grenzmauern werden errichtet – über Hunderte, Tausende Kilometer – nicht allein in Europa, sondern auch zum Beispiel in Israel unter Missachtung der palästinensischen Bevölkerung und ihrer Landrechte. Desgleichen in den USA an der Grenze zu Mexiko – einem Land, wo die Staatsmacht zersetzt und mit dem Drogenhandel verbandelt ist und der enorme Anstieg von Gewalttaten bis hin zum systematischen Frauenmord zur Flucht der Bevölkerungen beitragen. Die dramatische Zunahme der Migration hat somit vielfältige Gründe: die endlosen Kriege, die Klimakrise, die Auflösung des sozialen Zusammenhalts, der Zerfall ganzer Staaten, die Entfesselung grenzenloser Gewalt und auch die Zerstörung von Böden, die Überfischung der Meere, das Landgrabbing, die Ausgrenzung der Armen in den Städten, die Enteignung der Völker zugunsten der transnationalen Konzerne … All diese einzelnen Gründe haben eine gemeinsame Ursache: die mit der kapitalistischen Globalisierung durchgesetzte Herrschaftsform, die zu völlig neuen Verhältnissen geführt hat – geopolitische Instabilität als Dauerzustand und – als Erbe früherer Niederlagen – ein erbitterter und einseitiger Klassenkampf von oben durch den harten Kern der weltweit herrschenden Bourgeoisie. Diese Konterrevolution ohne Revolution öffnet die Schleusen für alle erdenklichen Formen von Barbarei. Ein scharfer Wettstreit zwischen alten und neuen Imperialismen, zwischen subimperialistischen und anderen Regionalmächten wie dem Iran und Saudiarabien im Nahen Osten. Krieg ohne Ende als Antwort auf die Instabilität ohne Ende. Die Völker zahlen einen schrecklichen Preis für diese weltweite Unordnung. Umgekehrt offenbart die „Flüchtlingskrise“ das Scheitern der europäischen Integration. Soeben hat die Eurogruppe (aus 19 von 28 Ländern der Europäischen Union) Griechenland unter Vormundschaft gestellt und dem Land ihr Gesetz unter anmaßender Umgehung der zentralen EU-Institutionen – der EU- I N T E R N AT I O N A L Kommission und des EU-Rates – aufgezwungen. Und gegenwärtig herrscht bezüglich der Aufnahme insbesondere von SyrerInnen das Prinzip „Jeder ist sich selbst der Nächste“. Nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Frankreich an der Grenze zu Italien werden Grenzen inmitten des Geltungsbereichs des Schengener Freizügigkeitsabkommens wieder geschlossen. In einigen Ländern, vor allem in Deutschland, haben sich breite Bürgerrechtsbewegungen gebildet, um die Flüchtlinge solidarisch zu empfangen. In anderen greifen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus um sich, zum Vorteil und Machtzuwachs der extremen Rechten – ganz besonders in Ungarn. Die EU besteht wohl, doch die europäische Integration ist gescheitert. So undemokratisch, wie die EU errichtet wurde, konnte sich unter ihren BürgerInnen keine „gesamteuropäische Identität“ entwickeln. War anfangs noch zu hoffen, dass eine gemeinschaftliche, solidarische Identität von unten entstünde, im Rahmen des europäischen Sozialforums oder bei den Märschen gegen Erwerbslosigkeit und Prekarisierung, so sind diese Bewegungen heute festgefahren. Es ging in erster Linie um zwei Vorhaben die dem Auf bau der EU „von oben“, zugrunde lagen. Die Schaffung des gemeinsamen Marktes, dessen völliges Unvermögen in der Zeit der Krise offenbar wird. Und die Errichtung einer Großmacht Europa, die in der Lage ist, weltpolitisch den USA und inzwischen auch China auf Augenhöhe gegenüberzutreten. Doch die europäischen Imperialismen sind zahnlos. Die Militärbudgets in Frankreich und Großbritannien werden ständig gekürzt und Deutschland, der wirtschaftliche Gigant, bleibt militärisch ein Zwerg. Wie auf der internationalen Bühne glänzen, wenn man vor den eigenen Türen, gegenüber den Herausforderungen Putins, nicht das Geringste durchsetzen kann? Der Flüchtlingskrise an die Wurzel gehen muss heißen, sich gegen die kapitalistische Globalisierung wenden. Der europäischen Krise an die Wurzel gehen muss heißen, ein offenes Europa auf anderer Grundlage begründen. Offen für die Völker des Ostens wie des Südens, angefangen mit dem Mittelmeerraum. Eine solche Blickrichtung ist unverzichtbar, um langfristige Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, ohne sich von den irreführenden Phrasen unserer Regierenden übertölpeln zu lassen, etwa ihrem heuchlerischen Anspruch, die Menschenrechte oder die Menschlichkeit zu vertreten. So viel ehrlichen Schwung die Solidaritätsbewegung in Deutschland auch bezeugt, so zynisch ist die Sichtweise der dortigen Kapitalisten. Für sie darf die Arbeitslosigkeit gerne noch viel höher sein, sie freuen sich auf zahlreiche gut ausgebildete Kräfte, die verzweifelt genug sind, um jede Arbeit anzunehmen. Eher noch als humanitär ist die europäische Antwort oft genug militärisch. Statt Wege der legalen und sicheren Einwanderung zu schaffen wird im Namen des Kampfes gegen die Schleuser grünes Licht gegeben für bewaffnete Operationen gegen die Flüchtlingsschiffe. Paris nutzt die Flüchtlingstragödie aus, um die Ausdehnung ihrer Luftangriffe über Irak und Syrien zu rechtfertigen. Immer häufiger werden in den Mitgliedsländern der EU neben der Polizei auch Soldaten eingesetzt, um die „Eindringlinge“ zu kontrollieren. Hierin liegt eine bedrohliche Entwicklung, die wir bereits aus Frankreich zur Genüge kennen, wo das Militär gegen die terroristische Bedrohung patrouilliert. Nach Ansicht vieler Fachleute ist diese Politik nicht nur sehr kostspielig, sie ist wenig effizient und personalintensiv – zumal die Armee bereits auf mehreren Kriegsschauplätzen in Nahost und in Afrika eingesetzt ist. Dass dies aufrechterhalten wird, dient dem Zweck, die Grenze zwischen dem Zustand des Krieges (als Zuständigkeit des Militärs) und dem des Friedens (als solche der Polizei) zu verwischen, und damit die Bevölkerung an eine Art permanenten Ausnahmezustandes zu gewöhnen. Heute wird die Flüchtlingskrise in der gleichen Richtung instrumentalisiert. Zur besseren Gegenwehr ist eine Erneuerung des antimilitaristischen Widerstandes ebenso notwendig wie ein verstärkter Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und jede Form von Rassismus. Zumal heute die extremen Rechten auf den Wogen nationaler Identität segeln (so in Frankreich die FN) und staatsfaschistoide Tendenzen sich vor den Pforten Europas (Türkei) und selbst innerhalb der EU (Ungarn) breitmachen. Dabei ist es genau die zerstörerische Gewalttätigkeit der kapitalistischen Globalisierung selbst, die den Boden für die Entstehung neuer Faschismen bereitet. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist somit eine tragische Facette der globalen Krise, in die die kapitalistische Globalisierung geführt hat. Eine sorgfältige Prüfung ihrer Merkmale ist nun unumgänglich, wichtige Aktualisierungen sind das Gebot der Stunde. Bis jetzt konnten wir den xenophoben Demagogen stets mit Zahlen belegen, dass die Zuwanderungsquote (nach Frankreich) unverändert geblieben war. Doch das trifft heute offensichtlich nicht mehr zu. Wir stehen einer humanitären Krise ungeahnten Ausmaßes gegenüber. Die altgewohnten Deutungsmuster Inprekorr 6/2015 5 I N T E R N AT I O N A L der radikalen Linken sind auf eine solche solidarische Herausforderung nicht vorbereitet. Im Wesentlichen war ihr Urteil, dass die humanitären Notfälle allein Angelegenheit der einzelnen Staaten (Rotes Kreuz und Roter Halbmond) und spezialisierter Hilfsorganisationen seien. Zum Glück gibt es wichtige Ausnahmen wie die bemerkenswerte Mobilisierung der Vereinigung MIHANDS (MIndanao Humanitarian Action Network against DisasterS) auf Mindanao, südliche Philippinen, an denen wir uns so manches Beispiel nehmen können. Wir müssen tatsächlich das Verhältnis zwischen Mitmenschlichkeit und Politik neu überdenken. Es ist schon lange her, da schickten wir medizinische Hilfe an die Befreiungskämpfer, die über ihre eigenen erprobten und bewährten Gesundheitsdienste verfügten. Heute dagegen sind die Flüchtlingsscharen zum allergrößten Teil auch bar jeder Organisation, soweit nicht noch lose Verbindungen zum Herkunftsort bestehen und mittels Internet und Mobiltelefon Informationen ausgetauscht werden können. 6 Inprekorr 6/2015 Der Umgang mit der humanitären Krise erweist sich als Bewährungsprobe für den Internationalismus. Die weitaus größte Zahl an Flüchtlingen befindet sich dabei gar nicht in Europa, sondern in den Ländern des Südens, wo es weder Infrastruktur noch vergleichbare Mittel gibt wie in den Ländern des Nordens, wobei man nicht betonen muss, dass die Regierenden des Nordens die Hauptverantwortung für die gegenwärtige Lage tragen. Die Binnenflüchtlinge befinden sich noch immer in ihren Heimatländern, viele sind auch schlicht geblieben wie die Opfer der Klimakatastrophe, die nirgends eine Zuflucht gefunden haben. Es gibt keine offiziellen Zahlen, die von dem wahren Ausmaß des Problems Rechenschaft ablegen. Die Solidarität zwischen Nord und Süd muss sich organisieren und stärker werden – ganz besonders auf diesem Gebiet. Übersetzung: Verena Inahkamen E U R O PA DIE EUROPÄISCHE (DES-)INTEGRATION Wie es um die Europäische Union wirklich bestellt ist, das hat der Sommer 2015 zu Tage befördert: Über die „Aufnahmequoten“ für Flüchtlinge haben sich die Regierungen erbärmlich gefetzt und Einigkeit erzielt haben sie nur auf dem Rücken des griechischen Volkes, nämlich in der Verweigerung jedweder wirtschaftlichen Solidarität. Yann Cézard An feierlichen Erklärungen über gemeinsamen Frieden und Wohlstand, den die europäische Integration der Zukunft bescheren würde, hat es den europäischen Eliten nie gefehlt, weder zu Zeiten der Gründung der EWG noch heute bei der Erweiterung der EU. Vor allem haben sie ein Zusammenwachsen versprochen, in dem sich die Lebensbedingungen der verschiedenen europäischen Länder angleichen würden. Wie viele andere europäische Blütenträume lässt auch dieses Versprechen auf sich warten. Das dem französischen Premier als Berater unterstellte Generalkommissariat für Strategie und Vorausschau (France Stratégie) hat im Februar 2015 einen Bericht veröffentlicht mit dem beredten Titel: „Die Entwicklungswege der Länder der Eurozone nach der Krise weisen in Richtung einer wirtschaftlichen und sozialen Spaltung Europas.“ Ein ganzes Geschwader an Statistiken wird dort bemüht, um aufzuzeigen, wie sehr sich das soziale Gefälle zwischen Südeuropa (Portugal, Spanien, Italien, Griechenland) oder gar der „Peripherie“ (Südeuropa plus Irland und Osteuropa) einerseits und dem Zentrum (Deutschland, Frankreich, Niederlande, Schweden etc.) andererseits seit 2008 vermehrt hat. Der Bericht kommt zu der wenig überraschenden Feststellung, dass „sich die soziale Performance (sic!) in der Krise erheblich verschlechtert hat, was gleichermaßen den Arbeitsmarkt, die Lage der Jugend, die Verarmung der Haushalte, die Ungleichheiten oder das Gesundheits- und Pflegewesen betrifft.“ So liegen bspw. die Arbeitslosenquoten in Gesamteuropa auf historischem Höchststand (10 % in der EU, 11,5 % in der Eurozone und 23,7 % unter der Jugend), allerdings mit erheblichem Nord-Süd-Gefälle, das massiv zugenommen hat (11,3 Prozentpunkte 2013), nachdem es noch zwischen 1998 und 2004 auf nahezu null gefallen war. Um die LeserInnen nicht zu ermüden, wollen wir es bei einer einzigen weiteren Statistik belassen, die sich auf die Jugendlichen bezieht, die nicht in Ausbildung, Arbeit oder Schulung sind (als Akronym im Englischen „NEET“, Not in Education, Employment or Training), gewissermaßen der Aussatz der kapitalistischen Gesellschaft (Grafik 1). Die Zahlen sind nur bedingt miteinander vergleichbar, da die Umstände, die Sozialsysteme etc., aber auch die Zählweise von einem zum anderen Land abweichen können. Dennoch wird klar, dass sich seit der Krise die Unterschiede erheblich vergrößert haben und bspw. das Gefälle zwischen Inprekorr 6/2015 7 E U R O PA GRAFIK 2 GRAFIK 1 NEET BIP pro Kopf Quelle:Eurostat Italien und Deutschland von 8,2 auf 15,9 Prozentpunkte gestiegen ist und zwischen Spanien und Deutschland von 5,9 auf 12,3. Hinter diesen erschreckenden Zahlen stecken noch erhebliche regionale Diskrepanzen in den einzelnen Ländern: Andalusien ist nicht vergleichbar mit Katalonien, und Neapel nicht mit Mailand. Selbstredend bedauern unsere Regierenden in ihrer Wohlwollendheit diesen traurigen Zustand, in dem die Menschen Armut und Müßiggang ausgeliefert sind, und sie geben sich seit Jahren die allergrößte Mühe, den „Arbeitsmarkt“ zu reformieren und diesen armen Teufeln zu Brot und Lohn zu verhelfen, indem sie ihnen bspw. die Sozialhilfe kürzen und ihnen Minijobs zu Minilöhnen andienen. Das Resultat dieser menschenfreundlichen Regierungspolitik ist, dass die Quote der „working poor“ in Europa inzwischen auf 10 % gestiegen ist. Die einzig positive Entwicklung dieser insgesamt trostlosen sozialen Bilanz ist, dass die durchschnittliche Qualifikation in allen europäischen Ländern weiter gestiegen ist und sich das Bildungsniveau tatsächlich angleicht. Paradox daran ist, dass die Qualifikation zwar zunimmt, die Arbeitsplätze nach Feststellung der Europäischen Kommission jedoch durchweg immer unqualifizierter werden (Teilzeitarbeit, prekäre und unterqualifizierte Arbeit). Man kann sich leicht vorstellen, dass die Lage dieser arbeitslosen und prekär beschäftigten Hochschulabsolventen politischen Sprengstoff birgt. Umkehrung der Verhältnisse Der genannte Bericht enthält nichts Neues sondern bestätigt nur, was uns seit Jahren bekannt ist. Der unmit8 Inprekorr 6/2015 Quelle:Eurostat telbare Grund hierfür liegt auf der Hand: Die weltweite Krise des Kapitalismus hat die europäischen Länder ungleich schwer getroffen und die Sparpolitik fiel in den wirtschaftlich schwächsten Ländern, die von Arbeitsplatzabbau, Lohnsenkungen und Sozialabbau gebeutelt wurden, am heftigsten aus. Um die Gründe für dieses soziale Auseinanderklaffen in Europa wirklich zu verstehen, muss man die Entwicklungen über einen längeren Zeitraum hinweg betrachten und bis weit vor die Krise zurückgehen. (Grafik 2) Mit der Krise kam es zu einer Zäsur, einer Umkehrung der Kurvenverläufe, wie die Grafik 2 zeigt. Einerseits haben sich die EU und die Eurozone nach 2008 in ihrer Entwicklung von den USA abgekoppelt und hinken hinterher, obwohl die Krise von den USA ausgegangen war (Grafik 2). Andererseits haben sich die Diskrepanzen zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ in der Eurozone drastisch verschärft, wie Grafik 3 zeigt. Bei näherer Betrachtung erweist sich die Sachlage jedoch als ein wenig komplizierter. Tatsächlich hat während der ersten zehn Jahre des Bestehens der Eurozone eine partielle wirtschaftliche und – trotz des herrschenden neoliberalen Kurses in Europa – sogar soziale „Aufholjagd“ der Länder Süd- und Osteuropas stattgefunden. Dies erklärt wohl auch, dass ein Teil der dortigen Bevölkerung trotz alledem an der EU-Mitgliedschaft hängt, abgesehen von der Angst vor dem Chaos. Mit Beginn der Krise jedoch hat sich dieser „Angleichungsprozess“ zunehmend in Luft aufgelöst, wobei der Osten stagniert und der Süden einen regelrechten Einbruch des Lebensstandards und wirtschaftlichen Absturz erfahren hat: Zwischen 2007 und E U R O PA 2012 ist das BIP pro Kopf in Griechenland um 21 %, in Spanien um 7 % und in Italien um 9 % gesunken. Dass sich das Glück nach 2008 gewendet hat, lag auch daran, wie die vorhergehende „Aufholjagd“ beschaffen war. In dem o.g. Bericht von France Stratégie heißt es dazu, dass zweifellos „vor der Krise eine nicht nachhaltige soziale Angleichung“ vorgelegen habe, da hinter dieser „scheinbaren wirtschaftlichen Angleichung die Diskrepanzen in der gesamten Faktorproduktivität, in der die Arbeitsproduktivität und die Kapitalrentabilität zusammengefasst werden, bereits wuchsen“. Die wirtschaftlich und politisch Mächtigen in Europa tönen übrigens seit Jahren, dass diese Südeuropäer „über ihre Verhältnisse lebten“. Dies liegt allerdings nicht an einer naturgegebenen Faulheit oder irgendeiner Neigung bestimmter Völker, ihre Suppe zu löffeln, ohne sie zubereiten zu können, sondern an der inhärenten Struktur des Kapitalismus. Deren Folgen verdeutlichen den Schiff bruch, den diese Austeritätsapostel mit ihrer Politik verursacht haben. (Grafik 3) Angeberei und Scharlatanerie Erinnern wir uns nur an die lyrischen Höhenflüge der europäischen Spitzenpolitiker, die 2000 den Lissabonner Vertrag unterzeichnet haben. Die rechten Sozialdemokraten Blair und Schröder unterschrieben gemeinsam mit dem französischen Duo Jospin und Chirac ein Papier, das die EU „zur wirtschaftlich und sozial fortgeschrittensten Region der Welt“ zu machen versprach, die „an der Spitze der neuen wissensbasierten und innovativen Wirtschaft“ steht. GRAFIK 3 Die Strategie dafür hieß Neoliberalismus und nochmals Neoliberalismus! Der freie Kapitalverkehr und die schrankenlose Marktherrschaft würden schon dafür sorgen, dass die Ressourcen optimal eingesetzt werden. Man müsse nur all das verbieten, was die freie Konkurrenz verfälschen könnte, und außerdem privatisieren und deregulieren. Durch den Freihandel und die gleichzeitige Globalisierung der Finanzwirtschaft sei der Kapitalismus in der Lage, besonders in den ärmsten Ländern zu investieren, wo die Löhne am niedrigsten und die sozialen Rechte am geringsten sind, was dazu führen werde, dass auch dort die Produktivität steige und die Länder ihren Entwicklungsrückstand aufholen können. Wir kennen dies Lied. In Europa hieß dies, dass durch die Einführung des Euro nicht nur der Kapitalverkehr erleichtert würde, sondern auch das Wirtschaftswachstum angeschoben würde, indem die Zinsen auf dem ganzen Kontinent sinken und dadurch die Unternehmen und die Privathaushalte leichter an Kredite kommen, während die Staatshaushalte durch die Maastricht-Kriterien gedeckelt werden. In gewisser Hinsicht funktionierte dies auch zunächst: Die Angleichung der Zinsen verlief tatsächlich spektakulär, wie Grafik 4 zeigt. Als Extrembeispiel erkennt man, wie sogar in Griechenland die Verzinsung der Anleihen auf bundesdeutsches Niveau sank, um dann zehn Jahre später wieder abzuheben. Der Zins-Spread zwischen Spanien und Deutschland war, nachdem sich das Land für den Euro „qualifiziert“ hatte, von 5 % auf Null gesunken. Zehn Jahre später lagen die Privatverschuldung bei 317 % des BIP und die Staatsver- GRAFIK 4 BIP pro Kopf Zinsen für 10-jährige Staatsanleihen Quelle:Eurostat Quelle:EZB Inprekorr 6/2015 9 E U R O PA schuldung bei 40 % (für Frankreich vergleichsweise lagen diese Werte 2007 bei 197 % bzw. 65 %). Der sprunghafte Anstieg der Privatverschuldung in den „peripheren“ Euro-Ländern verhalf zweifelsohne zu mehr Wirtschaftswachstum, das allerdings in vielerlei Hinsicht „künstlich“ und nicht nachhaltig war. Denn dieser Zustrom von Privatkapitalien aus ganz Europa und von noch weiter her hat nicht dazu beigetragen, die produktive Infrastruktur langfristig anzuschieben und zu modernisieren, sondern hat eine Immobilienblase erzeugt und Geschäfte finanziert, die schnellen und leichten Profit abwarfen. In den ersten zehn Jahren nach Einführung des Euro entfielen 25 % der neu entstandenen Arbeitsplätze auf die Bauwirtschaft. Forschung und Entwicklung hingegen florierten nie sonderlich in den südlichen Euroländern und blieben weit hinter den Ländern des Nordens zurück, wie Grafik 5 zeigt. Für eine europaweite „wissensbasierte und innovative Wirtschaft“ sind diese Zahlen eine Ohrfeige! Wiederum erstaunt es unter diesen Umständen nicht, dass der sakrosankte freie Markt für Waren und Kapitalien in einem „geeinten“ Europa die industrielle und technologische Zweiteilung Europas nur weiter verschärft und die kapitalistischen Konzerne und Länder gestärkt hat, die ohnehin schon an der Spitze gelegen waren. Dabei muss man freilich unterscheiden: In manche „peripheren“ Länder flossen erhebliche Investitionen seitens europäischer Industriekonzerne, die dort Produktionskapazitäten aufzogen, wie etwa die Automobilindustrie in Tschechien und der Slowakei oder die Elektronikindustrie in Irland. Umgekehrt erlebte Griechenland einen GRAFIK 5 raschen De-Industrialisierungsprozess und in Südeuropa legten die Bedingungen, unter denen Anfang des Jahrtausends ein Aufholprozess stattfand, den Grundstein für den Einbruch nach 2008. Wie das kapitalistische System nun einmal funktioniert, fasst France Stratégie ohne Umschweife so zusammen: „Da es kein wirkliches wirtschaftliches Zusammenwachsen der Euro-Länder gab [was produktive Investitionen und wachsende Produktivität angeht], haben die sozialen Fortschritte de facto die Wettbewerbsfähigkeit der südlichen Länder gemindert.“ Dass die Verschuldung der Privathaushalte, die letztlich das Wirtschaftswachstum der peripheren Länder finanzierte, immer weiter zunahm, beunruhigte bis zum Ausbruch der Krise weder die Regierungen noch die „Märkte“. Ihr Augenmerk galt nur der Haushaltsdisziplin der Staaten. Dahinter stecken nicht bloß einfache ideologische Scheuklappen, denn von diesen Verschuldungsmechanismen profitierten die kapitalistischen Konzerne der führenden Länder. Der Export industrieller Produkte nach Spanien, Griechenland, Italien etc. nahm zu, die Handelskonzerne machten sich überall breit und die Großbanken v.a. aus Deutschland und Frankreich machten blendende Geschäfte, indem sie breit Kredite streuten. Dieser angeblich „über seine Verhältnisse“ lebende Süden war für die Kapitalisten des Nordens recht einträglich, denn sie lebten vom „Schweiß“ der Menschen des „Club Med“. Folglich stiegen bis 2008 die Handelsdefizite und Zahlungen der „peripheren“ Euroländer (in diesem Fall Griechenland, Irland, Portugal und Spanien) zugunsten des „Zentrums (in diesem Fall Belgien, Dänemark, Deutschland, Finn- GRAFIK 6 Leistungsbilanzsaldo des Zentrums und der Peripherie der Bruttoausgaben für Forschung und Entwicklung in %des BIP Quelle:Eurostat 10 Inprekorr 6/2015 Eurozone Quelle:Cepii E U R O PA land, Frankreich, Niederland, Österreich) ins Uferlose, wie die Grafik 6 zeigt. Von 1998 bis 2008 wuchs das Defizit Griechenlands um 11 Prozentpunkte auf 16 % des BIP und in Portugal um 4 auf 12 % des BIP. Umgekehrt stiegen die Überschüsse bestimmter Länder des Nordens parallel dazu, bspw. in Deutschland, wo 2001 die Bilanz noch ausgeglichen war und 2008 ein Überhang von 6 % des BIP erreicht wurde. Nach 2008 pendelte sich wieder ein Gleichgewicht ein, wobei die Defizite der „peripheren“ Länder weitgehend abgebaut wurden: in Griechenland um 16 Prozentpunkte, in Portugal um 13, in Spanien um 10 etc. Die Eurozone als Ganze, die 2007 noch eine ausgeglichene Zahlungsbilanz aufwies, erzielte nunmehr Überschüsse gegenüber den übrigen Ländern der Welt. Ursächlich hierfür war die Konsumschwäche dieser Länder, vorwiegend aus augenscheinlichen sozialen Gründen. Weniger ausschlaggebend war eine leichte Zunahme der Wettbewerbsfähigkeit aufgrund sinkender Löhne: Zwischen 2009 und 2013 waren die Stundenlöhne in Griechenland um 16 %, in Italien um 5 %, in Portugal um 7 % und in Spanien um 6 % gefallen. Inzwischen erfasst das Sozialdumping alle Länder der Eurozone (s. Grafik 7). Einheit unter kapitalistischen Vorzeichen Angesichts dieser desaströsen Entwicklung mehren sich inzwischen die Stimmen, die eine „Modifizierung“ der gesamteuropäischen Politik fordern. Hierbei geht es hauptsächlich darum, einen wirklichen „europäischen Föderalismus“ zu erzielen, mit einem gemeinsamen GRAFIK 7 Haushalt in angemessenerem Umfang, einer entschlossenen europaweiten Industriepolitik und direkten Transferzahlungen zwischen den einzelnen Regionen – auch auf dem Wege neuer Staatsverschuldung mit gesamtschuldnerischer Haftung. Selbst Hollande hat seinen Sermon dazu beigetragen, um über seine scheinheilige Position in der Griechenlandaffäre hinwegzutäuschen: So wie er 2012 die Neuverhandlung des „Stabilitätspaktes“ zwischen Merkel und Sarkozy gefordert hatte, um ihn dann umso eifriger selbst umzusetzen, möchte er jetzt die Eurozone durch ein echtes „europäisches Führungssystem“ „stärken“, das zielstrebiger und weniger neoliberal orientiert ist. Das ist natürlich leeres Geschwätz, da die europäischen Regierungen einschließlich Hollande die Politik auf europäischer Ebene unerbittlich durchsetzen, die sie auch der eigenen Bevölkerung jeweils aufzwingen. Dass Europa wirtschaftlich soweit auseinander klafft, wird von ihnen keineswegs bestritten, sondern ist Ausgangspunkt ihrer sämtlichen Absichtserklärungen: Da die südlichen Länder nicht wettbewerbsfähig genug sind, bedürfe es mehr denn je der Sparpolitik und niedrigerer Löhne. Das ist es, was sie unter Föderalismus und „europäischer Harmonisierung“ verstehen: „Europa einen“, indem überall die Ausbeutungsbedingungen verschärft werden, um so die Profite zu mehren und die kapitalistische Akkumulation wieder in Gang zu bringen. Wohl wird mit dieser massiven Sparpolitik auch der potentielle wirtschaftliche „Aufschwung“ der am meisten gebeutelten Länder behindert, indem durch die Ausgabenkürzung im Gesundheits- und Erziehungswesen, die Senkung der Staatsausgaben für langfristige Investitionen und Infrastruktur und die hingenommene Langzeitarbeitslosigkeit vieler Millionen von Menschen die Grundlagen für ein gewisses Wirtschaftswachstum unterhöhlt werden. Aber auch wenn sich dadurch die Abstände zwischen den europäischen Ländern vergrößern, ist diese Totschlagspolitik vom kapitalistischen Standpunkt aus keinesfalls irrational: Die einen haben Sonne und Niedriglöhne und die anderen Hightech und Spitzenindustrie. Und für die Lohnabhängigen und Armen auf dem Kontinent gibt es als Einheitskost den Wirtschaftskrieg: Jeder gegen jeden. In einer Hinsicht ist Europa jedenfalls weiter zusammengewachsen: Von Athen über Paris bis Berlin herrscht unter der Bourgeoisie Einigkeit über diese Politik. Übersetzung: MiWe Lohnstückkosten Quelle:OECD Inprekorr 6/2015 11 Ö KO LO G I E COP 21 – GIPFEL DER VERLOGENHEIT Vor mehr als 50 Jahren warnten Wissenschaftler erstmals vor der Gefahr einer Klimaerwärmung. Die Warnungen wurden schließlich so ernst genommen, dass die UN und die zuständige Weltorganisation für Meteorologie (WMO) 1988 den Weltklimarat (Zwischenstaatlicher Ausschuss über Klimaveränderung, IPCC) als Expertengruppe ins Leben riefen. Daniel Tanuro Seit seiner Gründung hat der Weltklimarat – ein eigentümliches Konstrukt, dessen Erkenntnisse zwar von Wissenschaftlern endredaktionell verantwortet werden, während die (politisch letztlich relevanten) „Zusammenfassungen für die Entscheidungsträger“ jedoch mit staatlichen Vertretern ausgehandelt werden müssen – fünf umfangreiche Berichte geliefert. In allen wurde die Ausgangsthese bestätigt, dass nämlich die Durchschnittstemperatur der Erdoberfläche ansteigt, dass dieser Anstieg nahezu vollständig auf die anthropogenen (menschengemachten) Emissionen von Treibhausgas zurückzuführen ist und dass das wichtigste davon, Kohlendioxid, bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe entsteht1. Seit über 25 Jahren wird dort immer wieder betont, dass ohne eine erhebliche Reduktion der Emissionen die Erwärmung zu einem Anstieg der Meeresspiegel, einer Vervielfachung der extremen Wetterereignisse, einer Verminderung der landwirtschaftlichen Produktivität, einer Abnahme der Trinkwasserreserven und einem drastischen Verlust an Biodiversität sowie entsprechenden gesundheitlichen Folgen führen wird. Es ist also nicht nur ein Umweltproblem, auch wenn dies das zentrale Problem darstellt. Die fünf Berichte unterscheiden sich voneinander nur 12 Inprekorr 6/2015 durch die wachsende Präzision und den Grad der Wahrscheinlichkeit der Vorhersagen. Zudem lassen sich die Vorhersagen mit der Zeit mit den seither gemachten Beobachtungen korrelieren, was zu der beunruhigenden Schlussfolgerung führt, dass die Wirklichkeit noch schlimmer als die Modellberechnungen ist2 . Die fossilen Brennstoffe decken 80 % des weltweiten Energiebedarfs. Die Energiefrage ist somit die zentrale Problematik. Naomi Klein schreibt dazu3: Wenn die Entscheidungsträger den Stier rasch bei den Hörnern gepackt hätten, hätten sie (vielleicht) einen relativ sanften Umstieg auf eine Versorgung mit ausschließlich erneuerbaren Energien mit maximalem Nutzungsgrad herbeiführen können. Aber sie haben es nicht getan, sodass wir heute vor einer absolut dringlichen Lage stehen, wo die Bedrohung nur noch mit sehr drastischen Methoden abgewendet werden kann, die genau denen entsprechen, die die Entscheidungsträger vermeiden wollten. Das lachhafte Kyoto-Protokoll Der Weltgipfel in Rio 1992 hatte mit viel Pomp eine Klimarahmenkonvention (Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen, UNFCCC) Ö KO LO G I E verabschiedet, in dem sich die Parteien zum Ziel setzten, eine „gefährliche Störung des Klimasystems“ zu verhindern …unter gebührender Berücksichtigung des Umstands, dass nicht alle Länder die selbe historische Verantwortung für die Erwärmung tragen und nicht dieselben Kapazitäten haben, ihr entgegenzuwirken. Gemäß dem Grundsatz der „gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung“ und der unterschiedlichen Kapazitäten haben die Industrieländer auf der Dritten Vertragsstaatenkonferenz (COP 3) das Kyoto-Protokoll vereinbart, wonach sie sich verpflichteten, ihre Emissionen zwischen 2008 und 2012 um 5,2 % auf der Basis von 1990 zu reduzieren. Der Beitrag, den die Industrieländer hätten zugestehen müssen, war lächerlich, zumal er mit Taschenspielertricks erzielt werden konnte, wovon die beiden wichtigsten der Emissionshandel mit Zertifikaten, die den Unternehmen gratis und im Übermaß zugeteilt wurden, und die Berechtigung der Industrieländer sind, die Reduzierung der Emissionen im eigenen Land durch den Kauf von Emissionsgutscheinen zu kompensieren, die durch angeblich „saubere“ Investitionen (was i.d.R. ein Hohn ist) oder durch Waldschutzmaßnahmen (zulasten der indigenen Bevölkerung) in den „Entwicklungsländern“ generiert werden.4 Nichtsdestotrotz weigerten sich die USA, das Protokoll zu ratifizieren. Kyoto war Augenwischerei, was entscheidend zum Scheitern der Klimakonferenz in Kopenhagen beitrug, wo ein Weltklimaabkommen hätte erzielt werden sollen. Die Länder des Südens warfen den Industrieländern vor, kein konkretes Engagement aufzubringen. Obwohl insgesamt zutreffend, war dieser Vorwurf nicht frei von Hintergedanken, v. a. seitens der großen „Schwellenländer“ und der ölexportierenden Länder, die darauf bedacht sind, dass die heimische Wirtschaft möglichst lange durch ihre fossilen Energiereserven floriert. Am Ende einer chaotischen Vollversammlung, auf der Hugo Chávez und Evo Morales lautstark intervenierten, wurde eine Erklärung „zur Kenntnis genommen“, wiewohl nicht offiziell verabschiedet, die hinter den Kulissen von den USA und China ausgehandelt worden war, den beiden größten Umweltverschmutzern (mit freilich – historisch bedingt – unterschiedlich großer Verantwortung für die Klimaerwärmung). Kopenhagen oder „Jeder macht, was er will“ Kopenhagen war ein Reinfall und zugleich aber ein Paradigmenwechsel in der Methodik, weil sich die Teilnehmer darauf verständigten, das Top-Down-Prinzip fallen zu lassen, das bedeutet hätte, das weltweit noch verfügbare „Emissionsbudget“ festzulegen und es entlang der jeweiligen Verantwortung und Kapazität der Länder zu verteilen. Ein Emissionsbudget festzulegen bedeutet sich auf die Menge X an Kohlendioxid zu verständigen, die noch in die Atmosphäre emittiert werden kann, um eine maximale Erwärmung von Grad Y einzuhalten. Dies ist die einzige Methode, die sowohl wissenschaftlich genau als auch unter dem Aspekt der unterschiedlichen Verantwortung – potentiell – gerecht ist. Ihre „Kehrseite“ allerdings liegt darin, dass daraus ganz eindeutige ökologische Verpflichtungen erwachsen und die unterschiedliche Verantwortung in jedem Fall überprüft werden muss.5 Da sich alle Regierungen Spielräume offen lassen wollten, entschied die Konferenz, dass jedes Land seinen eigenen Klimaplan, die sog. „angestrebten nationalen Beiträge“ (INDC) dem Sekretariat der UN-Klimarahmenkonvention mitteilen solle und die Verhandlungen auf dieser Grundlage stattfinden sollen, will heißen, es regiert das Prinzip völliger Beliebigkeit. Außerdem wurde in Kopenhagen die Schaffung eines „Grünen Klimafonds“ beschlossen, über den die Industrieländer den Entwicklungsländern bei der Anpassung an und Eingrenzung des Klimawandels helfen sollen. Der Gipfel in Cancún im Jahr darauf legte dafür eine jährliche Summe von 100 Mrd. Dollar ab 2020 fest, aber der Fonds, der hauptsächlich von der Weltbank verwaltet wird, enthält noch nicht einmal ein Zehntel dieser Summe – und die Regierungen der Industrieländer denken dabei eher an Darlehen denn an Spenden … Nichts als Sonntagsreden Fast 20 Jahre nach der Klimakonferenz von Rio wurde in Cancún eine Zahl als zentrales Ziel der Klimarahmenkonvention genannt, und zwar wurde entschieden, dass eine Temperaturerhöhung um 2 °C im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter die „Gefahrengrenze“ darstellt, die ggf. entlang neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse auf 1,5 °C korrigiert werden könne. Auf den ersten Blick ist dies ein positiver Beschluss, der an entscheidender Stelle jedoch zwei Mankos aufweist. Die erste Einschränkung ist politischer und wissenschaftlicher Natur: Die Festlegung auf 2 °C als Gefahrenschwelle ist sehr umstritten. Sie geht auf eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Nordhaus zurück, der sich darauf festlegte, weil sie scheinbar einer Verdopplung der Inprekorr 6/2015 13 Ö KO LO G I E CO2-Konzentration in der Atmosphäre entspricht. Bereits in einem Bericht des Stockholmer Umweltinstituts von 1990 hieß es, dass besser 1 °C nicht überschritten werden soll, aber das Maximum von 2 °C setzte sich dann später durch, als sich die EU-Kommission dieses Ziel zueigen machte. Trotzdem ist die Messe noch nicht gelesen. In Cancún haben über 100 Länder – kleine Inselstaaten und LLDC – wieder gefordert, den Schwellenwert auf 1,5 °C festzusetzen. Es wurde beschlossen, der Frage nachzugehen und dafür auf dem COP 18 in Doha ein „strukturierter Expertendialog“ ins Leben gerufen. Aus dem daraus entstandenen Bericht vom Mai 2015 geht hervor, dass eine Erwärmung von 2 °C zu gefährlich sei und ein Ziel von 1,5 °C die Risiken verringern würde.6 Als Beispiel für diese Risiken wird von Anders Levermann, einem der Leitautoren des Kapitels über den Anstieg des Meeresspiegels im vierten Bericht des IPCC, geschätzt, dass bei jedem zusätzlichen Grad (wir sind schon bei 0,8 °C) im Gleichgewichtszustand der Meeresspiegel um 2,3 Meter steigen würde.7 Zwar fehlen weltweite Daten über die Bevölkerungsdichte in einer bestimmten Höhe über dem Meeresspiegel, aber es wird angenommen, dass ein Meter die Vertreibung von Hunderten von Millionen Menschen bedeuten wird. Nicht auszudenken, was also bei 4,6 Metern geschieht. Das zweite Manko ist methodologisch. Es sind keine Maßnahmen vorgesehen, um die Klimapläne (INDC) anzupassen, damit das Zweigradziel tatsächlich eingehalten werden kann. Das System des Selbstbedienungsladens erlaubt es den Protagonisten, sich vor den Medien aufzuplustern und zu erklären, „die Situation ist unter Kontrolle, wir tun alles, um die Zweigradgrenze nicht zu überschreiten“, ohne jedoch die Anforderungen dafür im Geringsten zu erfüllen. Dies ist keineswegs übertrieben. Die globalen Emissionen sind in den 80er Jahren um 1 % jährlich gestiegen und heute steigen sie doppelt so schnell. Bei diesem Rhythmus wird, wenn nichts geschieht, die Erwärmung bis zur nächsten Jahrhundertwende um 6 °C steigen. Auf längere Zeit würde die Temperatur wohl gar um 11 °C steigen.8 Dass die Regierungen ein Abkommen in Paris unterzeichnen werden, ist wahrscheinlich, aber nicht sicher. Sicher aber ist, dass die Großkonzerne hinter dem Problem des Klimawandels nur eine Möglichkeit sehen, „neue Märkte“ zu erschließen: Handel mit Emissionsrechten und erneuerbaren Energien, CO2-Abscheidung und -Speicherung, Ausbeutung von Ressourcen, Anpassungsmaßnah14 Inprekorr 6/2015 men (natürlich im neoliberalen Sinn, was die Privatisierungen, insbesondere des Wassers, impliziert). Diese ganze Politik wurde im Einverständnis mit den Unternehmen ausgearbeitet, wie man im letzten Mai auf dem „Gipfel der Unternehmen für das Klima“ in Paris sehen konnte. Ebenfalls sicher ist, dass das mögliche Abkommen nur Augenwischerei sein wird. Dies wurde schon mit dem Abkommen Ende 2014 zwischen den USA und China, den beiden größten Umweltverschmutzern, klar. Im günstigsten Falle, wenn also die EU ihre Selbstverpflichtung einhält, die Emissionen um 40 % bis 2030 einzuschränken (was an sich schon ungenügend ist und von den oben genannten Taschenspielertricks noch unterminiert wird), die anderen Industriestaaten sich den Klimazielen der USA anschließen (eine Zielsetzung, die bis 2025 eine Reduktion vorsieht, die nur leicht höher ist als jene, welche die USA im Rahmen des Kyoto-Protokolls bis 2012 hätten erreichen sollen) und die Entwicklungsländer die Zielsetzung Chinas übernehmen (keine absolute Emissionsreduktion vor 2030), werden wir bis 2100 höchstwahrscheinlich auf eine Erwärmung von 3,6 °C zusteuern. Dies würde dem Temperaturanstieg seit der letzten Eiszeit vor 20.000 Jahren entsprechen, nur eben binnen weniger als einem Jahrhundert. Eine unsagbare, unvorstellbare und schreckliche Katastrophe. Präziser ausgedrückt, ein Verbrechen, das die COP 21 kaschieren soll. Produktivismus vs. Klimarettung Die Ursachen dieser Situation liegen nicht darin, dass es technologisch unmöglich wäre, den Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen umzusetzen, oder im demographischen Wandel, sondern in der Natur des kapitalistischen Wirtschaftssystems. „Ein Kapitalismus ohne Wachstum ist ein Widerspruch in sich.“, sagte bereits Schumpeter. Niemand kann dies heute noch negieren: Es ist das Hauptproblem. Das Klima zu retten bedeutet, die Emissionen so drastisch zu senken, dass dies eine entscheidende Reduktion des Energiekonsums zur Voraussetzung hat. Eine derartige Reduktion ist jedoch nicht ohne eine spürbare Abnahme der Verarbeitung und des Transportes von Rohstoffen – mit anderen Worten: Ohne auf Wachstum zu verzichten – möglich. Die Fortschritte in der effektiveren Nutzung der Energien helfen uns auch nicht, diesen physischen Einschränkungen zu entfliehen. Abgesehen von diesen physischen Grenzen gilt auch, dass diese technischen Fortschritte vom „Rebound-Effekt“ kompensiert werden, nämlich dass ersparte Energie dazu benutzt wird, etwas Ö KO LO G I E anderes zu produzieren oder das gleiche in größeren Mengen. Dies ist unumgänglich, solange die Logik der Produktivität, die Unternehmerfreiheit und die Konkurrenz der Märkte die Regeln bestimmen. Neue Technologien liefern ebenso wenig eine Lösung. Hier kann man davon ausgehen, dass der letzte Bericht der IPCC ein falsches Bild der Realität zeichnet. Laut diesem Bericht kann unter den zugrunde gelegten Voraussetzungen (dass das wirtschaftliche Wachstum konstant bleibt) die Zweigradgrenze nur eingehalten werden, wenn die Emissionen des weltweiten Energiesystems ab 2070 negativ werden (in anderen Worten, wenn das System mehr CO2 aufnimmt als ausstößt). Um dieses Resultat zu erreichen, greifen alle Szenarien auf die massive Nutzung von Biomasse mit CO2-Abscheidung und –Speicherung zurück. Die Arbeiten der Gruppe III des IPCC kommen aber zum Schluss, dass es erstens keine Beweise gibt, dass diese Technologie sicher ist und dass zweitens keine Garantie besteht bezüglich der sozialen und ökologischen Konsequenzen dieser Technologie.9 Diese Folgen sind jedoch möglicherweise sehr schwerwiegend, weil einerseits der Anbau zur Nahrungsmittelerzeugung mit dem von Energielieferanten konkurriert und andererseits die Biodiversität dadurch beeinträchtigt wird. Tatsächlich haben alle Szenarien, die vorgeben, das Wachstum und den Übergang zu einem System ohne Treibhausgasemissionen, also unter Einhaltung der Zweigradgrenze, zu vereinen, den Fehler, die Wurzel aller Probleme namens Kapitalismus nicht zu berücksichtigen.10 Aber „Kapitalismus“ und „Wachstum“ sind bei den Forschern des IPCC Tabuthemen. In einer Analyse des Textes, der als Basis für die Verhandlungen in Paris dienen wird, hat Pablo Solon die Aufmerksamkeit auf einen anderen wichtigen Punkt gelenkt, der auf anderem und spezifischerem Weg zu den selben antikapitalistische Schlussfolgerungen gelangt: Obwohl die Selbstverpflichtungen zur Emissionsreduktion bis 2030 zentral für das Erreichen des Zweigradziels sind, fehlen sie im Vorbereitungstext. Zu Recht bringt der ehemalige UNO-Botschafter von Bolivien diesen Umstand mit der Methode des Selbstbedienungsladens in Verbindung. Dahinter steckt jedoch eine weitere Frage: Warum schweigt man sich über die Frist von 2030 aus? Drei Elemente geben eine Antwort und alle haben etwas mit den finanziellen Mitteln zu tun, aus denen die Leugner des Klimawandels schöpfen: erstens die kapitalisierten Reserven an fossilen Brennstoffen, zweitens die Amortisierung des (zu 80 % auf fossilen Brennstoffen basierenden) Energiesystems und drittens der Einfluss des Finanzkapitals, das hinter den beiden erstgenannten Punkten steht. Um das Klima zu retten müssten erstens die Erdöl-, Gas- und Kohleunternehmen darauf verzichten, vier Fünftel der Reserven, die sie besitzen, auszubeuten. Diese Reserven sind Teil ihrer Aktiva und bestimmen ihre Börsenquotierung.11 Zweitens müsste ein Grossteil des globalen Energiesystems, das ein Fünftel des weltweiten Bruttosozialprodukts darstellt, verschrottet werden.12 Dies würde in beiden Fällen zum Platzen einer enormen Blase und zu einer riesigen Finanzkrise führen. Welche Gesellschaft wollen wir? Der COP 21-Gipfel verspricht, ein Gipfel der Lüge, der Geschäfte und des Klimaverbrechens zu werden. Gibt es keinen Widerstand, führt das System weiter in Richtung sozialer und ökologischer Zerstörung. Daher täuschen die Begriffe der „Klimakrise“ oder des „vom Menschen beeinflussten Klimawandels“. Die Situation muss vielmehr unter dem Gesichtspunkt der Systemkrise und der historischen Sackgasse des Kapitalismus betrachtet werden. In diesem Kontext müssen auch die Gegenstrategien entwickelt werden. Die antikapitalistische Linke steht vor der Herausforderung, eine Gesellschaft zu konzipieren, die nicht produktivistisch ist, und Praktiken, Forderungen und Organisationsformen zu entwickeln, die dieses Projekt umsetzen können. Eine große Mobilisierung ist im Gange, die ihren vorläufigen Höhepunkt in Paris anlässlich des Klimagipfels finden sollte, aber in der Folge darüber hinausgehen muss. Die dafür aktiven Organisationen wollen erreichen, dass dort alle Bewegungen der Ausgebeuteten und Unterdrückten zusammenfinden. Die Bauerngewerkschaften sowie die indigenen Bevölkerungsgruppen sind an vorderster Front bei der Eroberung gemeinschaftlicher Lebensgrundlagen. In diesen Kämpfen spielen die Frauen eine entscheidende Rolle. Große Teile der Jugend sind gleichfalls bereits an Kämpfen gegen große Infrastrukturprojekte mit fossilen Energieträgern beteiligt. Aber die Arbeiterbewegung ist im Hintertreffen. Selbstverständlich beteiligen sich die Gewerkschaften an den Mobilisierungen. Aber es geht darum, die ArbeiterInnen davon zu überzeugen, dass dieser Kampf auch der ihrige ist und daher täglich geführt werden muss. Dies ist eine schwierige aber entscheidende Herausforderung. Ein solches Ziel kann nur mittels einer Demokratisierung der Gewerkschaften sowie einer antikapitalistischen RadikaliInprekorr 6/2015 15 Ö KO LO G I E sierung ihrer Programme und Aktionsformen erreicht werden. Ansonsten bleibt der „gerechte Übergang zu einer Wirtschaft ohne Kohlenstoffemissionen“, wie er vom Internationalen Gewerkschaftsbund gefordert wird, nur ein Anhängsel einer kapitalistischen Strategie und deren Konsequenzen.13 Das Zusammenwachsen dieser Bewegungen unterstreicht die Notwendigkeit, ein nicht-kapitalistisches Gesellschaftsmodell auszuarbeiten, das den Anforderungen unserer Zeit gerecht wird, ein ökosozialistisches Modell, das die Befriedigung der realen menschlichen Bedürfnisse anstrebt, die unter Berücksichtigung der ökologischen Zwänge demokratisch bestimmt werden. Selbst wenn dieses dezentralisierte, selbstverwaltete, feministische und internationalistische Projekt – das nicht den Illusionen einer „Beherrschung der Natur“ und des „immer mehr“ verfällt – noch nicht ausgereift ist, ist es dennoch bereits in den vielen Kämpfen für Emanzipation sichtbar. Es gibt keine dringendere Aufgabe, als es weiter ausreifen zu lassen. 10 Dies trifft auch auf die Szenarien der NGOs zu, wie jene der Energy Revolution von Greenpeace oder der französischen Negawatt. 11 http://www.carbontracker.org/report/carbon-bubble/ 12 World Economic and Social Survey 2011, „ The Great Green Technological Transformation “ 13 http://www.ituc-csi.org/international-trade-unionsto?lang=fr Neu bei ISP Übersetzung: MiWe 1 Etwa 5 % sind auf vermehrte Sonnenstrahlung zurückzuführen. 2 Dies betrifft besonders den Anstieg der Meeresspiegel, der bei 3 mm/Jahr liegt statt der vorhergesagten 2 mm. 3 Naomi Klein Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima, März 2015 4 Zunächst war der EU-Emissionshandel (ETS) der einzige Markt dieses Systems, wurde aber zwischenzeitlich durch weitere Märkte in Teilen Chinas und der USA erweitert. Die „sauberen“ Investitionen in den „Entwicklungsländern“, die Gutscheine abwerfen, stellen den sog. Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (CDM) dar und die Waldschutzmaßnahmen sind Teil des „REDD+“-Konzepts. 5 Nach verschiedenen Schätzungen wird das verfügbare Emissionsbudget unter Beibehaltung des gegenwärtigen Rhythmus der Emissionen 2030 erschöpft sein, wenn eine Erwärmung um 2 °C nicht überschritten werden soll. 6 http://climateanalytics.org/files/briefing_sed_report.pdf 7 http://www.realclimate.org/index.php/archives/2013/08/the-inevitability-of-sea-level-rise/ 8 http://www.washingtonpost.com/national/health-science/ world-on-track-for-nearly-11-degree-temperature-rise-energy-expert-says/2011/11/28/gIQAi0lM6N_story.html. Siehe auch: K. Anderson, op. cit., oder James Hansen et al. http:// journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal. pone.0081648 9 http://paristext2015.com/2015/06/1-5-degrees-celsius-or2-degrees-maybe-its-turtles-all-the-way-down/ Siehe auch: http://www.nature.com/nclimate/journal/v4/n10/full/ nclimate2392.html 16 Inprekorr 6/2015 Daniel Tanuro Klimakrise und Kapitalismus 181 Seiten, 19,80 Euro ISBN 978-3-89 900 -146-4 Neuer ISP Verlag GmbH Belfortstr. 7, D -76133 Karlsruhe Tel.: (0721) 3 11 83 [email protected] www.neuerispverlag.de Ö KO S OZ I A L I S M U S DIE DROHENDE ÖKOLOGISCHE KATASTROPHE Ökosozialismus: Programm und Strategie eines befreienden Gesellschaftsprojekts als rettende Chance. Denn die Katastrophe liegt weder in der Natur der Sache noch in der des Menschen begründet. Daniel Tanuro Im April 2014 sind zwei verschiedene Forscherteams von auf die Antarktis spezialisierten amerikanischen Glaziologen – mit unterschiedlichen, auf Beobachtungen fußenden Methoden – zum selben Schluss gelangt: Aufgrund der Erderwärmung ist ein Teil der globalen Eisdecke weggeschmolzen und dieser Prozess ist irreversibel. Obwohl die Wissenschaftler sich weigern, für ihre Voraussagen von einer hundertprozentigen Sicherheit auszugehen, sind sie doch kategorisch. „Der Punkt der Unumkehrbarkeit ist überschritten“, erklärten sie auf einer gemeinsamen Pressekonferenz. Nichts kann, so erklären die kommenden drei bis vier Jahrhunderte verhindern. Sie schätzen, dass mit sehr großer Wahrscheinlichkeit das Phänomen zu einer beschleunigten Destabilisierung der angrenzenden Gebiete führt, was schlussendlich zu einem zusätzlichen Anstieg des Meeresspiegels um mehr als drei Meter führen könnte.1 Die unumkehrbare, stumme Katastrophe Die sozialen Folgen eines derart starken Anstiegs der Weltmeere können niemandem entgehen. Es genügt festzustellen, dass zehn Millionen ÄgypterInnen tiefer als nen, dreißig Millionen ChinesInnen, InderInnen, einige Millionen VietnamesInnen … Hierbei sind die großen Städte in den Küstenregionen wie London, New York, San Francisco noch unberücksichtigt geblieben. Sicherlich kann man einen Meter hohe Dämme bauen – sofern man verfügt. Aber Dämme von zehn Metern Höhe kann man nicht bauen. Und selbst wenn dies möglich wäre, würden nur wenige Leute hinter diesen leben wollen. Um das ganze Ausmaß der Bedrohung ermessen zu können, muss man wissen, dass das Wegschmelzen der polaren Eisdecke nur eine der vier Ursachen des Anstieges des Spiegels der Weltmeere darstellt. Die drei anderen sind: die thermische Ausdehnung der Wassermassen, das Schmelzen der Gletscher in den Bergen und das Wegschmelzen der Eiskappe auf Grönland. Wenn die gesamte Eismasse der Erde schmelzen würde, würde dies zu einem Anstieg um mehr als neunzig Meter des Meeresspiegels führen. Anders Levermann hat versucht, die Voraussagen über den Anstieg des Meeresspiegels aufgrund des Zusammenwirkens aller vier Ursachen vorauszuberechnen. Seine Schlussfolgerung ist beunruhigend: Jedem Grad Celsius durchschnittlichen Temperaturanstiegs über die gesamte Inprekorr 6/2015 17 Ö KO S OZ I A L I S M U S Erdoberfläche gegenüber dem Ende des 18. Jahrhunderts würde im Gleichgewichtszustand ein Anstieg um 1,3 m entsprechen.2 Der Temperaturunterschied zu dieser Referenzperiode beträgt gegenwärtig 0,8 °C. Falls Levermann recht hat, ist ein Anstieg im Gleichgewichtszustand um 1,84 m in Zukunft unvermeidbar. Fatih Birol, „ Chef-Ökonom “ bei der internationalen Energieagentur, ist weder ein Bolschewist noch ein Ökosozialist. Er hat kürzlich eingestanden, dass die gegenwärtige Tendenz bezüglich der Emmision von Treibhausgasen zu einem Temperaturanstieg von 6 °C bis zum Ende des Jahrhunderts und nachher bis zu 11 °C führen wird.3 Gemäß der Schlussfolgerungen von Levermann wären wir also drauf und dran, die Voraussetzungen für einen Anstieg des Meeresspiegels um 13,8 oder mehr Meter zu schaffen. Dies ist einer der Gründe, weshalb keine Anpassung an eine Klimaerwärmung dieses Ausmaßes im Gleichgewichtszustand in einer Welt mit neun Milliarden Menschen möglich ist.4 In diesen Voraussagen bedeutet der Begriff „im Gleichgewichtszustand“: der Moment, wo ein neuer Punkt des Gleichgewichts zwischen der durchschnittlichen Oberflächentemperatur und der aktuellen Eismenge auf der Erde erreicht ist. Konkret würde die Wiederherstellung dieses energetischen Gleichgewichtes des Systems Erde tausend bis zweitausend Jahre benötigen. Tausend bis zweitausend Jahre sind eine lange Zeit. Der wichtige Punkt aber ist, dass, wenn der Prozess einmal in Gang geraten ist, er nicht mehr aufgehalten werden kann: Eine Konzentration X des Treibhausgases in der Atmosphäre führt unweigerlich zu einer Temperaturerhöhung Y, welche notwendigerweise eine Ausdehnung Z der Wassermassen und eine Schmelzung einer Menge Z des Eises und damit ein entsprechendes Ansteigen der Meere zur Folge hat. Der einzige Weg, um diese Verkettung von Ursachen und Wirkung aufzuhalten, wäre, den Planeten in einen Gefrierschrank zu stecken. Es gibt eine Art natürlichen Gefrierschrank. Das sind die Eiszeiten. Aber die Eiszeiten können nicht per Knopfdruck ausgelöst werden. Die Astrophysiker vermuten, dass die nächste Eiszeit frühestens in 30 000 Jahren eintreten wird. Bis jetzt bin ich nur auf die Auswirkung der Erderwärmung auf die Höhe des Meeresspiegels zu sprechen gekommen. Dies allein vermittelt ein eindrückliches Bild der ungeheuren Gefahr – unumkehrbar im Rahmen der menschlichen Zeitmaßstäbe – , die sich stumm über unseren Köpfen zusammenbraut. Aber dies ist nur eine der 18 Inprekorr 6/2015 Folgen der Klimaveränderungen. Ich beschränke mich hier auf die Aufzählung einiger davon, die kurzfristig bedrohlicher sind als der Anstieg des Meeresspiegels, und von denen einige bereits jetzt sichtbar sind: Das Sinken der landwirtschaftlichen Produktivität. Man schätzt, dass bis zu einem Temperaturanstieg von 3 °C gegenüber dem 18. Jahrhundert die Produktivität ansteigen wird. Ab jetzt jedoch sinkt sie in einigen tropischen Gegenden, insbesondere in den subsaharischen Gebieten Afrikas. Extreme Wetterereignisse. Wäret ihr zwei Wochen früher hier gewesen, so wäret ihr mitten in die Sommerhitze gekommen mit Temperaturen über 35 °C während mehr als einer Woche. Dies war in dieser Gegend früher eine große Ausnahme, wird aber in Zukunft viel häufiger auftreten. Die Folgen für die Gesundheit. Wenn das Wetter schön wird, und ihr euch unter die Büsche legt, habt acht auf die Zecken. Diese Milben sind Träger des Borreliose-Erregers und sind viel häufiger als früher, da die Winter immer milder werden. In den Subtropen ist die Ausdehnung der Malariagebiete bereits ein ernstes Gesundheitsproblem. Eine Verschlechterung sämtlicher ökologischer Parameter Gleichzeitig ist der Klimawandel nur eine unter vielen Manifestationen der beschleunigten Schädigung der Umwelt. Man spricht diesbezüglich von der „ökologischen Krise“. Ich werde weiter unten erklären, weshalb ich diesen Ausdruck als unzweckmäßig erachte. Beschränken wir uns für den Augenblick darauf festzuhalten, dass der Begriff der „ökologischen Krise“ zahlreiche Facetten umfasst. Die wichtigsten sind folgende: Übersäuerung der Weltmeere. Diese stellt eine ernsthafte Bedrohung für zahlreiche Meeresorganismen dar, deren äußeres Skelett aus Kalziumkarbonat dem überhöhten Säuregrad nicht standhält. Rückgang der Biodiversität. Wir erleben derzeit das, was in der Biologie als „sechste Welle der Auslöschung“ des Lebens bezeichnet wird. Sie verläuft schneller als die vorhergehende, in der vor sechzig Millionen Jahren die Dinosaurier ausgelöscht wurden. Störung des Zyklus von Stickstoff und von Phosphor. Sie könnte eine kaum bekannte Erscheinung des Schnelltodes der Ozeane auslösen, der sich wahrscheinlich bereits auf natürliche Weise in der Erdgeschichte einmal abgespielt hat. Zerstörung der stratosphärischen Ozonschicht, die uns vor der ultravioletten Strahlung schützt. Dies ist das Ö KO S OZ I A L I S M U S einzige wichtige Umweltthema, auf dem Fortschritte gemacht werden konnten – ich komme weiter unten darauf zurück. Schädigung und die Überausbeutung der Wasserreserven. Gegenwärtig gelangen 25 % der Wasserläufe wegen zu großer Wasserentnahmen, insbesondere für die Bewässerungslandwirtschaft, nicht mehr bis zum Meer. chemische Vergiftung der Biosphäre. Innerhalb eines Jahrhunderts hat die Chemieindustrie hunderttausend Moleküle geschaffen, die in der Natur nicht vorkommen; darunter gibt es eine gewisse Anzahl – vor allem toxische Verbindungen – , die durch keine natürlichen Wirkstoffe abgebaut werden können. Zerstörung der Böden und der Verlust von Ackerland. Alle diese Phänomene sind voneinander abhängig und der Klimawandel nimmt dabei eine zentrale Positon ein. Die Übersäuerung der Meere beispielsweise resultiert aus den wachsenden atmosphärischen Ansammlungen von Kohlendioxyd, das gleichzeitig das wichtigste Treibhausgas ist. Der Rückgang der Biodiversität ist gleichzeitig zum Teil der Klimaerwärmung geschuldet: Diese verläuft so schnell, dass es einigen Arten nicht gelingt, sich durch Migration zu retten. Vor allem haben diese Erscheinungen eines gemeinsam: Ihre grafische Darstellung bringt ähnliche exponentielle Kurven zum Vorschein, die in allen Fällen einen deutlichen Anstieg seit dem Goldenen Zeitalter der Nachkriegszeit aufweist: Die Kurve der atmosphärischen Anreicherung von Treibhausgasen verläuft in Funktion der Zeit exponentiell. Die Kurve der Arten, die in Funktion der Zeit vrschwinden, verläuft exponentiell. Die Zunahme der Übersäuerung der Ozeane ist exponentiell. Die Menge der zerstörten Böden nimmt exponentiell zu. Die Menge der in die Meere geschütteten Phosphate und Nitrate ebenfalls. Das gemeinsame Profil all dieser Kurven verweist ganz offensichtlich auf eine gemeinsame Ursache. So stellt sich die Frage: Wo liegt diese Ursache? Für eine Änderung der Bevölkerungspolitik und gegen Ablenkungsmanöver Auf diese Frage antwortet eine reaktionäre und menschenverachtende Bewegung, die in den Massenmedien sehr präsent ist und zeigt dabei mit dem Finger auf die mensch- liche Natur oder die Bevölkerung oder beide zusammen. Die Erde „kranke an der Menschheit“, wie James Lovelock als Schlussfolgerung seines Essais über Gaia schreibt.5 Als getreue Patriarchen nehmen diese feinen Herren vor allem die Frauen ins Visier. Auf diese Frage müssen wir sehr bestimmt antworten. Es ist selbstverständlich, dass die Anzahl Menschen auf der Erde ein wichtiger Faktor in der Umweltgleichung darstellt. Es wäre dumm, dies zu verneinen. Wir stehen übrigens für eine Stabilisierung der Bevölkerung – für das, was als ein demografischer Übergang bezeichnet wird. Wir warnen aber vor autoritären, neoliberalen und barbarischen Lösungen, die die demografischen Zwangsvorstellungen in gewissen Hirnen aufkeimen lassen. Beispielsweise der Vorschlag, austauschbare „Fortpflanzungsrechte“ einzuführen, ganz nach dem Modell der „Verschmutzungsrechte“. Der demografische Übergang hängt grundsätzlich von zwei Elementen ab: dem Recht der Frauen, ihre eigene Fruchtbarkeit zu kontrollieren (einschließlich des Rechts auf kostenfreie und gesundheitlich einwandfreie Abtreibung) und einer sozialen Sicherheit, die diesen Namen auch verdient (insbesondere mit einem Pensions- bzw. Rentensystem, das älteren Personen erlaubt, ohne die Unterstützung durch zahlreiche Kinder ein anständiges Leben zu führen). Sofern man die barbarischen Lösungen ausschließt – und diese müssen offensichtlich ausgeschlossen werden! – , ist der demografische Übergang ein langsamer Prozess, der keine Antwort auf die dringenden Umweltprobleme darstellen kann. Gerade deshalb müssen wir wachsam sein: Sehr häufig versuchen diejenigen, die eine Lösung der ökologischen Krise mit demografischen Antworten suchen, von den wirklichen Ursachen abzulenken. Nun liegen diese aber nicht darin, dass wir zu zahlreich sind, denn: 50 % der weltweit produzierten Nahrung endet nicht auf unseren Tellern und auch nicht in unseren Kühlschränken. Der Teil, der in unseren Tellern oder in unseren Kühlschränken endet, kommt meistens dahin, nachdem er Tausende von meistens unnötigen Kilometern überwunden hat. Dieser Teil besteht zunehmend aus Fleisch, vor allem Rindfleisch, während eine zu fleischlastige Ernährung schlecht für die Gesundheit ist. Die Unternehmen wenden große Vermögen für die Werbung auf, um in uns künstlich entfremdete KonsumInprekorr 6/2015 19 Ö KO S OZ I A L I S M U S bedürfnisse aufleben zu lassen, als elende Kompensation für die Verarmung der menschlichen Beziehungen in dieser Gesellschaft. Die Unternehmen rivalisieren mit ihrem Einfallsreichtum, damit die Waren, die sie uns verkaufen, sich immer schneller abnutzen und defekt werden und nicht mehr repariert werden können. Die Staaten verschwenden einen großen Reichtum und wertvolle Ressourcen für die Bewaffnung und für Überwachungs- und Sicherheitseinrichtungen. Die politischen und wirtschaftlichen EntscheidungsträgerInnen weigern sich – obwohl sie vollständig über die Gefahren informiert sind –, ernsthaft einen Übergang in ein System der Energieversorgung zu organisieren, das ausschließlich auf erneuerbaren Energien beruht. Ein solches würde bei weitem genügen, den Energiebedarf der Menschheit zu decken. Eine doppelte Einbahnstraße des Kapitalismus In Tat und Wahrheit ist der wahre Grund für all diese Phänomene weder die Bevölkerung noch die menschliche Natur, sondern der Kapitalismus und die „Natur“ dieser gegen die Natur gerichteten Produktionsweise. In Wirklichkeit stellen die Kurven der exponentiellen Schädigung der Umwelt nichts anderes dar als das Grundgesetz des Kapitalismus: „Immer mehr“. Ein Kapitalismus ohne Wachstum ist ein Widerspruch in sich selbst. Die Erklärung ist einfach: In diesem auf der Konkurrenz um den Profit beruhenden System ist jeder Eigentümer von Produktionsmitteln andauernd gezwungen, seine Kosten zu senken, vor allem indem Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzt werden, die die Arbeitsproduktivität erhöhen. Dieser Zwang ist absolut und unerbittlich: Wer sich ihm entziehen will, wird unmittelbar zum wirtschaftlichen Tode verurteilt. Der Kapitalismus ist seinem Wesen nach produktivistisch. Er produziert immerzu mehr Waren; dies führt zu einer immer stärkeren Plünderung der natürlichen Ressourcen, zu einer immer größeren Ausbeutung der Arbeitskraft (sei dies direkt in der Produktion, sei dies indirekt in den Dienstleistungen und in der Reproduktion der