inprekorr
Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF
November/Dezember
INTER NATIONA LE PR ESSEKOR R ESPONDENZ
COP 21 – GIPFEL
DER VERLOGENHEIT
6/2015
Ausgabe 6/2015
International
Europa
WELTWEITE
FLÜCHTLINGSKRISE UND KRISE
DER EU
DIE
EUROPÄISCHE
(DES-)INTEGRATION
Ökologie
Ökosozialismus
Ökonomie
COP 21 – GIPFEL
DER VERLOGENHEIT
DIE DROHENDE
ÖKOLOGISCHE
KATASTROPHE
WELCHES PRODUKTIVISTISCHE
MODELL?
Die dramatische
Zunahme der Migration hat viele Gründe:
endlose Kriege, Klimakrise, Auflösung des sozialen Zusammenhalts,
Zerstörung der Existenzgrundlagen etc.
Die wirtschaftliche Entwicklung
innerhalb der Europäische Union geht immer
weiter auseinander, mit
verheerenden Folgen
für die Menschen im
Süden.
12
Der COP 21-Gipfel verspricht, ein
Gipfel der Lüge, der Geschäfte und des Klimaverbrechens zu werden. Das System treibt in
Richtung sozialer und
ökologischer Zerstörung.
17
Ökosozialismus als
emanzipatorisches
Gesellschaftsmodell und
rettende Chance. Denn
die Katastrophe liegt
weder in der Natur der
Sache noch in der des
Menschen begründet.
Angesichts der
Umweltprobleme ist ein nicht produktivistisches Modell nicht
vorstellbar, ohne die
Grundlagen des kapitalistischen Funktionierens
infrage zu stellen.
von Pierre Rousset
von Yann Cézard
Von Daniel Tanuro
Von Daniel Tanuro
Von Michel Husson
4
7
26
I N H A LT
Subsahara-Afrika
IMPERIALISTISCHE FREMDHERRSCHAFT
IN NEUER
GESTALT
die internationale
Griechenland
BENJAMIN UND
TROTZKI: 1940
LINKSREFORMISMUS IN DER
DEFENSIVE
ERKLÄRUNG ZU
DEN WAHLEN AM
30.9.
In Afrika verleitet das gegenwärtige Wirtschaftswachstum
manche zur Annahme,
dass Afrikas „große Zeit“
bevorstünde oder – so
Nelson Mandela 2005 –
gar schon gekommen sei.
Mehr als das gemeinsame Todesjahr des russischen Revolutionärs und des
deutschen Philosophen
hat den Verfasser zu dieser überraschenden Synopse veranlasst.
56
Syrizas Niederlage ist eine Niederlage für den Linksreformismus in Europa. Ein
Blick auf die Unterschiede zwischen revolutionärer und reformistischer Strategie.
Der Wahlausgang
vom 20. September hat eine völlig andere Bedeutung als der
vom Januar. Er verdeutlicht die gegenwärtigen
Grenzen der Arbeiterbewegung
Von Jean Nanga
Von Helmut Dahmer
Von Mikael Hertoft
Von OKDE-Spartakos
34
die internationale
52
60
I N T E R N AT I O N A L
WELTWEITE FLÜCHTLINGSKRISE UND KRISE DER EU
Die dramatische Zunahme der Migration
hat vielfältige Gründe: die endlosen Kriege,
die Klimakrise, die Auflösung des sozialen
Zusammenhalts.
Pierre Rousset
„
Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg haben notgeborene
Bevölkerungsverschiebungen solche Ausmaße erreicht
und noch nie waren sie so mörderisch und gefährlich
durch viele Unwägbarkeiten für so viele Kinder, Frauen
und Männer, die unmenschlichen Lebensbedingungen
und unerträglichen Leiden ausgesetzt waren.
Diese echte Tragödie offenbart die blanke Wahrheit der
neuen internationalen Ordnung, wie sie die kapitalistische
Globalisierung installiert hat. Und wie es die wachsende
Vielfalt und zunehmend weltweite Ausdehnung der
Migrationsströme bezeugen.
Die Aufmerksamkeit richtet sich heute auf die Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten, doch gibt es reichlich
weitere militärische Konflikte, vor allem in Afrika, die die
Bevölkerung in die Flucht treiben. Es ist noch nicht lange
her, da standen die Millionen von Opfern des Klimawandels in Asien im Focus der Aufmerksamkeit. Wie viele
sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge auch immer es derzeit
gibt – sie unterliegen Zwängen (sind somit politisch). Denn
sie werden aus ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen
gerissen durch die Angriffe des Neoliberalismus und durch
die Gewaltherrschaft von Regimes, die von den westlichen
Mächten gestützt werden.
Migration gab es auch vorher. Noch in der jüngsten
Vergangenheit kehrten die Menschen aus Perspektivlosigkeit der Heimat den Rücken – wie zum Beispiel die philippinische Lehrerin, die nun in Italien illegal als Haushaltshilfe arbeitet. Derzeit erleben wir, dass es bei der Flucht
ums blanke Überleben geht. In Europa ist es noch nicht
soweit, jedoch – Zeichen der Zeit – erleben wir auch hier
wieder regelrechte Emigrationsströme aus Ländern wie
Spanien und Griechenland, denn der Jugend dort ist die
4 Inprekorr 6/2015
Zukunft verbaut. So etwas hat es seit Jahrzehnten nicht
gegeben.
Grenzmauern werden errichtet – über Hunderte,
Tausende Kilometer – nicht allein in Europa, sondern auch
zum Beispiel in Israel unter Missachtung der palästinensischen Bevölkerung und ihrer Landrechte. Desgleichen in
den USA an der Grenze zu Mexiko – einem Land, wo die
Staatsmacht zersetzt und mit dem Drogenhandel verbandelt ist und der enorme Anstieg von Gewalttaten bis hin
zum systematischen Frauenmord zur Flucht der Bevölkerungen beitragen.
Die dramatische Zunahme der Migration hat somit
vielfältige Gründe: die endlosen Kriege, die Klimakrise,
die Auflösung des sozialen Zusammenhalts, der Zerfall
ganzer Staaten, die Entfesselung grenzenloser Gewalt und
auch die Zerstörung von Böden, die Überfischung der
Meere, das Landgrabbing, die Ausgrenzung der Armen in
den Städten, die Enteignung der Völker zugunsten der
transnationalen Konzerne …
All diese einzelnen Gründe haben eine gemeinsame
Ursache: die mit der kapitalistischen Globalisierung
durchgesetzte Herrschaftsform, die zu völlig neuen
Verhältnissen geführt hat – geopolitische Instabilität als
Dauerzustand und – als Erbe früherer Niederlagen – ein
erbitterter und einseitiger Klassenkampf von oben durch
den harten Kern der weltweit herrschenden Bourgeoisie.
Diese Konterrevolution ohne Revolution öffnet die
Schleusen für alle erdenklichen Formen von Barbarei. Ein
scharfer Wettstreit zwischen alten und neuen Imperialismen, zwischen subimperialistischen und anderen Regionalmächten wie dem Iran und Saudiarabien im Nahen
Osten. Krieg ohne Ende als Antwort auf die Instabilität
ohne Ende.
Die Völker zahlen einen schrecklichen Preis für diese
weltweite Unordnung. Umgekehrt offenbart die „Flüchtlingskrise“ das Scheitern der europäischen Integration.
Soeben hat die Eurogruppe (aus 19 von 28 Ländern der
Europäischen Union) Griechenland unter Vormundschaft
gestellt und dem Land ihr Gesetz unter anmaßender
Umgehung der zentralen EU-Institutionen – der EU-
I N T E R N AT I O N A L
Kommission und des EU-Rates – aufgezwungen. Und
gegenwärtig herrscht bezüglich der Aufnahme insbesondere von SyrerInnen das Prinzip „Jeder ist sich selbst der
Nächste“. Nicht nur in Osteuropa, sondern auch in
Frankreich an der Grenze zu Italien werden Grenzen
inmitten des Geltungsbereichs des Schengener Freizügigkeitsabkommens wieder geschlossen. In einigen Ländern,
vor allem in Deutschland, haben sich breite Bürgerrechtsbewegungen gebildet, um die Flüchtlinge solidarisch zu
empfangen. In anderen greifen Fremdenfeindlichkeit und
Rassismus um sich, zum Vorteil und Machtzuwachs der
extremen Rechten – ganz besonders in Ungarn.
Die EU besteht wohl, doch die europäische Integration
ist gescheitert. So undemokratisch, wie die EU errichtet
wurde, konnte sich unter ihren BürgerInnen keine
„gesamteuropäische Identität“ entwickeln. War anfangs
noch zu hoffen, dass eine gemeinschaftliche, solidarische
Identität von unten entstünde, im Rahmen des europäischen Sozialforums oder bei den Märschen gegen Erwerbslosigkeit und Prekarisierung, so sind diese Bewegungen heute festgefahren.
Es ging in erster Linie um zwei Vorhaben die dem
Auf bau der EU „von oben“, zugrunde lagen. Die Schaffung des gemeinsamen Marktes, dessen völliges Unvermögen in der Zeit der Krise offenbar wird. Und die Errichtung einer Großmacht Europa, die in der Lage ist,
weltpolitisch den USA und inzwischen auch China auf
Augenhöhe gegenüberzutreten. Doch die europäischen
Imperialismen sind zahnlos. Die Militärbudgets in
Frankreich und Großbritannien werden ständig gekürzt
und Deutschland, der wirtschaftliche Gigant, bleibt
militärisch ein Zwerg. Wie auf der internationalen Bühne
glänzen, wenn man vor den eigenen Türen, gegenüber
den Herausforderungen Putins, nicht das Geringste
durchsetzen kann?
Der Flüchtlingskrise an die Wurzel gehen muss heißen,
sich gegen die kapitalistische Globalisierung wenden. Der
europäischen Krise an die Wurzel gehen muss heißen, ein
offenes Europa auf anderer Grundlage begründen. Offen
für die Völker des Ostens wie des Südens, angefangen mit
dem Mittelmeerraum. Eine solche Blickrichtung ist
unverzichtbar, um langfristige Handlungsmöglichkeiten
zu eröffnen, ohne sich von den irreführenden Phrasen
unserer Regierenden übertölpeln zu lassen, etwa ihrem
heuchlerischen Anspruch, die Menschenrechte oder die
Menschlichkeit zu vertreten.