Arbeitskraft) und zu einer immer größeren Vernichtung von Wissen und Logik, die keinen Platz in seiner gefräßigen „Logik“ haben. In dieser unsinnigen kapitalistischen Logik wird die „ökologische Krise“ selbst lediglich als „eine hervorragende Gelegenheit für neue Märkte“ wahrgenommen. So spielt die Wirtschaftspresse die Chancen für neue Märkte 20 Inprekorr 6/2015 für erneuerbare Energien hoch, für den Handel mit Verschmutzungsrechten, für (Pseudo-)Bioprodukte usw. Die Universalität des Problems verschwindet, wie auch der notwendig universale Ansatz für eine Lösung; all dies wird durch den Profithunger der Kapitalisten verschlungen. Es ist offensichtlich, dass die Pseudo-Lösungen dieses „grünen Kapitalismus“ nichts lösen. Ich werde nicht meine Zeit vergeuden, dies auszubuchstabieren. Wie Albert Einstein sagte, löst man die Probleme nicht mit den Mitteln, die die Probleme gerade erst hervorrufen. Man löst die „ökologische Krise“ nicht durch Marktmechanismen und den Produktivismus, die gerade die Ursache der ökologischen Krise ausmachen. Zu diesem Thema möchte ich erneut auf Folgendes aufmerksam machen: Der einzige Aspekt der ökologischen Krise, wo die exponentielle Dynamik der Zerstörung durchbrochen wurde, ist das Verschwinden der Ozonschicht. Der Ausstoß von Gasen, die für das Phänomen verantwortlich sind, hat seit dem Protokoll von Montreal (1987) tatsächlich abgenommen. Das ist gerade mal der einzige Bereich, wo die Regierungen […] eher zu regulatorischen Maßnahmen griffen, anstatt sich auf Marktmechanismen zu verlassen.6 Die Lösung springt ins Auge: Nicht die Natur ist in einer Krise, sondern vielmehr die kapitalistische Gesellschaft. Wir sind in ein Stadium getreten, in dem die Absurdität dieser Produktionsweise die Beziehungen zwischen der Menschheit und der Natur, von der sie ein Teil ist, so sehr gestört sind, dass daraus tödliche Bedrohungen für einen großen Teil der Menschheit hervorgehen. Dies ist der Grund dafür, dass ich den Begriff „ökologische Krise“ nicht mag. Der Begriff „Krise“ ist zudem nicht korrekt. Eine Krise ist ein Moment des Übergangs zwischen zwei Zuständen eines Systems. Meiner Auffassung nach kann man nicht von „Krise“ sprechen, um die Gesamtheit der exponentiellen Phänomene der Schädigung der Umwelt zu beschreiben, die ich erwähnt habe und die sich seit zwei Jahrhunderten verstärken. Wir haben es nicht mit einer Krise zu tun, sondern mit einer doppelten Sackgasse des Kapitalismus, sowohl auf der Ebene der Umwelt, wie auch auf der sozialen Ebene (kurz zusammengefasst: Dem tendenziellen Fall der Profitrate und der Art, wie der Kapitalismus versucht, diesem entgegenzuwirken). Es ist erschreckend, wie der Kapitalismus auf beiden Ebenen – sozial wie auf die Umwelt bezogen – an Grenzen stößt, die er nicht einmal als solche erkennen kann. Dies Ö KO S OZ I A L I S M U S bestätigt vollumfänglich die Analyse von Marx, der sagte, dass „die einzige Grenze für das Kapital das Kapital selbst“ sei und daraus folgerte, dass dieser Moloch, sofern man ihn nicht rechtzeitig auslöscht, „die beiden einzigen Quellen des Reichtums: die Erde und den Arbeiter“ verzehren würde. Ökologoischer Kampf, Klassenkampf Diese Herangehensweise erlaubt uns, den Kampf, den wir führen müssen, zu positionieren. Es geht nicht um einen „ökologischen Kampf “ – im Sinne einer Art von Luxuskampf für diejenigen, die nicht zu große soziale Probleme haben. Es geht um einen sozialen Kampf um die Rettung der Lebensgrundlagen auf diesem Planeten, insbesondere um die Arbeitswelt, die Frauen, die Jungen, die Bauern, die indigenen Völker – kurz, um die Ausgebeuteten und die Unterdrückten, die der Kapitalismus massenhaft zu opfern droht. Der Kampf, den wir für die Umwelt führen müssen, ist ein Klassenkampf, ein antikapitalistischer Kampf, der sozusagen alle anderen Kämpfe miteinbezieht und der das Potenzial hat, sie alle zu vereinen. Ein Kampf, dessen Ausgang über die Wahl zwischen einer Menschheit, die diesen Namen verdient, oder einem barbarischen Chaos der Umwelt- und sozialen Zerstörung entscheidet. Dieser Kampf ist sowohl poetisch – er ist voller Emotionen und Leidenschaften, denn es geht um die Rettung des Zaubers dieser Welt, der aus uns vollwertige Menschen macht – wie auch äußerst rational. Aber machen wir uns keine Illusionen: Er wird weder durch die Poesie, noch durch die Rationalität gewonnen werden, wie ausgeprägt auch die Schönheit der Ersten und die Strenge der Zweiten sein mögen. Angesichts der Aktualität der vergangenen Wochen möchte ich diese Behauptung mittels einer griechischen Parabel illustrieren: Was haben Giannis Varoufakis und die großen Umweltverbände gemeinsam? – Die Illusion, dass die menschlichen Dramen und die vernünftigen Argumente, gestützt durch Nobel-Preise, den Gegner davon überzeugen könnten, dass seine Politik widersinnig sei, selbst aus der Sicht seiner eigenen, kapitalistischen Interessen. Dieser Glaube ist in der Tat trügerisch. Es geht nicht in erster Linie um Dummheit oder einen Mangel an Informationen der EntscheidungsträgerInnen, sondern um materielle Interessen. Um das Klima zu retten müssten 1. die Erdöl-, Erdgas- und Kohlenfirmen darauf verzichten, die vier Fünftel der Reserven an fossilen Brennstoffen abzubauen, die in ihrem Besitz sind und die ihren Börsenwert bestimmen; 2. der größte Teil des globalen Energiesystems – dessen Wert ungefähr ein Fünftel des globalen BIP ausmacht – vor deren Amortisierung vernichtet werden. In beiden Fällen würde diese Zerstörung von Kapital eine schwere Finanzkrise nach sich ziehen. Man kann noch einen anderen Vergleich à la grecque ziehen: Was gibt es für Gemeinsamkeiten zwischen Schäuble, Lagarde und den Klimaskeptikern? – Eine eiserne Entschlossenheit, ihr System zu schützen, so wie es die Kapitalistenklasse tut, von der sie ein Teil sind und die die wesentlichen Elemente ihrer Macht seit zwei Jahrhunderten auf die Ausbeutung der fossilen Energien gegründet hat. Die Schäubles und die Lagardes aller Länder sind bereit, für die Aufrechterhaltung dieses Systems ungeheure Zerstörungen, die Opferung von Hunderten von Millionen Menschen in Kauf zu nehmen, ja selbst die Welt in ein unüberschaubares Chaos zu treiben, mit Mitteln, die mit der sogenannten „Zivilisation“ überhaupt nichts mehr zu tun haben. Wenn dann die Schandtat vollbracht ist, würden die Schäubles und die Lagardes Krokodilstränen über die Opfer vergießen und von einer „Naturkatastrophe“ sprechen. Denn diese Leute denken, dass die Marktgesetze Naturgesetze sind, mindestens so unantastbar wie die Gesetze der Physik. Der bürgerliche Ökonom Schumpeter sagte, dass der Kapitalismus aus seinen periodischen Krisen durch „schöpferische Zerstörung“ heraustreten würde. Was Ernest Mandel den „Spätkapitalismus“ nannte, kann aus seiner doppelten sozialen und ökologischen Sackgasse nur durch die „zerstörerische Zerstörung“ heraustreten. Es geht also um einen Kampf und nicht um eine akademische Debatte, und das griechische Beispiel zeigt uns im Kleinen, wie gnadenlos dieser Kampf sein wird. Erklären, blockieren, gemeinsam vorgehen „Was tun?“, wie der andere sagte … Was tun, um die Klimakatastrophe so gut wie möglich zu beschränken? Als Erstes müssen wir überall und jederzeit den Ernst der Lage und deren Ursache erklären, gerade in den volksnahen Organisationen, also in der Gewerkschaftsbewegung, den Frauenorganisationen und den Jugendbewegungen. Es braucht eine andauernde Bildungsarbeit, an der wir uns beteiligen müssen. Reden ist bereits handeln; dadurch werden die Keime für die große und unverzichtbare Wut gesät. Inprekorr 6/2015 21 Ö KO S OZ I A L I S M U S Zweitens müssen wir überall gegen große Investitionsprojekte im Dienste der fossilen Industrie kämpfen: gegen die neuen Flughäfen, die neuen Pipelines, die neuen Autobahnen, die neuen Bohrungen, die neuen Minen, gegen den neuen Irrsinn mit dem Schiefergas, gegen die neuen Schrullen der Geoingenieure, die davon träumen, die Erde mit einem Thermostaten auszurüsten, … den sie dann kontrollieren könnten. Naomi Klein hat vollumfänglich recht, wenn sie dazu aufruft, überall den Widerstand zu verstärken, den sie „Blokadia“ nennt. Sie hat recht, weil diese Blockierung tatsächlich von strategischer Wichtigkeit ist: Der aktuelle Stand der Entwicklung der Infrastrukturen erlaubt dem Kapital nicht, weiterhin diejenige Menge der fossilen Brennstoffe zu verbrennen, die zu einer Klimaerwärmung um 6 °C bis 2100 führen würde.7 Moblisierungen wie diejenige von Notre-Dame-des-Landes, der Pipeline Keystone XL oder dem Yasuni-Park sind wie Riegel, die ihnen den Weg versperren. Verteidigen wir sie, und koordinieren wir uns für diesen Zweck! Drittens müssen wir alle alternativen kollektiven, sozialen und demokratischen Initiativen unterstützen, die die Vorstellung des Gemeineigentums, der gemeinsamen Verwaltung der Erde „als gute Familienmütter und -väter“ fördern. Wir dürfen nicht von oben auf die Gruppierungen, die lokale Produkte und Bioprodukte kaufen, und andere Initiativen, die beispielsweise die Ernährungssouveränität anstreben, herabschauen. Wir glauben natürlich nicht daran, dass der Kapitalismus auf diese Art und Weise, durch Ansteckung, gestürzt werden kann. Dies hindert allerdings nicht daran, dass solche Initiativen zu Hebeln einer Bewusstwerdung werden können, insbesondere, wenn durch sie ein Dialog zustandekommt und dadurch die Trennmauern zwischen Produzentinnen und Konsumenten niedergerissen werden, die durch das Kapitalverhältnis verallgemeinert werden, oder wenn die Gewerkschaftsbewegung daran beteiligt ist. Es versteht sich allerdings von selbst, dass die andauernde Aufklärungsarbeit, die Blockierungen und die Initiativen zur Eroberung des Gemeineigentums nicht genügen. Für diesen Kampf ist ein Projekt einer alternativen Gesellschaft erforderlich, ein Programm, eine Strategie. Ich werde im Folgenden kurz auf diese drei Aspekte eingehen. Ein Gesellschaftsprojekt: Das ökosozialistische Aggiornamento 8 Nennen wir die Sache beim Namen: Das Projekt einer alternativen Gesellschaft kann nur sozialistischer Art sein. 22 Inprekorr 6/2015 Es geht um die Abschaffung der Tauschwertproduktion für den Profit einer Minderheit von Kapitalisten und deren Ersetzung durch die Gebrauchswertproduktion für die Befriedigung der wirklichen, demokratisch festgelegten menschlichen Bedürfnisse. Wir haben keine andere Wahl, keine andere mögliche Alternative zu dieser Produktionsweise. Nun, diese Alternative entspricht grundsätzlich der Definition des Sozialismus. Die autonome Bewegung der Frauen appelliert an unsere Organisationen, damit wir uns im Klaren sind, dass der Sozialismus nicht nur die Abschaffung der Ausbeutung der Lohnarbeit bedeutet, sondern ebenfalls die Beseitigung der Unterdrückung der Frauen. Die unbezahlte Hausarbeit im Dienste des Unterhaltes und der Reproduktion der Arbeitskraft ist eine sorgsam durch das Patriarchat verdeckte Säule des Systems, das auch die Schwulen und die Lesbierinnen unterdrückt. Unsere Bewegung versucht, daraus alle Schlussfolgerungen für den von uns angestrebten Sozialismus zu ziehen. Auf die gleiche Art und Weise müssen wir erkunden, was die Tiefe der ökologischen Krise für unser sozialistisches Projekt bedeutet. Auch hier ist eine Erneuerung notwendig. Ich führe kurz drei Punkte an: Die Technologie. Lenin sagte: „ Sozialismus, das bedeutet Sowjets plus Elektrizität“. Heute ist klar, dass diese Definition nicht genügt. Wie würde die Elektrizität produziert? Mit der Kohle, dem Erdöl, Erdgas, Atomenergie? Ein Sozialismus, der seines Namens würdig ist, würde Elektrizität ausschließlich aus erneuerbaren Energiequellen produzieren und mit dem bestmöglichen Wirkungsgrad nutzen. Mit anderen Worten führt uns die „ökologische Krise“ zum Schluss, dass die Technologien nicht neutral sind. Die Grenzen. Engels pries die „unbegrenzte Entwicklung der Produktivkräfte“, die möglich würde, sobald sich die Menschheit der „kapitalistischen Fesseln“ entledigt hätte. Man kann über die genaue Interpretation dieses Satzes debattieren, über die Wichtigkeit, die Engels den nicht-materiellen Produktivkräften, wie dem Wissen, zuschrieb. Aber eines ist klar: Das sozialistische Projekt ist versperrt durch das, was Daniel Bensaïd die „produktivistische Schlacke“ nannte. Beseitigen wir diese. Wir kämpfen für einen Sozialismus, der die Grenzen der Ressourcen, die Rhythmen und die Funktionsmodi der Ökosysteme, wie auch die grossen Kreisläufe der Natur respektiert. Ein Sozialismus, der den Grundsatz der Vorsorge anwendet und auf die „Herrschaft über die Natur“ verzichtet. Ö KO S OZ I A L I S M U S Die Dezentralisierung. Marx sagte von der Commune von Paris, sie sei die „endlich gefundene politische Form der Befreiung der Arbeit“. Auf der Grundlage dieser revolutionären Erfahrung ließ er ab von eher zentralistischen Vorstellungen, sprach sich für eine Konföderation von Gemeinwesen als Alternativen zum Staat aus und begann, die Formen der Gemeinwesen in vorkapitalistischen Gesellschaften zu studieren. Ein wirkliche Demokratie der assoziierten Produzentinnen und Produzenten ist tatsächlich nicht denkbar ohne eine Zerschlagung des Staates und seine Ersetzung durch einen Verbund von dezentralisierten Strukturen der Selbstorganisation, die sich koordinieren. Die notwendige Energiewende ermutigt uns, uns kühn für diese Vorstellung zu entscheiden; denn die erneuerbaren Energien erfordern eine weitgehende Dezentralisierung, da sie durch die Gemeinwesen verwaltet und kontrolliert werden. Wir können also die Formel von Marx vervollständigen: „Die Commune ist die endlich gefundene politische Form der Befreiung der Arbeit und der ökologischen Nachhaltigkeit“ (im wahren Sinne des Begriffes). Diese drei Punkte genügen, so denke ich, um aufzuzeigen, dass der Ökosozialismus etwas anderes ist als eine neue Etikette auf einer alten Flasche: Er ist ein emanzipatorisches Projekt, das die Herausforderungen beinhaltet, vor denen die Menschheit aufgrund der kapitalistischen Umweltzerstörung und der verheerenden Erfahrungen des „Realsozialismus“ steht. Programm: eine unumgängliche Radikalität In Bezug auf das Programm möchte ich all jenen sagen, die denken, dass die ökologische Frage uns von antikapitalistischen Antworten auf die Austeritätspolitik ablenken könnte, dass sie sich schwer täuschen. Das Gegenteil ist der Fall. In Wirklichkeit verschaffen die Dringlichkeit und die Schwere der ökologischen Krise einem äußerst radikalen, revolutionären Programm eine starke Legitimität, dessen Grundpfeiler die doppelte Enteignung/Vergesellschaftung der Energie und des Finanzsektors ist, ohne Entschädigung, ohne Rückkaufsrecht und unter der Kontrolle der Arbeiterinnen und Arbeiter. Diese beiden Bereiche sind eng miteinander verzahnt, vor allem weil die gigantischen Investitionen des Sektors der fossilen Energieträger (Aufspürung, Bohrungen, Minen, Raffinerien, Kraftwerke, Hochspannungsleitungen usw.) langfristiger Natur sind und über Kredit finanziert werden. Angesichts der oben erwähnten Verschrot- tung der Energiesysteme vor ihrer Amortisierung, wie auch der im Boden verbleibenden fossilen Reserven, ist die Verstaatlichung die conditio sine qua non, damit die Gesellschaft über die Hebel und die Mittel verfügt, die Energiewende unabhängig von den Imperativen des Profites und in einem dezentralen Rahmen vollziehen kann. Unter dieser Vorraussetzung können zahlreiche unmittelbare Forderungen organisiert werden, auf die ich nicht eingehen werde. Ich möchte nur erwähnen, dass mir zwei Fragen von großer Wichtigkeit scheinen, in einer doppelten Perspektive einer Antwort auf die Austeritätspolitik und einer Weiterverbreitung der Idee des Gemeineigentums. Die erste betrifft den freien Zugang zu den Dienstleitungen des Grundbedarfs, die den sozial anerkannten Bedürfnissen beim Zugang zu Wasser, Beleuchtung, Mobilität und Wärme entsprechen (kombiniert mit einem schnell ansteigenden Tarif jenseits dieser Bedürfnisse). Die zweite betrifft die Zurückdrängung der Marktregulierung mittels der Förderung eines demokratischen öffentlichen Sektors, mit Kontroll- und Beteiligungsmechanismen für die Bevölkerung: Öffentliche Gesellschaften für die Dämmung und Erneuerungen von Wohnungen, öffentliche Verkehrsunternehmen usw. Strategie: Zusammenführen der Kämpfe aller Ausgebeuteten und Unterdrückten Ich werde zum Schluss über die Strategie sprechen. Es ist klar, dass die Menschheit nur mit revolutionären Mitteln aus der Sackgasse gelangen kann, in die sie der Kapitalismus geführt hat. Ebenso ist klar, dass im zu führenden antikapitalistischen Kampf die Arbeiterklasse notwendigerweise eine zentrale Rolle einnimmt (das heißt all jene, deren Existenz von der direkten oder indirekten Ausbeutung ihrer Arbeitskraft durch den Kapitalismus in der Produktion, in den Dienstleitungen oder in der Reproduktion der Arbeitskraft abhängt). Die Revolution besteht jedoch nicht aus zwei abgegrenzten Armeen – der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie – die sich auf dem Schlachtfeld gegeneinander aufstellen. Jede revolutionäre Situation ist das Produkt einer Krise einer ganzen Gesellschaft, eines wirren Auf brodelns von Vorstößen der Klassen, aber auch einzelner Klassenfraktionen, von Gesellschaftsschichten usw. In diesem Auf brodeln muss die Arbeiterklasse eine Hegemonie erobern, indem sie praktisch aufzeigt, dass ihr Programm AntworInprekorr 6/2015 23 Ö KO S OZ I A L I S M U S ten auf die Probleme und das Streben aller Ausgebeuteten und aller Unterdrückten bringt. Diese Richtigstellung ist hier besonders angebracht, denn die „ökologische Krise“ ist wie die Bedrohung durch einen Atomkrieg: Sie macht Millionen von Frauen und Männern aus allen Gesellschaftsschichten betroffen und setzt sie in Bewegung, da sie sich um die Zukunft des Planeten und diejenige ihrer Kinder Sorgen machen. Aus diesem Grunde haben die großen ökologischen wie die großen pazifistischen Mobilisierungen oft einen „interklassistischen“ Einschlag. Sicherlich sind dort die ArbeiterInnen in der Überzahl (zumindest in den „entwickelten“ Ländern, wo die Arbeiterklasse die Mehrheit der Bevölkerung ausmacht), aber sie nehmen nicht als ArbeiterInnen, mit dem Bewusstsein ihrer spezifischen Rolle, daran teil. Meiner Ansicht nach besteht die Rolle der RevolutionärInnen nicht darin, einfach vom Straßenrand weg Traktate zu verteilen, die zu einer sozialistischen Antwort aufrufen. Solche Traktate sind sicher nützlich, aber unsere Aufgabe besteht auch darin, die Massenbewegung aufzubauen und sie auf antikapitalistische Lösungen hin zu orientieren. Diese Strategiediskussion ist umso wichtiger, als sich die Arbeiterklasse heute in der Nachhut im Kampf um das Klima befindet, während die Bäuerinnen und Bauern und die indigenen Völker an vorderster Front mit antikapitalistischen Forderungen kämpfen, wobei die Frauen eine Schlüsselrolle spielen. Beim Auf bau der Massenbewegung müssen wir strategisch darauf achten, dass wir die Arbeiterklasse miteinbeziehen können, deren Rolle entscheidend sein wird. Dafür müssen wir aber die spezifischen Gründe der schwächeren Beteiligung der Arbeiterklasse an den ökologischen Kämpfen im allgemeinen und insbesondere der Klimakämpfe verstehen. Die Erklärung dafür ist nicht kompliziert. Wenn die kleinen Bäuerinnen und Bauern gegen das Agrobusiness um ihre Existenzbedingungen kämpfen, so stimmen ihre unmittelbar vorgebrachten Forderungen im Großen und Ganzen mit dem Programm im Agrarbereich, um das Klima zu retten, überein. Zudem wissen sie, dass sie Unterstützung aus der breiten Bevölkerung benötigen, um einem sehr mächtigen Gegner gegenüberzutreten, der sie zerstören will, so dass sie eher zu einem „Bauern- und Arbeiter-Bündnis“ als zu einem kleinbürgerlichen Programm neigen. Beispielsweise verhält es sich mit den indigenen Völkern mutatis mutandis ebenso, bei ihrer 24 Inprekorr 6/2015 Verteidigung ihrer Lebensweise, die aus der Symbiose mit dem Wald besteht. Es ist nicht erstaunlich, dass in diesen beiden Gruppen die Frauen eine Schlüsselrolle spielen. Nicht aufgrund eines ökologischen „weiblichen Wesenskerns“, sondern weil die Frauen einerseits weltweit für 80 % der Produktion der Lebensmittel aufkommen, und weil andererseits die ihnen vom Patriarchat im Rahmen der Arbeitsteilung zugeordnete „Pflegerolle“ sie unmittelbar mit einigen der brutalsten Folgen der Klimaerwärmung konfrontiert, wie etwa der Verknappung der Wasservorräte. Die Problematik wird von ArbeiterInnen anders wahrgenommen. Tatsächlich gibt es auf den ersten Blick eher eine Spannung als eine Übereinstimmung – ja einen offenen Gegensatz – zwischen deren unmittelbaren Forderungen, die sie spontan zur Verteidigung ihres Broterwerbs stellen, und dem Programm, das auf ökologischem Gebiet umgesetzt werden müsste. Selbstverständlich ist dieser Gegensatz nur oberflächlich, aber er stellt nichtsdestotrotz ein Hindernis dar, gerade in Bezug auf die Kämpfe in den je einzelnen Unternehmen. Häufig fühlen sich die ArbeiterInnen in Schmutz schleudernden Unternehmen wie zerissen zwischen einem Bewusstsein von ihren ökologisch schädlichen Aktivitäten und ihren bestehenden Verpflichtungen, mit denen sie an ihren Arbeitsplatz gebunden sind. Diese Zerrissenheit kann nur durch antikapitalistische Antworten überwunden werden, die alleine sowohl auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse wie auch auf die ökologischen Zwänge antworten können. Dies ist die generelle strategische Stoßrichtung des Ökosozialismus. Ich werde keinen Katalog dieser Forderungen aufstellen – sie müssen zu einem grossen Teil in den konkret stattfindenden Kämpfen selbst erfunden werden, ausgehend vor allem von den Kämpfen um die Gesundheit an den Arbeitsplätzen. Eine aber scheint mir unerlässlich: eine radikale Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnkürzung, mit der entsprechenden Einstellung von zusätzlichen Arbeitskräften und einer unter Arbeiterkontrolle stehenden starken Verringerung der Arbeitsrhythmen. Dies ist eine entscheidende Forderung, weil die radikale Verkürzung der Arbeitszeit mit einer Verringerung der Arbeitsrhythmen die wirksamsten Mittel im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und gegen den Produktivismus sind. Um die strategische Bedeutung dieser Forderung aus ökologischer Sicht zu verstehen, muss man insbesondere wissen, dass die Reduktion der materiellen Produktion und der Transporte eine notwendige Bedin- Ö KO S OZ I A L I S M U S gung für eine Energiewende in Richtung erneuerbarer Energien unter Einhaltung der klimatischen Bedingungen darstellt. Zahlreiche Faktoren stellen sich gegen die Verbreitung dieser Forderungen in der Arbeiterbewegung. Einer ist sicher die Existenz einer Gewerkschaftsbürokratie, die die Klassenzusammenarbeit pflegt und darauf hofft, auf diese schräge Weise – noch eine Illusion mehr! – einen „direkten Übergang“ hin zu einem sozialen und ökologischen Kapitalismus verfolgen zu können. Sich für den Auf bau einer Massenbewegung zur Verteidigung der Umwelt im Allgemeinen, des Klimas im Besonderen einzusetzen, bedeutet, sich die Fähigkeit zu verschaffen, die kapitalistische Logik aus dieser Bewegung heraus anzuklagen, durch das Handeln in einem Massenzusammenhang. Dies wird die ArbeiterInnen unvermeidlich anstacheln, sich mit ihren Waffen dem Kampf anzuschließen und dort diejenige Rolle zu spielen, die ihnen schlussendlich zukommen wird. Die revolutionäre Strategie besteht nicht im Ouvrierismus oder im Ökonomismus. Es geht um die Entwicklung einer universalen Antwort auf die Sackgasse des Kapitalismus, auf allen Gebieten und in allen Milieus. 5 Vgl. James Lovelock, Gaia. Die Erde ist ein Lebewesen. Was wir heute über Anatomie und Physiologie des Organismus Erde wissen und wie wir ihn vor der Gefährdung durch den Menschen bewahren können, aus dem Englischen übersetzt von Jochen Eggert und Marcus Würmli, Bern, München, Wien: Scherz Verlag, 1992, Kapitel 8: „Die Menschenplage“, S. 153–171. Hier besonders S. 155f.: „Als Kollektiv ist der Mensch heute so zahlreich, daß er eine ernsthafte Krankheit für den Planeten darstellt. Gaia leidet unter der Menschenplage.“ 6 Emissions of ODSs and their substitutes in Scientific Assessment of Ozone Depletion: 2010 unter http://www. esrl.noaa.gov/ 7 Corinne Le Quere, op. cit. 8 Ein sozialistisches Gesellschaftsprojekt, um den heutigen Stand ökologischer Erkenntnisse erweitert. Daniel Tanuro ist Mitglied der Führung der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR-SAP, der belgischen Sektion der IV. Internationale. Neben zahlreichen Artikeln ist er Autor von Klimakrise und Kapitalismus, Neuer ISP Verlag, Köln/Karlsruhe 2015. Dieser Text ist die vom Autor leicht gekürzte Transkription eines am 28. Juli 2015 im Rahmen des 32. Treffens der Jugend der IV. Internationale gehaltenen Vortrages. Der Autor dankt allen Diskussionsteilnehmerinnen und –teilnehmern für ihre Beiträge, die dem Autor geholfen haben, den Text in einigen Punkten zu korrigieren und zu präzisieren.. Aus inprecor 619/620, September/Oktober 2015 Übersetzung: W. Eberle 1 Scientists Warn of Rising Oceans From Polar Melt, unter www.nytimes.com vom 12. Mai 2014 2 The inevitability of sea level rise, unter realclimate.org vom 15. August 2013 3 World on track for nearly 11-degree temperature rise, energy expert says, unter www.washintonpost.com vom 28. November 2011 4 Corinne Le Quere, Tyndall Centre for Climate Change Research, University of East Anglia „ The scientific case for radical emissions reductions “. http://tyndall.ac.uk/communication/news-archive/2013/radical-emissions-reductionconference-videos-now-online Inprekorr 6/2015 25 Ö KO N O M I E WELCHES NICHT PRODUKTIVISTISCHE MODELL? Dieser Beitrag1 beschäftigt sich mit mehreren Punkten, durch die sich ein roter Faden zieht: den vagen Begriff des Antiproduktivismus aufgreifend, soll versucht werden, mit ein und derselben antikapitalistischen Logik soziale und ökologische Fragen zu kombinieren. Michel Husson E s gab eine Zeit, in der die Arbeiterbewegung eine produktivistische Haltung vertrat. So warf die PSU2 , um nur ein Beispiel zu nennen, 1964 in ihrem „Gegenplan“ dem Plan der Regierung vor, ein jährliches Wachstum von lediglich 5 Prozent vorzusehen. Heute denken viele Teile der Linken über die Möglichkeit eines nicht produktivistischen Modells, zeitweise als Ökosozialismus bezeichnet, nach. Diese Entwicklung erklärt sich durch verschiedene Faktoren, die hier nur kurz in Erinnerung gerufen werden: die Erdölschocks der 1970er-Jahre, das wachsende Bewusstsein über die Klimaproblematik, die Perspektive einer Jahrhundertstagnation etc. Sie greift aber 26 Inprekorr 6/2015 auch Elemente einer Kritik der Konsumgesellschaft auf, die bereits auf die 1970er-Jahre zurückgeht. Kapitalismus und Sozialismus: zwei unterschiedliche Logiken Es ist vielleicht nicht unsinnig, kurz in Erinnerung zu rufen, dass es auf abstrakter Ebene zwei wirtschaftliche und soziale Organisationsweisen gibt. Was den Kapitalismus betrifft, ist klar, dass sein Ziel darin besteht, möglichst hohe Profite unter dem Vorbehalt tatsächlicher gesellschaftlicher Nachfrage zu erzielen. Das bedeutet, dass die Kapitalisten ihre Waren nur unter der Bedingung verkau- Ö KO N O M I E fen, dass sie einen Gebrauchswert haben, kurz einer gesellschaftlichen Nachfrage entsprechen, die natürlich eine tatsächliche Nachfrage sein, d. h. einer entsprechenden Kaufkraft entsprechen muss. Die „Mikroökonomie“ versucht nachzuweisen, dass das Zusammentreffen von „Produzenten“ (die ihren Profit maximieren) und „Konsumenten“ (die ihren „Nutzen“ maximieren) zu einem Optimum führt, sofern nicht diverse starre Regelungen dessen Realisierung verhindern. Der Zweck dieses ideologischen Kraftaktes ist es, Ziele und Hindernisse als symmetrisch darzustellen, aber auch die Möglichkeit einer anderen Gesellschaftsorganisation, des Sozialismus, zu leugnen, dessen Plan die Maximierung des gesellschaftlichen Wohlergehens unter Vorbehalt der mobilisierbaren Mittel wäre, was zu völlig anderen Ergebnissen führen würde. Diese Mittel sind die menschliche Arbeit (und die daraus hervorgehenden Produkte), aber auch die Natur. Arbeit und Natur sind, um die Begriffe von Marx aufzugreifen, „Vater“ und „Mutter“ jeder Produktion von Gebrauchswert, mit anderen Worten des „stofflichen Reichtums“.3 Das bedeutet auch, dass die beiden Aspekte von „sozialer Ökologie“, die sich schlicht mit dem Status des Arbeiters und der Ökologie befasst, in der Definition des gesellschaftlichen Optimums als Aspekte gleichwertig zu berücksichtigen sind und zusammen in einen Ausgleich münden, der ein Ergebnis demokratischer Beschlussfassung ist. Im Kapitalismus spielen Zweck und Mittel also eine andere Rolle als im Sozialismus. Im Kapitalismus dominieren private Entscheidungen die gesellschaftliche Wahl. Die ökonomischen Berechnungsmodelle beider Gesellschaftssysteme operieren auch nicht mit denselben Effizienzkriterien. Der Kapitalismus bemisst die Effizienz nach dem Profit, während das Kriterium des Sozialismus das gesellschaftliche Wohlergehen ist, gemessen an der Einhaltung von Menschenrechten und Rücksichtnahmen auf die Umwelt. Daher gibt es zwei mögliche Wirtschaftsrechnungen und zwei Effizienzkriterien. Am konkreten Beispiel der Medikamente bedeutet das kapitalistische Kriterium, den Ertrag für Investitionen der pharmazeutischen Gruppen zu maximieren, während das sozialistische Kriterium bedeutet, die Zahl der behandelten Patienten zu maximieren. Daran ist leicht erkennbar, dass die Anwendung des einen Kriteriums zu einem anderen „Nutzeffekt“ führt als die des anderen.4 Diese Betrachtungen5 erlauben, die aktuelle Diskussion über neue Reichtumsindikatoren zu beleuchten. Zu zeigen, dass das BIP kein Maßstab für Wohlergehen oder Glück ist, ist nützlich für die Kritik am produktivistischen Kapitalismus, selbst wenn man damit offene Türen einrennt. Das BIP entspricht der kapitalistischen Logik und ist daher ein geeignetes Instrument, um diese zu studieren. Es zu verwerfen wäre ebenso absurd wie die Weigerung, die Profitrate zu betrachten, weil der Profit auf Kosten der Lohnabhängigen erzielt wird (müsste sie also um den Aspekt der Mühseligkeit der Arbeit ergänzt werden?). Multidimensionale oder synthetische qualitative Indikatoren aufzustellen, die versuchen, das Wohlergehen zu messen, ist zweifellos nötig, doch solche stehen bereits zur Verfügung, beispielsweise in Form des Indikators für menschliche Entwicklung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) oder im Bereich von Armut, Ungleichheit, Zugang zu Gesundheit etc. Im Übrigen fragt sich, ob die Maschine anders funktioniert, nur weil die Instrumente geändert werden. Das nahezulegen gibt Sarkozys Augenwischerei Gewicht, wenn er erklärt: „Wir werden unser Verhalten nicht ändern, wenn wir den Maßstab für unsere Leistung nicht ändern.“6 Am schlimmsten ist, dass diese Reflexion über die Indikatoren in kontraproduktive Vorschläge mündet. Man müsse beispielsweise das BIP korrigieren und ein NIP (Nettoinlandsprodukt) errechnen, das man erhalte, wenn man die „natürliche Abnutzung des Kapitals“ abziehe. Das setzt einen Preis für etwas voraus, was keinen Preis hat, und führt zu Monstrositäten wie, um nur eine unter vielen zu erwähnen, diese Studie, die „den durchschnittlichen Wert, der den Ökosystemen der Hauptstadt zuzuschreiben ist, auf 970 Euro pro Hektar und Jahr“ schätzt.7 Der Versuch, das BIP zu korrigieren, indem nicht marktwirtschaftliche Aktivitäten oder schlimmer noch natürliche Rohstoffe und ihre „Dienste“ in Geldäquivalenten angegeben werden, ist völlig widersinnig, da es gerade darum geht, das Wohlergehen (Gebrauchswert) von der Warenproduktion (Tauschwert) zu unterscheiden.8 Die kapitalistischen Antworten auf die Umweltproblematik Bevor man sich der Klimagefahren bewusst wurde, betrachtete die vorherrschende Ökonomie den Produktionsprozess als Kombination zweier Faktoren: des Kapitals und der Arbeit. Diese beiden Faktoren wurden als eigentlich austauschbar erachtet, in dem Sinn, dass der eine je nach relativem Preis beider Faktoren durch den anderen ersetzt werden konnte. Die Energie tauchte in dieser Darstellung nicht direkt auf oder nur vermittelt über die im Energiebereich nötigen Investitionen. Inprekorr 6/2015 27 Ö KO N O M I E 28 Inprekorr 6/2015 GRAFIK 1: BIP UND ENERGIEVERBRAUCH GLOBAL weltweiter Energieverbrauch Dabei geriet in Vergessenheit, dass das weltweite Wachstum des BIP seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem ebenso erheblichen Wachstum des Energieverbrauchs einhergegangen ist. Grafik 1 zeigt, dass das globale BIP zwischen 1860 und 2008 um ein 50-Faches gewachsen ist und der Energieverbrauch im selben Zeitraum um ein 18-Faches. Das Verhältnis der beiden Zahlen zueinander zeigt jedoch, dass die Energieintensität (der Energieverbrauch in Bezug auf das BIP) konstant abgenommen hat. Die Entwicklung des Kapitalismus beruhte also auf der Verfügbarkeit von kostengünstigen Energiequellen, es gab aber auch Bemühungen, die entsprechenden Kosten und den Verbrauch einzudämmen (Grafik 1). Die steigenden Erdölpreise und die Notwendigkeit, die Umweltfrage zu berücksichtigen, führten die vorherrschende (neoklassisch genannte) Ökonomie dazu, diese theoretischen Schemata durch Einführung eines dritten Produktionsfaktors neben Arbeit und Kapital – der Energie – zu ergänzen. Doch dieselbe Hypothese der „Ersetzbarkeit“ zwischen den drei Faktoren wurde grundlegend beibehalten. Das läuft auf die Behauptung hinaus, es genüge, die Preise für Energie zu erhöhen, um deren Gebrauch zu senken, fast so wie es gemäß neoliberalen Ökonomen genügt, die Arbeitskosten zu senken, um Stellen zu schaffen. Deshalb rät die vorherrschende Ökonomie vor allem zu marktwirtschaftlichen Lösungen, nämlich Ökosteuern und einen Markt für Emissionsrechte. Wobei man hier den Advocatus Diaboli spielen und behaupten kann, diese Vorkehrungen dürfen nicht systematisch zurückgewiesen werden. Die Erhöhung der Energiepreise ist nicht irrational. Man muss sich nur vorstellen, was passieren würde, wenn Energie nichts kosten würde. Und die steigenden Erdölpreise haben den Verbrauch gedrosselt. Was die Märkte für Emissionsrechte betrifft, kann das Prinzip als ein Ersatz für Planung gesehen werden, insofern sie dazu beitragen sollen, die Bemühungen um Einschränkung des Treibhausgasausstoßes entsprechend den technologischen Eigenheiten jedes Produktionsprozesses zu verteilen. Beide Ansätze bleiben hinter der Problemstellung jedoch weit zurück und prallen auf die kapitalistische Logik. Die Emissionsrechte zogen Finanzspekulationen nach sich, die zu einer Senkung der Kohlenstoffpreise führten, sodass die Maßnahmen ineffizient geworden sind. Was die Pläne für Ökosteuern betrifft, prallen diese an soziale Widerstände, denn die ausgearbeiteten Modalitäten wälzen die Lasten auf den gesellschaftlichen Lohn ab anstatt auf Unternehmensprofite. Bruttosozialprodukt weltweit Das einzige Erfolgsbeispiel ist der Umgang mit Treibgasen (Chlorfluorkohlenstoffe CFK), die die Ozonschicht angreifen. Das Montrealer Protokoll von 1987 führte zu einer nahezu vollständigen Einstellung von deren Nutzung innerhalb von zwanzig Jahren. Zwar wurden sie durch die – weniger schädlichen – Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) ersetzt, doch die Bilanz zeigt, dass quantifizierte Normen oder anders gesagt der Ansatz zu einer Planung Wirkung zeigten. Die Dimension der Aufgaben: unerreichbare Ziele? In seinem letzten Bericht setzt der IPCC-Klimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change) als Ziel fest, dass die Erwärmung bis Ende des Jahrhunderts (im Vergleich zum vorindustriellen Niveau) höchstens zwei Grad betragen dürfe, was bedeutet, dass die Konzentration an Treibhausgasen 450 ppm an Kohlenstoffäquivalenten nicht übersteigen darf. „ In den von IPCC untersuchten Szenarien ist zur wahrscheinlichen Einhaltung der 2°C-Obergrenze eine Reduktion der globalen Treibhausgasemissionen in allen Sektoren bis zum Jahr 2050 von 40 % bis 70 % gegenüber dem Jahr 2010 notwendig und Emissionen nahe null bzw. darunter im Jahr 2100.“9 Welches Wachstum des globalen BIP ist also mit der notwendigen Senkung der CO2-Emissionen vereinbar? Um diese Frage zu beleuchten, soll von der Definition der ausgestoßenen CO2-Intensität pro Einheit des globalen BIP ausgegangen werden. Das mit einem Emissionsziel vereinbare BIP ist dabei vom Ziel der Reduktion der Emissionen und der gewählten Annahme einer Senkung der CO2-Intensität abgeleitet.10 Der Einfachheit halber (unter Ausklammerung anderer Ö KO N O M I E Zu vermeidende Lösungen Da ist in allererster Hinsicht die Bevölkerung. Gemäß UNO wird die Weltbevölkerung 2015 die Grenze von 7,3 GRAFIK2: CO2-EMISSIONEN UND BIP-KOMPATIBILITÄT Globales Wachstum des BIP (in % jährlich) Treibhausgase wie Methan und Lachgas) setzt der IPCC als Mindestziel eine Halbierung der CO2-Emissionen bis 2050 voraus. Daraus lässt sich ein Diagramm erstellen, das für verschiedene Annahmen über den Rhythmus der CO2Intensität das mit diesem Ziel vereinbare BIP-Wachstum zeigt (Grafik 2). Punkt A entspricht der Annahme, dass der Rhythmus der Senkung der CO2-Intensität bis 2050 gleich bleibt wie jener der letzten beiden Jahrzehnte, also –1,7 % jährlich. Das Ziel einer Halbierung der CO2-Emissionen bedeutet, dass das globale BIP bis 2050 zu wachsen aufhört. Punkt B entspricht der Annahme, dass der Rhythmus der Senkung der CO2-Intensität auf 3 % jährlich gesteigert wird. In diesem Fall beträgt das damit kompatible globale Wachstum des BIP 1, 3 % jährlich, was einer deutlichen Verlangsamung gegenüber den letzten zwanzig Jahren entspricht. Mit demselben Instrument können auch die Ergebnisse des letzten IPCC-Berichts bewertet werden, die kaum unter diesem Gesichtspunkt diskutiert wurden. Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass sie beruhigend sind. Das vom IPCC vorgeschlagene durchschnittliche Szenario würde tatsächlich nur eine Verlangsamung des Konsumwachstums um 0,0 6 % jährlich bringen. Gegenüber einem Referenzwert von 2 % jährlichem Konsumwachstum läge dieses mit Reduktion der Emissionen bei 1,9 4 %.11 Konsum und BIP können hier gleichgesetzt werden. Grafik 2 zeigt, dass die mittlere Annahme des IPCC von einer Senkung der CO2-Intensität in einem gegenüber den letzten zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelten Rhythmus ausgeht. Bei aller Simplifizierung erlaubt diese Übung, die den IPCC-Szenarien zugrunde liegenden impliziten Annahmen aufzuzeigen, um ein Gefühl für Größenordnungen zu vermitteln.12 Der Weltklimarat geht mit anderen Worten davon aus, dass in den nächsten 40 Jahren der CO2-Gehalt einer BIP-Einheit auf ein Viertel reduziert werden könnte. Dieses Ergebnis könnte nur durch eine Kombination mehrerer technologischer wie sozialer Faktoren erreicht werden, die in zwei große Gruppen eingeteilt werden können: jene, die den Energiegehalt am BIP reduzieren, und jene, die „sauberere“ Energien privilegieren. Es ist völlig legitim, sich zu fragen, ob ein so ehrgeiziges Ziel erreicht werden kann, und diese Frage führt dazu, dass gefährliche und unzureichende Lösungen diskutiert werden. IPCC Senkung der CO2-Intensität (in % jährlich) Milliarden und 205013 die Grenze von 9,7 Milliarden Menschen erreichen, was einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von 0,8 % entspricht, das also vom BIP-Wachstum abzuziehen ist, um ein BIP pro Kopf zu erhalten. Unter sonst gleichen Bedingungen trägt das Bevölkerungswachstum übrigens tatsächlich zur Steigerung des Energieverbrauchs und damit der Treibhausgasemissionen bei. Das führt eine ganze Strömung an Neomalthusianern dazu, die Bevölkerung zu einer Variablen der Anpassung zu machen. Sofern man nicht in barbarische Lösungen kippt, muss aber auf soziale Faktoren gesetzt werden, um durch die Senkung der Fruchtbarkeitsrate einen demografischen Wandel zu begünstigen: den Abbau der Ungleichheiten und vor allem den sozialen Status der Frauen.14 Im Großen und Ganzen ist es das, was die niedrige Annahme der UNO voraussieht, die von einem Wachstum der Weltbevölkerung von 0,5 % statt 0,8 % zwischen 2015 und 2050 ausgeht, also einer Milliarde Menschen „weniger“ bis 2050. Ein anderer Weg, der kritisch zu hinterfragen ist, ist das „Negativwachstum“. Welche Gefahr von dieser Ideologie ausgeht, sieht man zweifellos in einem schon alten Artikel von Serge Latouche15, wo dieser beteuert, dass die „Beibehaltung oder, schlimmer noch, die Einführung einer Wachstumslogik im Süden unter dem Vorzeichen eines Auswegs aus dem durch ebendieses Wachstum geschaffenen Elend diesen nur noch mehr verwestlichen kann“. Auf die Feststellung von Jean-Marie Harribey16 , die Armen hätten Anrecht „auf eine Zeit des Wachstums, um Schulen, Gesundheitszentren, Trinkwasserleitungen zu errichten und ihre Ernährungssouveränität wiederzufinden“, erwiderte Latouche, dass „in diesem von einem Inprekorr 6/2015 29 Ö KO N O M I E guten Empfinden ausgehenden Vorschlag ein gewöhnlicher Ethnozentrismus liegt, der genau jener der Entwicklung ist“. Und stellte sogar die Frage, ob die Schulen und Gesundheitszentren „gute Einrichtungen sind, um Kultur und Gesundheit einzuführen“. Klar ist, wie Latouche selbst einräumt, das Negativwachstum ein „Slogan“ und diese Denkrichtung nicht einheitlich. Wenn es darum geht, die Flucht nach vorne in Wachstum und übermäßigen Konsum zu kritisieren, sind natürlich breite Übereinstimmungen möglich. Dagegen müssen aber die Gleichsetzungen oder die Vermischung von Wachstum und Suche nach einem menschenwürdigen Lebensstandard, zwischen ökonomischer Analyse und „Ökonomizismus“, zwischen Entwicklung und Ethnozentrismus zurückgewiesen werden. Am wichtigsten ist jedoch, dass die Anhänger des Negativwachstums nie die Frage nach den gesellschaftlichen Strukturen stellen, die den Wettlauf zum Produktivismus hervorbringen, und sich logischerweise oft in Schuldgefühle erweckenden Ermahnungen ergehen. Andere engagieren sich dagegen in ökologischen und sozialen Kämpfen, die konkrete Alternativen in Aussicht stellen. An dieser Stelle wären lange Ausführungen über die Notwendigkeit einer Theorie der Bedürfnisse anzustellen, doch wir beschränken uns auf die knappe Formulierung zweier Hypothesen. Die erste ist, dass es eine universelle Definition von Bedürfnissen gibt, die man als humanistisch bezeichnen könnte und die mit Ian Gough in zwei großen Kategorien eingeteilt werden können: die Gesundheit und die Autonomie.17 Die zweite Hypothese, die man als materialistisch bezeichnen kann, greift nur die berühmte Formulierung auf, wonach das „Sein das Bewusstsein bestimmt“. Sie setzt darauf, dass die Veränderung der sozialen Existenzbedingungen die Bedürfnisse und Wünsche der Einzelnen verändern kann. Diese Hypothese kann sich beispielsweise auf die Arbeiten von Richard Wilkinson18 stützen, die vielfache Korrelationen zischen sozialen Ungleichheiten und dem Gesundheitsniveau (im weitesten Sinn) feststellen. Seine Botschaft ist ausgesprochen klar: Die Gleichheit ist absolute Bedingung für gesellschaftliches Wohlbefinden und wahre Freiheit, definiert als „das Gefühl, nicht missachtet und als minderwertig behandelt zu werden“. Die menschliche Natur zeichne sich nicht zwangsläufig durch Habgier aus, sondern schwanke gemäß einer jeder Gesellschaft eigenen „Dosierung“ zwischen den widersprüchlichen Bestrebungen Kooperation und Dominanz. 30 Inprekorr 6/2015 Es gilt also, die subjektivistische Kritik des übermäßigen Konsums hinter sich zu lassen und sie in gewisser Weise umzudrehen. Wie Richard Smith19 angesichts des Worldwatch Institute ätzend schreibt: „Sie glauben, dass es die konsumorientierte Kultur ist, die die Unternehmen zur Überproduktion treibt. Ihre Lösung ist also, die Kultur zu verändern, indem die Leute dazu gebracht werden, ihre Berichte zu lesen und sich umzuerziehen, damit sie den Konsumwahn verstehen und sich entscheiden, auf unnützen Konsum zu verzichten – ohne die Wirtschaft selbst zu verändern. Doch es ist nicht die Kultur, die die Wirtschaft bestimmt, sondern vor allem die Wirtschaft, die die Kultur bestimmt.“ Die Grenzen des grünen Kapitalismus „Ein statischer Kapitalismus ist ein begrifflicher Widerspruch.“ Dieses Zitat von Schumpeter 20, dem Theoretiker der „schöpferischen Zerstörung“, wird oft bemüßigt, und das zu Recht. Die Konkurrenz zwischen individuellen Kapitalien verläuft tatsächlich über die Akkumulation, die unaufhörliche Suche nach Produktivitätsgewinnen, den Kampf um Marktanteile, die beschleunigte Rotation des Kapitals, die Veralterung der produzierten Güter. Sie wird fortan auf weltweiter Ebene ausgetragen und entgeht nahezu jedem wirklichen Regulierungsversuch. Dieser Dynamik liegt tatsächlich das Suchen nach Profit zugrunde, das sich in der Notwendigkeit ausdrückt, immer mehr zu produzieren. Diese Logik hat in energetischer Sicht mehrere Folgen. Wie wir gesehen haben, ist das kapitalistische Wachstum direkt mit einem steigenden Energieverbrauch verbunden. Doch die Profitrate ebenfalls, und man kann – hier im Fall von Frankreich – einen sehr engen Zusammenhang zwischen Fluktuationen in der Profitrate und Kosten des Energieverbrauchs beobachten (Grafik 3). Und der Wettbewerb hat zur Folge, dass „gute Praktiken“ in ökologischen Angelegenheiten ebenso wie im Sozialen verdrängt werden (Grafik 3). Der „grüne Kapitalismus“ kann sich zweifellos gewisser Sektoren bemächtigen, sofern diese rentabel sind, doch er ist insgesamt unvereinbar mit einer verallgemeinerten energetischen Wende, die ab einer gewissen Schwelle zur Senkung der Rentabilität führen würde. Seine Ausweitung ist zudem begrenzt durch die neoliberale Politik, die darauf abzielt, das Eingreifen der öffentlichen Hand, die gewisse grüne Investitionen finanzierbar machen könnte, einzudämmen. Aus all diesen Gründen ist der „grüne Kapitalismus“ ein Oxy- Ö KO N O M I E moron, wie Daniel Tanuro22 in seinem Referenzwerk zeigt. GRAFIK3: PROFITRATE UND ENERGIEVERBRAUCH: FRANKREICH 1960–2014 Verteilungsdilemmata Am schwierigsten ist zweifellos das Problem der Lastenverteilung für die notwendigen Veränderungen zwischen hochindustrialisierten Ländern und dem Rest der Welt. Die vorliegenden Prognosen zeigen, dass der Großteil der zukünftigen Emissionen auf Schwellen- und Entwicklungsländer entfallen wird. Muss daraus abgeleitet werden, dass die Länder des Südens einwilligen müssten, die wichtigsten Anstrengungen zu tragen? Manche behaupten, die Klimakatastrophe sei unvermeidbar, wenn die Entwicklungsländer das „produktivistische“, energieverschleißende Modell des Nordens übernehmen würden. Das ist nicht falsch, man kann aber zwei diametral entgegengesetzte Schlüsse daraus ziehen. In der fundamentalistischsten Version des Negativwachstums von Latouche müssten die Länder des Südens auf das „Haben“ verzichten und sich mit dem „Sein“ begnügen, das ihren ganzen Reichtum ausmacht. Die reaktionärsten Neomalthusianer rufen implizit zu einer Form von weltweiter Eugenik auf, in der die Armen durch Dürren ausgehungert und vom steigenden Meeresspiegel verschlungen würden und sich im Kampf um fruchtbare Böden und Wasser gegenseitig töten würden, was einen Teil der Lösung brächte. Diese Extrempositionen sind selten, verweisen aber auf eine reale Tatsache: Die Armen sind durch den Klimawandel am meisten verwundbar. In dieser Logik wird aber mehreres vergessen: Der Großteil der in der Atmosphäre angesammelten Treibhausgase geht auf Industrieländer zurück, und der Prokopfausstoß in den industrialisierten Ländern ist nach wie vor viel höher als anderswo. Zudem entspricht ein Teil der Emissionen der Schwellenländer der Produktion von Gütern, die in den Industriestaaten konsumiert werden. Diese Feststellung liegt der Konfrontation zwischen China und den Vereinigten Staaten zugrunde und wird auch beim COP21, der nächsten Klimakonferenz, im Zentrum stehen. Die Industriestaaten sind gegenüber dem Rest der Welt also ökologisch verschuldet. Es handelt sich nicht um eine Art Schuld, die annulliert oder „umgeschichtet“ werden könnte, sie muss bezahlt werden, und der einzig vorstellbare vernünftige Ausweg liegt in Technologietransfer und technologischen Investitionen aus dem Norden in den Süden, die erlauben würden, die Ziele der Emissionsreduktion und des Rechts auf Entwicklung der ärmsten Länder miteinander zu vereinbaren. Profitrate (linke Skala) Energieverbrauch in Prozentwerten des BIP (rechte Skala) Quelle: Pierre Villa 21 , Insee. Um diese enorme Schwierigkeit zu illustrieren, kann über die Auswirkungen der Forderung nachgedacht werden, die aus Anlass der COP21 vorgebracht werden: „Die Regierungen müssen die Subventionen einstellen, die in die auf fossile Rohstoffe gestützten Industrie fließen, und deren Abbau einfrieren, indem auf die Förderung von 80 Prozent aller fossilen Kohlenstoffe verzichtet wird.“23 Dieses Ziel ist mit den Zielen des IPCC absolut vereinbar. Doch die praktische Umsetzung wirft das Problem der Verteilung dieser Regel auf die gesamte Erde auf, denn die angesprochenen Reserven sind sehr ungleich verteilt, wie Tabelle 1 zeigt. Ein anderes Dilemma wird sichtbar, wenn man sich die Verteilung der Emissionen nach sozialen Kategorien TABELLE 1 Erdöl Erdgas Kohle Mio. Barrel % Mrd. m³ % Mrd. t USA-Kanada Europa ehem. UdSSR China u. Indien Afrika Südamerika Nahost Andere Welt % 45 9,9 800 0,8 5 1,2 300 0,3 250 28,2 28 6,2 36000 36,0 209 23,6 207 23,3 74 9 2,0 2500 2,5 28 6,2 4400 4,4 30 8,3 3,4 63 14,0 5000 5,0 11 1,2 264 58,8 47000 47,0 3 0,4 7 1,6 4000 4,0 102 11,5 449 100,0 100000 100,0 887 100,0 Quelle: Christophe McGlade, Paul Ekins24 . Inprekorr 6/2015 31 Ö KO N O M I E Das nicht produktivistische Modell ist Antikapitalismus Statt ein fertiges „Programm“ vorzuschlagen, das weit über die Absicht dieses Beitrags hinausgehen würde, soll hier nur gezeigt werden, wie sehr in einer (weder vollständigen noch systematischen) Auflistung von Gegensatzpaaren alternative Ansätze, die in Tabelle 2 dargestellt sind, mit der kapitalistischen Logik kollidieren. Somit ist es ausgeschlossen, sich angesichts der Umweltprobleme ein nicht produktivistisches Modell vorstellen zu können, ohne die Grundlagen des kapitalistischen Funktionierens infrage zu stellen. Diese Schlussfolgerung muss um die Feststellung ergänzt werden, dass es keinen grundlegenden Unterschied zwischen der Art gibt, wie soziale und wie ökologische Fragen zu behandeln sind. Die Parameter sind dieselben: Ob es darum geht, allen menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen zu gewährleisten oder das Überleben des Planeten zu sichern, in beiden Fällen muss den Kapitalisten die Macht entzogen werden, ihre Privatentscheidungen durchzusetzen, und stattdessen eine weltweit koordinierte Planung eingeführt werden. 26 Die Perspektive auf einen Ökosozialismus stützt sich auf diese Ähnlichkeit im Ansatz, der ein praktisches Ziel vorgibt, nämlich das Zusammenlaufen von Kämpfen der sozialen Bewegungen und der Umweltbewegung. Das 32 Inprekorr 6/2015 GRAFIK4: ENERGIEVERBRAUCH NACH EINKOMMENSNIVEAU IN GROSSBRITANNIEN Belastung durch Energieverbrauch ansieht. Dafür liegt eine sehr detaillierte Studie vor, die den Zusammenhang zwischen Treibhausgasen und Einkommensniveau untersucht.25 Sie bezieht sich auf Großbritannien im Jahr 2006 und ist interessant, weil sie nicht nur die direkten Emissionen (z.B. Heizungen von Privathaushalten oder Autoabgase) einbezieht, sondern auch indirekte Emissionen (in Form von Konsumgütern, öffentlichem Verkehr etc.). Das Emissionsvolumen steigt mit dem Einkommen. Dafür variiert die Last des Energieverbrauchs am Einkommen, gemessen anhand eines Index mit einem Durchschnittswert von 100, umgekehrt proportional zum Einkommen: Sie beträgt 200 bei den 10 % Ärmsten, während sie bei den 10 % Reichsten nur 50 beträgt (Grafik 4). Dieses Ergebnis ist wesentlich, denn es unterstreicht, dass jede Steigerung der Energiepreise – z. B. eine Steuer auf Kohlenstoffe – die Haushalte mit den geringsten Einkommen sozial ungerecht belasten würde. Für jede Maßnahme dieser Art sind also Mechanismen vorzusehen, die deren unsoziale Schlagseite in Form von Ausgleichszahlungen oder gestaffelten Tarifen korrigieren. Verfügbares Einkommen (in 1000 £ pro Jahr) Quelle: Ian Gough et al. einzige Hindernis liegt in einem unterschiedlichen Zeithorizont, der sich beispielsweise im Widerspruch zwischen der unmittelbaren Verteidigung der Arbeitsplätze und dem Kampf gegen Umweltrisiken äußert. Um diesen Widerspruch zu überwinden, braucht es selbstverständlich Überzeugungsarbeit und Diskussionen, aber es ist zweifellos – leider – auch die Häufung von Umweltka- TABELLE 2: NICHTPRODUKTIVISMUS VERSUS KAPITALISMUS Nicht produktivistisches Modell Kapitalismus Erneuerbare Energien Ausbeutung fossiler Energieträger Haltbarkeit der Güter Rotation des Kapitals Verkürzung der Arbeitszeit Lohndruck, Prekarisierung, Ausschluss aus Lohnarbeit Kostenlosigkeit und Ausbau der öffentlichen Dienste Sparhaushaltspläne, Privatisierungen Schaffung nützlicher, aber „nicht rentabler“ Stellen Druck auf die „Kosten der Arbeit“ und Infragestellung sozialer Errungenschaften Öffentliche Investitionen „Privatinitiative“ Desintensivierung des Handels Freihandelsabkommen und produktive Umlagerung Selbstversorgung in der Ernährung Globalisierte intensive Landwirtschaft Soziale Kontrolle über die wirtschaftlichen Prioritäten und die Arbeitsorganisation „freier, nicht verzerrter“ Wettbewerb Ö KO N O M I E tastrophen, die dieses notwendige Zusammenlaufen beschleunigen wird. Dieser Prozess scheint in China bereits im Gange zu sein.27 Übersetzung: Tigrib 1 Er basiert auf einem Vortrag vom 23. August 2015 an der Sommeruniversität von „Ensemble“, einem Teil des französischen Front de gauche (Linksfront). 2 Le contre-plan du PSU, 1964. 3 Karl Marx: „Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist der Vater, wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter.“ MEW 23, S. 52. 4 Der Ausdruck ist von Engels: „[Die Gesellschaft] wird den Produktionsplan einzurichten haben nach den Produktionsmitteln, wozu besonders auch die Arbeitskräfte gehören. Die Nutzeffekte der verschiednen Gebrauchsgegenstände, abgewogen untereinander und gegenüber den zu ihrer Herstellung nötigen Arbeitsmengen, werden den Plan schließlich bestimmen.“, Anti-Dühring, Dritter Abschnitt, Kap. IV, http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_239. htm#Kap_IV, | 288 |. 5 Michel Husson, „L’hypothèse socialiste“, in Stathis Kouvelakis (Hg.) Y a-t-il une vie après le capitalisme?, Le Temps des Cerises, 2008; Le capitalisme en 10 leçons, La Découverte, 2012, Kapitel 4. 6 In seiner Rede an der Sorbonne im Rahmen der Übergabe des Berichts von Stiglitz-Sen-Fitoussi über das Maß wirtschaftlicher Effizienz und sozialen Fortschritts (la mesure des performances économiques et du progrès social), Paris, 14. September 2009. 7 Centre d’analyse stratégique, Approche économique de la biodiversité et des services liés aux écosystèmes, 2009. 8 Siehe Jean-Marie Harribey, „La nature, les écosystèmes peuvent-ils résister à leur financiarisation?“, Juni 2015; und sein Buch: La richesse, la valeur et l’inestimable, Paris, Les Liens qui libèrent, 2013. 9 IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change), Climate Change 2014. Synthesis Report. Summary for Policymakers, deutsche Kernbotschaften: http://www.de-ipcc. de/_media/141102_Kernbotschaften_IPCC_SYR.pdf 10 Ausführlicher dargestellt in Michel Husson, „Un abaque climatique“, note hussonet n° 89, 20. August 2015, http:// hussonet.free.fr/abacli.pdf. 11 Ebd, S. 24: „if the reduction is 0.06 percentage points per year due to mitigation, and baseline growth is 2.0 % per year, then the growth rate with mitigation would be 1.94 % per year“. 12 Dabei handelt es sich eher um minimale Schätzwerte, da nur CO2 berücksichtigt wird. Die Ziele des letzten IPCC-Berichts betreffen aber alle Treibhausgase (Senkung um 40 bis 70 % zwischen 2010 und 2015), während im vorigen Bericht nur die CO2-Emissionen beziffert wurden (zwischen 50 und 85 %). 13 Es handelt sich um ein durchschnittliches Szenario. Das „untere“ Szenario ergibt bis 2050 8,7 Milliarden und das „obere“ 10,8 Milliarden. Quelle: United Nations, Population Division, 2015 Revision of World Population Prospects. 14 Vgl. eine bereits weiter zurückliegende Argumentation: Michel Husson, „Une seule solution, la population?“, Alternatives Economiques, hors-série „Le développement durable“, 2005. 15 Serge Latouche, „Et la décroissance sauvera le Sud…“, Le Monde Diplomatique, November 2004. 16 Jean-Marie Harribey, „Développement durable : le grand écart“, L’Humanité, 15. Juni 2004. 17 Ian Gough, „Climate change and sustainable welfare: the centrality of human needs“, Cambridge Journal of Economics, 2015. 18 Richard Wilkinson, L’égalité c’est la santé, Demopolis, 2010; siehe auch mit Kate Pickett: The Spirit Level. Why Greater Equality Makes Societies Stronger, Bloomsbury Press, New York, 2009. 19 Richard Smith, „Green Capitalism: The God That Failed“, Truthout, 9. Januar 2014. 20 Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Berlin 1912, S. 157. 21 Pierre Villa, Un siècle de données macro-économiques, Insee Résultats Nr. 303-304, 1994. 22 Daniel Tanuro, L’impossible capitalisme vert, Les empêcheurs de penser en rond/La découverte, 2010. Siehe auch seine Analyse der Bedeutung des COP21: „sommet provisoire du mensonge, du business et du crime climatiques“, in dieser Ausgabe der Inprekorr. 23 Siehe den internationalen Appell „Pour une insurrection climatique“, August 2015 24 Quelle: Christophe McGlade und Paul Ekins, „The geographical distribution of fossil fuels unused when limiting global warming to 2 °C“, Nature, 8. Januar 2015. 25 Ian Gough, Saamah Abdallah, Victoria Johnson, Josh Ryan-Collins und Cindy Smith, „The distribution of total greenhouse gas emissions by households in the UK, and some implications for social policy“, Centre for Analysis of Social Exclusion, März 2012 26 Vgl. den Aufsatz von Daniel Tanuro: „Face à l’urgence écologique : projet de société, programme, stratégie“, 28. Juli 2015. 27 Siehe: Richard Smith, „Chine. „ Accidents industriels “ et désastre écologique“, A l’encontre, 17. August 2015. Teilübersetzung von: „China’s Communist-Capitalist Ecological Apocalypse“, Real-World Economics Review Nr. 71, 28. Mai 2015. Inprekorr 6/2015 33 SUBSAHAR A-AFRIK A IMPERIALISTISCHE FREMDHERRSCHAFT IN NEUER GESTALT „Im Rohstoffbereich läuft in Afrika die derzeit spannendste und dynamischste Entwicklung, in die Entwicklungs- und Industrieländer sowie globale Rohstoffunternehmen verwickelt sind.