So viel ehrlichen Schwung die Solidaritätsbewegung in
Deutschland auch bezeugt, so zynisch ist die Sichtweise
der dortigen Kapitalisten. Für sie darf die Arbeitslosigkeit
gerne noch viel höher sein, sie freuen sich auf zahlreiche
gut ausgebildete Kräfte, die verzweifelt genug sind, um
jede Arbeit anzunehmen.
Eher noch als humanitär ist die europäische Antwort
oft genug militärisch. Statt Wege der legalen und sicheren
Einwanderung zu schaffen wird im Namen des Kampfes
gegen die Schleuser grünes Licht gegeben für bewaffnete
Operationen gegen die Flüchtlingsschiffe. Paris nutzt die
Flüchtlingstragödie aus, um die Ausdehnung ihrer
Luftangriffe über Irak und Syrien zu rechtfertigen. Immer
häufiger werden in den Mitgliedsländern der EU neben
der Polizei auch Soldaten eingesetzt, um die „Eindringlinge“ zu kontrollieren.
Hierin liegt eine bedrohliche Entwicklung, die wir
bereits aus Frankreich zur Genüge kennen, wo das Militär
gegen die terroristische Bedrohung patrouilliert. Nach
Ansicht vieler Fachleute ist diese Politik nicht nur sehr
kostspielig, sie ist wenig effizient und personalintensiv
– zumal die Armee bereits auf mehreren Kriegsschauplätzen in Nahost und in Afrika eingesetzt ist. Dass dies
aufrechterhalten wird, dient dem Zweck, die Grenze
zwischen dem Zustand des Krieges (als Zuständigkeit des
Militärs) und dem des Friedens (als solche der Polizei) zu
verwischen, und damit die Bevölkerung an eine Art
permanenten Ausnahmezustandes zu gewöhnen. Heute
wird die Flüchtlingskrise in der gleichen Richtung
instrumentalisiert. Zur besseren Gegenwehr ist eine
Erneuerung des antimilitaristischen Widerstandes ebenso
notwendig wie ein verstärkter Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und jede Form von Rassismus. Zumal heute
die extremen Rechten auf den Wogen nationaler Identität
segeln (so in Frankreich die FN) und staatsfaschistoide
Tendenzen sich vor den Pforten Europas (Türkei) und
selbst innerhalb der EU (Ungarn) breitmachen. Dabei ist es
genau die zerstörerische Gewalttätigkeit der kapitalistischen Globalisierung selbst, die den Boden für die Entstehung neuer Faschismen bereitet.
Die sogenannte Flüchtlingskrise ist somit eine tragische
Facette der globalen Krise, in die die kapitalistische
Globalisierung geführt hat. Eine sorgfältige Prüfung ihrer
Merkmale ist nun unumgänglich, wichtige Aktualisierungen sind das Gebot der Stunde. Bis jetzt konnten wir den
xenophoben Demagogen stets mit Zahlen belegen, dass die
Zuwanderungsquote (nach Frankreich) unverändert
geblieben war. Doch das trifft heute offensichtlich nicht
mehr zu. Wir stehen einer humanitären Krise ungeahnten
Ausmaßes gegenüber. Die altgewohnten Deutungsmuster
Inprekorr 6/2015 5
I N T E R N AT I O N A L
der radikalen Linken sind auf eine solche solidarische
Herausforderung nicht vorbereitet. Im Wesentlichen war
ihr Urteil, dass die humanitären Notfälle allein Angelegenheit der einzelnen Staaten (Rotes Kreuz und Roter
Halbmond) und spezialisierter Hilfsorganisationen seien.
Zum Glück gibt es wichtige Ausnahmen wie die bemerkenswerte Mobilisierung der Vereinigung MIHANDS
(MIndanao Humanitarian Action Network against
DisasterS) auf Mindanao, südliche Philippinen, an denen
wir uns so manches Beispiel nehmen können.
Wir müssen tatsächlich das Verhältnis zwischen
Mitmenschlichkeit und Politik neu überdenken.
Es ist schon lange her, da schickten wir medizinische
Hilfe an die Befreiungskämpfer, die über ihre eigenen
erprobten und bewährten Gesundheitsdienste verfügten.
Heute dagegen sind die Flüchtlingsscharen zum allergrößten Teil auch bar jeder Organisation, soweit nicht noch
lose Verbindungen zum Herkunftsort bestehen und mittels
Internet und Mobiltelefon Informationen ausgetauscht
werden können.
6 Inprekorr 6/2015
Der Umgang mit der humanitären Krise erweist sich
als Bewährungsprobe für den Internationalismus. Die
weitaus größte Zahl an Flüchtlingen befindet sich dabei
gar nicht in Europa, sondern in den Ländern des Südens,
wo es weder Infrastruktur noch vergleichbare Mittel gibt
wie in den Ländern des Nordens, wobei man nicht
betonen muss, dass die Regierenden des Nordens die
Hauptverantwortung für die gegenwärtige Lage tragen.
Die Binnenflüchtlinge befinden sich noch immer in ihren
Heimatländern, viele sind auch schlicht geblieben wie die
Opfer der Klimakatastrophe, die nirgends eine Zuflucht
gefunden haben. Es gibt keine offiziellen Zahlen, die von
dem wahren Ausmaß des Problems Rechenschaft ablegen.
Die Solidarität zwischen Nord und Süd muss sich organisieren und stärker werden – ganz besonders auf diesem
Gebiet.
Übersetzung: Verena Inahkamen
„
E U R O PA
DIE EUROPÄISCHE
(DES-)INTEGRATION
Wie es um die Europäische Union wirklich bestellt ist, das hat der Sommer
2015 zu Tage befördert: Über die „Aufnahmequoten“ für Flüchtlinge haben
sich die Regierungen erbärmlich gefetzt und Einigkeit erzielt haben sie nur auf
dem Rücken des griechischen Volkes, nämlich in der Verweigerung jedweder
wirtschaftlichen Solidarität.
Yann Cézard
„
An feierlichen Erklärungen über gemeinsamen Frieden und Wohlstand, den die europäische Integration der Zukunft bescheren würde, hat es den europäischen
Eliten nie gefehlt, weder zu Zeiten der Gründung der EWG
noch heute bei der Erweiterung der EU. Vor allem haben
sie ein Zusammenwachsen versprochen, in dem sich die
Lebensbedingungen der verschiedenen europäischen
Länder angleichen würden. Wie viele andere europäische
Blütenträume lässt auch dieses Versprechen auf sich warten.
Das dem französischen Premier als Berater unterstellte
Generalkommissariat für Strategie und Vorausschau
(France Stratégie) hat im Februar 2015 einen Bericht
veröffentlicht mit dem beredten Titel: „Die Entwicklungswege der Länder der Eurozone nach der Krise weisen in
Richtung einer wirtschaftlichen und sozialen Spaltung
Europas.“ Ein ganzes Geschwader an Statistiken wird dort
bemüht, um aufzuzeigen, wie sehr sich das soziale Gefälle
zwischen Südeuropa (Portugal, Spanien, Italien, Griechenland) oder gar der „Peripherie“ (Südeuropa plus Irland
und Osteuropa) einerseits und dem Zentrum (Deutschland, Frankreich, Niederlande, Schweden etc.) andererseits
seit 2008 vermehrt hat.
Der Bericht kommt zu der wenig überraschenden
Feststellung, dass „sich die soziale Performance (sic!) in der
Krise erheblich verschlechtert hat, was gleichermaßen den
Arbeitsmarkt, die Lage der Jugend, die Verarmung der
Haushalte, die Ungleichheiten oder das Gesundheits- und
Pflegewesen betrifft.“ So liegen bspw. die Arbeitslosenquoten
in Gesamteuropa auf historischem Höchststand (10 % in der
EU, 11,5 % in der Eurozone und 23,7 % unter der Jugend),
allerdings mit erheblichem Nord-Süd-Gefälle, das massiv
zugenommen hat (11,3 Prozentpunkte 2013), nachdem es
noch zwischen 1998 und 2004 auf nahezu null gefallen war.
Um die LeserInnen nicht zu ermüden, wollen wir es bei
einer einzigen weiteren Statistik belassen, die sich auf die
Jugendlichen bezieht, die nicht in Ausbildung, Arbeit oder
Schulung sind (als Akronym im Englischen „NEET“, Not
in Education, Employment or Training), gewissermaßen der
Aussatz der kapitalistischen Gesellschaft (Grafik 1).
Die Zahlen sind nur bedingt miteinander vergleichbar,
da die Umstände, die Sozialsysteme etc., aber auch die
Zählweise von einem zum anderen Land abweichen können.
Dennoch wird klar, dass sich seit der Krise die Unterschiede
erheblich vergrößert haben und bspw. das Gefälle zwischen
Inprekorr 6/2015 7
E U R O PA
GRAFIK 2
GRAFIK 1
NEET
BIP pro Kopf
Quelle:Eurostat
Italien und Deutschland von 8,2 auf 15,9 Prozentpunkte
gestiegen ist und zwischen Spanien und Deutschland von
5,9 auf 12,3. Hinter diesen erschreckenden Zahlen stecken
noch erhebliche regionale Diskrepanzen in den einzelnen
Ländern: Andalusien ist nicht vergleichbar mit Katalonien,
und Neapel nicht mit Mailand.
Selbstredend bedauern unsere Regierenden in ihrer
Wohlwollendheit diesen traurigen Zustand, in dem die
Menschen Armut und Müßiggang ausgeliefert sind, und
sie geben sich seit Jahren die allergrößte Mühe, den
„Arbeitsmarkt“ zu reformieren und diesen armen Teufeln
zu Brot und Lohn zu verhelfen, indem sie ihnen bspw. die
Sozialhilfe kürzen und ihnen Minijobs zu Minilöhnen
andienen. Das Resultat dieser menschenfreundlichen
Regierungspolitik ist, dass die Quote der „working poor“
in Europa inzwischen auf 10 % gestiegen ist.