“ (Günter Nooke, persönlicher Afrikabeauftragter der Bundeskanzlerin) Jean Nanga D er in den 1940er Jahren eingeläutete Entkolonialisierungsprozess war eigentlich nur ein Übergang zum Neokolonialismus, ein Gestaltenwandel der alten Kolonien, in dem die Ausbeutungs- und Herrschaftsmechanismen seitens der alten Kolonialmächte als auch der anderen kapitalistischen Metropolen aktualisiert worden sind. Denn sowohl die Metropolen als auch die Kolonien mussten sich den neuen internationalen Kräfteverhältnissen infolge des Kalten Krieges und der Verschiebung der wirtschaftlichen und militärischen Hierarchie anpassen. Und 30 bis 40 Jahre später ermöglichte das Ende des „realen Sozialismus“ eine Umstrukturierung der Weltordnung und eine zunehmend neoliberale Ausrichtung des Kapitalismus, die bereits Ende der 70er Jahre und Anfang der 80er Jahre in Angriff genommen worden war. Ausdruck davon sind die zunehmende kapitalistische Durchdringung des Weltmarktes 34 Inprekorr 6/2015 (Globalisierung) und die Auflösung der einst exklusiven Einflusssphären, etwa Frankreichs in seinen ehemaligen Kolonien oder der USA in seinem „Hinterhof “ in Lateinamerika, die als Hemmnisse für den freien Kapitalverkehr galten. Inzwischen ist der weltweite Kapitalverkehr allumfassend und in keiner Weise mehr mit dem „imperialen Zeitalter“ vergleichbar. Daran haben auch – in ungleicher und kombinierter Form – die Kapitale mancher einstigen Kolonien teil, was soweit gehen kann, dass einstige hierarchische Verhältnisse umgedreht werden. Mitunter wird sogar bereits von einer drohenden Umkehrung des Imperialismus gesprochen, abgeleitet aus den exponentiellen wirtschaftlichen Wachstumsraten in manchen vormals peripheren Ländern, die nunmehr als Schwellenländer gelten, was auch für vormals „realsozialistische“ Staaten zutrifft, SUBSAHAR A-AFRIK A namentlich China, das die Schwelle bereits überschritten hat und, gemessen am BIP nach Kaufkraftparität, zur führenden Wirtschaftsmacht geworden ist, die zunehmend auch in Europa und den USA investiert. Auch in Afrika verleitet das gegenwärtige Wirtschaftswachstum manche zur Annahme, dass Afrikas „große Zeit“ bevorstünde oder – so Nelson Mandela 2005 – gar schon gekommen sei. Noch weiter geht Antoine Glaser, ein bestens über die politische und militärische Gemengelage zwischen Frankreich und Afrika (südlich der Sahara) informierter Beobachter, der im Sinne der „Umkehrung des Imperialismus“ herausgefunden haben will, dass eine Verkehrung von Françafrique in Richtung Africafrance bevorstünde.1 Die Beweisführung jedoch ist ziemlich oberflächlich, wenn man bedenkt, dass sich der französische Imperialismus in Afrika wieder voll entfaltet hat. Stattdessen verbleibt Afrika in der ihm vom Kapitalismus zugedachten Rolle als Austragungsfeld wirtschaftlichen Konkurrenzstrebens der alten und neuen Metropolen, wobei es vorrangig um den Zugriff auf die Rohstoffe geht, auch wenn mittlerweile ebenfalls afrikanisches Privatkapital im Globalisierungsprozess mitmischt. Die Einmischung der Metropolen erfolgt auch militärisch mit zunehmendem Nachdruck, wobei es vorgeblich um die „Bekämpfung des Terrorismus“ und des „drohenden Chaos“ geht, wie Vertreter eines „humanitären“ Imperialismus behaupten. Auch wenn es daneben noch andere Formen der Kapitalherrschaft in den afrikanischen Gesellschaftssystemen gibt, bleibt der Imperialismus eine unbestreitbare Realität im gegenwärtigen Afrika, die auch über die ökonomische und militärische Sphäre hinaus wirkt, wie wir am Schluss darlegen wollen. Der Verlust der staatlichen Souveränität Die wirtschaftlichen Verhältnisse im heutigen Afrika sind andere als zu Lenins Zeiten. Wir haben es nicht mehr mit einer Ansammlung von Kolonialgebieten zu tun, sondern fast gänzlich mit formal souveränen Staaten, zu denen die übrige Staatenwelt einschließlich der alten Kolonialmächte eigentlich Beziehungen unterhalten sollte, die von Kooperation und Partnerschaft unter Beachtung der internationalen Verpflichtungen geprägt sind. Diese Souveränität indes gibt es nur bedingt und sie wird durch die anhaltende Tendenz zur Neokolonialisierung eingeschränkt. Denn die Mechanismen sind nicht verschwunden, die zu Unterordnung und Abhängigkeit vom Auslandskapital, vom Rohstoffexport und von der Einfuhr gefertigter Waren aus den alten „Mutterländern“ und anderen Metropolen führen. Sie sind lediglich an die Entwicklung der ungleichen Weltord- nung angepasst worden. Nichts anderes belegt auch die wirtschaftliche Realität in Afrika, die als vermeintliche Heldentat allerorten gefeiert wird, da dort das durchschnittliche Wachstum des BIP seit einem Jahrzehnt konstant um die 5 % und damit über dem weltweiten Durchschnitt liegt und das auch – abgesehen von einem leichten Rückgang 2009 – nicht von der sonstigen Wirtschaftskrise des Kapitalismus 2008 betroffen wurde. Der Finanzsektor hat im Großen und Ganzen dort keinen Schaden genommen, wenn man von Südafrika absieht, das am ehesten unter der Krise gelitten hat. Dennoch lässt dies nicht auf eine eigene wirtschaftliche Dynamik schließen, sondern ist nur ein Ausdruck der kapitalistischen Fremdherrschaft. Das sogenannte Wachstum fußt hauptsächlich auf der Erdöl- und Minenbranche, wo neue Vorkommen entdeckt wurden (was zu noch mehr Extraktivismus führt – und wo – abgesehen von den Minen in Südafrika – hauptsächlich Kapital der US-amerikanischen und europäischen Erdöl- und Minenkonzerne dahinter steht. Diese multinationalen Konzerne agieren mit der Unterstützung ihrer Herkunftsstaaten im Namen des sog. freien Wettbewerbs – was auch Joint Ventures einschließt – und nicht mehr als neokoloniale Monopolisten, wie dies lange der Fall war, etwa beim französischen Mineralölkonzern Elf (aufgegangen in Total) in der Republik Kongo (Brazzaville) und Gabun. Ein weiterer Wachstumsfaktor ist der Export anderer Rohstoffe (oft derselben wie früher) aus den Ländern ohne Erdöl- oder Mineralienvorkommen. Auch hier dominieren beispielsweise US-amerikanische und europäische Agrarkonzerne wie Cargill, ADM, Louis Dreyfus etc. Diese Konzerne werden natürlich auch durch die weltweit beispiellos hohen Kapitalrenditen, Extraprofite und das einfache Ausschleusen von Schwarzgeld, das durch Ressourcenplünderung, Steuerbetrug etc. zusammen gekommen ist, angelockt: Allein aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahara wurden zwischen 2003 und 2012 zusammen 528 Mrd. Dollar abgezogen, was mit durchschnittlich 5,5 % des jährlichen BIP weltweit einmalig ist. Zynischerweise verweigern sich die ach so sauberen Metropolen einer fiskalischen Kontrollinstanz der UNO zur Unterbindung dieser Betrugsmechanismen, wie sie kürzlich erst wieder seitens der peripheren Länder vorgeschlagen worden ist. Diese Situation rührt aus der seit den 1980er Jahren laufenden wirtschaftlichen Umstrukturierung Afrikas von außen mittels neoliberaler Strukturanpassungsmaßnahmen, die auch auf die gesetzlichen Regelungen von Investitionen und Arbeitsrecht abzielen. Diese Maßnahmen wurden Inprekorr 6/2015 35 SUBSAHAR A-AFRIK A seither den peripheren oder abhängigen Ländern seitens IWF und Weltbank auferlegt, nachdem diese sich auf Betreiben der Weltbank (aufgrund des Überflusses an Liquidität aus Petrodollars) verschuldet hatten. Wenn man die Kräfteverhältnisse in diesen multilateralen Institutionen betrachtet, die sehr stark hierarchisiert und in Hinblick auf die Umstrukturierung der Weltwirtschaft von den Wirtschaftsinteressen der USA stark beeinflusst sind, dann wird klar, dass das gegenwärtige Wachstum Afrikas in erster Linie auf Unterordnung und Anpassung an die Herrschenden in den USA gebunden ist, denen sich die anderen kapitalistischen Mächte in der Trilateralen Kommission bereitwillig und auch über scheinbare Kontroversen hinweg unterordnen. Infolge der erdrückenden finanziellen Abhängigkeit wurden die afrikanischen Staaten gezwungen, ihre Souveränität teilweise aufzugeben, die bereits zuvor unter der klassischen neokolonialen Fremdherrschaft nur bedingt gegeben war. So werden sie regelmäßig von den Sendboten des Kapitals an die Kandare genommen, nämlich den internationalen Finanzinstitutionen, die im Rahmen des Washington Consensus die Aneignung der profitabelsten unter den ehemaligen Staatsunternehmen in Afrika durch US-amerikanisches und europäisches Kapital organisieren. Ein ärztlicher Beistand der besonderen Art, der eher den Gesunden als den Lahmen gilt. Wieder eine „zivilisatorische“ Maßnahme in Form einer Enteignung, mit der diese Länder in die nunmehr neoliberal ausgerichtete kapitalistische „Zivilisation“ integriert werden sollen, so wie einst unter der Kolonialisierung zu Zeiten des niedergehenden klassischen Liberalismus. In diesem Zusammenhang steht auch, dass mit dem Schuldendienst gegenüber ausländischen Gläubigern aufgrund der Zinszahlungen ein erheblicher Kapitalabfluss zugunsten des internationalen Finanzkapitals stattfindet. In ihrem Bericht von 2004 stellte die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) nahezu empört fest, was seit Jahren schon die Initiativen für Schuldenstreichung der Dritten Welt aufbringt: „Schon ein kurzer Blick auf die Verschuldung Afrikas zeigt, dass der Kontinent zwischen 1970 und 2002 etwa 540 Milliarden Dollar an Darlehen erhalten hat und im gleichen Zeitraum etwa 550 Milliarden an Tilgung und Zinsen zurückgezahlt hat. Trotzdem verbleibt eine Restschuld von 295 Milliarden. Davon haben allein die Länder südlich der Sahara 294 Milliarden erhalten, haben 268 Milliarden zurückgezahlt und sitzen noch immer auf etwa 210 Milliarden Restschuld. […] Auch ohne die künftigen Zinsen und Zinseszinsen stellt allein die 36 Inprekorr 6/2015 Rückzahlung dieser noch ausstehenden Beträge bereits eine Umkehrung des Ressourcentransfers dar.“ (Bis 2013 ist die Verschuldung dieser letztgenannten Länder sogar auf 367,5 Milliarden angestiegen.) Dieser Aderlass betrifft eine Region, die als die ärmste der Welt gilt. Die hoch gerühmte „wirtschaftliche Leistung“ im heutigen Afrika hat die ohnehin schon alarmierende Staatsverschuldung bei den internationalen Finanzmärkten noch weiter angeheizt. Die scheinbare Großzügigkeit, die den „überschuldeten“ Staaten in Form von Schuldenerleichterung oder Schuldenerlass gewährt wird, muss eher als eine „Gefälligkeit“ aus einschlägigen Interessen seitens einflussreicher Einleger bei der Weltbank oder dem IWF verstanden werden. Ein umgekehrtes Beispiel hierfür ist der Druck, der vor einigen Jahren auf die kongolesische Regierung Joseph Kabila ausgeübt wurde, die Vertragsklauseln nach unten zu korrigieren, weil diese angeblich zu vorteilhaft für China ausfielen. Würde sich die Regierung in Kinshasa weigern, würden die internationalen Finanzinstitutionen dafür sorgen, dass der vom Pariser Club dem Land zugesicherte Teilschuldenerlass wieder zurückgenommen würde. Die Erpressung ging durch und der Vertrag wurde revidiert. Das zeigt, dass die altvorderen Haupteinleger bei den internationalen Finanzinstitutionen in ihrer Gier nach Rohstoffen bestimmen, wie weit die Kapitalpartnerschaft zwischen der Demokratischen Republik Kongo und China gehen darf. Da eine Herrschaft umso effizienter ist, wenn sie mit einem „nationalistischen“ Anstrich versehen wird, wird die Macht des internationalen Finanzkapitals über die afrikanischen Staaten durch eine Schaltstelle vor Ort gesichert – die Afrikanischen Entwicklungsbank (AfEB), die die wichtigste regionale Finanzinstitution darstellt und die Neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung (NEPAD) der Afrikanischen Union als der Organisatorin der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Region überwachen soll. Ihrem Anspruch nach ist sie panafrikanisch, wobei unter den 78 Mitgliedsstaaten 25 nichtafrikanisch sind, von denen wiederum 5 als Teil der G7 zusammen 25 % des Kapitals innehaben (Deutschland, Frankreich, Japan, Kanada und USA). Hinzu kommen die beiden anderen G7-Staaten, andere europäische Länder wie die Schweiz und sogenannte Schwellenländer, die durch ihr Gewicht dafür sorgen, dass die Hauptinteressen der Metropolen bei den jeweiligen Entwicklungsprogrammen gewahrt bleiben. Folglich lassen sich auch die Empfehlungen der AfEB von denen der Bretton-Woods-Organe als den traditionellen Wahrerinnen der imperialistischen und zuvörderst US-Interessen kaum unterscheiden. SUBSAHAR A-AFRIK A Trotzdem wird durch die „Entwicklungshilfe“ diesem Instrument zur Wahrung der Abhängigkeit Afrikas ein Anschein von Großzügigkeit verliehen, aber das Komitee für die Streichung der Verschuldung der Dritten Welt (CADTM) fragt zu Recht: „Im Jahr 2012 wurden aus dieser weltweit ärmsten Region 5 % des BIP an Gewinnen „repatriiert“, während nur 1 % an Entwicklungshilfe zugeflossen ist. Insofern muss man sich fragen: Wer hilft hier wem?“ EU – eine ungleiche „Partnerschaft“ Große Teile Afrikas fallen unter die vermeintlich großzügigen Präferenzabkommen nach dem Muster des Abkommens zwischen den AKP-Staaten und der EWG bzw. EU. Mithilfe dieser Abkommen, die zunächst in Yaoundé, dann in Lomé und zuletzt in Cotonou geschlossen wurden, war es Europa möglich, Erzeugnisse zu einseitig festgelegten Preisen zu erwerben und die „Entwicklungsländer“ auf den Status von Exportnationen für Rohwaren festzunageln, Kolonialwaren also auf der Grundlage von Spezialisierung oder Monokultur. Diese „privilegierte“ Form von Abhängigkeit sollte seitens der EU 2002 an die neuen Bedingungen der neoliberalen Globalisierung angepasst werden, indem durch sogenannte Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) Freihandelszonen eingerichtet werden sollten. Vorgesehen war, dass nach fünfjährigen „Verhandlungen“ entlang der Vorgaben der WTO die betroffenen afrikanischen Staaten – wobei Nordafrika ausgenommen war – hätten unterzeichnen sollen. Einen solchen Knebelungsvertrag mochte jedoch nicht einmal der wirtschaftsliberale Präsident von Senegal, Abdoulaye Wade unterzeichnen, der am Vorabend des 2. afrikanisch-europäischen Gipfeltreffens im Dezember 2007 – also 6 Wochen vor der ursprünglichen Zeichnungsfrist – erklärte: „Es geht hier um das wirtschaftliche Überleben unserer Länder und der Bevölkerung, die ohnehin schon genug geplagt sind. […] Wenn Europa uns jedoch nur ein solches Zwangskorsett in Form der WPA anzubieten hat, dann ist es mit der Fantasie und Kreativität in Brüssel nicht weit her.“ In der Folge verweigerten sich dann auch die afrikanischen Staaten und Regionalgruppen der Vertragsunterzeichnung, deren letzte Frist 2014 auslief. Nachdem Afrika 50 Jahre lang durch die EU in einem Abhängigkeitsverhältnis als Rohstofflieferant gehalten worden war, war es für Europa nicht schwer, die Spielregeln zu diktieren. Dazu wurden auf Druck der EU sechs sog. Regionalgruppen, finanziell abhängig von der EU und nach deren Gusto zurechtgeschneidert, eingerichtet, um nicht mit der Afrikanischen Union als Ganzes verhandeln zu müssen. Dieses klassische Prinzip des „Teile-und-herrsche“ wurde nochmals verschärft durch die spezifische Exportausrichtung der einzelnen Länder, die davon abhingen, Blumen oder Bananen oder Kakao oder Baumwolle etc. nach Europa auszuführen. Infolge der Erpressung durch die EU und falschen Versprechungen haben schließlich 2014 die Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikani- Infolge der erdrückenden ... Abhängigkeit wurden die afrikanischen Staaten gezwungen, ihre Souveränität teilweise aufzugeben ...“ schen Staaten (ECOWAS), die Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika – mit einer Sonderregelung für Südafrika – und die Ostafrikanische Gemeinschaft (EAC) ein Abkommen ratifiziert, das nach Einschätzung des Netzwerks westafrikanischer Bauern und Erzeuger landwirtschaftlicher Produkte (ROPPA) „mittelalterlich“ ist. Darin erklären sich die betreffenden afrikanischen Länder dazu bereit, binnen 20 bis 25 Jahren ihre Märkte zu 75 – 80 % für europäische Waren zu öffnen, ohne dafür den geringsten finanziellen Ausgleich zu erhalten. Im Gegenzug können diese Länder ihre Waren zu 100 % frei in die EU exportieren. Sieht man von der Ausnahmeregelung für die Republik Südafrika (RSA) ab, handelt es sich hierbei jedoch hauptsächlich um Agrarprodukte, die in Europa nicht erzeugt werden können und daher auch nicht mit europäischen Produkten konkurrieren. Allerdings stoßen sie dabei in Europa auf die Konkurrenz aus Lateinamerika und Asien, die ähnliche Produkte exportieren. Unter diesen Ländern rangieren auch die (ehemaligen) Kolonien der EU wie die DOM-TOM2, die Frankreich zum „Großerzeuger“ von Ananas, Bananen und Rohrzucker werden lassen. Durch die so geschaffene Konkurrenz zwischen den „Dritte-Welt-Ländern“ kann die EU tropische Waren zum Dumpingpreis importieren. Im Gegenzug werden künftig mit der – vorübergehenden? – Ausnahme bestimmter „heikler“ Produkte (Fleisch, Getreide, Teigwaren, Tiefkühlhähnchen, Farben etc.), deren ungehinderter Import die Staatskassen und einen Inprekorr 6/2015 37 SUBSAHAR A-AFRIK A großen Teil der lokalen Kleinerzeuger ruinieren würde, die Waren aus der EU auf dem afrikanischen Markt gehandelt. Dabei werden sich dann ungleiche Partner gegenüberstehen, wo doch eine vorgebliche Partnerschaft „unter Gleichen“ vereinbart worden ist. Abgesehen von den Waren aus Südafrika, mit dem die EU gegenseitige Schutzzölle und Kontingentierungen vereinbart hat – wobei allerdings nur 105 südafrikanische Erzeugnisse vs. 251 europäischen geschützt sind – können die Waren aus Afrika mit den einheimischen in Europa kaum konkurrieren. Noch nicht einmal auf den heimischen oder (sub)regionalen Märkten in Afrika sind sie konkurrenzfähig, da der zwischenafrikanische Handel kaum funktioniert und fast zu 90 % mit anderen Ländern der Welt abgewickelt werden. Dabei hatten die Neoliberalen doch versprochen, dass diese Schwäche dank einer dynamischen wirtschaftlichen Integration auf regionaler und kontinentaler Ebene behoben würde. Die Realität jedoch in Form der WPA-Verhandlungen hat dieses Versprechen schnell eingeholt. Für die EU stand dabei zu viel auf dem Spiel, als dass sie die Afrikanische Union als Verhandlungspartner akzeptiert hätte. […] Die EU, die auf ihren Beitrag zur afrikanischen Integration pocht, hat dadurch der Umsetzung einer – und sei sie auch nur bürgerlich orientiert – autonomen Afrikanischen Union eindeutig geschadet, trotz ihrer finanziellen Beihilfen. Daher rührt die Opposition gegen die WPA, die nicht nur von den kleinbäuerlichen und bürgerrechtlichen Organisationen getragen wird, sondern auch von bestimmten panafrikanischen Kapitalverbänden wie dem Afrikanischen Industrieverband (AIA). Der Industrieverband Ghanas ist gespalten in die Exporteure tropischer Erzeugnisse und Produzenten, die mit den Importwaren aus der EU konkurrieren müssen. Denn über die WPA hat sich die EU ein Instrument geschaffen, diese afrikanischen Industriekapitale zugunsten der europäischen Multis aus dem Weg zu räumen. Wie der AIA meint: „Angesichts der Schwäche der afrikanischen Wirtschaft liegen die Nachteile des Freihandels auf der Hand. Viele Wirtschaftszweige bei uns sind gerade erst im Aufbau begriffen und durch die Marktöffnung werden wir aber dazu verdammt, weiter nach dem Gutdünken der Metropolen importabhängig zu sein.“ Fast hört man Karl Marx dahinter: „Sooft Irland also auf dem Punkt, sich industriell zu entwickeln, wurde es niedergeworfen und in bloß agrikoles Land zurückverwandelt.“3 Die vergangenen Jahre waren also nicht nur durch das 38 Inprekorr 6/2015 Wachstum des afrikanischen BIP und die sprunghafte Zunahme dortiger Millionäre und Milliardäre geprägt, sondern paradoxerweise auch durch Deindustrialisierung infolge der Strukturanpassungsprogramme, wie die UNCTAD feststellt. Darum geht es in Wahrheit auch bei der „Brüsseler Vereinbarung“, die die EU Afrika bei dem Gipfeltreffen im April 2014 vorgelegt hat. Unter anderem hat sich die EU vorgenommen, „die Privatwirtschaft bei der Eroberung der afrikanischen Märkte zu unterstützen“. Der dortige Umsatz lag „2013 bei 600 Milliarden € und für 2020 wird eine Billion erwartet“4. Der wirtschaftliche Aufschwung in Afrika wird momentan auch wegen der angeblichen massenhaften Zunahme der dortigen Nachfrage nach Importwaren durch den angeblichen Boom der Mittelschichten gefeiert. Die EU, die gegründet wurde, um die Kapitalherrschaft über die europäische Bevölkerung zu festigen und die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem US-Kapital zu stärken, erweist sich hier als Sachwalterin der europäischen Kapitalinteressen bei deren Zugriff auf die afrikanischen Märkte. Die Wiederauferstehung zweier alter Bekannter In diesem neuerlichen Run auf Afrika setzen manche Staaten auf eigene Faust ihre imperialistische Tradition fort, um „ihr Kolonialerbe besser auszuschlachten“. So hat beispielsweise Frankreich im Dezember 2013 einen Bericht der Wirtschafts- und Finanzministerien veröffentlicht, wonach unverhüllter denn je ein Anknüpfen an die imperialistische Tradition gefordert wird. Darin geht es um die Wiedererlangung wirtschaftlichen wie auch kulturellen Einflusses, der durch die Globalisierung, die Expansion der USA und den Durchbruch neuer Großmächte – besonders Chinas – gelitten habe. Frankreich will also unbedingt über das hinausgehen, was die Französische Entwicklungsagentur (AFD) als Koordinator des neokolonialen Vormarsches Frankreichs in Afrika bereits geleistet hat. Der Rat französischer Investoren in Afrika (CIAN) und die nach Afrika exportierenden Firmen im Unternehmerverband MEDEF scharren bereits mit den Hufen. Einen Tag nach dem Gipfel der Frankofonie (eine Art Commonwealth à la française) in Dakar 2014 traf man sich zum ersten Wirtschaftsforum dieser Runde und weiter ging’s mit dem französisch-afrikanischen Wirtschaftsforum in Paris 2015 – immer im Sinne des o.g. Berichts. Großbritannien steht zwar nicht so sehr im Rampenlicht wie Frankreich, zeigt deswegen aber nicht weniger Interesse. Entgegen der landläufigen Annahme steht nicht SUBSAHAR A-AFRIK A das wirtschaftliche Engagement Chinas in Afrika an erster Stelle, sondern britisches Kapital, das zwischen 2003 und 2012 Fusionen und Übernahmen in Höhe von über 30,5 Mrd. Dollar getätigt hat, während Frankreich knapp dahinter und China mit knapp 21 Mrd. Dollar an dritter Stelle liegen. Nach Enthüllungen von Christian Aid flossen von Juli 2005 bis Juli 2006 etwa 17 Mrd. Pfund aus Großbritannien nach Afrika südlich der Sahara, im gleichen Zeitraum aber 27 Milliarden in die Gegenrichtung, davon 17 Milliarden an Fluchtkapital. Wer hilft also wem? Das Ministerium für Internationale Entwicklung (DFID) in Großbritannien verwendet gegenwärtig noch mehr Energie und Papier, um zu verkünden, dass das Heil für die Armen in den „Entwicklungsländern“ im Allgemeinen und in Afrika im Besonderen nur durch Privatkapital gewährleistet sei. Um die Armen in Afrika soll es also gegangen sein und nicht um die Jagd nach Profiten, als Tony Blair – inzwischen hochdotierter Berater bei afrikanischen Regierungen – seinerzeit die Afrikakommission eingerichtet hat, die 2005 einen Bericht mit dem vielsagenden Titel Our Common Interest geliefert hat? Gemeinsame Interessen gibt es bloß zwischen den britischen Regierenden und Kapitalisten und auch den Neureichen in Afrika. Ausgerechnet Tony Blair, der die korrupten Praktiken des Rüstungskonzerns BAE Systems gedeckt hat, deren Opfer u.a. Tansania war. Bedeutsamer jedoch war die amtliche Schützenhilfe für das britische Kapital, die ihm 2011 unter dem Titel The engine of development : the private sector and prosperity for poor people vom DFID zuteil wurde. Ganz im Sinne von Business Action for Africa (BAA) engagiert sich das DFID für die britischen Multis, die in Afrika aktiv sind. Beispiele hierfür sind Unilever (wo ehemalige Regierungsmitglieder gerne untergebracht werden), Diageo (wegen Schmiergeldzahlungen in Asien kürzlich vor Gericht), Rio Tinto (angeklagt wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen und Völkermord in Papua-Neuguinea und unter Kritik von Umwelt- und Bauernverbänden aus Madagaskar, Mosambik, Namibia etc.) oder Shell (unter Anklage wegen Beihilfe zur Unterdrückung der Ogoni und wegen Falschinformationen über die Ölverpestung in Nigeria). Es überrascht kaum, dass sich diese britischen Multis (darunter Lonmin, das für die Massaker in Marikana verantwortlich ist) gewissermaßen wie Neokolonialisten aufführen. „Kein britischer Minenkonzern hat sich in Sierra Leone an das Bergbaugesetz von 2009 gehalten, das seinerzeit mit internationaler Unterstützung verabschiedet wurde, um sicher zu stellen, dass die ausländischen Minengesellschaften verantwortungsvoll vorgehen. (…) Die Argumente, mit denen diese Konzerne ihren Steuerbetrug rechtfertigen wollen, sind daher völlig obsolet.“, wie eine Beobachterin schreibt. In die gleiche Kerbe haut ein Sprecher der ghanaischen Energiekommission: „Sie glauben wohl, dass sie sich in Afrika alles erlauben können.“ Das „amerikanische Zeitalter“ Mit der Ausrufung des 21. Jahrhunderts zum „Neuen amerikanischen Jahrhundert“ meint der US-Imperialismus auch die wirtschaftliche Eroberung Afrikas. George H. W. Bush hatte es angekündigt und unter Bill Clinton wurden dem Projekt Konturen verliehen, als 2000 das Freihandelsabkommen AGOA (African Growth and Opportunity Act) verabschiedet wurde. Den Sinn dieses Abkommens versteht man nur, wenn man weiß, dass 1992/93 von den größten multinationalen Konzernen der Handelsverband Corporate Council on Africa (CCA) gegründet wurde. Beteiligt daran sind momentan 180 Unternehmen, die mindestens 85 % der privaten Investitionen in Afrika kontrollieren. Hinzu kommen ein paar afrikanische Unternehmen wie Dangote Group, Ethiopian Airlines, Heirs Holdings, Telkom SA, die den Segen der Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung (USAID) genießen. Durch das AGOA-Abkommen sollen privilegierte Handelsbeziehungen geschaffen werden, wodurch einerseits mehr US-Investitionen in Afrika getätigt werden sollen, andererseits Waren aus Afrika frei auf den US-Markt geliefert werden können – ausgenommen landwirtschaftliche Erzeugnisse. De facto ist dies also eine sehr begrenzte Öffnung des Marktes, wenn man den Stellenwert der Agrarproduktion in der afrikanischen Wirtschaft bedenkt. Mag Obama auch sagen, dass „wir keine Energieressourcen aus Afrika brauchen“, so erstrecken sich doch ca. 90 % der Importe im Rahmen des Abkommens auf fossile Energieträger, gefolgt von Textilerzeugnissen und Kleidung. Entgegen der sogenannten „amerikanischen Werte“ können im Rahmen dieses Gesetzes einseitige Sanktionen gegen alle „Partner“ verhängt werden. Insofern wird dies Abkommen selbst von wohlwollenden Wirtschaftsliberalen als „trojanisches Pferd der USA in Afrika“ bezeichnet. Die Zugriffsmöglichkeiten wurden Clintons Nachfolger Bush jr. noch durch den sog. Entwicklungshilfefonds MCA (Millennium Challenge Account) ausgebaut. In den Genuss dieser „Wohltat“ kommt man nur, wenn man die Prinzipien der US-Regierung akzeptiert. Auch hier sorgt die staatliche Behörde USAID wieder einmal dafür, privatkapitalistische Interessen öffentlich abzustützen. Inprekorr 6/2015 39 SUBSAHAR A-AFRIK A Unter Obama hat sich daran nichts geändert. Im Zeitraum von 2003 bis 2012 belegte die USA bei Unternehmensfusionen und –übernahmen in Gesamtafrika im Wert von ca. 12 Milliarden Dollar lediglich den fünften Rang und wurde darin sogar noch vom Schwellenland Indien (ca. 15 Mrd. Dollar) übertrumpft. Auch als Handelspartner rangieren die USA seit 2009 hinter China. Bei den Direktinvestitionen (ADI) in Afrika hingegen behauptet die USA mit 61,4 Mrd. Dollar den ersten Rang, wobei China mit 27,7 Mrd. weit hinter Großbritannien (58,9 Mrd.) und Frankreich (57,9 Mrd.) rangiert. Über diese Direktinvestitionen können die US-Multis, genauso wie ihre britischen und französischen Pendants, die politischen Entscheidungen der afrikanischen Staaten, gerade in den alten englischen Kolonien, in gewisser Weise beeinflussen. Bekannt ist das Beispiel Firestone in Liberia, der nach 1929 die einheimischen Arbeitskräfte und die fruchtbaren Böden auf den Kautschukplantagen exzessiv ausgebeutet und den liberianischen Staat quasi als Protektorat behandelt hat (Methoden, die auch nach der Übernahme durch den japanischen Konzern Bridgestone fortdauern). Ein anderes Beispiel ist Chevron, das in den 90er Jahren die nigerianische Armee mit Navigationsmaterial zu Luft und zu See ausrüstete, damit sie ihre mörderischen Strafexpeditionen gegen die Völker der Ijaws und Ogoni durchführen konnten, die für ihre durch die Erdölförderung bedrohten sozialen Rechte im Nigerdelta kämpfen. Mag auch das Image von Coca-Cola, das mit ca. 70 000 Beschäftigten in 160 Werken als größter privater „Arbeitgeber“ in Afrika gilt, auf diesem Kontinent nicht so angegriffen sein wie in Kolumbien und Indien, so ist doch unbestritten, dass der Konzern des autokratisch herrschenden Königs Mswati III. in Swasiland massiv unterstützt. Dort lässt das Unternehmen das Konzentrat für sein Markengetränk fertigen, „weil ihm das Regime Steuervorteile gewährt und es dort zuhauf billige Arbeitskräfte und Rohzucker gibt. (…) Das eigentliche Problem jedoch liegt darin, dass Coca-Cola sich wahrscheinlich deswegen in Swasiland niedergelassen hat, weil dort eine Diktatur herrscht, die Gewerkschaften und Bevölkerung unterdrückt und dadurch die Löhne niedrig hält.“ Die „Coca-Kolonialisierung von Swasiland“ ist zum geflügelten Wort geworden, da das Unternehmen nach Schätzungen bis zu 40 % des BIP beisteuert. Dies erklärt auch, warum die US-Regierung bis heute fast MenschenrechtsaktivistInnen aus Swasiland kaum zur Kenntnis genommen hat. Um ihre weltweite Vormachtstellung zu zementieren, hat die US-Regierung im August 2014 ein Gipfeltreffen 40 Inprekorr 6/2015 mit den afrikanischen Staaten anberaumt, das über das AGOA-Abkommen hinaus die wirtschaftliche Partnerschaft vertiefen sollte. Den nach Washington einberufenen afrikanischen Staatschefs wurden Investitionen in Höhe von 33 Mrd. Dollar in Aussicht gestellt. Dies dürfte den Chef des Handelsverbands CCA, Stephen Hayes beglücken, der sich über die mangelnde Unterstützung privater Investitionen in Afrika beklagt hatte. Und es zeigt, dass auch multinationale Konzerne weiterhin auf ihren Herkunftsstaat rekurrieren müssen und sich mit dem Sternenbanner identifizieren, wie beispielsweise anlässlich der offiziellen Zeremonie in Äquatorialguinea, wo „die amerikanischen Fahnen (…) von einer Delegation der dortigen Niederlassung von Exxon-Mobil geschwenkt wurden, gefolgt von den Delegationen mit den Schildern von Halliburton, ChevronTexaco und Marathon Oil.