Die einzig positive Entwicklung dieser insgesamt
trostlosen sozialen Bilanz ist, dass die durchschnittliche
Qualifikation in allen europäischen Ländern weiter
gestiegen ist und sich das Bildungsniveau tatsächlich
angleicht. Paradox daran ist, dass die Qualifikation zwar
zunimmt, die Arbeitsplätze nach Feststellung der Europäischen Kommission jedoch durchweg immer unqualifizierter werden (Teilzeitarbeit, prekäre und unterqualifizierte
Arbeit). Man kann sich leicht vorstellen, dass die Lage
dieser arbeitslosen und prekär beschäftigten Hochschulabsolventen politischen Sprengstoff birgt.
Umkehrung der Verhältnisse
Der genannte Bericht enthält nichts Neues sondern
bestätigt nur, was uns seit Jahren bekannt ist. Der unmit8 Inprekorr 6/2015
Quelle:Eurostat
telbare Grund hierfür liegt auf der Hand: Die weltweite
Krise des Kapitalismus hat die europäischen Länder
ungleich schwer getroffen und die Sparpolitik fiel in den
wirtschaftlich schwächsten Ländern, die von Arbeitsplatzabbau, Lohnsenkungen und Sozialabbau gebeutelt
wurden, am heftigsten aus. Um die Gründe für dieses
soziale Auseinanderklaffen in Europa wirklich zu verstehen, muss man die Entwicklungen über einen längeren
Zeitraum hinweg betrachten und bis weit vor die Krise
zurückgehen. (Grafik 2)
Mit der Krise kam es zu einer Zäsur, einer Umkehrung
der Kurvenverläufe, wie die Grafik 2 zeigt. Einerseits
haben sich die EU und die Eurozone nach 2008 in ihrer
Entwicklung von den USA abgekoppelt und hinken
hinterher, obwohl die Krise von den USA ausgegangen
war (Grafik 2). Andererseits haben sich die Diskrepanzen
zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ in der Eurozone
drastisch verschärft, wie Grafik 3 zeigt.
Bei näherer Betrachtung erweist sich die Sachlage
jedoch als ein wenig komplizierter. Tatsächlich hat
während der ersten zehn Jahre des Bestehens der Eurozone
eine partielle wirtschaftliche und – trotz des herrschenden
neoliberalen Kurses in Europa – sogar soziale „Aufholjagd“ der Länder Süd- und Osteuropas stattgefunden. Dies
erklärt wohl auch, dass ein Teil der dortigen Bevölkerung
trotz alledem an der EU-Mitgliedschaft hängt, abgesehen
von der Angst vor dem Chaos. Mit Beginn der Krise
jedoch hat sich dieser „Angleichungsprozess“ zunehmend
in Luft aufgelöst, wobei der Osten stagniert und der Süden
einen regelrechten Einbruch des Lebensstandards und
wirtschaftlichen Absturz erfahren hat: Zwischen 2007 und
E U R O PA
2012 ist das BIP pro Kopf in Griechenland um 21 %, in
Spanien um 7 % und in Italien um 9 % gesunken.
Dass sich das Glück nach 2008 gewendet hat, lag auch
daran, wie die vorhergehende „Aufholjagd“ beschaffen
war. In dem o.g. Bericht von France Stratégie heißt es dazu,
dass zweifellos „vor der Krise eine nicht nachhaltige soziale
Angleichung“ vorgelegen habe, da hinter dieser „scheinbaren wirtschaftlichen Angleichung die Diskrepanzen in der
gesamten Faktorproduktivität, in der die Arbeitsproduktivität und die Kapitalrentabilität zusammengefasst werden,
bereits wuchsen“. Die wirtschaftlich und politisch Mächtigen in Europa tönen übrigens seit Jahren, dass diese
Südeuropäer „über ihre Verhältnisse lebten“. Dies liegt
allerdings nicht an einer naturgegebenen Faulheit oder
irgendeiner Neigung bestimmter Völker, ihre Suppe zu
löffeln, ohne sie zubereiten zu können, sondern an der
inhärenten Struktur des Kapitalismus. Deren Folgen
verdeutlichen den Schiff bruch, den diese Austeritätsapostel
mit ihrer Politik verursacht haben. (Grafik 3)
Angeberei und Scharlatanerie
Erinnern wir uns nur an die lyrischen Höhenflüge der
europäischen Spitzenpolitiker, die 2000 den Lissabonner
Vertrag unterzeichnet haben. Die rechten Sozialdemokraten Blair und Schröder unterschrieben gemeinsam mit
dem französischen Duo Jospin und Chirac ein Papier, das
die EU „zur wirtschaftlich und sozial fortgeschrittensten
Region der Welt“ zu machen versprach, die „an der Spitze
der neuen wissensbasierten und innovativen Wirtschaft“
steht.
GRAFIK 3
Die Strategie dafür hieß Neoliberalismus und nochmals Neoliberalismus! Der freie Kapitalverkehr und die
schrankenlose Marktherrschaft würden schon dafür
sorgen, dass die Ressourcen optimal eingesetzt werden.
Man müsse nur all das verbieten, was die freie Konkurrenz
verfälschen könnte, und außerdem privatisieren und
deregulieren. Durch den Freihandel und die gleichzeitige
Globalisierung der Finanzwirtschaft sei der Kapitalismus
in der Lage, besonders in den ärmsten Ländern zu investieren, wo die Löhne am niedrigsten und die sozialen Rechte
am geringsten sind, was dazu führen werde, dass auch dort
die Produktivität steige und die Länder ihren Entwicklungsrückstand aufholen können.
Wir kennen dies Lied. In Europa hieß dies, dass durch
die Einführung des Euro nicht nur der Kapitalverkehr
erleichtert würde, sondern auch das Wirtschaftswachstum
angeschoben würde, indem die Zinsen auf dem ganzen
Kontinent sinken und dadurch die Unternehmen und die
Privathaushalte leichter an Kredite kommen, während die
Staatshaushalte durch die Maastricht-Kriterien gedeckelt
werden. In gewisser Hinsicht funktionierte dies auch
zunächst: Die Angleichung der Zinsen verlief tatsächlich
spektakulär, wie Grafik 4 zeigt.
Als Extrembeispiel erkennt man, wie sogar in Griechenland die Verzinsung der Anleihen auf bundesdeutsches
Niveau sank, um dann zehn Jahre später wieder abzuheben.
Der Zins-Spread zwischen Spanien und Deutschland war,
nachdem sich das Land für den Euro „qualifiziert“ hatte,
von 5 % auf Null gesunken. Zehn Jahre später lagen die
Privatverschuldung bei 317 % des BIP und die Staatsver-
GRAFIK 4
BIP pro Kopf
Zinsen für 10-jährige Staatsanleihen
Quelle:Eurostat
Quelle:EZB
Inprekorr 6/2015 9
E U R O PA
schuldung bei 40 % (für Frankreich vergleichsweise lagen
diese Werte 2007 bei 197 % bzw. 65 %). Der sprunghafte
Anstieg der Privatverschuldung in den „peripheren“
Euro-Ländern verhalf zweifelsohne zu mehr Wirtschaftswachstum, das allerdings in vielerlei Hinsicht „künstlich“
und nicht nachhaltig war. Denn dieser Zustrom von
Privatkapitalien aus ganz Europa und von noch weiter her
hat nicht dazu beigetragen, die produktive Infrastruktur
langfristig anzuschieben und zu modernisieren, sondern hat
eine Immobilienblase erzeugt und Geschäfte finanziert, die
schnellen und leichten Profit abwarfen. In den ersten zehn
Jahren nach Einführung des Euro entfielen 25 % der neu
entstandenen Arbeitsplätze auf die Bauwirtschaft. Forschung und Entwicklung hingegen florierten nie sonderlich
in den südlichen Euroländern und blieben weit hinter den
Ländern des Nordens zurück, wie Grafik 5 zeigt.
Für eine europaweite „wissensbasierte und innovative
Wirtschaft“ sind diese Zahlen eine Ohrfeige! Wiederum
erstaunt es unter diesen Umständen nicht, dass der sakrosankte freie Markt für Waren und Kapitalien in einem
„geeinten“ Europa die industrielle und technologische
Zweiteilung Europas nur weiter verschärft und die
kapitalistischen Konzerne und Länder gestärkt hat, die
ohnehin schon an der Spitze gelegen waren.
Dabei muss man freilich unterscheiden: In manche
„peripheren“ Länder flossen erhebliche Investitionen
seitens europäischer Industriekonzerne, die dort Produktionskapazitäten aufzogen, wie etwa die Automobilindustrie
in Tschechien und der Slowakei oder die Elektronikindustrie in Irland. Umgekehrt erlebte Griechenland einen
GRAFIK 5
raschen De-Industrialisierungsprozess und in Südeuropa
legten die Bedingungen, unter denen Anfang des Jahrtausends ein Aufholprozess stattfand, den Grundstein für den
Einbruch nach 2008. Wie das kapitalistische System nun
einmal funktioniert, fasst France Stratégie ohne Umschweife so zusammen: „Da es kein wirkliches wirtschaftliches Zusammenwachsen der Euro-Länder gab [was
produktive Investitionen und wachsende Produktivität
angeht], haben die sozialen Fortschritte de facto die
Wettbewerbsfähigkeit der südlichen Länder gemindert.“
Dass die Verschuldung der Privathaushalte, die letztlich
das Wirtschaftswachstum der peripheren Länder finanzierte, immer weiter zunahm, beunruhigte bis zum Ausbruch
der Krise weder die Regierungen noch die „Märkte“. Ihr
Augenmerk galt nur der Haushaltsdisziplin der Staaten.
Dahinter stecken nicht bloß einfache ideologische Scheuklappen, denn von diesen Verschuldungsmechanismen
profitierten die kapitalistischen Konzerne der führenden
Länder. Der Export industrieller Produkte nach Spanien,
Griechenland, Italien etc. nahm zu, die Handelskonzerne
machten sich überall breit und die Großbanken v.a. aus
Deutschland und Frankreich machten blendende Geschäfte, indem sie breit Kredite streuten. Dieser angeblich „über
seine Verhältnisse“ lebende Süden war für die Kapitalisten
des Nordens recht einträglich, denn sie lebten vom
„Schweiß“ der Menschen des „Club Med“. Folglich
stiegen bis 2008 die Handelsdefizite und Zahlungen der
„peripheren“ Euroländer (in diesem Fall Griechenland,
Irland, Portugal und Spanien) zugunsten des „Zentrums
(in diesem Fall Belgien, Dänemark, Deutschland, Finn-
GRAFIK 6
Leistungsbilanzsaldo des Zentrums und der Peripherie der
Bruttoausgaben für Forschung und Entwicklung in %des BIP
Quelle:Eurostat
10 Inprekorr 6/2015
Eurozone
Quelle:Cepii
E U R O PA
land, Frankreich, Niederland, Österreich) ins Uferlose, wie
die Grafik 6 zeigt.
Von 1998 bis 2008 wuchs das Defizit Griechenlands um
11 Prozentpunkte auf 16 % des BIP und in Portugal um 4
auf 12 % des BIP. Umgekehrt stiegen die Überschüsse
bestimmter Länder des Nordens parallel dazu, bspw. in
Deutschland, wo 2001 die Bilanz noch ausgeglichen war
und 2008 ein Überhang von 6 % des BIP erreicht wurde.
Nach 2008 pendelte sich wieder ein Gleichgewicht ein,
wobei die Defizite der „peripheren“ Länder weitgehend
abgebaut wurden: in Griechenland um 16 Prozentpunkte,
in Portugal um 13, in Spanien um 10 etc. Die Eurozone als
Ganze, die 2007 noch eine ausgeglichene Zahlungsbilanz
aufwies, erzielte nunmehr Überschüsse gegenüber den
übrigen Ländern der Welt.
Ursächlich hierfür war die Konsumschwäche dieser
Länder, vorwiegend aus augenscheinlichen sozialen Gründen. Weniger ausschlaggebend war eine leichte Zunahme
der Wettbewerbsfähigkeit aufgrund sinkender Löhne:
Zwischen 2009 und 2013 waren die Stundenlöhne in
Griechenland um 16 %, in Italien um 5 %, in Portugal um
7 % und in Spanien um 6 % gefallen. Inzwischen erfasst das
Sozialdumping alle Länder der Eurozone (s. Grafik 7).
Einheit unter kapitalistischen Vorzeichen
Angesichts dieser desaströsen Entwicklung mehren sich
inzwischen die Stimmen, die eine „Modifizierung“ der
gesamteuropäischen Politik fordern. Hierbei geht es
hauptsächlich darum, einen wirklichen „europäischen
Föderalismus“ zu erzielen, mit einem gemeinsamen
GRAFIK 7
Haushalt in angemessenerem Umfang, einer entschlossenen
europaweiten Industriepolitik und direkten Transferzahlungen zwischen den einzelnen Regionen – auch auf dem
Wege neuer Staatsverschuldung mit gesamtschuldnerischer
Haftung. Selbst Hollande hat seinen Sermon dazu beigetragen, um über seine scheinheilige Position in der Griechenlandaffäre hinwegzutäuschen: So wie er 2012 die Neuverhandlung des „Stabilitätspaktes“ zwischen Merkel und
Sarkozy gefordert hatte, um ihn dann umso eifriger selbst
umzusetzen, möchte er jetzt die Eurozone durch ein echtes
„europäisches Führungssystem“ „stärken“, das zielstrebiger
und weniger neoliberal orientiert ist.
Das ist natürlich leeres Geschwätz, da die europäischen
Regierungen einschließlich Hollande die Politik auf europäischer Ebene unerbittlich durchsetzen, die sie auch der
eigenen Bevölkerung jeweils aufzwingen. Dass Europa
wirtschaftlich soweit auseinander klafft, wird von ihnen
keineswegs bestritten, sondern ist Ausgangspunkt ihrer
sämtlichen Absichtserklärungen: Da die südlichen Länder
nicht wettbewerbsfähig genug sind, bedürfe es mehr denn je
der Sparpolitik und niedrigerer Löhne. Das ist es, was sie
unter Föderalismus und „europäischer Harmonisierung“
verstehen: „Europa einen“, indem überall die Ausbeutungsbedingungen verschärft werden, um so die Profite zu
mehren und die kapitalistische Akkumulation wieder in
Gang zu bringen.
Wohl wird mit dieser massiven Sparpolitik auch der
potentielle wirtschaftliche „Aufschwung“ der am meisten
gebeutelten Länder behindert, indem durch die Ausgabenkürzung im Gesundheits- und Erziehungswesen, die
Senkung der Staatsausgaben für langfristige Investitionen
und Infrastruktur und die hingenommene Langzeitarbeitslosigkeit vieler Millionen von Menschen die Grundlagen
für ein gewisses Wirtschaftswachstum unterhöhlt werden.
Aber auch wenn sich dadurch die Abstände zwischen den
europäischen Ländern vergrößern, ist diese Totschlagspolitik vom kapitalistischen Standpunkt aus keinesfalls irrational: Die einen haben Sonne und Niedriglöhne und die
anderen Hightech und Spitzenindustrie. Und für die
Lohnabhängigen und Armen auf dem Kontinent gibt es als
Einheitskost den Wirtschaftskrieg: Jeder gegen jeden.
In einer Hinsicht ist Europa jedenfalls weiter zusammengewachsen: Von Athen über Paris bis Berlin herrscht unter
der Bourgeoisie Einigkeit über diese Politik.
Übersetzung: MiWe
„
Lohnstückkosten
Quelle:OECD
Inprekorr 6/2015 11
Ö KO LO G I E
COP 21 – GIPFEL
DER VERLOGENHEIT
Vor mehr als 50 Jahren warnten Wissenschaftler erstmals vor der Gefahr einer
Klimaerwärmung. Die Warnungen wurden schließlich so ernst genommen,
dass die UN und die zuständige Weltorganisation für Meteorologie (WMO)
1988 den Weltklimarat (Zwischenstaatlicher Ausschuss über Klimaveränderung,
IPCC) als Expertengruppe ins Leben riefen.
Daniel Tanuro
„
Seit seiner Gründung hat der Weltklimarat
– ein eigentümliches Konstrukt, dessen Erkenntnisse zwar
von Wissenschaftlern endredaktionell verantwortet
werden, während die (politisch letztlich relevanten)
„Zusammenfassungen für die Entscheidungsträger“
jedoch mit staatlichen Vertretern ausgehandelt werden
müssen – fünf umfangreiche Berichte geliefert. In allen
wurde die Ausgangsthese bestätigt, dass nämlich die
Durchschnittstemperatur der Erdoberfläche ansteigt, dass
dieser Anstieg nahezu vollständig auf die anthropogenen
(menschengemachten) Emissionen von Treibhausgas
zurückzuführen ist und dass das wichtigste davon, Kohlendioxid, bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe entsteht1.
Seit über 25 Jahren wird dort immer wieder betont, dass
ohne eine erhebliche Reduktion der Emissionen die
Erwärmung zu einem Anstieg der Meeresspiegel, einer
Vervielfachung der extremen Wetterereignisse, einer
Verminderung der landwirtschaftlichen Produktivität, einer
Abnahme der Trinkwasserreserven und einem drastischen
Verlust an Biodiversität sowie entsprechenden gesundheitlichen Folgen führen wird. Es ist also nicht nur ein Umweltproblem, auch wenn dies das zentrale Problem darstellt.
Die fünf Berichte unterscheiden sich voneinander nur
12 Inprekorr 6/2015
durch die wachsende Präzision und den Grad der Wahrscheinlichkeit der Vorhersagen. Zudem lassen sich die
Vorhersagen mit der Zeit mit den seither gemachten
Beobachtungen korrelieren, was zu der beunruhigenden
Schlussfolgerung führt, dass die Wirklichkeit noch
schlimmer als die Modellberechnungen ist2 .
Die fossilen Brennstoffe decken 80 % des weltweiten
Energiebedarfs. Die Energiefrage ist somit die zentrale
Problematik. Naomi Klein schreibt dazu3: Wenn die
Entscheidungsträger den Stier rasch bei den Hörnern
gepackt hätten, hätten sie (vielleicht) einen relativ sanften
Umstieg auf eine Versorgung mit ausschließlich erneuerbaren Energien mit maximalem Nutzungsgrad herbeiführen können. Aber sie haben es nicht getan, sodass wir heute
vor einer absolut dringlichen Lage stehen, wo die Bedrohung nur noch mit sehr drastischen Methoden abgewendet
werden kann, die genau denen entsprechen, die die
Entscheidungsträger vermeiden wollten.
Das lachhafte Kyoto-Protokoll
Der Weltgipfel in Rio 1992 hatte mit viel Pomp eine
Klimarahmenkonvention (Rahmenübereinkommen der
Vereinten Nationen über Klimaänderungen, UNFCCC)
Ö KO LO G I E
verabschiedet, in dem sich die Parteien zum Ziel setzten,
eine „gefährliche Störung des Klimasystems“ zu verhindern …unter gebührender Berücksichtigung des Umstands, dass nicht alle Länder die selbe historische Verantwortung für die Erwärmung tragen und nicht dieselben
Kapazitäten haben, ihr entgegenzuwirken.
Gemäß dem Grundsatz der „gemeinsamen, aber
unterschiedlichen Verantwortung“ und der unterschiedlichen Kapazitäten haben die Industrieländer auf der Dritten
Vertragsstaatenkonferenz (COP 3) das Kyoto-Protokoll
vereinbart, wonach sie sich verpflichteten, ihre Emissionen
zwischen 2008 und 2012 um 5,2 % auf der Basis von 1990
zu reduzieren.
Der Beitrag, den die Industrieländer hätten zugestehen
müssen, war lächerlich, zumal er mit Taschenspielertricks
erzielt werden konnte, wovon die beiden wichtigsten der
Emissionshandel mit Zertifikaten, die den Unternehmen
gratis und im Übermaß zugeteilt wurden, und die Berechtigung der Industrieländer sind, die Reduzierung der
Emissionen im eigenen Land durch den Kauf von Emissionsgutscheinen zu kompensieren, die durch angeblich
„saubere“ Investitionen (was i.d.R. ein Hohn ist) oder
durch Waldschutzmaßnahmen (zulasten der indigenen
Bevölkerung) in den „Entwicklungsländern“ generiert
werden.4 Nichtsdestotrotz weigerten sich die USA, das
Protokoll zu ratifizieren.