“ Eine „grüne Revolution“ unter kapitalistischen Vorzeichen Wie sehr die Expansion der multinationalen Konzerne mit der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der afrikanischen Staaten und ihrer Bevölkerung verwoben ist, zeigt sich besonders deutlich in der Landwirtschaft. In diesem lebenswichtigen Sektor rangieren die US-Konzerne weltweit unangefochten an der Spitze. In Abstimmung mit der staatlichen Behörde USAID haben die „philanthropischen“ Stiftungen 2006 die Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika (AGRA) gegründet. Gepflastert mit denselben guten Vorsätzen wie schon in den 50er Jahren, als die Ford- und Rockefeller-Stiftungen in Lateinamerika und v.a. Asien die Grüne Revolution mit den bekannt schmerzhaften Ergebnissen eingeläutet haben, stellt diese neoliberale Neuauflage ein Trojanisches Pferd für die GentechnikKonzerne (Monsanto, Pioneer, Dupont etc.) dar. Letztlich geht es nur darum, gentechnisch verändertes Saatgut durchzusetzen. Wie weit es um die Philanthropie der Gates-Stiftung, die „120 Millionen Dollar zur Förderung der Agrarerträge in Afrika, teils gezielt für die Umstellung auf gentechnisch modifiziertes Saatgut“ ausgegeben hat, bestellt ist, erschließt sich von selbst: Diese „philanthrokapitalistische“ Stiftung ist Aktionärin von Monsanto und übt – getrieben vom Rentabilitätsdenken – Druck auf die afrikanischen Parlamente aus, gentechnisch modifiziertes Saatgut zuzulassen und dafür die in den allermeisten afrikanischen Staaten noch hinderliche Gesetzeslage zu ändern. Einer der jüngsten Vorstöße der Saatgut-Lobby fand in Ghana statt. Dieser Staat steckt seit mindestens zwei Jahren SUBSAHAR A-AFRIK A in finanziellen Schwierigkeiten und war schon dabei, auf Druck von außen ein neues Pflanzenzüchter-Gesetz zugunsten gentechnisch veränderten Saatguts und zulasten der traditionellen Methoden zu verabschieden. Vorerst konnte dies durch eine Mobilisierung und eine internationale Aufklärungskampagne gestoppt werden. […] Die ghanaische Regierung steckt in einem Dilemma: Soll sie angesichts der weiter steigenden Verschuldung der finanziellen Erpressung durch die USA nachgeben und das Gesetz verabschieden, oder soll sie auf die Verfechter der Ernährungssouveränität hören, die zugleich die öffentliche Meinung beeinflussen? Im Anschluss an Obamas Besuch hat übrigens Kenia angekündigt, das Verbot von gentechnisch veränderten Organismen (GMO) aufzuheben. Die nationalen Parlamente sind gehalten, sog. „investitionsfreundliche“ Gesetze entlang der Interessen der multinationalen Konzerne und entgegen der Grundsätze von Gerechtigkeit und Ernährungssouveränität zu machen. Da in Europa und den USA eine breite und recht wirkungsvolle Kampagne gegen GMO-haltige Produkte betrieben wird, die beispielsweise die Schnellrestaurant-Kette Chipotle schon zum Umdenken gebracht hat, richtet die Agrarindustrie ihr Augenmerk zunehmend auf Afrika, einen Wachstumsmarkt für Nahrungsmittelkonzerne. Angeblich um die afrikanische Landwirtschaft zu „modernisieren“ fungiert die AfEB unter den Förderern der „Grünen Revolution“ an vorderster Stelle und ruft dazu auf, gentechnisch verändertes Saatgut zu verwenden, „um die Produktivität der afrikanischen Landwirtschaft zu verbessern“. Darin trifft sie sich mit dem ehemaligen Vorsitzenden und jetzigen Ehrenpräsidenten der AGRA, Kofi Annan, der damals seinen Posten als Generalsekretär der UNO seiner Eilfertigkeit gegenüber den US-Interessen verdankt hat. So finden die Blutsauger der Völker halt immer wieder ihre Sachwalter in Afrika. Wie Aimé Césaire es ausgedrückt hat: „Es lässt sich nicht bestreiten, dass auch Afrikaner [in den Sklavenhandel] verwickelt waren, aber anders, als man denkt. Nicht die afrikanischen Völker, sondern die profit- und geldgierigen Politiker sind mit an Bord.“ Es überrascht nicht, dass die AfEB als sogenannte panafrikanische Finanzinstitution bewusst über die Organisationen der Kleinbauern hinweggeht und auch die ganzen Publikationen ignoriert, die zu dem Ergebnis gelangt sind, dass die bäuerliche Landwirtschaft in Afrika kein gentechnisch verändertes Saatgut braucht, um die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln zu gewährleisten. Es geht hierbei nicht um die Implementierung irgendwel- cher– aus Sicht der afrikanischen Bevölkerung exotischen – Nahrungsmittel, die in Form von mehr oder minder gut gemeinten „Nahrungsmittelspenden“ marktgängig gemacht werden, sondern um die Kontrolle über die lokale Produktion der Grundnahrungsmittel. Man würde die Technokraten der AfEB beleidigen, wenn man ihnen unterstellte, dass sie nicht über die Mechanismen der „Grünen Revolution“ Bescheid Im Anschluss an Obamas Besuch hat übrigens Kenia angekündigt, das Verbot von gentechnisch veränderten Organismen (GMO) aufzuheben.“ wüssten, dass diese nämlich nicht ohne Land- und gar Wasserraub vonstattengehen kann. Der mithin jüngste Fall von Enteignung hat sich im Bundesstaat Taraba in Nigeria ereignet, wo die lokalen Kleinbauern von den Behörden vertrieben wurden, um dem US-Konzern Dominion Farms 30 000 ha Ackerland zum Reisanbau überlassen zu können. Bereits in Kenia war dieser Konzern wegen ähnlicher Vergehen zu unrühmlichen Ehren gekommen. Die betroffenen Bauern werden dadurch gezwungen, sich als rechtlose Landarbeiter zu verdingen, und zwar Erwachsene und Schulkinder, oder aber die Slumbevölkerung in den Zentren weiter zu mehren. Damit findet eine Pauperisierung statt, die zu den Ideen der NRO und ihrer Missionarstätigkeit im Sinne der demütigen Wohltat bei der Bekämpfung „der extremen Armut“ passt, wie sie in den USA und Afrika entwickelt und von USAID mitfinanziert oder unterstützt werden. Betrachtet man die Vorgänge in Taraba, wäre es kein Wunder, wenn die Fundamentalisten von Boko Haram dort Zulauf erhielten, sofern sie der gegenwärtigen Staatsoffensive entgehen. Und über Nigeria hinaus ist diese „Grüne Revolution“ geeignet, die Emigration anzuheizen und weitere Opfer auf dem Weg durch die Sahara oder über das Mittelmeer zu erzeugen. Neue Mitspieler auf dem Markt Wirklich neu an diesem neuerlichen Ansturm auf Afrika ist die rege Beteiligung der wirtschaftlichen Schwellenländer und namentlich Chinas (das eigentlich die Schwelle bereits überschritten hat), die das rege Engagement der traditionelInprekorr 6/2015 41 SUBSAHAR A-AFRIK A len Metropolen noch mal anheizt. Die Besonderheit dieser aufstrebenden und bereits angekommenen kapitalistischen Großmächte liegt darin, dass sie in Asien und Lateinamerika – im Falle der RSA sogar in Afrika – gelegen sind, also in der ehemaligen „Dritten Welt“. Für ihren wirtschaftlichen Aufstieg wollen auch sie nicht abseitsstehen bei dem nahezu „selbstverständlichen“ Zugriff auf Afrika. Wenn auch nicht mit derselben Dynamik wie China ist auch indisches Kapital mit breit gestreutem Engagement (Erdöl, Mineralien, Industrie, Landwirtschaft, Mobilfunk, Fertigwaren, soziale Dienstleistungen etc.) auf dem Vormarsch in Afrika. Hierbei stützt es sich auf die lang dauernden gegenseitigen Beziehungen in der PostkolonialÄra (Blockfreiheit) und den hohen Bevölkerungsanteil indisch-stämmiger Afrikaner in Süd- und Ostafrika (von Mauritius über Südafrika hin zu Kenia), auch wenn Nigeria mit 25 % der größte Handelspartner ist. Dem brasilianischen Kapital wiederum, das sich im Öl- und Gas-Sektor, Agrar- und Bau-Sektor, Anlagenbau, Lebensmittel-Sektor etc. breitmacht, kommt der hohe Anteil afrikanisch-stämmiger BrasilianerInnen und die gemeinsame Sprache in den ehemaligen portugiesischen Kolonien zugute. Folglich liegt auch in Angola der Schwerpunkt brasilianischer Wirtschaftstätigkeit. Zwar weniger bekannt, aber dennoch beträchtlich ist die Investitionstätigkeit Malaysias in der Erdöl- Holz- und Agrarindustrie, die hinsichtlich der ADI 2012 an erster Stelle der südlichen Länder lag. Auch die Golfstaaten profitieren von den Gemeinsamkeiten mit dem großen muslimischen Bevölkerungsanteil in Afrika, um ihre Ölrenditen in der dortigen Ölindustrie, aber auch im Finanz- und Agrar-Sektor etc. anzulegen. Ebenso scheint sich die Türkei einstiger Größe als Mittelpunkt des Osmanischen Reiches zu besinnen und verstärkt seine ökonomische Präsenz auf dem Kontinent über Nordafrika hinaus. Es sind also eine ganze Menge von Staaten, die sich ihren Teil am „Kuchen“ Afrika ergattern wollen. Das Engagement der Schwellenländer führt u.a. dazu, dass Afrika viel Aufmerksamkeit seitens der Medien und Wissenschaften in den alten nördlichen Metropolen zuteil wird, wobei die Sorge vorgeschoben wird, es könne seiner natürlichen Ressourcen beraubt und anderweitig betrogen werden und dadurch in seiner „stetigen Entwicklung“ behindert werden. Diese läuft angeblich schon seit 50 Jahren, kommt aber nicht voran. Diese Klagen über Raub und Betrug seitens der neuen Wirtschaftsmächte erinnern daran, wie einst die Kolonialisierung Ostafrikas Ende des 19. Jahrhunderts gerechtfertigt worden ist, nämlich dass 42 Inprekorr 6/2015 man die dortige Bevölkerung vor dem Sklavenhandel schützen müsse, der damals von arabisch-suahelischen Händlern (als Erbe der uralten Rassenmischung zwischen Arabern und Schwarzafrikaner) betrieben wurde. Und nunmehr im 21. Jahrhundert muss die afrikanische Wirtschaft vor der Begehrlichkeit der Schwellenländer geschützt werden, besonders vor China, das diesen „Flug der Wildgänse“ aus drei Kontinenten anführt [und die anderen Schwellenländer nachzieht]. Diese kapitalistische Expansion bringt natürlich den Washington-Consensus aus dem Lot, als dessen Gegenstück von manchen bereits der Pekinger Konsens betrachtet wird. Dem Sinologen Arif Dirlik zufolge „bezieht der Begriff seine Bedeutung und seinen Reiz nicht aus einer kohärenten ökonomischen oder politischen Haltung, sondern weil er einen Anziehungspol im internationalen Wirtschaftsgeflecht suggeriert, der die Gegner des US-Imperialismus vereinen kann“. Der Chefökonom der AfEB hält dies für einen „Ansatz, wo die Entwicklung der Privatwirtschaft und das Wirtschaftswachstum im Mittelpunkt stehen, ohne dass sich die Investoren in die innenpolitischen Angelegenheiten der afrikanischen Länder einmischen“. China macht nicht die „Beachtung der Menschenrechte“ oder die „Demokratie“ zum Handlungsmaßstab. Die kapitalistische Entwicklung Chinas vollzieht sich demnach „im Einklang mit den asiatischen Werten“, die u.a. durch die Auffassung geprägt seien, dass die („westliche“) Demokratie keine unabdingbare Voraussetzung für den privatwirtschaftlichen Erfolg sei. Unter den alten Kolonialmächten in Afrika rufen die Erfolge des angeblichen asiatischen Pragmatismus nicht wenige Befürchtungen hervor, da die afrikanische „Elite“ sich vermehrt China zuwendet. Ganz deutlich kommen diese Befürchtungen bei Frankreich zum Ausdruck, das sich über sinkende Marktanteile in Afrika beklagt, die binnen 10 Jahren von 10 % auf ca. 5 % zurückgegangen seien (was von anderer Seite bestritten wird). In das gleiche Horn stoßen Obama und seine frühere Außenministerin Clinton, die Afrika ständig vor der Schädlichkeit der Investitionen aus den Schwellenländern warnen. Investitionen aus China gelten als Ausdruck von Neokolonialismus und Imperialismus und werden daher kritisiert. In Afrika finden solche Anschuldigungen ihre Wiederkäuer, beispielsweise in der Gestalt des früheren Präsidenten der Zentralbank von Nigeria und heutigen Emirs des Bundesstaates Kano, Malam Sanusi, der zugleich hochrangiger Banker im Dienste des US-Investors Blackstone ist. Er schreibt: „China nimmt uns Rohstoffe und liefert uns SUBSAHAR A-AFRIK A Fertigwaren. Dadurch zeichnet sich der Kolonialismus aus. […] Afrika hat sich jetzt bereitwillig dem Imperialismus in neuer Gestalt geöffnet.“ Diese wiederholten Anschuldigungen wurden inzwischen von offizieller chinesischer Seite gekontert. Der Außenminister meinte, „dass die USA die chinesischen Investitionen in Afrika objektiv und rational werten müssen“. Und Premier Li versicherte vor seiner Afrikarundreise 2014: „Ich möchte meinen afrikanischen Freunden von ganzem Herzen versichern, dass China keinesfalls in imperialistischer Manier vorgehen wird, so wie es bestimmte Länder früher getan haben. Der Kolonialismus muss der Vergangenheit angehören.“ Chinesischer Imperialismus in Afrika? Um seinen wirtschaftlichen Aufstieg zur Weltmacht zu vollziehen, musste sich China Zugang zu Energiereserven und Bodenschätzen verschaffen. Es lag nahe, sich diese in Afrika zu erwerben. Rohstoffe wurden importiert und dabei Vorzugskredite vergeben, wodurch sich manche Staaten wie Angola aus den Klauen von IWF und Weltbank befreien oder sie gleich umgehen konnten. Zudem wurden Waren, die der Kaufkraft der Armen in Afrika eher angemessen waren, dorthin exportiert und ebenso technisches Know-how (im Bauwesen beispielsweise). Und es wurden infrastrukturelle Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen etc. gebaut, die in den Jahrzehnten der „Zusammenarbeit“ oder „Entwicklungshilfe“ seitens des imperialistischen Westens vernachlässigt worden waren. Investitionen flossen in den Industrie-, Finanz- und Agrarsektor etc. Trotz gelegentlicher Reibereien mancher chinesischer Investoren wie z. B. mit dem Tschad oder Sambia, hat die VR China Taiwan nahezu alle afrikanischen Verbündeten mit Ausnahme von Burkina Faso, São Tomé und Príncipe und Swasiland abspenstig machen können, während es in den 90er Jahren noch ein Dutzend davon gab. Dazu ist anzumerken, dass China seine Zusammenarbeit an die Anerkennung des Einstaatenprinzips in China knüpft. Die afrikanischen Staaten scheinen in gewisser Weise von der „Süd-Süd-Bindung“ bei der Zusammenarbeit mit China zu profitieren – desgleichen von dessen (relativer) finanzieller Stabilität, dem raschen Wachstum der staatlichen und privaten Unternehmen etc. Die vermeintliche Solidarität zwischen den Staaten des Südens ermöglicht den neokolonialen afrikanischen Staaten mehr Autonomie gegenüber den alten Großmächten. Diese sehen sich mit einer stürmischen Entwicklung konfrontiert, mit der sie nicht zurechtkommen, und sie stehen vor einem Dilemma: Wenn sie die Beziehungen in althergebrachter Weise fortsetzen, könnte Afrika weiter in die Arme der Schwellenländer getrieben werden; wenn sie aber – konkurrierend oder gar in enger Zusammenarbeit mit China – die kapitalistische Entwicklung Afrikas vorantreiben, könnten auch dort ein paar Schwellenländer entstehen, die die Überproduktion auf dem Weltmarkt noch weiter anheizen. Dabei steht das Beispiel Chinas vor Augen, das sich in den alten Metropolen breitmacht und dadurch die Vorstellung des „umgekehrten Imperialismus“ nährt.5 Die von China gezeigte „Solidarität“ schmälert freilich nicht seinen Machtzuwachs oder seine vordere Teilhabe an der weltweiten Kapitalkonkurrenz. Mag China zwar mit den westlichen Konzernen in Afrika konkurrieren, so schließt dies nicht aus, dass sich China an den multilateralen Institutionen (und wechselseitig auch am Konzernkapital) beteiligt, die unter der Federführung des westlichen Imperialismus stehen, wie z. B. IWF oder WB oder deren afrikanische Schaltstelle AfEB. Deren Regeln hat China nicht wirklich angetastet, da es sich davon den größtmöglichen Profit verspricht (von den 150 Mrd. Dollar, die China zwischen 2006 und 2014 in Afrika, sind fast 10 % in den Finanzsektor geflossen.). China beteiligt sich also unter Einsatz staatlichen und privaten Kapitals daran, den Kapitalismus in Afrika zu festigen. Seine Nachfrage nach Rohstoffen stärkt die Abhängigkeit der afrikanischen Staaten vom extraktivistischen Modell und verhindert, dass die Erdölreserven unter der Erde bleiben, was notwendig wäre, um den Klimawandel zu bekämpfen. Chinas Anteil an der Industrialisierung Afrikas – die nicht dem Vorhaben der alten Kolonialmächte entspricht – liegt hauptsächlich in der Schaffung von „Sonderwirtschaftszonen“ oder „Freihandelszonen“, etwa in Ägypten, Äthiopien, Mauritius, Nigeria oder Sambia. Mit anderen Worten findet hier eine in erster Linie der höheren Profitrate geschuldete Produktionsverlagerung statt. So ist beispielsweise die Arbeitskraft in Äthiopien billiger und erzeugt mehr Mehrwert als in China, wo zunehmend höhere Löhne gefordert werden. Also setzt der chinesische Staat darauf, die Lohnabhängigen in China und Äthiopien untereinander konkurrieren zu lassen, was zulasten der ersteren geht. Nebenbei bemerkt hat auch die schwedische Mode-Kette H&M, die unter mörderischen Bedingungen in den „Entwicklungsländern“ fertigen lässt, einen Teil ihrer Produktion nach Äthiopien verlagert, um vom Standortvorteil billiger Löhne zu profitieren. Weitere Sonderzonen sind demnach in Planung. Es wäre übrigens Inprekorr 6/2015 43 SUBSAHAR A-AFRIK A überraschend, wenn Chinas besonderer Beitrag zur Industrialisierung Afrikas weniger umweltbelastend ausfiele als in China, zumal Umweltschutz auch bei der afrikanischen Elite nicht sonderlich groß geschrieben wird. Diese Standortverlagerungen chinesischer Produzenten sind auch der Grund für einige von China verantwortete Infrastrukturmaßnahmen auf dem Transportsektor, wie beispielsweise der elektrischen Eisenbahnverbindung zwischen Äthiopien und Dschibuti. Im gleichen Zusammenhang steht auch die Erweiterung des Hafens von Dschibuti unter der Kontrolle von Chinas Marktführer, der Chinese Merchant Group International zulasten, der bisher beherrschenden Dubai Ports World. Chinesisches Kapital ist auch nennenswert an der Verdrängung der afrikanischen Kleinbauern beteiligt, indem es sich Anbauflächen aneignet, die von den staatlichen Behörden dem Gemeinbesitz entrissen und in „leer stehendes“ Land umgewandelt werden. Folglich gibt es immer weniger selbständige Kleinbauern und dafür ein wenig mehr Lohnabhängige oder LumpenproletarierInnen, die das Heer derer mehren, deren wirtschaftliche Existenz als Kleinproduzenten in anderen Branchen durch die billigen Importprodukte aus China ruiniert worden ist, da sie dagegen nicht konkurrieren können. Der in diesem neoliberalen Süd-Süd-Geflecht von chinesischen Konzernen erzielte Extraprofit wird teilweise über dunkle Kanäle repatriiert und in den Reproduktionskreislauf eingeschleust. Bestimmte Praktiken des chinesischen Privatkapitals – v.a. im südlichen Afrika – unterscheiden sich nicht von den französisch-afrikanischen Handelsgebaren, sodass auch von „ChinAfrique“ (s. Fußnote 1) gesprochen wird. Die afrikanischen Partnerstaaten sind trotz gelegentlicher Reibereien (Tschad, Sambia etc.) nicht gewillt, etwas gegen diese Übermacht zu unternehmen. Ganz im Gegenteil sind manche Staaten (RSA, Ghana, Mauritius, Nigeria etc.) bereits dazu übergegangen, den finanzstarken Yuan neben dem Dollar, dem Euro etc. als internationales Zahlungsmittel anzuerkennen. Eine gewissermaßen „sanfte“ und schleichende Errungenschaft der chinesischen Großmacht in Afrika, die manche noch nicht wahrhaben wollen … Natürlich geht es nicht mehr wie früher um „die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute“, die zur „Genesis der industriellen Kapitalisten“ beigetragen hat, wie Karl Marx in ersten Band des Kapitals schrieb, oder um die militärische Eroberung, gefolgt von Verwaltung und Ausbeutung der Ländereien, wie es Ende des 19. Jahrhunderts typisch für den kolonialen 44 Inprekorr 6/2015 Imperialismus gewesen ist. Es handelt sich um eine neue, der neoliberalen Epoche angepasste Form, wobei der Verweis auf diese gemeinsame Vergangenheit zur Abgrenzung beim Konkurrenzkampf zwischen den Kapitalisten dient. Allgemein gesprochen hindert die Zugehörigkeit zu einem Land, das ehemals Opfer des westlichen Kolonialismus oder Neokolonialismus war, das Kapital aus den Schwellenländern nicht daran, die Praktiken der multinationalen Konzerne aus den westlichen Metropolen nachzuahmen. Dies zeigt sich an den Kapitalgesellschaften aus Brasilien, Indien, Indonesien etc., die im Agrar- und Bergbausektor aktiv sind und die in die Bodenenteignung der ländlichen Bevölkerung und in die Ausbeutung der Arbeitskräfte zu Hungerlöhnen verstrickt sind und dabei die Komplizenschaft der afrikanischen Staaten genießen, die nach ADI gieren, weil sie sich dadurch auf dem Weg zu einem Schwellenland wähnen. De facto vollziehen sich die Süd-Süd-Beziehungen in einem hierarchischen Rahmen: Die ADI der Schwellenländer Lateinamerikas und Asiens in Afrika lassen sich nicht mit den ADI in umgekehrter Richtung vergleichen, selbst wenn hier eine steigende Tendenz vorliegt. In China „lagen die afrikanischen ADI Ende 2012 bei 14,24 Mrd. Dollar, was gegenüber 2009 einer Zunahme von 44 % entspricht“, während sie in Indien „im Gesamtzeitraum von 2000 bis 2010 bei 170 Millionen Dollar“ lagen. Dies geht hauptsächlich auf das Konto südafrikanischen Kapitals, das 36 Unternehmen in China betreibt (vs. 72 chinesische in der RSA) und 54 in Indien (vs. 115 indische in der RSA). In Brasilien und Russland verhält es sich sogar umgekehrt bzw. ausgeglichen, ohne dass freilich die südafrikanische Wirtschaftsstärke mit der in Brasilien oder Russland verglichen werden könnte: 25 südafrikanischen Unternehmen in Brasilien stehen 4 brasilianische in der RSA gegenüber und in Russland liegen die Zahlen mit jeweils 12 gleichauf. Panafrikanismus als Alibi Die Position als subimperialistische Regionalmacht (von Lesotho bis Angola), die der südafrikanische Kapitalismus in der Apartheid-Ära innehatte, ist mit dem Ende des damaligen Regimes nicht verschwunden, sondern besteht weiter und hat sich nur den neuen Gegebenheiten angepasst. So wird beispielsweise der südafrikanische Mobilfunk-Multi MTN beschuldigt, genau wie Coca-Cola das Regime in Swasiland zu stützen und im Gegenzug wirtschaftliche Protektion seitens des Königs Mswati III. zu genießen, der 10 % der Anteile an der Niederlassung in SUBSAHAR A-AFRIK A seinem Land innehat. Das Post-Apartheid-Regime in der RSA ist der Kapitalexpansion in Afrika dienlicher als das Vorgängerregime. Somit bildet der Panafrikanismus für die herrschende Klasse Südafrikas die regionale Version der hierarchischen Beziehungen unter den südlichen Ländern und soll als Sprungbrett im internationalen Ranking dienen. Die o.g. NEPAD war für den damaligen Vizepräsidenten und späteren Präsidenten der RSA, Mbeki, das Instrument dieser afrikanischen Renaissance unter südafrikanischer wirtschaftlicher Dominanz. Dank des Programms der „Wirtschaftlichen Stärkung von Schwarzen“ (BEE), das auch von den weißen Großkapitalisten unterstützt wurde, entstanden schwarze Großkapitalisten, die dem südafrikanischen Kapital, das ebenfalls unter dem Verdacht der „systematischen internen Plünderung Afrikas“ stand, als Botschafter dienen können. Auch das angolanische Kapital, das nahezu zwei Jahrzehnte lang zweistellige (hauptsächlich durch Rohstoffförderung getragene) Wachstumsraten vorwies, hatte über seine Exklave Cabinda hinaus mit einem Projekt zu expandieren versucht, das als Auftakt zur Domestizierung von Guinea-Bissau verstanden wurde: einem Joint Venture zwischen dem staatseigenen Konzern Bauxite Angola und dem Staat Guinea-Bissau im Verhältnis 90 % zu 10 %. Diese ungleiche Partnerschaft wurde begleitet vom Ausbau des Hafens von Buba in Guinea-Bissau durch das angolanische Konsortium. Hinter diesem Geschäft steckt die angolanische Militärpräsenz im Rahmen einer Mission der Gemeinschaft der portugiesischsprachigen Länder (CPLP) und des Sicherheitsrats der Afrikanischen Union (PSC). Das an Öl und Mineralien (Diamanten, Bauxit etc.) reiche Angola sieht sich als Führungsnation der CPLP und verhehlt auch nicht seine Führungsambitionen in Subsahara-Afrika an der Seite von oder gar in Konkurrenz zu Südafrika und Nigeria. Daneben wird bereits staatliches und privates Kapital im ehemaligen Mutterland Portugal investiert und betätigt sich als Großaktionär in strategischen Sektoren wie Banken, Telekommunikation etc. und Übernahmen in der Immobilien- und Zeitungsbranche etc., was den Begriff des „umgekehrten Imperialismus“ fördert. Jorge Costa vom Bloco de Esquerda schreibt in seinem Beitrag zu dem Buch Die angolanischen Herrscher Portugals: „Der Zustrom angolanischen Kapitals hat die größte Umwälzung der strategischen Sektoren der portugiesischen Wirtschaft seit der Privatisierungswelle der 90er Jahre bewirkt“. Es ist das erste Kapital, dem so etwas in dem ehemaligen „Mutterland“ gelungen ist. Die Tochter des angolanischen Präsidenten und reichsten Mann Afrikas, Isabel Dos Santos, spricht deshalb vom „umgekehrten Imperialismus. Aber ist dieser Begriff gerechtfertigt, wenn wir bedenken, dass 2013 das angolanische Kapital gerade mal „mit insgesamt 2,8 Mrd. Euro (3,8 % des portugiesischen Aktienmarktes)“ beteiligt ist?. Nicht ohne Stolz zitieren viele panafrikanische OnlineZeitungen die Auflistung afrikanischer Milliardäre in Forbes, wonach es 2014 insgesamt 55 afrikanische Dollar- Chinesisches Kapital ist auch nennenswert an der Verdrängung der afrikanischen Kleinbauern beteiligt ...“ milliardäre gab, deren Vermögen zwischen 2013 und 2014 von 143,2 Mrd. Dollar um 12,4 % auf 161,74 Mrd. Dollar gestiegen ist. Mit anderen Worten haben etwa 40 Multimillionäre zwischen 2009 und 2015 ihr Vermögen so gemehrt, dass sie zu den damals 8 Milliardären aufschließen konnten – nicht gerechnet die zunehmend korrupte Regierungselite im neoliberalen Afrika. Diese neureiche afrikanische Bourgeoisie tätigt erhebliche Investitionen auf nationaler, kontinentaler Ebene und auch darüber hinaus: „Während der schweren Rezession in Europa zwischen 2007 und 2012 sind die Investitionen in Afrika sieben Jahre in Folge gestiegen und erreichten 77 Mrd. Euro.“ (PANA, http://www.panapress.com/-L-UEnie-avoir-perdu-le-commerce-africain-et-la-bataille-desinvestissements) Diese Entwicklung liegt in der Logik des Washington-Consensus: Das Hohelied auf das Privatkapital, das von den internationalen Finanzinstitutionen angestimmt wird, gilt auch der Beteiligung des heimischen Privatkapitals. Die heimische Bourgeoisie erwartet, dass ihr infolge der internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen eine angemessene Position im Rahmen der kapitalistischen Akkumulation zusteht und dies nicht durch Handelsabkommen geschmälert werden darf. Neureiche und wachsende Armut Dieser wirtschaftliche Aufstieg mancher Länder des Südens bringt zwar das traditionelle Nord-Süd-Gefüge durcheinander, steht aber nicht im Widerspruch zu einer gewissen Tradition der „Dritten Welt“. Hier wird zwar wechselseitige Solidarität und gleichberechtigter Austausch der periInprekorr 6/2015 45 SUBSAHAR A-AFRIK A pheren Länder propagiert, zugleich aber werden die sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in den einzelnen Ländern verschwiegen und die Klassenwidersprüche oftmals repressiv gehandhabt. Afrika liegt denn auch an der Spitze, was soziale Ungleichheit anlangt: „Die ungleiche Vermögensverteilung ist in Subsahara-Afrika mit 37 % am grellsten, gefolgt von Südasien mit 25 %. […] Während die Einkommensunterschiede in Lateinamerika und der Karibik zurückgegangen sind, haben sie in Südasien und Subsahara-Afrika wohl zugenommen.“6 Ursächlich dafür sind die Plünderung der heimischen Ressourcen und die Klientelpolitik der Regierungen, was besonders augenscheinlich am Beispiel von Isabel Dos Santos und den schwarzen Multimillionären oder Milliardären der RSA wird. Aus US-diplomatischen Quellen ist bekannt, dass der reichste Mann Afrikas, der Nigerianer Aliko Dangote, seinen Reichtum auch seinen politischen Beziehungen verdankt. Der damalige US-Generalkonsul, Brian Browne schrieb: „Für seine Anhänger gilt er als Symbol dafür, dass Nigerianer nicht nur zu Tauschgeschäften und Handel fähig sind. Für seine Kritiker ist er ein Schmarotzer, der seine Beziehungen zu Politik und Wirtschaft nutzt, sich Vorteile zu verschaffen und potenzielle Konkurrenten auszuschalten. Die Wahrheit wird irgendwo dazwischen liegen. Dangote gehört zum engsten Wirtschaftsberaterkreis von Präsident Obasanjo. Es ist sicher kein Zufall, dass viele Produkte, an deren Umsatz Dangote maßgeblich beteiligt ist, dem Importverbot nach Nigeria unterliegen.