Kyoto war Augenwischerei, was entscheidend zum
Scheitern der Klimakonferenz in Kopenhagen beitrug, wo
ein Weltklimaabkommen hätte erzielt werden sollen. Die
Länder des Südens warfen den Industrieländern vor, kein
konkretes Engagement aufzubringen. Obwohl insgesamt
zutreffend, war dieser Vorwurf nicht frei von Hintergedanken, v. a. seitens der großen „Schwellenländer“ und der
ölexportierenden Länder, die darauf bedacht sind, dass die
heimische Wirtschaft möglichst lange durch ihre fossilen
Energiereserven floriert.
Am Ende einer chaotischen Vollversammlung, auf der
Hugo Chávez und Evo Morales lautstark intervenierten,
wurde eine Erklärung „zur Kenntnis genommen“,
wiewohl nicht offiziell verabschiedet, die hinter den
Kulissen von den USA und China ausgehandelt worden
war, den beiden größten Umweltverschmutzern (mit
freilich – historisch bedingt – unterschiedlich großer
Verantwortung für die Klimaerwärmung).
Kopenhagen oder „Jeder macht, was er will“
Kopenhagen war ein Reinfall und zugleich aber ein
Paradigmenwechsel in der Methodik, weil sich die
Teilnehmer darauf verständigten, das Top-Down-Prinzip
fallen zu lassen, das bedeutet hätte, das weltweit noch
verfügbare „Emissionsbudget“ festzulegen und es entlang
der jeweiligen Verantwortung und Kapazität der Länder
zu verteilen.
Ein Emissionsbudget festzulegen bedeutet sich auf die
Menge X an Kohlendioxid zu verständigen, die noch in
die Atmosphäre emittiert werden kann, um eine maximale
Erwärmung von Grad Y einzuhalten. Dies ist die einzige
Methode, die sowohl wissenschaftlich genau als auch unter
dem Aspekt der unterschiedlichen Verantwortung – potentiell – gerecht ist. Ihre „Kehrseite“ allerdings liegt
darin, dass daraus ganz eindeutige ökologische Verpflichtungen erwachsen und die unterschiedliche Verantwortung in jedem Fall überprüft werden muss.5
Da sich alle Regierungen Spielräume offen lassen
wollten, entschied die Konferenz, dass jedes Land seinen
eigenen Klimaplan, die sog. „angestrebten nationalen
Beiträge“ (INDC) dem Sekretariat der UN-Klimarahmenkonvention mitteilen solle und die Verhandlungen auf
dieser Grundlage stattfinden sollen, will heißen, es regiert
das Prinzip völliger Beliebigkeit.
Außerdem wurde in Kopenhagen die Schaffung eines
„Grünen Klimafonds“ beschlossen, über den die Industrieländer den Entwicklungsländern bei der Anpassung an und
Eingrenzung des Klimawandels helfen sollen. Der Gipfel
in Cancún im Jahr darauf legte dafür eine jährliche
Summe von 100 Mrd. Dollar ab 2020 fest, aber der Fonds,
der hauptsächlich von der Weltbank verwaltet wird,
enthält noch nicht einmal ein Zehntel dieser Summe – und
die Regierungen der Industrieländer denken dabei eher an
Darlehen denn an Spenden …
Nichts als Sonntagsreden
Fast 20 Jahre nach der Klimakonferenz von Rio wurde in
Cancún eine Zahl als zentrales Ziel der Klimarahmenkonvention genannt, und zwar wurde entschieden, dass eine
Temperaturerhöhung um 2 °C im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter die „Gefahrengrenze“ darstellt, die
ggf. entlang neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse auf
1,5 °C korrigiert werden könne. Auf den ersten Blick ist
dies ein positiver Beschluss, der an entscheidender Stelle
jedoch zwei Mankos aufweist.
Die erste Einschränkung ist politischer und wissenschaftlicher Natur: Die Festlegung auf 2 °C als Gefahrenschwelle ist sehr umstritten. Sie geht auf eine Studie des
Wirtschaftswissenschaftlers Nordhaus zurück, der sich
darauf festlegte, weil sie scheinbar einer Verdopplung der
Inprekorr 6/2015 13
Ö KO LO G I E
CO2-Konzentration in der Atmosphäre entspricht. Bereits
in einem Bericht des Stockholmer Umweltinstituts von
1990 hieß es, dass besser 1 °C nicht überschritten werden
soll, aber das Maximum von 2 °C setzte sich dann später
durch, als sich die EU-Kommission dieses Ziel zueigen
machte.
Trotzdem ist die Messe noch nicht gelesen. In Cancún
haben über 100 Länder – kleine Inselstaaten und LLDC –
wieder gefordert, den Schwellenwert auf 1,5 °C festzusetzen. Es wurde beschlossen, der Frage nachzugehen und
dafür auf dem COP 18 in Doha ein „strukturierter
Expertendialog“ ins Leben gerufen. Aus dem daraus
entstandenen Bericht vom Mai 2015 geht hervor, dass eine
Erwärmung von 2 °C zu gefährlich sei und ein Ziel von
1,5 °C die Risiken verringern würde.6 Als Beispiel für
diese Risiken wird von Anders Levermann, einem der
Leitautoren des Kapitels über den Anstieg des Meeresspiegels
im vierten Bericht des IPCC, geschätzt, dass bei jedem
zusätzlichen Grad (wir sind schon bei 0,8 °C) im Gleichgewichtszustand der Meeresspiegel um 2,3 Meter steigen
würde.7 Zwar fehlen weltweite Daten über die Bevölkerungsdichte in einer bestimmten Höhe über dem Meeresspiegel, aber es wird angenommen, dass ein Meter die
Vertreibung von Hunderten von Millionen Menschen
bedeuten wird. Nicht auszudenken, was also bei 4,6
Metern geschieht.
Das zweite Manko ist methodologisch. Es sind keine
Maßnahmen vorgesehen, um die Klimapläne (INDC)
anzupassen, damit das Zweigradziel tatsächlich eingehalten werden kann. Das System des Selbstbedienungsladens
erlaubt es den Protagonisten, sich vor den Medien aufzuplustern und zu erklären, „die Situation ist unter Kontrolle, wir tun alles, um die Zweigradgrenze nicht zu überschreiten“, ohne jedoch die Anforderungen dafür im
Geringsten zu erfüllen.
Dies ist keineswegs übertrieben. Die globalen Emissionen sind in den 80er Jahren um 1 % jährlich gestiegen und
heute steigen sie doppelt so schnell. Bei diesem Rhythmus
wird, wenn nichts geschieht, die Erwärmung bis zur
nächsten Jahrhundertwende um 6 °C steigen. Auf längere
Zeit würde die Temperatur wohl gar um 11 °C steigen.8
Dass die Regierungen ein Abkommen in Paris unterzeichnen werden, ist wahrscheinlich, aber nicht sicher.
Sicher aber ist, dass die Großkonzerne hinter dem Problem
des Klimawandels nur eine Möglichkeit sehen, „neue
Märkte“ zu erschließen: Handel mit Emissionsrechten und
erneuerbaren Energien, CO2-Abscheidung und -Speicherung, Ausbeutung von Ressourcen, Anpassungsmaßnah14 Inprekorr 6/2015
men (natürlich im neoliberalen Sinn, was die Privatisierungen, insbesondere des Wassers, impliziert). Diese ganze
Politik wurde im Einverständnis mit den Unternehmen
ausgearbeitet, wie man im letzten Mai auf dem „Gipfel der
Unternehmen für das Klima“ in Paris sehen konnte.
Ebenfalls sicher ist, dass das mögliche Abkommen nur
Augenwischerei sein wird. Dies wurde schon mit dem
Abkommen Ende 2014 zwischen den USA und China, den
beiden größten Umweltverschmutzern, klar. Im günstigsten Falle, wenn also die EU ihre Selbstverpflichtung
einhält, die Emissionen um 40 % bis 2030 einzuschränken
(was an sich schon ungenügend ist und von den oben
genannten Taschenspielertricks noch unterminiert wird),
die anderen Industriestaaten sich den Klimazielen der USA
anschließen (eine Zielsetzung, die bis 2025 eine Reduktion vorsieht, die nur leicht höher ist als jene, welche die
USA im Rahmen des Kyoto-Protokolls bis 2012 hätten
erreichen sollen) und die Entwicklungsländer die Zielsetzung Chinas übernehmen (keine absolute Emissionsreduktion vor 2030), werden wir bis 2100 höchstwahrscheinlich
auf eine Erwärmung von 3,6 °C zusteuern. Dies würde
dem Temperaturanstieg seit der letzten Eiszeit vor 20.000
Jahren entsprechen, nur eben binnen weniger als einem
Jahrhundert. Eine unsagbare, unvorstellbare und schreckliche Katastrophe. Präziser ausgedrückt, ein Verbrechen,
das die COP 21 kaschieren soll.
Produktivismus vs. Klimarettung
Die Ursachen dieser Situation liegen nicht darin, dass es
technologisch unmöglich wäre, den Ausstieg aus den
fossilen Brennstoffen umzusetzen, oder im demographischen Wandel, sondern in der Natur des kapitalistischen
Wirtschaftssystems. „Ein Kapitalismus ohne Wachstum ist
ein Widerspruch in sich.“, sagte bereits Schumpeter.
Niemand kann dies heute noch negieren: Es ist das
Hauptproblem. Das Klima zu retten bedeutet, die Emissionen so drastisch zu senken, dass dies eine entscheidende
Reduktion des Energiekonsums zur Voraussetzung hat.
Eine derartige Reduktion ist jedoch nicht ohne eine
spürbare Abnahme der Verarbeitung und des Transportes
von Rohstoffen – mit anderen Worten: Ohne auf Wachstum zu verzichten – möglich.
Die Fortschritte in der effektiveren Nutzung der
Energien helfen uns auch nicht, diesen physischen Einschränkungen zu entfliehen. Abgesehen von diesen
physischen Grenzen gilt auch, dass diese technischen
Fortschritte vom „Rebound-Effekt“ kompensiert werden,
nämlich dass ersparte Energie dazu benutzt wird, etwas
Ö KO LO G I E
anderes zu produzieren oder das gleiche in größeren
Mengen. Dies ist unumgänglich, solange die Logik der
Produktivität, die Unternehmerfreiheit und die Konkurrenz der Märkte die Regeln bestimmen.
Neue Technologien liefern ebenso wenig eine Lösung.
Hier kann man davon ausgehen, dass der letzte Bericht der
IPCC ein falsches Bild der Realität zeichnet. Laut diesem
Bericht kann unter den zugrunde gelegten Voraussetzungen (dass das wirtschaftliche Wachstum konstant bleibt) die
Zweigradgrenze nur eingehalten werden, wenn die
Emissionen des weltweiten Energiesystems ab 2070
negativ werden (in anderen Worten, wenn das System
mehr CO2 aufnimmt als ausstößt). Um dieses Resultat zu
erreichen, greifen alle Szenarien auf die massive Nutzung
von Biomasse mit CO2-Abscheidung und –Speicherung
zurück. Die Arbeiten der Gruppe III des IPCC kommen
aber zum Schluss, dass es erstens keine Beweise gibt, dass
diese Technologie sicher ist und dass zweitens keine
Garantie besteht bezüglich der sozialen und ökologischen
Konsequenzen dieser Technologie.9 Diese Folgen sind
jedoch möglicherweise sehr schwerwiegend, weil einerseits der Anbau zur Nahrungsmittelerzeugung mit dem
von Energielieferanten konkurriert und andererseits die
Biodiversität dadurch beeinträchtigt wird.
Tatsächlich haben alle Szenarien, die vorgeben, das
Wachstum und den Übergang zu einem System ohne
Treibhausgasemissionen, also unter Einhaltung der
Zweigradgrenze, zu vereinen, den Fehler, die Wurzel aller
Probleme namens Kapitalismus nicht zu berücksichtigen.10
Aber „Kapitalismus“ und „Wachstum“ sind bei den Forschern des IPCC Tabuthemen.
In einer Analyse des Textes, der als Basis für die
Verhandlungen in Paris dienen wird, hat Pablo Solon die
Aufmerksamkeit auf einen anderen wichtigen Punkt
gelenkt, der auf anderem und spezifischerem Weg zu den
selben antikapitalistische Schlussfolgerungen gelangt:
Obwohl die Selbstverpflichtungen zur Emissionsreduktion
bis 2030 zentral für das Erreichen des Zweigradziels sind,
fehlen sie im Vorbereitungstext. Zu Recht bringt der
ehemalige UNO-Botschafter von Bolivien diesen Umstand mit der Methode des Selbstbedienungsladens in
Verbindung. Dahinter steckt jedoch eine weitere Frage:
Warum schweigt man sich über die Frist von 2030 aus?
Drei Elemente geben eine Antwort und alle haben
etwas mit den finanziellen Mitteln zu tun, aus denen die
Leugner des Klimawandels schöpfen: erstens die kapitalisierten Reserven an fossilen Brennstoffen, zweitens die
Amortisierung des (zu 80 % auf fossilen Brennstoffen
basierenden) Energiesystems und drittens der Einfluss des
Finanzkapitals, das hinter den beiden erstgenannten
Punkten steht.
Um das Klima zu retten müssten erstens die Erdöl-,
Gas- und Kohleunternehmen darauf verzichten, vier Fünftel der Reserven, die sie besitzen, auszubeuten. Diese
Reserven sind Teil ihrer Aktiva und bestimmen ihre
Börsenquotierung.11 Zweitens müsste ein Grossteil des
globalen Energiesystems, das ein Fünftel des weltweiten
Bruttosozialprodukts darstellt, verschrottet werden.12 Dies
würde in beiden Fällen zum Platzen einer enormen Blase
und zu einer riesigen Finanzkrise führen.
Welche Gesellschaft wollen wir?
Der COP 21-Gipfel verspricht, ein Gipfel der Lüge, der
Geschäfte und des Klimaverbrechens zu werden. Gibt es
keinen Widerstand, führt das System weiter in Richtung
sozialer und ökologischer Zerstörung. Daher täuschen die
Begriffe der „Klimakrise“ oder des „vom Menschen
beeinflussten Klimawandels“. Die Situation muss vielmehr
unter dem Gesichtspunkt der Systemkrise und der historischen Sackgasse des Kapitalismus betrachtet werden. In
diesem Kontext müssen auch die Gegenstrategien entwickelt werden. Die antikapitalistische Linke steht vor der
Herausforderung, eine Gesellschaft zu konzipieren, die
nicht produktivistisch ist, und Praktiken, Forderungen
und Organisationsformen zu entwickeln, die dieses
Projekt umsetzen können.
Eine große Mobilisierung ist im Gange, die ihren
vorläufigen Höhepunkt in Paris anlässlich des Klimagipfels
finden sollte, aber in der Folge darüber hinausgehen muss.
Die dafür aktiven Organisationen wollen erreichen, dass
dort alle Bewegungen der Ausgebeuteten und Unterdrückten zusammenfinden. Die Bauerngewerkschaften
sowie die indigenen Bevölkerungsgruppen sind an
vorderster Front bei der Eroberung gemeinschaftlicher
Lebensgrundlagen. In diesen Kämpfen spielen die Frauen
eine entscheidende Rolle. Große Teile der Jugend sind
gleichfalls bereits an Kämpfen gegen große Infrastrukturprojekte mit fossilen Energieträgern beteiligt. Aber die
Arbeiterbewegung ist im Hintertreffen.
Selbstverständlich beteiligen sich die Gewerkschaften
an den Mobilisierungen. Aber es geht darum, die ArbeiterInnen davon zu überzeugen, dass dieser Kampf auch der
ihrige ist und daher täglich geführt werden muss. Dies ist
eine schwierige aber entscheidende Herausforderung. Ein
solches Ziel kann nur mittels einer Demokratisierung der
Gewerkschaften sowie einer antikapitalistischen RadikaliInprekorr 6/2015 15
Ö KO LO G I E
sierung ihrer Programme und Aktionsformen erreicht
werden. Ansonsten bleibt der „gerechte Übergang zu einer
Wirtschaft ohne Kohlenstoffemissionen“, wie er vom
Internationalen Gewerkschaftsbund gefordert wird, nur
ein Anhängsel einer kapitalistischen Strategie und deren
Konsequenzen.13
Das Zusammenwachsen dieser Bewegungen unterstreicht die Notwendigkeit, ein nicht-kapitalistisches
Gesellschaftsmodell auszuarbeiten, das den Anforderungen
unserer Zeit gerecht wird, ein ökosozialistisches Modell,
das die Befriedigung der realen menschlichen Bedürfnisse
anstrebt, die unter Berücksichtigung der ökologischen
Zwänge demokratisch bestimmt werden. Selbst wenn
dieses dezentralisierte, selbstverwaltete, feministische und
internationalistische Projekt – das nicht den Illusionen
einer „Beherrschung der Natur“ und des „immer mehr“
verfällt – noch nicht ausgereift ist, ist es dennoch bereits in
den vielen Kämpfen für Emanzipation sichtbar. Es gibt
keine dringendere Aufgabe, als es weiter ausreifen zu
lassen.
10 Dies trifft auch auf die Szenarien der NGOs zu, wie jene
der Energy Revolution von Greenpeace oder der französischen
Negawatt.
11 http://www.carbontracker.org/report/carbon-bubble/
12 World Economic and Social Survey 2011, „ The Great
Green Technological Transformation “
13 http://www.ituc-csi.org/international-trade-unionsto?lang=fr
Neu bei ISP
Übersetzung: MiWe
„
1 Etwa 5 % sind auf vermehrte Sonnenstrahlung zurückzuführen.
2 Dies betrifft besonders den Anstieg der Meeresspiegel, der
bei 3 mm/Jahr liegt statt der vorhergesagten 2 mm.
3 Naomi Klein Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima, März
2015
4 Zunächst war der EU-Emissionshandel (ETS) der einzige
Markt dieses Systems, wurde aber zwischenzeitlich durch
weitere Märkte in Teilen Chinas und der USA erweitert. Die
„sauberen“ Investitionen in den „Entwicklungsländern“, die
Gutscheine abwerfen, stellen den sog. Mechanismus für
umweltverträgliche Entwicklung (CDM) dar und die
Waldschutzmaßnahmen sind Teil des „REDD+“-Konzepts.
5 Nach verschiedenen Schätzungen wird das verfügbare
Emissionsbudget unter Beibehaltung des gegenwärtigen
Rhythmus der Emissionen 2030 erschöpft sein, wenn eine
Erwärmung um 2 °C nicht überschritten werden soll.
6 http://climateanalytics.org/files/briefing_sed_report.pdf
7 http://www.realclimate.org/index.php/archives/2013/08/the-inevitability-of-sea-level-rise/
8 http://www.washingtonpost.com/national/health-science/
world-on-track-for-nearly-11-degree-temperature-rise-energy-expert-says/2011/11/28/gIQAi0lM6N_story.html. Siehe
auch: K. Anderson, op. cit., oder James Hansen et al. http://
journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.
pone.0081648
9 http://paristext2015.com/2015/06/1-5-degrees-celsius-or2-degrees-maybe-its-turtles-all-the-way-down/ Siehe auch:
http://www.nature.com/nclimate/journal/v4/n10/full/
nclimate2392.html
16 Inprekorr 6/2015
Daniel Tanuro
Klimakrise und
Kapitalismus
181 Seiten, 19,80 Euro
ISBN 978-3-89 900 -146-4
Neuer ISP Verlag GmbH
Belfortstr. 7, D -76133 Karlsruhe
Tel.: (0721) 3 11 83
[email protected]
www.neuerispverlag.de
Ö KO S OZ I A L I S M U S
DIE DROHENDE
ÖKOLOGISCHE KATASTROPHE
Ökosozialismus: Programm und Strategie eines befreienden
Gesellschaftsprojekts als rettende Chance. Denn die Katastrophe liegt weder in
der Natur der Sache noch in der des Menschen begründet.
Daniel Tanuro
Im April 2014 sind zwei verschiedene
Forscherteams von auf die Antarktis spezialisierten
amerikanischen Glaziologen – mit unterschiedlichen, auf
Beobachtungen fußenden Methoden – zum selben Schluss
gelangt: Aufgrund der Erderwärmung ist ein Teil der
globalen Eisdecke weggeschmolzen und dieser Prozess ist
irreversibel.