“7 Dies ist nichts grundlegend Neues gegenüber dem Raubrittertum der USA Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts. Dangote steht auch für den Zynismus der afrikanischen Kapitalisten, auch bei ihrer Expansion auf dem Kontinent. „Seit wir bei diesem Unternehmen arbeiten, erhalten wir unsere Löhne mit über dreiwöchiger Verspätung und müssen stets bangen, ob sie überhaupt ausgezahlt werden. Nach fünf Monaten im Betrieb haben wir noch immer keine Arbeitsverträge erhalten, obwohl wir uns mehrfach an die Gewerbeaufsicht gewandt haben. Insofern verfügen wir über keinerlei soziale Rechte, wie sie das senegalesische Gesetz vorsieht“, beklagten sich kürzlich die Arbeiter von Dangotes Zementwerken in Senegal. Der neoliberale Kapitalismus zeichnet sich nicht durch sonderlichen Respekt vor den ohnehin kümmerlichen Rechten der Lohnabhängigen aus. Genauso wenig kümmert sich dieser Urtyp unter den „neuen Giganten des afrikanischen Kapitalismus“ um die von seinen Zementwerken verursachten Umweltprobleme. Wie seinesgleichen 46 Inprekorr 6/2015 inner- und außerhalb von Afrika profitiert er vom nahezu inexistenten Umweltschutz und von der massiven Flexibilisierung der Arbeitsmärkte im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme. Damit sorgen diese Herren dafür, dass in Subsahara-Afrika die prekäre Beschäftigung mit Hungerlöhnen und working-poor auf Rekordniveau liegt. Militär … heute wie damals Typisch für die imperialistische Beherrschung der afrikanischen Völker Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrhunderts war weniger der Kapitalzustrom als vielmehr Gewaltanwendung und militärische Eroberung. Dieser militärische Aspekt macht auch heute den Unterschied zwischen den aufstrebenden Wirtschaftsmächten und den alten imperialistischen Praktiken. Unter den früheren Kolonialmächten ist Frankreich stets in seinen ehemaligen Kolonien militärisch präsent geblieben, nachdem die knappe Hälfte aller afrikanischen Kolonien Anfang der 1960er Jahre in rascher Folge unabhängig wurde. (England beispielsweise versuchte seinen Einfluss durch militärische Zusammenarbeit von außen zu wahren, behielt aber de facto keine eigenen Truppen vor Ort.) Durch diese militärische Präsenz sicherte Frankreich seine Vormachtstellung in den ehemaligen subsaharischen Kolonien oder konnte sie sogar noch über die ehemaligen Kolonialgebiete hinaus erweitern, indem es z. B. im Biafra-Krieg aufseiten der Sezessionisten mitmischte – einerseits, um den Zugriff auf das Erdöl in Nigeria zu sichern, andererseits, um neokoloniale Strukturen zu garantieren. Nach dem Ende des Kalten Krieges und mit Beginn der neoliberalen Globalisierung änderte sich die Strategie und die Zahl der Militärbasen in Afrika wurde reduziert. Stattdessen wurden einheimische Militärs geschult und als abhängige Armeen aufgebaut. Dies geschah in Abstimmung mit der EU und dem Konzept punktueller und befristeter Einsätze durch multinationale Interventionskräfte (EUFOR), deren Einsatz in der Demokratischen Republik Kongo, im Tschad und in Zentralafrika – weit vor der Operation Sangaris – unter französischer Leitung stattfand. In Anerkennung seiner „historischen Rolle“ in Afrika wurde Frankreich auch zu bestimmten Manövern hinzugezogen, die von der US-Armee gemeinsam mit afrikanischen Verbänden seit den 90er Jahren durchgeführt wurden, um den US-Interessen in Afrika Nachdruck zu verleihen – ein Engagement, das aufgrund der gescheiterten Intervention in Somalia nicht frei von Rückschlägen verläuft. Die militärische Supermacht, die in Diego Garcia eine der größten Militärbasen außerhalb der USA unterhält, nutzt schon länger weitere militärische Einrichtungen wie SUBSAHAR A-AFRIK A etwa den Luftwaffenstützpunkt in Thebephatshwa (Botswana), der mit US-Hilfe zu einem Zeitpunkt errichtet wurde, als der alte Vorposten Südafrika abhandenkam und die „Kommunisten des ANC“ an die Macht zu kommen drohten. Inzwischen ist die US-Armee, die seit 2007 über ein eigenes Afrika-Kommando (Africom) verfügt, zur größten ausländischen Militärmacht in Afrika aufgestiegen: Neben Diego Garcia unterhält sie seit 2002 im ehemaligen französischen Militärcamp Lemonnier in Dschibuti einen Stützpunkt für die Combined Joint Task Force-Horn of Africa (CJTF-HOA) als Einheit der Africom sowie weitere, oftmals geheim gehaltene Stützpunkte in ca. 40 weiteren Staaten Afrikas. Diese flächendeckende Präsenz, (als Ausgleich für den gescheiterten Versuch, das Hauptquartier der Africom in Afrika zu installieren, das sich hilfsweise nunmehr in Stuttgart und mit Außenstellen in Spanien, Italien und Portugal befindet) wird offiziell mit der „Bekämpfung des Terrorismus“ begründet, kann aber über die realen wirtschaftlichen und besonders auf Erdöl gerichteten Interessen nicht hinweg täuschen. Mit dreister Arroganz haben die USA die Ebola-Epidemie in Westafrika als Vorwand genommen, um mit der „humanitären“ Entsendung von 3000 Militärs nach Liberia das Image der Africom aufzupolieren. Mit dieser Operation zur „Gewinnung der Herzen und Köpfe“ hofften sie, sich mithilfe der botmäßigen Präsidentin Ellen Sirleaf Johnson (die sich schon 2007 für die Aufnahme des Hauptquartiers in Liberia starkgemacht hatte und am Widerspruch der Afrikanischen Union gescheitert war) einen Vorwand für eine bleibende Militärpräsenz in Westafrika verschaffen zu können, so wie es ihnen zuvor mithilfe ihres Lakaien Michel Martelly in Haiti gelungen war. Die Verlegung des militärischen Schwerpunkts in Richtung Asien ändert nichts am Stellenwert der Africom für die USA. Die Schaffung der Africom war auch ausschlaggebend dafür, dass der lang gehegte Plan zur Schaffung einer panafrikanischen Eingreiftruppe nicht durchgesetzt werden konnte, der seit 1994 in Form der African Standby Force durch die Afrikanische Union weiter betrieben wird. Die Afrikanische Union spricht sich einerseits gegen die Einrichtung neuer Militärbasen in Afrika aus, zählt andererseits jedoch auf die finanzielle Unterstützung der USA und der EU für die Aufstellung einer solchen Armee, mithilfe derer Afrika angeblich seine Sicherheitsprobleme selbst lösen könnte. Zudem entfiele die Rechtfertigung für die militärischen Interventionen von außen, denen Afrika als Exerzierfeld und Werbebühne neuer Waffensysteme und als Geschäftsfeld ihrer Söldnerfir- men dient. Dass diese gesamtafrikanische Eingreiftruppe bisher nicht umgesetzt wurde, erklärt mitunter auch das klägliche Versagen der afrikanischen Truppen in Somalia und die französischen Militärinterventionen in Mali und Zentralafrika. Diese imperialistischen Eingriffe werden mithilfe der dreisten Instrumentalisierung des UN-Sicherheitsrats humanitär verbrämt. Dabei ist die Lage in Mali nicht nur den fortdauernden neokolonialen Strukturen geschuldet, sondern auch der desolaten Situation in Libyen, die durch die NATO-Eingriffe und entgegen den Vermittlungsversuchen der Afrikanischen Union dort geschaffen wurde. Gestützt auf mancherlei Anerkennung seiner Militärinterventionen (die Ersetzung des früheren ivorischen Präsidenten Laurent Gbagbo durch Ouattara oder die Operationen Serval und Sangaris) nimmt Frankreich eine Umstrukturierung und künftige Verstärkung seiner Militärpräsenz in Angriff. Dabei kooperiert und konkurriert das Land zugleich mit den USA, die im Zuge ihrer Machtentfaltung an der „Expertise“ Frankreichs nicht vorbeikommen. Beredtes Beispiel hierfür ist die Koexistenz eines französischen und eines US-amerikanischen Stützpunktes in Dschibuti. Als strategischer Stützpunkt ist Dschibuti zum Symbol für die neuen militärischen Interessen der Großmächte in Afrika geworden. Das Land gerät in seiner Rolle als Wächter des Golfs von Aden und der dortigen Schiffspassage zum militärischen Drehkreuz, was dem Grundsatz der Afrikanischen Union Hohn spricht, wonach fremde Armeen nicht dauerhaft in Afrika stationiert sein dürfen. Neben den Franzosen und US-Amerikanern haben Japan (2011) und Italien (2012) eine Basis errichtet, China eine Genehmigung dazu erhalten, während Russland und Kanada darüber verhandeln und spanische und deutsche Soldaten vertreten sind, ohne eigene Stützpunkte zu unterhalten. Das japanische Militär hat 600 Soldaten in Dschibuti stationiert und zahlt dort 30 Millionen Dollar Miete. Dies passt sich ein in den Neuformierungsprozess des japanischen Militarismus, der Japans Rolle als wirtschaftlicher Großmacht gerecht werden will, wobei das Land bereits zuvor durch seine räuberischen Praktiken in der Hochseefischerei in der Region präsent gewesen war. Diese neue „Verteidigungsideologie“ anerkennt freilich weiterhin das militärische Primat der USA. China ist im Begriff, seine militärische „Zurückhaltung“ aufzugeben und strebt eine Militärpräsenz an, die unabhängig von den UN-Missionen in Kongo und Inprekorr 6/2015 47 SUBSAHAR A-AFRIK A Südsudan sein soll und anders als sein wenig bekannt gewordener Beitrag zur „Bekämpfung des Terrorismus“ in Mali sein will. Auf dieser Grundlage ist die Genehmigung zur Einrichtung eines Stützpunktes in Dschibuti erfolgt, die über die Interessen in Afrika hinaus auch als Reaktion auf die Spannungen im Südchinesischen Meer gerechtfertigt wird. „Peking trifft Vorkehrungen, die militärische Einkreisung durch die USA operationell und strategisch zuvereiteln.“8 Zudem wird wohl die Errichtung eines Marinestützpunktes in der Walfischbucht in Namibia erwogen. Insofern bekommt die militärische Seite der chinesisch-afrikanischen Zusammenarbeit zunehmende Bedeutung. Auch unterliegt der chinesische Waffenexport nicht der Doppelbödigkeit der anderen Wettbewerber, die gekonnt Embargos verhängen. Selbst Gabun, immerhin Hochburg der französischen Armee, hält gemeinsame Militärmanöver mit China ab. Noch mehr als im wirtschaftlichen Sektor offenbart sich im militärischen, dass China in diesem Süd-Süd-Geflecht die Federführung innehat. Aber im Unterschied zu dem, was im Südchinesischen Meer zwischen China und den USA vorgeht, gibt es in Afrika (noch?) keine Spannungen zwischen den alten Großmächten und den neuen. Eine Ausnahme hiervon betraf Zentralafrika unter François Bozizé, wo die südafrikanische und die französische Armee gegeneinander konkurrierten, als die erstere im Zuge einer Militärpartnerschaft dorthin entsandt wurde, um das wankende Regime zu stützen, dem Frankreich die Unterstützung entzogen hatte. Dabei ging es auch um die Sicherung südafrikanischer Kapitalinteressen. Im Zuge des folgenden Aufstands im Land verloren südafrikanische Soldaten ihr Leben und letztlich wurde das Regime gestürzt. Im Zuge der Operation Sangaris stellte Frankreich später wieder seine Vormachtposition her. Die wachsende ideologische Hegemonie Die zunehmende Kapitalinvasion in Afrika geht nicht nur mit einer verstärkten militärischen Präsenz seitens der alten und neuen Großmächte einher. Es gibt daneben auch die ideologische oder kulturelle Dimension zur Förderung der Akzeptanz, ein Hegemoniepfeiler im Sinne Gramscis. Auch in dieser Beziehung hat der Neoliberalismus die Herrschaftsmechanismen verändert. Zu Kolonialzeiten und in den ersten 20 Jahren danach wurde auch Afrika von dem weltweiten intellektuellen Gärungsprozess erfasst, der sich in einer Kritik des Imperialismus und Kapitalismus entlud und mitunter mit politischer Praxis einherging. Auch wenn die meisten afrikani48 Inprekorr 6/2015 schen Intellektuellen (auch die „unpolitischen“) dem neokolonialen Lager zuzurechnen waren, so gab es doch eine gewisse Meinungsvielfalt im Land (sofern diese toleriert wurde) oder im Exil . Seit Ende der 80er Jahre ist dies absolut nicht mehr so, nachdem bereits im Jahrzehnt davor eine Gegenoffensive begonnen hatte, die dazu beitrug, viele Antiimperialisten und Antikapitalisten in die Machtstrukturen des Landes oder in die internationalen Institutionen zu integrieren und ihr kritisches Engagement letztlich auf der Karriereleiter versanden zu lassen. Mit dem Zerfall des realsozialistischen Lagers und der gleichzeitigen Durchsetzung der neoliberalen Umstrukturierung Afrikas verschlimmerte sich die Lage und die Vielfalt der sozialen und politischen Ideale verkümmerte. Im Zuge der „Demokratisierung“ Afrikas überwogen schließlich die kapitalistischen Wertvorstellungen und die Kritik an den Anpassungsmaßnahmen versandete auf den Konferenzen oder in Reformprozessen in den „souveränen“ Staaten. Ziel war, die kapitalistische Marktwirtschaft in Stein zu meißeln. Dabei schwang sich die Weltbank zur Bekämpferin der extremen Armut auf, die sie gemeinsam mit dem IWF überhaupt erst verursacht hatte, und bediente sich dazu der UN-Strukturen, der Entwicklungshilfe-NROs, karitativer Organisationen etc. Der neoliberalen Globalisierung wurde zugeschrieben, dass sie das Elend, das sie hervorgerufen hat, beseitigen könne: Aus extremer Armut würde einfache Armut – aber nicht durch die Schaffung eines „Sozialstaats“ oder „staatlicher Vorsorge“, wie es in manchen afrikanischen Ländern in entsprechend abgeschwächter Form während der zwanzig Jahre zuvor praktiziert worden war, sondern durch die Entwicklung des Privatsektors. In diesem Sinne wird auch den philanthropischen Stiftungen (dem sog. „Philanthro-Kapitalismus“) die Fähigkeit zuerkannt, die Welt zu retten und die großen sozialen Probleme der Menschheit zu lösen. Hinter deren vermeintlicher Großzügigkeit stecken zum einen Steuervorteile für die Finanziers und zum anderen die ideologische Aufrüstung im Namen des Washington-Consensus. Die reichsten Menschen der Welt, Bill und Melinda Gates, (Gates-Stiftung) gerieren sich in dieser Propaganda-Show als Nothelfer der afrikanischen AIDS-Kranken und instrumentalisieren notabene dabei die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Den afrikanischen Kindern wird der Schulbesuch ermöglicht dank des Engagements einiger Filmstars, mit denen afrikanische Vertreter des Africa Progress Panel (einer prominent besetzten internationalen Beratergruppe für die „nachhaltige“ Entwicklung Afrikas) SUBSAHAR A-AFRIK A für das Gruppenfoto posieren. So funktioniert die Unterordnung des Öffentlichen unter das Private, während zugleich die öffentlichen Gelder in den Taschen der Regierenden verschwinden. Durch die Unterstützung, die dieser „Philanthro-Kapitalismus“ gemeinsam mit westlichen Regierungsstellen bestimmten Menschenrechtsorganisationen und Bürgerrechtsbewegungen zukommen lässt, sollen zugleich emanzipatorische Bestrebungen und Kritik an den lokalen Verhältnissen wie an denen in den Geberländern im Keim erstickt werden. Die afrikanischen Angestellten der Soros-Stiftung „Offene Gesellschaft“ dürfen nur die dort vorgegebene oberflächliche Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen nachbeten und selbstredend gilt die Beteiligung des Stifters am Land Grabbing und an der Ausbeutung der ArbeiterInnen nicht als inhuman. Diese Vorgehensweise hat Slavoj Zizek mal als „praktizierte Heuchelei“ bezeichnet … von der sich aber auch Kritiker der afrikanischen Verhältnisse blenden lassen. So hat beispielsweise ein führender Vertreter der regierungskritischen, jugendorientierten Protestbewegung in Senegal „Y en a marre“ (Wir haben’s satt)9 die Zusammenarbeit mit Soros gerechtfertigt, nachdem die Bewegung zuvor auch die Präsidentschaftskandidatur des neoliberalen Milliardärs Macky Sall gegen den amtierenden Abdoulaye Wade unterstützt hatte. Ein anderer Vertreter meinte, dass US-Präsident Obama ein „sympathischer und aufmerksamer Präsident [sei], der sich als sehr pragmatisch erwiesen [habe]“. In ihrer Selbstdarstellung beschreibt sich diese Bewegung so: „Y en a marre neigt weder zum Marxismus, noch zum Kapitalismus, noch zum Kommunismus. Wir sind von keiner Seite abhängig und verstehen uns als aktive Bürger auf der Grundlage der afrikanischen Werte und unserer soziokulturellen Gegebenheiten.“ Diese ideologische Beliebigkeit entspricht dem Zeitgeist, dem auch andere derartige Bewegungen in Afrika anhängen, wie beispielsweise die Führung der burkinischen Protestbewegung „Balai citoyen“ (Bürgerbesen), die zu den Akteuren gehört, die den Präsidenten Compaoré zum Rücktritt gezwungen haben. Manche Kritiker der afrikanischen Verhältnisse bezeichnen diese „Opposition“ auch als „die neue Infanterie des Imperialismus in Afrika“ oder als „Lakaien des Westens“. Das oberflächliche Demokratieverständnis, das in diesen afrikanischen Bewegungen vorherrscht, resultiert auch aus der Einflussnahme des Imperialismus auf die dortigen Universitäten über Stipendien oder die Einrichtung von Lehrstühlen. Die USA binden afrikanische Hochschulabsolventen näher an sich über Einrichtungen wie der Partnership for African Universities, die 2000 in Dakar ins Leben gerufen wurde und hauptsächlich von diversen Stiftungen (Carnegie, Ford, MacArthur und Rockefeller) getragen wird. Inzwischen fordern afrikanische Intellektuelle eine stärkere „Partnerschaft“ der afrikanischen Universitäten mit den US-Stiftungen als den wichtigsten Betreibern der Umstrukturierung des Hochschulwesens. Es versteht sich, dass das kritische Denken, das an manchen Im Zuge der „Demokratisierung“ Afrikas überwogen schließlich die kapitalistischen Wertvorstellungen ...“ Universitäten noch einen Nischenplatz einnehmen konnte, dabei unerwünscht ist. Landwirtschaftliche Forschungsanstalten werden zunehmend von der Finanzierung durch die Agrarindustrie abhängig. In den sozialwissenschaftlichen Bereichen setzen sich mehr und mehr die Paradigmen einiger weniger Thinktanks durch, die auch mit entsprechendem publizistischem Aufwand agieren. Bereits vor einigen Jahren beklagte ein afrikanischer Wirtschaftswissenschaftler, der sich nicht als Revolutionär versteht: „Wir müssen damit umgehen, dass makroökonomische Paradigmen nicht mehr diskutiert werden und wir den sozialen Herausforderungen unvorbereitet gegenübertreten. Zumindest an den mir bekannten afrikanischen Universitäten in den ehemals französischen Kolonien werden solche Paradigmen absolut nicht infrage gestellt. […] Es findet überhaupt keine Diskussion mehr statt in den Wirtschaftswissenschaften. […] Diejenigen, die an der Spitze der Institutionen stehen, befassen sich kaum mit (kritischer) Theorie, und diejenigen, die an den Universitäten sind, haben keinen Kontakt zur Wirklichkeit. […]Ein abweichender Standpunkt hat seinen Preis und insofern wird die gängige Lehrmeinung kaum infrage gestellt. Wir sind abhängig und lassen uns daher vereinnahmen.“10 Die Schwellenländer, v.a. China, beschränken sich auf diesem Gebiet auf die Gewährung von Stipendien, aber halten sich ansonsten im Vergleich zu den alten Kolonialmächten zurück. Seinerzeit rechnete Kwame Nkrumah auch Hollywood, Inbegriff der „Kulturindustrie“ zur Verbreitung des „american way of life“, zu den Propagandamitteln des Inprekorr 6/2015 49 SUBSAHAR A-AFRIK A Imperialismus oder Neokolonialismus. Er schrieb damals: „Auch die Hollywood-Filme sind Waffen. Man muss nur hören, wie die afrikanischen Zuschauer applaudieren, wenn die Hollywood-Helden die Indianer oder Asiaten massakrieren, um zu verstehen, wie mächtig ein solches Medium ist.“ In dieser Hinsicht hat die Macht der imperialistischen Kulturindustrie exponentiell zugenommen, einschließlich ihrer lokalen Adepten: der chinesische Fernsehsender CCTV in Nairobi, die Telenovelas, die Bollywood- und Nollywood-Filme (Indien bzw. Nigeria) etc. Aber eine „der schlimmsten Methoden des Neokolonialismus ist wohl die evangelikale Kirche“, meinte Nkrumah. „Auf die Befreiungsbewegung folgte eine wahre Flut von religiösen Sekten, vorwiegend aus den USA.“ Seit Anfang der 80er Jahre hat dieses Phänomen noch zugenommen und verleiht den sozialen Folgen der Schuldenkrise und den Rosskuren der Finanzinstitutionen eine „spirituelle Note“. Die Ausbreitung der Erweckungs- und Pfingstkirchen erfolgt ganz offensichtlich auch unter Einsatz erheblicher finanzieller Mittel der reichen Pfaffen, die ihrem Gott und dem Mammon zugleich huldigen. Trotz alledem fügen sich die ausgebeuteten und unterdrückten Völker Afrikas nicht einfach in die Unterwerfung, die ihnen der westliche Imperialismus, inzwischen ergänzt um die Schwellenmächte und den aufstrebenden afrikanischen Kapitalismus, zuteilwerden lassen will. Davon zeugen die allfälligen Kämpfe in Afrika, die sich gegen die Ausbeutung der Menschen und die Umweltzerstörung durch die Erdöl- und Minen-Multis richten, gegen Land Grabbing und die aufgezwungene Abhängigkeit von Saatgut, gegen Unrecht und Benachteiligung seitens raffgieriger Cliquen, die sich an der Regierung abwechseln und sich zu heimischen Kapitalisten aufschwingen, gegen die Diskriminierung im Bildungs- und Gesundheitswesen, gegen die Instrumentalisierung der unterschiedlichen Ethnien, Rassen und Religionen für politische und militärische Zwecke, gegen die Unterdrückung mithilfe neokolonialer Konzepte oder obskurantistischer„af rikanischer Traditionen“ usw. In diesen Kämpfen lassen wir uns leider allzu oft auseinanderdividieren, da der Kapitalismus – ob in Gestalt der traditionellen oder der neu hinzugekommenen Mächte – sein neokoloniales Instrumentarium dafür einsetzt, uns zu isolieren und in Zaum zu halten. Wenn wir keine Solidarität unter den Völkern herstellen und aufrecht erhalten und nicht die Kämpfe gegen die allgegenwärtigen Angriffe der kapitalistischen Mächte koordinieren, wenn wir also keine antikapitalistische Bewegung über ganz Afrika hinweg 50 Inprekorr 6/2015 schaffen, dann wird sich das ausgebeutete und unterdrückte afrikanische Volk nicht befreien und ein menschenwürdiges Leben führen können. September 2015 Jean Nanga ist Korrespondent der Presse der IV. Internationale in Afrika11 Übersetzung: MiWe 1 Der Begriff Françafrique verweist auf die fortdauernde Beherrschung der ehemaligen französischen Kolonialgebiete durch das alte „Mutterland“. Die Umkehrung hiervon wäre Africafrance. 2 Franzöische „Überseegebiete“, also die nicht einmal formal unabhängigen Länder in der Karibik, dem indischen und dem pazifischen Ozean. Anm. d. Red. 3 Karl Marx: Entwurf eines Vortrages zur irischen Frage, gehalten im Deutschen Bildungsverein für Arbeiter in London am 16. Dezember 1867 aus MEGA Bd. 16, S 451 4 Bruno Alomar und Thierno Seydou Diop 5 Die europäischen Direktinvestitionen in China sind erheblich zurückgegangen und beliefen sich 2014 nur noch auf 9,14 Mrd. Euro (vs. 17,1 Mrd. 2013). Hingegen sind die chinesischen ADI im selben Zeitraum von 5,5 Mrd. auf 12,1 Mrd. gestiegen. 6 Pnud, Rapport sur le développement humain 2014. Pérenniser le progrès humain : réduire les vulnérabilités et renforcer la résilience, p. 42, http://hdr.undp.org 7 http://wikileaks.org/cable/2005/03/05LAGOS362.html 8 Alfred McCoy, „ The Geopolitics of America Global Decline. Washington Versus China in the Twenty-First Century “, TomDispatch.com, June 7, 2015, http://www.tomdispatch.com/ blog/176007/. 9 Einen informativen, allerdings recht unkritischen Einblick in die Arbeitsweise dieser am Rap orientierten Protestbewegung liefert der – allerdings bereits 2012 verfasste – Beitrag http:// www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2013/prause.pdf. 10 Kako Nubukpo, „ L’Afrique malade de ses économistes “, Alternatives économiques, 21 septembre 2011, http://alternativeseconomiques.fr/blogs/ nubukpo/2011/09/21/l’Afrique-malade-de-ses-economistes 11 Der sehr umfängliche Text von Jean Nanga zu Afrika hat im Original über hundert Anmerkungen (Fußnoten), auf die wir - schon aus Platzgründen aber auch zur besseren Lesbarkeit großenteils verzichtet haben. Wer sich intensiver mit dem Thema auseinandersetzen möchte und die französisch- und englischsprachigen Anmerkungen und Quellenangaben nachlesen möchte, den/die verweisen wir auf die Website (www.inprekorr.de), wo wir das französische Original dieses Artikels einstellen. Eure Redaktion Die Internationale 52 BENJAMIN UND TROTZKI: 1940 „Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ (W. Benjamin) 56 LINKSREFORMISMUS IN DER DEFENSIVE Die Annahme des Dritten Memorandums durch Syriza wirft auch ein Schlaglicht auf die bisherige Strategie anderer linker Organisationen in Europa. 51 Inprekorr 5/2014 D I E I N T E R N AT I O N A L E BENJAMIN UND TROTZKI: 1940 Der Autor erinnert an den 75. Todestag des deutschen Philosophen und Literaturkritikers Walter Benjamin und des russischen Revolutionärs Leo Trotzki und gibt einen Einblick in deren Geschichtsphilosophie. Helmut Dahmer T rotzki war der Sohn eines jüdisch-ukrainischen Gutsbesitzers aus dem südrussischen Bezirk Cherson, der zwölf Jahre jüngere Benjamin der Sohn eines wohlhabenden deutsch-jüdischen Berliner Kaufmanns. Als „gottlose Juden“ (Sigmund Freud) gehörten sie zur sozialrevolutionären Avantgarde des Diaspora-Judentums. Beide versuchten, ihre Zeit zu begreifen und ihre Einsichten publik zu machen, um die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern. Beide sahen in der Literatur eine Form der Geschichtsschreibung, beide waren selbst bedeutende Literaten und verdienten damit ihren Lebensunterhalt.1 Benjamin und Trotzki waren an der Psychoanalyse ebenso interessiert wie am französischen Surrealismus, der ohne Freud nicht zu denken ist. Trotzki wurde Berufsrevolutionär, führte zwei Revolutionen an, organisierte und kommandierte die Rote Armee in den Jahren 1918-1924, gründete zwei kommunistische „Internationalen“, die III. von 1919 und die IV. von 1938, und schrieb nebenher an die zweihundert Literaturkritiken. Der andere entwickelte seine kritische Theorie der Geschichte in einer Reihe von Interpretatio- 52 Inprekorr 6/2015 nen bedeutender Lyriker (wie Hölderlin, Baudelaire und Brecht), großer Erzähler (wie Goethe, Lesskow, Kafka und Proust) oder der Essays des Herausgebers der (Wiener) Zeitschrift Die Fackel, Karl Kraus. Zu Trotzkis Hauptwerken gehören seine Autobiografie (Mein Leben, 1929), die 1935 geschriebene Analyse der stalinistischen Sowjetunion (Verratene Revolution), vor allem aber seine zweibändige Geschichte der russischen Revolution von 1917, die Anfang der dreißiger Jahre in deutscher Übersetzung erschien und die Benjamin, wie er schrieb, „mit atemloser Spannung in sich aufnahm“2 . Benjamins Hauptwerk galt Charles Baudelaire, einem „Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“.3 Im Zusammenhang mit den Baudelaire-Studien und -Übersetzungen entstand zudem in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre eine Fragment gebliebene, umfangreiche Studie über Paris, die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“. Von diesem PassagenWerk versprach Benjamin sich – wie von seinen anderen (literar-)historischen Untersuchungen – neuartige Aufschlüsse über sein eigenes, das unheilvolle 20. Jahrhundert. Im Zusammenhang mit seinen Studien über das Paris des D I E I N T E R N AT I O N A L E 19. Jahrhunderts interessierten ihn vor allem der Frühsozialist Charles Fourier4 und der revolutionäre Kommunist Auguste Blanqui5, von dem er schrieb, der „Erzklang“ seines Namens habe das 19. Jahrhundert „erschüttert“. 6 Was die Marx’sche Theorie anging, orientierte er sich vor allem an Schriften der Hegelianer-Marxisten Lukács, Korsch und Horkheimer 7, ferner am spezifisch Brecht’schen „Materialismus“, wie er in dessen Gedichten, Stücken und Erzählungen Ausdruck fand.8 Trotzki hatte die Marx’sche Theorie ebenfalls durch die Lektüre eines Hegelianer-Marxisten des 19. Jahrhunderts kennengelernt, des Italieners Antonio Labriola.9 Bewegte Trotzki sich zeit seines Lebens in revolutionären Zirkeln und Parteien und bildete notfalls eine Ein-MannPartei, so stand Benjamin den politischen Organisationen ebenso fern wie den literarischen Cliquen seiner Zeit. Trotzki war ein genialischer Autodidakt, Benjamin ein Privatgelehrter (oder besser: ein homme de lettres), der den Zugang zur Universität nicht fand (und vielleicht auch nicht finden wollte). Trotzki hat Benjamins Schriften nicht gekannt, und Benjamin war weder Mitglied einer kommunistischen Partei noch „Trotzkist“.10 Wohl aber las er nicht nur verschiedene Schriften Trotzkis11, sondern auch die Ende der zwanziger Jahre unter dem Namen von Panaȧt Istrati erschienenen drei Bände mit Analysen von Linksoppositionellen zur Entwicklung der Sowjetunion12 oder den (1939 erschienenen) dokumentarischen Roman von Victor Serge über die Unterdrückung der russischen Linken Opposition13. Wir Heutigen sind es, die Trotzki und Benjamin als sozialistische Zeitgenossen mit ähnlichem Schicksal wahrnehmen und ihre historisch informierte Geistesgegenwart im ersten Jahr des Zweiten Weltkriegs bewundern. Trotzki hatte im Juli 1933 die Insel Prinkipo im Marmarameer verlassen und hielt sich dann knapp zwei Jahre in Frankreich auf, ehe er (bis Ende 1936) in Norwegen – und dann ab 1937 in Mexiko – Asyl fand. Die beiden Emigranten teilten in den Jahren 1933–35 das französische Exil, ohne miteinander in Kontakt zu kommen. Der eine wurde von Regierung und Polizei nur widerwillig geduldet, siedelte, von wenigen politischen Freunden unterstützt, von einem unsicheren Ort zum andern über, stets auf der Suche nach alternativen Asyl-Ländern. Der Andere zog von einer behelfsmäßigen Pariser Unterkunft zur anderen, wich gelegentlich nach San Remo, Ibiza und Dänemark aus, wo sein Freund Brecht auf der Insel Fünen ein Haus gemietet hatte. Benjamin kränkelte und war meist in Geldnöten. Immer wieder versuchte er, seine Texte (notfalls unter Pseudonym) bei den wenigen überhaupt noch infrage kommenden deutschsprachigen Zeitschriften unterzubringen. Seinen Lebensunterhalt sicherte einzig ein knapp bemessenes Forschungs-Stipendium des exilierten Horkheimerschen „Instituts für Sozialforschung“ in New York, in dessen Zeitschrift für Sozialforschung in den Jahren 1934–1939 verschiedene seiner Texte veröffentlicht wurden. Trotzkis russisches Bulletin der Opposition (Bjulleten Opposizii), das 1929–1941 erschien, und Horkheimers Zeitschrift für Sozialforschung (1932–1941) waren die bedeutendsten politisch-soziologischen Zeitschriften der dreißiger Jahre. Der kampflose Sieg Hitlers über die deutsche Arbeiterbewegung und die Verleugnung dieser Niederlage durch die stalinisierte Komintern, der „Große Terror“ in der Sowjetunion mit den Moskauer Schauprozessen gegen die alten Bolschewiki, der rasche Niedergang der „Volksfront“ in Frankreich, die Niederlage der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg und Hitlers europäische Eroberungskriege hatten die Hoffnungen auf europäische sozialistische Revolutionen, die einen Zweiten Weltkrieg hätten verhindern können, zunichtegemacht. Der Historiker Karl Thieme, mit dem Benjamin seit 1934 korrespondierte14, schrieb ihm am 25.1.1940: „Ob Sie mir nachfühlen können, mit welchem Aufatmen der Befreiung ich die gemeinsame Selbstentlarvung der beiden Totalitarismen beim Bekanntwerden des bevorstehenden Hitler-StalinPakts am 21. August begrüßt habe?“ Benjamins Antwort: „Ich verstehe nur zu gut Ihren Stoßseufzer der Erleichterung, als sich der apokalyptische Albtraum derart enthüllte. Wir sind da einer Meinung.“15 Benjamins Versuche, mithilfe des „Instituts für Sozialforschung“ in die Vereinigten Staaten zu gelangen, stießen auf immer neue Schwierigkeiten. Nach dem Kriegsausbruch im September 1939 wurden ihm Paris und Frankreich zur Falle. Zunächst war er als „feindlicher Ausländer“ bis Ende November 1939 in einem Auffanglager interniert. Dann blieb ihm noch ein gutes halbes Jahr, ehe die NaziWehrmacht (am 14. 6. 1940) Paris besetzte und er mit Zehntausenden südwärts über Lourdes nach Marseille floh, um den Menschenjägern der Gestapo und der Vichy-Kollaborationsregierung zu entkommen. Als er endlich Port Bou auf der spanischen Seite der Pyrenäen erreicht hatte, verwehrte man ihm die Weiterfahrt nach Spanien, und er setzte (am 27. September 1940) seinem Leben ein Ende. Zu diesem Zeitpunkt war Trotzki, auf den Stalins Killergangs seit 1937 eine wahre Treibjagd eröffnet hatten, Inprekorr 6/2015 53 D I E I N T E R N AT I O N A L E schon seit fünf Wochen tot. Der Agent Ramón Mercader hatte sich als Freund einer Sekretärin in das befestigte Haus im Vorort Coyoacán der mexikanischen Hauptstadt eingeschlichen und Trotzki, den er um seine Meinung zu einem selbstverfassten politischen Artikel gefragt hatte, bei dessen Lektüre hinterrücks erschlagen. Benjamins letzter Text umfasst nur 13 Druckseiten. Es handelt sich um achtzehn, von ihm im ersten Halbjahr 1940 in Paris zusammengestellte und redigierte „Geschichtsphilosophische Thesen“.16 Verschiedene Versionen davon schickte er als das „Vermächtnis einer geschlagenen Generation“17 an wenige gute Freunde. Das Thema dieser Thesen ist die ausstehende Revolution, nämlich eine, die dem ruinösen „Fortschritt“, wie er im gesellschaftlichen Rahmen von Ausbeutungsverhältnissen zustande kommt, „Trümmer auf Trümmer“18 und Massaker auf Massaker häuft, ein Ende macht. Rosa Luxemburg hatte im Ersten Weltkrieg (1915) geschrieben, die „Daseinsform“ des Kapitalismus sei die Katastrophe.19 Die Führer, Ideologen und Anhänger der sozialdemokratisch-reformistischen wie der stalinisierten kommunistischen Parteien aber schlug ihr sturer Fortschrittsoptimismus mit Blindheit. 1914, 1933 und 1939 – jedes Mal wurden sie von den „Ereignissen“, mit denen sie nicht gerechnet hatten, überrascht. Benjamin markierte drei Grundfehler dieser „linken Führer“: ihren fatalen Fortschrittsglauben, das einfältige Vertrauen auf ihre „Massenbasis“ und „ihre servile Einordnung in einen unkontrollierbaren Apparat“ – „drei Seiten derselben Sache“.20 Von der „klassenlosen Gesellschaft“ sagte er, sie sei mitnichten „das Endziel des Fortschritts in der Geschichte sondern dessen so oft missglückte, endlich bewerkstelligte Unterbrechung.