Obwohl die Wissenschaftler sich weigern, für ihre Voraussagen von einer hundertprozentigen Sicherheit auszugehen, sind sie doch kategorisch. „Der Punkt der Unumkehrbarkeit ist überschritten“, erklärten sie auf einer
gemeinsamen Pressekonferenz. Nichts kann, so erklären
die kommenden drei bis vier Jahrhunderte verhindern. Sie
schätzen, dass mit sehr großer Wahrscheinlichkeit das
Phänomen zu einer beschleunigten Destabilisierung der
angrenzenden Gebiete führt, was schlussendlich zu einem
zusätzlichen Anstieg des Meeresspiegels um mehr als drei
Meter führen könnte.1
Die unumkehrbare, stumme Katastrophe
Die sozialen Folgen eines derart starken Anstiegs der
Weltmeere können niemandem entgehen. Es genügt
festzustellen, dass zehn Millionen ÄgypterInnen tiefer als
nen, dreißig Millionen ChinesInnen, InderInnen, einige
Millionen VietnamesInnen … Hierbei sind die großen
Städte in den Küstenregionen wie London, New York, San
Francisco noch unberücksichtigt geblieben. Sicherlich
kann man einen Meter hohe Dämme bauen – sofern man
verfügt. Aber Dämme von zehn Metern Höhe kann man
nicht bauen. Und selbst wenn dies möglich wäre, würden
nur wenige Leute hinter diesen leben wollen.
Um das ganze Ausmaß der Bedrohung ermessen zu
können, muss man wissen, dass das Wegschmelzen der
polaren Eisdecke nur eine der vier Ursachen des Anstieges
des Spiegels der Weltmeere darstellt. Die drei anderen sind:
die thermische Ausdehnung der Wassermassen, das Schmelzen der Gletscher in den Bergen und das Wegschmelzen der
Eiskappe auf Grönland. Wenn die gesamte Eismasse der
Erde schmelzen würde, würde dies zu einem Anstieg um
mehr als neunzig Meter des Meeresspiegels führen.
Anders Levermann hat versucht, die Voraussagen über
den Anstieg des Meeresspiegels aufgrund des Zusammenwirkens aller vier Ursachen vorauszuberechnen. Seine
Schlussfolgerung ist beunruhigend: Jedem Grad Celsius
durchschnittlichen Temperaturanstiegs über die gesamte
Inprekorr 6/2015 17
Ö KO S OZ I A L I S M U S
Erdoberfläche gegenüber dem Ende des 18. Jahrhunderts
würde im Gleichgewichtszustand ein Anstieg um 1,3 m
entsprechen.2 Der Temperaturunterschied zu dieser
Referenzperiode beträgt gegenwärtig 0,8 °C. Falls
Levermann recht hat, ist ein Anstieg im Gleichgewichtszustand um 1,84 m in Zukunft unvermeidbar.
Fatih Birol, „ Chef-Ökonom “ bei der internationalen
Energieagentur, ist weder ein Bolschewist noch ein
Ökosozialist. Er hat kürzlich eingestanden, dass die
gegenwärtige Tendenz bezüglich der Emmision von
Treibhausgasen zu einem Temperaturanstieg von 6 °C bis
zum Ende des Jahrhunderts und nachher bis zu 11 °C
führen wird.3
Gemäß der Schlussfolgerungen von Levermann wären
wir also drauf und dran, die Voraussetzungen für einen
Anstieg des Meeresspiegels um 13,8 oder mehr Meter zu
schaffen. Dies ist einer der Gründe, weshalb keine Anpassung an eine Klimaerwärmung dieses Ausmaßes im
Gleichgewichtszustand in einer Welt mit neun Milliarden
Menschen möglich ist.4
In diesen Voraussagen bedeutet der Begriff „im
Gleichgewichtszustand“: der Moment, wo ein neuer
Punkt des Gleichgewichts zwischen der durchschnittlichen
Oberflächentemperatur und der aktuellen Eismenge auf
der Erde erreicht ist. Konkret würde die Wiederherstellung dieses energetischen Gleichgewichtes des Systems
Erde tausend bis zweitausend Jahre benötigen.
Tausend bis zweitausend Jahre sind eine lange Zeit. Der
wichtige Punkt aber ist, dass, wenn der Prozess einmal in
Gang geraten ist, er nicht mehr aufgehalten werden kann:
Eine Konzentration X des Treibhausgases in der Atmosphäre führt unweigerlich zu einer Temperaturerhöhung
Y, welche notwendigerweise eine Ausdehnung Z der
Wassermassen und eine Schmelzung einer Menge Z des
Eises und damit ein entsprechendes Ansteigen der Meere
zur Folge hat. Der einzige Weg, um diese Verkettung von
Ursachen und Wirkung aufzuhalten, wäre, den Planeten in
einen Gefrierschrank zu stecken. Es gibt eine Art natürlichen Gefrierschrank. Das sind die Eiszeiten. Aber die
Eiszeiten können nicht per Knopfdruck ausgelöst werden.
Die Astrophysiker vermuten, dass die nächste Eiszeit
frühestens in 30 000 Jahren eintreten wird.
Bis jetzt bin ich nur auf die Auswirkung der Erderwärmung auf die Höhe des Meeresspiegels zu sprechen
gekommen. Dies allein vermittelt ein eindrückliches Bild
der ungeheuren Gefahr – unumkehrbar im Rahmen der
menschlichen Zeitmaßstäbe – , die sich stumm über
unseren Köpfen zusammenbraut. Aber dies ist nur eine der
18 Inprekorr 6/2015
Folgen der Klimaveränderungen. Ich beschränke mich
hier auf die Aufzählung einiger davon, die kurzfristig
bedrohlicher sind als der Anstieg des Meeresspiegels, und
von denen einige bereits jetzt sichtbar sind:
„ Das Sinken der landwirtschaftlichen Produktivität.
Man schätzt, dass bis zu einem Temperaturanstieg von
3 °C gegenüber dem 18. Jahrhundert die Produktivität
ansteigen wird. Ab jetzt jedoch sinkt sie in einigen
tropischen Gegenden, insbesondere in den subsaharischen
Gebieten Afrikas.
„ Extreme Wetterereignisse. Wäret ihr zwei Wochen
früher hier gewesen, so wäret ihr mitten in die Sommerhitze gekommen mit Temperaturen über 35 °C während
mehr als einer Woche. Dies war in dieser Gegend früher
eine große Ausnahme, wird aber in Zukunft viel häufiger
auftreten.
„ Die Folgen für die Gesundheit. Wenn das Wetter schön
wird, und ihr euch unter die Büsche legt, habt acht auf die
Zecken. Diese Milben sind Träger des Borreliose-Erregers
und sind viel häufiger als früher, da die Winter immer
milder werden. In den Subtropen ist die Ausdehnung der
Malariagebiete bereits ein ernstes Gesundheitsproblem.
Eine Verschlechterung sämtlicher ökologischer
Parameter
Gleichzeitig ist der Klimawandel nur eine unter vielen
Manifestationen der beschleunigten Schädigung der
Umwelt. Man spricht diesbezüglich von der „ökologischen
Krise“. Ich werde weiter unten erklären, weshalb ich
diesen Ausdruck als unzweckmäßig erachte. Beschränken
wir uns für den Augenblick darauf festzuhalten, dass der
Begriff der „ökologischen Krise“ zahlreiche Facetten
umfasst. Die wichtigsten sind folgende:
„ Übersäuerung der Weltmeere. Diese stellt eine ernsthafte Bedrohung für zahlreiche Meeresorganismen dar,
deren äußeres Skelett aus Kalziumkarbonat dem überhöhten Säuregrad nicht standhält.
„ Rückgang der Biodiversität. Wir erleben derzeit das,
was in der Biologie als „sechste Welle der Auslöschung“
des Lebens bezeichnet wird. Sie verläuft schneller als die
vorhergehende, in der vor sechzig Millionen Jahren die
Dinosaurier ausgelöscht wurden.
„ Störung des Zyklus von Stickstoff und von Phosphor.
Sie könnte eine kaum bekannte Erscheinung des Schnelltodes der Ozeane auslösen, der sich wahrscheinlich bereits auf
natürliche Weise in der Erdgeschichte einmal abgespielt hat.
„ Zerstörung der stratosphärischen Ozonschicht, die uns
vor der ultravioletten Strahlung schützt. Dies ist das
Ö KO S OZ I A L I S M U S
einzige wichtige Umweltthema, auf dem Fortschritte
gemacht werden konnten – ich komme weiter unten
darauf zurück.
„ Schädigung und die Überausbeutung der Wasserreserven. Gegenwärtig gelangen 25 % der Wasserläufe wegen
zu großer Wasserentnahmen, insbesondere für die Bewässerungslandwirtschaft, nicht mehr bis zum Meer.
„ chemische Vergiftung der Biosphäre. Innerhalb eines
Jahrhunderts hat die Chemieindustrie hunderttausend
Moleküle geschaffen, die in der Natur nicht vorkommen;
darunter gibt es eine gewisse Anzahl – vor allem toxische
Verbindungen – , die durch keine natürlichen Wirkstoffe
abgebaut werden können.
„ Zerstörung der Böden und der Verlust von Ackerland.
Alle diese Phänomene sind voneinander abhängig und der
Klimawandel nimmt dabei eine zentrale Positon ein. Die
Übersäuerung der Meere beispielsweise resultiert aus den
wachsenden atmosphärischen Ansammlungen von
Kohlendioxyd, das gleichzeitig das wichtigste Treibhausgas ist. Der Rückgang der Biodiversität ist gleichzeitig zum
Teil der Klimaerwärmung geschuldet: Diese verläuft so
schnell, dass es einigen Arten nicht gelingt, sich durch
Migration zu retten.
Vor allem haben diese Erscheinungen eines gemeinsam: Ihre grafische Darstellung bringt ähnliche exponentielle Kurven zum Vorschein, die in allen Fällen einen
deutlichen Anstieg seit dem Goldenen Zeitalter der
Nachkriegszeit aufweist:
„ Die Kurve der atmosphärischen Anreicherung von
Treibhausgasen verläuft in Funktion der Zeit exponentiell.
„ Die Kurve der Arten, die in Funktion der Zeit vrschwinden, verläuft exponentiell.
„ Die Zunahme der Übersäuerung der Ozeane ist
exponentiell.
„ Die Menge der zerstörten Böden nimmt exponentiell
zu.
„ Die Menge der in die Meere geschütteten Phosphate
und Nitrate ebenfalls.