“21 Es bedarf einer radikalen Richtungs-Änderung der gesellschaftlichen Entwicklung. Hatte Marx im Rahmen der Eisenbahn-Metaphorik des 19. Jahrhunderts in den Revolutionen „Lokomotiven“ gesehen, die den langsamen Zug der gesellschaftlichen Entwicklung beschleunigen können, so hatte Benjamin, ein halbes Jahrhundert später, eine ganz andere Funktion der Revolutionen im Sinn: „Vielleicht sind [sie] der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“22 Trotzki hat seine eigenen, in Reaktion auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs formulierten geschichtsphilosophischen Thesen in seinem am 25. September 1939 niedergeschriebenen (und im Januar 1940 in der Zeitschrift der deutschen Trotzkisten, Unser Wort, in Übersetzung veröffentlichten) Artikel „Die UdSSR im Kriege“ formuliert.23 Darin rief er zur Verteidigung des gesellschaftlichen Eigentums in der Sowjetunion und zum Sturz der 54 Inprekorr 6/2015 Stalin’schen Despotie auf. Alle Hoffnung setzte er darauf, dass die internationale Arbeiterklasse dem Zweiten Weltkrieg durch Revolutionen ein Ende machen werde, so, wie sie sich 1917/18 gegen das nationalistische Gemetzel des Ersten Weltkriegs aufgelehnt hatte. Die Freiheit seines Denkens ermöglichte es dem großen Revolutionär, nicht nur die günstigen Entwicklungstendenzen ins Auge zu fassen, sondern auch die in der jeweiligen Gegenwart wirksamen, destruktiven Gegentendenzen. In den Jahren 1939/40 hatten Soziologen wie Bruno Rizzi und Rudolf Hilferding (denen sich 1941 Friedrich Pollock und James Burnham zugesellten) prognostiziert, der Erbe des Kapitalismus werde nicht der Sozialismus, sondern eine neuartige, totalitärbürokratische Gesellschaftsformation sein. Prototypen dieser neuen Klassengesellschaft seien das stalinistische Russland, Mussolini-Italien, Hitler-Deutschland und das New-Deal-Amerika F. D. Roosevelts. Trotzki hielt diese Entwicklungsvariante für unwahrscheinlich, schrieb aber: Sollte sich das Proletariat der führenden kapitalistischen Länder während und nach dem Krieg tatsächlich als unfähig erweisen, die Macht zu erobern und zu behalten, dann „wären wir gezwungen einzugestehen, dass der Grund für den bürokratischen Rückfall [in der Sowjetunion] nicht in der Rückständigkeit des Landes zu suchen ist, auch nicht in der imperialistischen Einkreisung, sondern in einer naturgegebenen Unfähigkeit des Proletariats, zur herrschenden Klasse zu werden.“ In diesem Fall wäre „das sozialistische Programm, das auf den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft beruht, eine Utopie“.24 Was aber sei die Aufgabe der Revolutionäre, falls diese unwahrscheinliche, nicht aber unvorstellbare Entwicklung zu einem Orwellschen Superstaat eintrete? „Dann wäre offenbar ein neues ,minimales‘ Programm notwendig – zum Schutz der Interessen der Sklaven einer totalitären bürokratischen Gesellschaft.“25 (21. August 2015) Helmut Dahmer ist ein deutscher Soziologe und lebt als freier Publizist in Wien. In Inprekorr 468/9 erschien seine Rezension zu Band 19 der Kritischen Gesamtausgabe von Walter Benjamin. 1 Gäbe es eine Trotzki-Gesamtausgabe, würde sie etwa starke 80 Bände umfassen. Die seit 2008 erscheinende „Kritische Gesamtausgabe“ der Benjamin‘schen Werke und seines Nachlasses wird die bereits abgeschlossene, siebenbändige Edition seiner Gesammelten Schriften und die sechsbändige Sammlung seiner Briefe vervollständigen. D I E I N T E R N AT I O N A L E 2 Brief an Gretel Karplus vom Mai 1932. Benjamin, W. (1998): Gesammelte Briefe, Bd. IV, Frankfurt (Suhrkamp), S. 97. Vgl. dazu auch ebd., S. 187. 3 Benjamin (1974): Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Gesammelte Schriften, Frankfurt (Suhrkamp), Bd. I.2, S. 509–690. 4 Vgl. dazu das 1. Kapitel von „Paris, die Hauptstadt des XI. Jahrhunderts“ („Fourier oder die Passagen“) in: Benjamin (1982): Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften, Bd. V.1; Frankfurt (Suhrkamp), S. 45 ff. Ferner Benjamins FourierExzerpte in: Benjamin (1982), Bd. V.2: „Aufzeichnungen und Materialien (Fortsetzung)“, Abschnitt W. Schließlich die XI. der Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ in: Benjamin [1940]: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt (Suhrkamp) 1974, S. 699. [Zu Benjamins Fourier-Lektüren siehe das Quellenverzeichnis in: Benjamin (1982), S. 1294, Nr. 307–314.] 5 Vgl. dazu Benjamins Exzerpte aus Schriften von Blanqui [L’Éternité par les astres (1872); Critique sociale (1885)] und aus der Blanqui-Biographie von Gustave Geffroy (L’Enfermé, 1897). Benjamin (1982), a. a. O. (Anm. 4), in den Abschnitten D, K und W. 6 Benjamin [1940]: „Über den Begriff der Geschichte.“ A. a. O. (Anm. 4), S. 691–704; Zitat auf S. 700. (These XII). – „Man kann sich von dem revolutionären Prestige, das Blanqui damals besessen und bis zu seinem Tode bewahrt hat, schwerlich einen zu hohen Begriff machen. Vor Lenin gab es keinen, der im Proletariat deutlichere Züge gehabt hätte.“ Benjamin (1974), a. a. O. (Anm. 3), S. 528. Vgl. dazu auch den Bericht über eine konspirative „Truppenschau“ des „geheimnisvollen Generals“ Blanqui (im Januar 1870). Benjamin fand diesen Report in der Blanqui-Biographie von Gustave Geoffroy (1897). A. a. O., S. 603 f., und Benjamin (1982), a. a. O. (Anm. 4), S. 761. 7 Zu Benjamins Marx-Studien vgl. Benjamin (1982): Das Passagen-Werk. (Hg. von R. Tiedemann.) Gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. V.2: Aufzeichnungen und Materialien (Fortsetzung), Abschnitt X [Marx], S. 800–823. Ferner das Verzeichnis der von ihm verwendeten Marx-Schriften, a. a. O., S. 1308 f. (Nr. 578–592). 8 Vgl. dazu unter anderem: Brecht, Bertolt ([1940/41] 1956): Flüchtlingsgespräche. Erweiterte Ausgabe. Berlin (Suhrkamp) 2000. [Auch in: Brecht (1967): Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. VI, Frankfurt (Suhrkamp), S. 1381–1515.] 9 Labriola, A. (1895/96): Über den historischen Materialismus. Frankfurt (Suhrkamp) 1994. 10 Hannah Arendt schreibt: „Benjamin dürfte wohl der seltsamste Marxist gewesen sein, den diese an Seltsamkeiten nicht arme Bewegung hervorgebracht hat.“ Arendt (1971): „Walter Benjamin.“ In: Arendt (2012): Menschen in finsteren Zeiten. München, Zürich (Piper) 2014, S. 195–258; Zitat auf S. 212. 11 Unter anderem (in französischer Übersetzung) Trotzki, L. (1933): Der Klassencharakter des Sowjetstaats. Die IV. Internationale und die UdSSR. (Saint-Palais, 1. 10. 1933.) In: Trotzki (1988): Schriften, Bd. 1.1; Hamburg (Rasch & Röhring), S. 456–499. 12 Istrati (1930): Drei Bücher über Sowjetrussland: I. Auf falscher Bahn. Sechzehn Monate in Russland. II. So geht es nicht! Die Sowjets von heute. III. Russland nackt. Zahlen beweisen. München. – Autor des II. Bandes war Victor Serge, Autor des III. Boris Souvarine. 13 Serge, V. (1939): Schwarze Wasser. [S’il est minuit dans le siècle.] Zürich (Rotpunktverlag) 2014. Benjamin kommt auf das Buch in einem (für Max Horkheimer und das „Institut für Sozialforschung“ im Frühjahr 1940 geschriebenen) Bericht über aktuelle französische Literatur zu sprechen. [Brief an Max Horkheimer vom 23. 3. 1940; Benjamin (2000): Gesammelte Briefe, Bd. VI; Frankfurt (Suhrkamp), S.420.] Serge war als Angehöriger der russischen Linken Opposition in den Jahren 1932–1936 nach Orenburg (im Ural) deportiert worden, kam dann frei und schrieb (1936–38) seinen dokumentarischen Roman, der ausgezeichnet über die Situation der illegalisierten Trotzkisten in den stalinistischen Lagern (in den Jahren 1932–34) informiert. Einer der verbannten Revolutionäre („Jolkin“) sagt in Serges Roman über Hitler und Stalin: „Diese Totengräber sind geschaffen, einander zu verstehen. Der eine trägt in Deutschland eine fehlgeschlagene Revolution zu Grabe; der andere trägt in Russland eine siegreiche Revolution zu Grabe, die aus einem zu schwachen und vom Rest der Welt sich selber überlassenen Proletariat hervorgegangen war; beide führen diejenigen, denen sie dienen – in Deutschland die Bourgeoisie, bei uns die Bürokratie – in die Katastrophe…“ Serge (1939), S. 90. 14 Thieme hatte 1924 über Kant und Schopenhauer promoviert, war seit 1926 Mitglied im Bund Religiöser Sozialisten, wurde 1933 von den Nazis vorübergehend in „Schutzhaft“ genommen, emigrierte 1935 in die Schweiz und rief (zusammen mit Walter Gurian) 1937 Kirche und Christen zur Stellungnahme gegenüber Antisemitismus und Judenverfolgung auf. 15 Benjamin, W. [1940]: Brief aus Paris an Karl Thieme vom 10. 2. 1940. In: Benjamin (2000): Gesammelte Briefe, Bd. VI, Frankfurt (Suhrkamp), S. 394 ff. 16 Benjamin, W. [1940]: „Über den Begriff der Geschichte.“ Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt (Suhrkamp) 1974, S. 691–704. 17 Benjamin (2010): Über den Begriff der Geschichte. (Hg. von G. Raulet.) Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Berlin (Suhrkamp), S. 66 (These XIV der französischen Fassung). 18 Benjamin [1940], a. a. O. (Anm. 16), S. 697 (These IX). 19 Luxemburg, R. ([1915] 1919): Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik. In: Luxemburg (1975): Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin (Dietz), S. 521. 20 Benjamin [1940], a. a. O. (Anm. 16), S. 698 (These X). 21 Benjamin (2010), a. a. O. (Anm. 17), S. 152 (These XVII a). 22 Benjamin (2010), a. a. O. Konvolut IV, S. 153. [Vgl. meine Rezension dieses Bandes der Gesamtausgabe in Inprekorr Nr. 468/469, November/Dezember 2010. H. D.] 23 Trotzki, Leo D. (1939): „Die UdSSR im Krieg.“ In: Trotzki (1988): Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur. Schriften, Bd. 1.2. Hamburg (Rasch und Röhring), S. 1272–1308. 24 A. a. O., S. 1281. 25 Ebd. Inprekorr 6/2015 55 D I E I N T E R N AT I O N A L E LINKSREFORMISMUS IN DER DEFENSIVE Syrizas Niederlage ist eine Niederlage für den Linksreformismus in Europa. Dies wirft ein Licht auf die Unterschiede zwischen revolutionärer und reformistischer Strategie. Mikael Hertoft A nfang Juli wurde die griechische Regierung gezwungen, genau das zu tun, was sie nicht tun wollte: Sie akzeptierte, unter Aufsicht der EU gestellt zu werden und sie akzeptierte eine neoliberale Politik von Privatisierungen, Anhebung des Renteneintrittsalters und „Arbeitsmarktreformen“, d. h. Fesseln für die Gewerkschaften und Schwächung der Tarifverträge. All dies für ein verlängertes Schuldenabkommen: ein drittes Memorandum. Das ist eine massive Niederlage in vielerlei Hinsicht. Es besteht kein Zweifel, dass dies eine Niederlage zunächst einmal für wirtschaftliche Vernunft und Demokratie ist. Eine Niederlage für die wirtschaftliche Vernunft, weil die wirtschaftlichen Zerstörungen, die EU und IWF in Griechenland anrichten, weder zu wirtschaftlicher Erholung noch zur Abzahlung der Schulden führen werden. Sie werden stattdessen zu einem Bereicherungsfest für die internationalen Finanzorganisationen führen, die Griechenlands Werte kaufen und zu Armut und Fremdbestimmung der Griechen in ihrem eigenen Land führen. Daher ist es eine Niederlage für die Vernunft, aber ein Sieg für das Finanzkapital. Darüber hinaus sehen es auch viele als schwere Nie- 56 Inprekorr 6/2015 derlage der Demokratie, wenn eine gewählte Regierung, obendrein mit einer eindeutigen, legitimen Volksabstimmung im Rücken, gezwungen wird, eine Politik gegen den Willen des eigenen Volk und ihren eigenen zu verfolgen. Der gesamte Prozess ist auch eine Niederlage für die politische Maschine der EU, die Krisen eher verstärkt als sie zu lösen, und sich als völlig unfähig gezeigt hat, die Wirtschaftskrise zu bewältigen. Auf diese Weise ist es auch eine Niederlage für die Kräfte, die glauben, dass die EU reformiert werden und zu einer Maschine für fortschrittliche Veränderung, soziale Gleichstellung und grüne Umstellung werden soll. Das sind ja genau die Ansichten, die in der SF1 seit vielen Jahren dominiert haben und auch ein markanter Teil des politischen Programms von „Alternativet“2 sind. In den EU-Ländern gibt es auch viele andere auf der Linken mit dieser Haltung, darunter die Mehrheit in vielen der Parteien, die die „Europäische Linke“ bilden – dem Partner der Enhedslisten in Europa. Man muss sagen, dass es vorläufig vollständig gescheitert ist, die EU zu einer vernünftigen Politik gegenüber Griechenland zu drängen. Es ist schwer, die EU als Leuchtfeuer der Ver- D I E I N T E R N AT I O N A L E nunft in Europa zu sehen – oder der Welt, wenn mensch so will. Niederlage für Syriza Zunächst einmal ist das Abkommen eine Niederlage für Syriza und die politische Linie, die erprobt wurde. Die Situation heute ist: Die Privatisierungen gehen weiter und beschleunigen sich: Privatisierung der wichtigsten Häfen, Flughäfen und des Elektrizitätswesens – die zentrale Infrastruktur einer Gesellschaft. Wenn das durchgeführt ist, dann hat sich Griechenland in eine Art Kolonie verwandelt, wo ausländische Interessen über die Infrastruktur und die Produktionseinheiten bestimmen und die Bevölkerung zu einer Art Leibeigenen in ihrem eigenen Land wird, die für die Nutzung von Straßen, Elektrizität, Wasser und Nahrung den ausländischen Eigentümern bezahlen muss. Allmählich verändert sich der griechische Staat von einem Wohlfahrtsstaat zu einer Maschine, die Geld aus der Bevölkerung saugt, um Schulden zu bezahlen. Gewerkschaftsrechte sollen durch „Reformen“ geschwächt werden. Es ist eine wichtige Aufgabe für die Linke und vor allem natürlich für alle, die in den Gewerkschaften aktiv sind, zu beobachten, was geschieht, und zu rufen und zu protestieren, wenn die Arbeitsbedingungen verschlechtert werden – auch in Griechenland. Im Wettlauf um die niedrigsten Löhne gibt es unter den Lohnabhängigen nur Verlierer, keine Gewinner. Das Renteneintrittsalter wird in einem Land heraufgesetzt, in dem viele Familien seit etlichen Jahren nur von einer Rente lebten, weil die Jugend ihre Einkommensgrundlage verloren hat. All dies ist genau das, was zu verhindern Syrizas Wahlprogramm versprochen hatte. Syriza hat – noch – die Regierungsmacht, ist aber gezwungen, eine neoliberale Politik durchzuführen. Niederlage wegen des Fehlens eines Plans B Syriza hat immer unter der Voraussetzung verhandelt, dass man einen Kompromiss mit der EU finden will. Ich habe Tsipras häufig darüber reden gehört und hatte auch viele Male Gelegenheit, dies mit Vertretern von Syriza zu diskutieren. Ich und andere Däninnen und Dänen wie Kenneth Haar fragten immer wieder: Was ist der Plan B – was macht ihr, wenn die EU und der IWF sich weigern, einen akzeptablen Kompromiss mit euch einzugehen? Wir bekamen immer gesagt, dass es keinen Plan B gibt – die EU würde einem Abkommen zustimmen, weil es das einzig Vernünftige wäre, das einzige, was die Wirtschaft wieder aufrichten könnte. Wir blieben dabei zu sagen, dass es mehr als möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich sei, dass die EU sich nicht den Forderungen der neuen griechischen Regierung beugen werde – und man sich daher auf einen Bruch mit der EU vorbereiten müsse. Es gab auch viele in der Syriza-Linken, die nach einer Alternative suchten. Bei der Abstimmung über die von der EU aufgezwungenen Gesetze gab es zum Beispiel 32 Syriza-Mitglieder, die dagegen stimmten. Es gibt kaum Zweifel, dass es auch eine große Zahl von Syriza-Mitgliedern gibt, die unzufrieden damit sind, wie Syriza sich verbiegt. Nach den Verhandlungen und nach dem Abschluss des Abkommens mit der EU am 12. Juli hat Varoufakis – der von Tsipras gefeuerte Finanzminister – enthüllt, dass er einen Plan B vorbereitet hatte: den Ausstieg aus dem Euro. Aber ein Plan, Nein zur EU zu sagen, kann nicht aus einer Geheimschublade gezogen werden. Er braucht eine öffentliche und breite Vorbereitung des griechischen Volkes auf eine ganz andere Art und Weise. Was könnte der Plan B sein? Die Syriza-Linke hat versucht, diese Diskussion zu beginnen. Ich will hier nur zwei zentrale Personen nennen: Costas Lapavitsas, Syriza-Parlamentsabgeordneter und Ökonom und Stathis Kouvelakis vom Syriza-Zentralkomitee. Kurz gesagt haben sie eine politische Linie mit einem Stopp der Schuldenzahlungen, breiten Mobilisierungen zusammen mit Kapitalverkehrskontrollen, Renationalisierung der Banken und einem Festhalten am Sozialprogramm vorgeschlagen. Das könnte dazu führen, dass Griechenland aus dem Euro gezwungen würde und zeitweise oder endgültig eine andere Währung einführen müsste. Ja, aber die Alternative wäre weniger schlimm, als zum Leibeigenen innerhalb des Euro-Rahmens gemacht zu werden. Griechenland hat Möglichkeiten zur Nahrungssicherheit auf Basis der eigenen Ressourcen des Landes – es gibt auch eine gewisse Energieproduktion und weit größere Potenziale für Solar- und Windenergie als in den meisten Ländern. Griechenland liegt zentral in der Welt und mit einer Drachme, die vielleicht ein wenig zu billig wäre, könnte Griechenland ein Super-Touristenziel werden und die Touristen würden ja Euro mitbringen. In der MobilisieInprekorr 6/2015 57 D I E I N T E R N AT I O N A L E rung der Bevölkerung könnte man noch weiter gehen und auf die Erfahrungen anderer Revolutionen und Volksaufstände verweisen: Ein wichtiges Instrument sind hier Selbsthilfe-Komitees zur gegenseitige Hilfe beim Überleben: Essen, Kleidung, Schule – in Verbindung mit einem Programm zur Wiederaufnahme der Arbeit: Übernahme leerer Fabrikhallen, Brachflächen, etc. Es versteht sich, dass diese Alternative nicht vollständig entwickelt und schon gar nicht erprobt ist. Aber darüber nachzudenken ist wichtig, um darauf hinzuweisen, dass es eine Alternative dazu gibt, sich der EU zu beugen. Das ist eine interessante Diskussion, und man konnte sie in englischer Sprache in International Viewpoint, der internationalen Online-Zeitschrift der 4. Internationale, verfolgen. Und jetzt? Syriza hat heute effektiv die Rolle der PASOK übernommen – und riskiert, das gleiche Schicksal wie diese Partei zu erleiden, nämlich den Verlust der Unterstützung in der Bevölkerung. In Griechenland, haben wir jetzt eine Regierung, die linksorientiert, aber unter Aufsicht gestellt ist und die Politik ausführen muss, die die EU vorschreibt und die in öffentlich zugänglichen Dokumenten niedergeschrieben ist. Sie muss wie frühere Regierungen hinter dem Tränengas der Polizei Schutz vor der wütenden Bevölkerung suchen. Kann die Linke jetzt in die Offensive kommen? Syrizas Linke protestiert und stimmte sogar dagegen und rettete damit die Ehre. Aber es ist schwer zu erkennen, was sie ansonsten gerettet hat. Kann von dort die Kraft zur Entwicklung einer starken und inspirierenden linken Kraft kommen? Wir werden sehen. Links von Syriza gibt es auch eine ganze Reihe von Parteien. Da ist die KKE, über die eine Analyse im Arbejderen3 veröffentlicht wurde. Der KKE muss man zugutehalten, dass sie hartnäckig am Nein zum Neoliberalismus festhält. Sie hat auch Recht mit ihrer Kritik an Syriza als sozialdemokratisierter Partei. Aber wenn es um vorwärts gerichtete Politik geht, ist die Partei meiner Meinung nach nicht sehr vernünftig. Sie hat praktisch nicht versucht, Druck auf Syriza auszuüben, sondern sich für einen ultralinken Kurs mit verschränkten Armen entschieden. Die Gewerkschaftsbewegung in Griechenland ist auch stark. Darüber hinaus gibt es große Gruppen von Anarchisten, Autonomen, Volksbewegungen, Organisationen der Einwandererinnen und Einwanderer und Flüchtlings58 Inprekorr 6/2015 hilfsorganisationen. Wir können weitere Kämpfe gegen die EU-diktierte Politik erwarten. Aber für die verschiedenen Strömungen der Linken wird es für eine lange Zeit schwierig bleiben, in die Offensive zu kommen, weil wir eine Regierung haben, die formell links ist, aber tatsächlich ein aufgezwungenes neoliberales Programm verwaltet. Die Initiative kann leicht auf andere Kräfte übergehen wie die Goldene Morgenröte am äußersten rechten Rand, und das verheißt nichts Gutes. Reform oder Revolution? Es wurde viel Unsinn über die Frage von Reform und Revolution gesagt. Aber die Erfahrungen von Griechenland hier im Jahr 2015 werfen ein helles Licht auf dieses Problem. Bei der Frage von Reform und Revolution geht es nicht um die Geschwindigkeit der Entwicklung, es geht nicht um Geduld oder Ungeduld, und es geht nicht um Gewalt. Die Revolutionäre arbeiten für einen Bruch mit dem bestehenden System und einen Bruch mit der herrschenden Klasse. Sozialdemokratische Bewegungen auf der ganzen Welt und oft auch kommunistische und andere sind wieder und wieder vor Schritten zurückgescheut, die zum Bruch mit dem Bürgertum führen könnten oder ein Angriff auf die Interessen der Bourgeoisie wären. Revolutionäre Strömungen hingegen verstehen, dass in einer Gesellschaft in der Krise ein Bruch mit der herrschenden Klasse und Ordnung der einzige Weg sein kann, um die Gesellschaft nach vorne und aus der Krise zu bringen. Ein solcher Bruch hat nur eine Chance, erfolgreich zu sein, wenn er von einem starken Wunsch der Menschen nach Veränderung und Bewegung getragen wird, um aus der Krise zu kommen: Lebensmittelausschüsse, Selbsthilfekomitees – solche Strukturen spielen eine Rolle in fast allen Revolutionen. Bei Reform und Revolution geht es auch nicht darum, ob man Kompromisse eingeht. Sowohl Revolutionäre als auch Reformisten gehen Kompromisse ein, ständig. Es geht darum, sich zur richtigen Zeit und am richtigen Ort zu entscheiden, zu kämpfen und nicht aufzugeben. Ein wichtiger Unterschied zwischen revolutionärer Politik und reformistischer Politik ist hingegen, was man als die Hauptarena betrachtet. Die reformistische Politik sucht nach Kompromissen in Verhandlungen, und ihre wichtigste Arena ist daher der Verhandlungssaal, was oft mit großer Mystik und Geheimniskrämerei verbunden ist. Wenn man in Verhandlungen geht, will man dem Geg- D I E I N T E R N AT I O N A L E ner seine Karten nicht zeigen, und deshalb kann man den Leuten nicht sagen, was man will. Die revolutionäre Politik hingegen betrachtet die ganze Gesellschaft als Arena und sieht die breite Bevölkerung als die aktive Kraft. Die politische Partei muss sich daher mit einer klaren Politik an die Menschen wenden. Man muss sich darauf verlassen können, wenn sie sagt, dass sie die sozialen und wirtschaftlichen Interessen der breiten Bevölkerung verteidigen will, und man muss großen Wert auf Vorschläge legen, die geeignet sind, die Menschen zu mobilisieren und zu organisieren. Geheimverhandlungen nützen den herrschenden Finanzkapitalisten und Bürokraten und schaden den Arbeiterinnen und Arbeitern. Wir müssen feststellen, dass sich Syriza, seit sie an die Regierung kam, in einer Falle von Verhandlungen auf glattem Boden fangen ließ. Die seltsame Volksabstimmung Das seltsamste in den ganzen griechischen Ereignissen war natürlich die Volksabstimmung, um der griechischen Regierung das Mandat zu geben, Nein zum EU-Diktat zu sagen. Tsipras hat hier wirklich um das Mandat gebeten, Nein zur EU zu sagen und Ihr den Finger zu zeigen. Er traf auf Begeisterung, Optimismus und Unterstützung im ganzen Volk. Zum ersten Mal ging Syriza einen wichtigen Schritt zur Mobilisierung der Bevölkerung. Einige von uns waren sehr nervös – können die das schaffen? Ist es nicht gefährlich, ein Referendum so kurzfristig anzusetzen? Was, wenn sie ES verlieren? Aber das taten sie nicht. Die Syriza-Regierung sicherte sich mehr als 62% Unterstützung im Referendum – und ja, damit hatten sie ja im Prinzip auch ein Mandat für eine radikalere Politik. Aber sie sprangen wie ein Tiger und landeten als Bettvorleger. Weniger als 14 Tage später hatte sich Syriza der EU gebeugt. Warum? Was sollte diese Pantomime? Man könnte es als einen letzten Versuch sehen, Druck auf die EU auszuüben. Tsipras hatte die Bügelfalten glatt gezogen und war zu Mutti Merkel mit einem schlanken Aktenkoffer gegangen, in dem sich die Abstimmungsergebnisse in einem kleinen Ordner und in einem anderen ein Abkommen auf Griechisch, Deutsch und Englisch befand, von dem Tsipras wollte, dass Frau Merkel es unterzeichnen solle: Eine Lösung der Krise, alle sind glücklich. Hier ist ein weiterer Unterschied zwischen Revolutionären und Reformisten. Sowohl Revolutionäre als auch Reformisten versuchen, Aktivitäten in der Bevölkerung in Gang zu setzen – das, was wir in den alten Tagen in der Linken mit dem schrecklichen Wort „Mobilisierungen“ bezeichneten. Aber für reformistische Politikerinnen und Politiker ist das bloß ein Hilfsmittel zur Erreichung einer stärkeren Verhandlungsposition. Für Revolutionäre ist die Aktivierung der Bevölkerung der Kern der politischen Linie. Was bedeutet das für die Enhedslisten und die dänische Linke? Für die europäische Linke muss dies zu umfassenden Diskussionen und Selbstreflexionen führen. Der nächste Ort, wo der Kampf stattfinden wird, kann Spanien mit Podemos sein, und es ist notwendig, von Syriza zu lernen. Für Dänemark hoffe ich, dass die Enhedslisten etwas daraus lernen wird. Es bestätigt die Anti-EU-Linie, die die Partei seit ihrer Gründung prägt. Alle können daraus lernen, dass man nie in Verhandlungen gehen sollte, ohne sich überlegt zu haben, was man tun will, wenn die Gegenseite zu den eigenen Forderungen Nein sagt. Die Bilanz muss notwendigerweise auch recht kritisch gegenüber Syrizas Linie während der letzten sechs Monate sein. Wenn wir uns Hoffnungen machen, uns an die Spitze der Verteidigung der sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Menschen und letztlich der Veränderung der Gesellschaft zu stellen, müssen wir eine Partei auf bauen, die auf breiter Basis Aktivitäten der Menschen initiieren und fördern kann. 20. August 2015 Mikael Hertoft ist Mitglied des Vorstands und des Geschäftsführenden Ausschusses der Enhedslisten. Übersetzung: Björn Martens 1 SF, Socialistisk Folkeparti (Sozialistische Volkspartei), ist eine zwischen den Grünen und (linker) Sozialdemokratie angesiedelte Partei. Anm. d. Red. 2 Parteigründer Elbæk stellte „Die Alternative“ so vor: Sie braucht kein Programm, sondern stützt sich auf sechs Werte: „Mut, Großzügigkeit Transparenz, Bescheidenheit, Humor, Einfühlungsvermögen“. Dazu gibt es ein Manifest für einen grünen Wandel in Dänemark und gegen das „neoliberale Denken“. Anm. d. Red. 3 Linke, vormals maoistische Tageszeitung in Dänemark Inprekorr 6/2015 59 D I E I N T E R N AT I O N A L E Erklärung zu den Wahlen am 30.9. Politisches Büro der OKDE-Spartakos Kamen in den Wahlergebnissen vom Januar 2015 noch die hoffnungsvollen Erwartungen – und auch Illusionen – der Arbeiterklasse zum Ausdruck, auf parlamentarischem Weg mit einer „linken Regierung“ die Memorandums- und Austeritätspolitik beenden zu können, so hat das mehr oder minder gleiche Wahlergebnis vom 20. September eine völlig andere Bedeutung: Es verdeutlicht die gegenwärtigen Grenzen der Arbeiterbewegung. Der mit nur unwesentlich weniger Stimmen errungene Sieg von SYRIZA, nur wenige Wochen nach Hinnahme des dritten Memorandums, zeigt, dass ein Großteil der ArbeiterInnen annimmt, dass es momentan keine Alternative gab. In den Arbeitervierteln hat SYRIZA wieder einmal sehr viele Stimmen erzielt. Dies lag nicht an den bescheidenen Versprechungen und den lächerlichen Ausflüchten von SYRIZA, sondern an der Verhasstheit der Rechten, der PASOK und der alten Memorandumsregierungen unter den Wählern. So sehr sich diese Abscheu nachvollziehen lässt, so wenig macht sie das Wahlergebnis besser. Zählt man alle Stimmen zusammen, ergibt sich ein leichtes Übergewicht zugunsten der Linken, was aber wenig bedeutet angesichts dessen, dass eben diese Linke ihr Regierungsmandat dafür hernimmt, gemeinsam mit der rechts-nationalistischen ANEL ein Sparprogramm und Reformen zugunsten des griechischen und internationalen Kapitals durchzuführen. Die hohe Enthaltung spiegelt eher Desorientierung und Enttäuschung wider als eine spezifische politische Botschaft. Zugleich jedoch zeigt dies, dass das Memorandum nicht automatisch als unabwendbares Übel hingenommen wird. Die geringen Erwartungen an den Ausgang der Wahlen sind nicht automatisch ein schlechtes Zeichen, auch wenn bewusste Enthaltung eher unpolitisch wirkt. Das eigentliche Problem, das die Wahlen aufgeworfen haben, ist, dass sich eine ganze politische Strömung, die jahrelang hart gekämpft, Regierungen zu Fall gebracht und die Kräfteverhältnisse umgedreht hat, sich nunmehr hinter Tsipras und SYRIZA gestellt und sich damit zur Passivität verurteilt und in die konservative Ecke gestellt hat. Die Annahme, dass der Verrat automatisch das Ende von SYRIZA bedeuten würde, hat sich als naiv erwiesen. Dazu ist der Einfluss der Führung politischer Bewegungen auf das Bewusstsein ihrer Basis zu groß. Die Linke außerhalb von SYRIZA trägt auch eine gewisse Verantwortung für ihre Unzulänglichkeiten und Fehler. Die Hauptverantwortung 60 Inprekorr 6/2015 jedoch liegt bei der Opposition innerhalb von SYRIZA und bei den Strömungen, die ihr kritische und taktische Unterstützung gewährt und so dazu beigetragen haben, dass eine ganze politische Strömung Tsipras ausgeliefert ist. ANTARSYA gehört zu den wenigen, die bei den Wahlen Stimmen hinzugewonnen haben. Das Ergebnis ist achtbar, wenn es auch der Präsenz in den Klassenkämpfen und den politischen Erfordernissen noch nicht gerecht wird. Unsere Wahlkampagne und das Bündnis mit der EEK haben sich positiv ausgewirkt. Trotz einiger Widersprüche haben wir uns mehr als im Januar als eindeutig antikapitalistische Organisation profilieren können. Die Entscheidung von ANTARSYA, sich nicht hinter den Fahnen der „Volkseinheit“ zu versammeln, war richtig, wie deren Wahlkampagne nochmals bestätigt hat. Überholte Diskussionen wieder aufleben zu lassen, wenn es um programmatische Allianz und Wahlbündnis geht, kann uns nicht weiterbringen und allenfalls Druck auf ANTARSYA ausüben, sich nach rechts zu bewegen. Die sozialen und politischen Kräfteverhältnisse können jedoch nur geändert werden, wenn eine breite Aktionseinheit auf der Grundlage konkreter Zielsetzungen gegen die neuen Sparmaßnahmen entsteht, die sich auf Komitees und Koordinationen aller bestehenden Kämpfe stützt und in der die antikapitalistische Linke und die außerparlamentarische Aktivität in den Straßen und Betrieben einen zentralen Stellenwert haben. Anders als das Wahlergebnis glauben machen mag, kann sich die Lage schnell ändern, da das System nach wie vor instabil ist. Wir dürfen Tsipras nicht die politische Führung der Unzufriedenen überlassen, was nur den Rechten oder PASOK oder gar den Nazis zugute kommen kann. Die Zeit ist reif für einen wirklichen Aufstand. OKDE-Spartakos ist die griechische Sektion der IV. Internationale. Aus http://www.okde.org/index.php/en/ announcement/83-uncategoried1/291-announcement-ofthe-political-bureau-of-okde-spartakos-about-the-elections-in-20th-of-september Übersetzung aus dem Englischen MiWe
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