„ Das gemeinsame Profil all dieser Kurven verweist ganz
offensichtlich auf eine gemeinsame Ursache. So stellt sich
die Frage: Wo liegt diese Ursache?
Für eine Änderung der Bevölkerungspolitik und
gegen Ablenkungsmanöver
Auf diese Frage antwortet eine reaktionäre und menschenverachtende Bewegung, die in den Massenmedien sehr
präsent ist und zeigt dabei mit dem Finger auf die mensch-
liche Natur oder die Bevölkerung oder beide zusammen.
Die Erde „kranke an der Menschheit“, wie James Lovelock
als Schlussfolgerung seines Essais über Gaia schreibt.5 Als
getreue Patriarchen nehmen diese feinen Herren vor allem
die Frauen ins Visier.
Auf diese Frage müssen wir sehr bestimmt antworten.
Es ist selbstverständlich, dass die Anzahl Menschen auf der
Erde ein wichtiger Faktor in der Umweltgleichung
darstellt. Es wäre dumm, dies zu verneinen. Wir stehen
übrigens für eine Stabilisierung der Bevölkerung – für das,
was als ein demografischer Übergang bezeichnet wird.
Wir warnen aber vor autoritären, neoliberalen und
barbarischen Lösungen, die die demografischen Zwangsvorstellungen in gewissen Hirnen aufkeimen lassen.
Beispielsweise der Vorschlag, austauschbare „Fortpflanzungsrechte“ einzuführen, ganz nach dem Modell der
„Verschmutzungsrechte“.
Der demografische Übergang hängt grundsätzlich von
zwei Elementen ab: dem Recht der Frauen, ihre eigene
Fruchtbarkeit zu kontrollieren (einschließlich des Rechts
auf kostenfreie und gesundheitlich einwandfreie Abtreibung) und einer sozialen Sicherheit, die diesen Namen
auch verdient (insbesondere mit einem Pensions- bzw.
Rentensystem, das älteren Personen erlaubt, ohne die
Unterstützung durch zahlreiche Kinder ein anständiges
Leben zu führen).
Sofern man die barbarischen Lösungen ausschließt –
und diese müssen offensichtlich ausgeschlossen werden! – ,
ist der demografische Übergang ein langsamer Prozess, der
keine Antwort auf die dringenden Umweltprobleme
darstellen kann. Gerade deshalb müssen wir wachsam sein:
Sehr häufig versuchen diejenigen, die eine Lösung der
ökologischen Krise mit demografischen Antworten
suchen, von den wirklichen Ursachen abzulenken. Nun
liegen diese aber nicht darin, dass wir zu zahlreich sind,
denn:
„ 50 % der weltweit produzierten Nahrung endet nicht
auf unseren Tellern und auch nicht in unseren Kühlschränken.
„ Der Teil, der in unseren Tellern oder in unseren
Kühlschränken endet, kommt meistens dahin, nachdem er
Tausende von meistens unnötigen Kilometern überwunden hat.
Dieser Teil besteht zunehmend aus Fleisch, vor allem
Rindfleisch, während eine zu fleischlastige Ernährung
schlecht für die Gesundheit ist.
„ Die Unternehmen wenden große Vermögen für die
Werbung auf, um in uns künstlich entfremdete KonsumInprekorr 6/2015 19
Ö KO S OZ I A L I S M U S
bedürfnisse aufleben zu lassen, als elende Kompensation
für die Verarmung der menschlichen Beziehungen in
dieser Gesellschaft.
„ Die Unternehmen rivalisieren mit ihrem Einfallsreichtum, damit die Waren, die sie uns verkaufen, sich immer
schneller abnutzen und defekt werden und nicht mehr
repariert werden können.
„ Die Staaten verschwenden einen großen Reichtum und
wertvolle Ressourcen für die Bewaffnung und für Überwachungs- und Sicherheitseinrichtungen.
„ Die politischen und wirtschaftlichen EntscheidungsträgerInnen weigern sich – obwohl sie vollständig über die
Gefahren informiert sind –, ernsthaft einen Übergang in
ein System der Energieversorgung zu organisieren, das
ausschließlich auf erneuerbaren Energien beruht. Ein
solches würde bei weitem genügen, den Energiebedarf der
Menschheit zu decken.
Eine doppelte Einbahnstraße des Kapitalismus
In Tat und Wahrheit ist der wahre Grund für all diese
Phänomene weder die Bevölkerung noch die menschliche
Natur, sondern der Kapitalismus und die „Natur“ dieser
gegen die Natur gerichteten Produktionsweise. In Wirklichkeit stellen die Kurven der exponentiellen Schädigung
der Umwelt nichts anderes dar als das Grundgesetz des
Kapitalismus: „Immer mehr“.
Ein Kapitalismus ohne Wachstum ist ein Widerspruch
in sich selbst. Die Erklärung ist einfach: In diesem auf der
Konkurrenz um den Profit beruhenden System ist jeder
Eigentümer von Produktionsmitteln andauernd gezwungen, seine Kosten zu senken, vor allem indem Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzt werden, die die Arbeitsproduktivität erhöhen. Dieser Zwang ist absolut und
unerbittlich: Wer sich ihm entziehen will, wird unmittelbar zum wirtschaftlichen Tode verurteilt.
Der Kapitalismus ist seinem Wesen nach produktivistisch. Er produziert immerzu mehr Waren; dies führt zu
einer immer stärkeren Plünderung der natürlichen
Ressourcen, zu einer immer größeren Ausbeutung der
Arbeitskraft (sei dies direkt in der Produktion, sei dies
indirekt in den Dienstleistungen und in der Reproduktion
der Arbeitskraft) und zu einer immer größeren Vernichtung von Wissen und Logik, die keinen Platz in seiner
gefräßigen „Logik“ haben.
In dieser unsinnigen kapitalistischen Logik wird die
„ökologische Krise“ selbst lediglich als „eine hervorragende Gelegenheit für neue Märkte“ wahrgenommen. So
spielt die Wirtschaftspresse die Chancen für neue Märkte
20 Inprekorr 6/2015
für erneuerbare Energien hoch, für den Handel mit
Verschmutzungsrechten, für (Pseudo-)Bioprodukte usw.
Die Universalität des Problems verschwindet, wie auch der
notwendig universale Ansatz für eine Lösung; all dies wird
durch den Profithunger der Kapitalisten verschlungen.
Es ist offensichtlich, dass die Pseudo-Lösungen dieses
„grünen Kapitalismus“ nichts lösen. Ich werde nicht meine
Zeit vergeuden, dies auszubuchstabieren. Wie Albert
Einstein sagte, löst man die Probleme nicht mit den
Mitteln, die die Probleme gerade erst hervorrufen. Man
löst die „ökologische Krise“ nicht durch Marktmechanismen und den Produktivismus, die gerade die Ursache der
ökologischen Krise ausmachen.
Zu diesem Thema möchte ich erneut auf Folgendes
aufmerksam machen: Der einzige Aspekt der ökologischen
Krise, wo die exponentielle Dynamik der Zerstörung
durchbrochen wurde, ist das Verschwinden der Ozonschicht. Der Ausstoß von Gasen, die für das Phänomen
verantwortlich sind, hat seit dem Protokoll von Montreal
(1987) tatsächlich abgenommen. Das ist gerade mal der
einzige Bereich, wo die Regierungen […] eher zu regulatorischen Maßnahmen griffen, anstatt sich auf Marktmechanismen zu verlassen.6
Die Lösung springt ins Auge: Nicht die Natur ist in
einer Krise, sondern vielmehr die kapitalistische Gesellschaft. Wir sind in ein Stadium getreten, in dem die
Absurdität dieser Produktionsweise die Beziehungen
zwischen der Menschheit und der Natur, von der sie ein
Teil ist, so sehr gestört sind, dass daraus tödliche Bedrohungen für einen großen Teil der Menschheit hervorgehen. Dies ist der Grund dafür, dass ich den Begriff „ökologische Krise“ nicht mag.
Der Begriff „Krise“ ist zudem nicht korrekt. Eine Krise
ist ein Moment des Übergangs zwischen zwei Zuständen
eines Systems. Meiner Auffassung nach kann man nicht
von „Krise“ sprechen, um die Gesamtheit der exponentiellen Phänomene der Schädigung der Umwelt zu beschreiben, die ich erwähnt habe und die sich seit zwei Jahrhunderten verstärken.
Wir haben es nicht mit einer Krise zu tun, sondern mit
einer doppelten Sackgasse des Kapitalismus, sowohl auf der
Ebene der Umwelt, wie auch auf der sozialen Ebene (kurz
zusammengefasst: Dem tendenziellen Fall der Profitrate
und der Art, wie der Kapitalismus versucht, diesem
entgegenzuwirken).
Es ist erschreckend, wie der Kapitalismus auf beiden
Ebenen – sozial wie auf die Umwelt bezogen – an Grenzen
stößt, die er nicht einmal als solche erkennen kann. Dies
Ö KO S OZ I A L I S M U S
bestätigt vollumfänglich die Analyse von Marx, der sagte,
dass „die einzige Grenze für das Kapital das Kapital selbst“
sei und daraus folgerte, dass dieser Moloch, sofern man ihn
nicht rechtzeitig auslöscht, „die beiden einzigen Quellen
des Reichtums: die Erde und den Arbeiter“ verzehren
würde.
Ökologoischer Kampf, Klassenkampf
Diese Herangehensweise erlaubt uns, den Kampf, den wir
führen müssen, zu positionieren. Es geht nicht um einen
„ökologischen Kampf “ – im Sinne einer Art von Luxuskampf für diejenigen, die nicht zu große soziale Probleme
haben. Es geht um einen sozialen Kampf um die Rettung
der Lebensgrundlagen auf diesem Planeten, insbesondere
um die Arbeitswelt, die Frauen, die Jungen, die Bauern,
die indigenen Völker – kurz, um die Ausgebeuteten und
die Unterdrückten, die der Kapitalismus massenhaft zu
opfern droht.
Der Kampf, den wir für die Umwelt führen müssen, ist
ein Klassenkampf, ein antikapitalistischer Kampf, der
sozusagen alle anderen Kämpfe miteinbezieht und der das
Potenzial hat, sie alle zu vereinen. Ein Kampf, dessen
Ausgang über die Wahl zwischen einer Menschheit, die
diesen Namen verdient, oder einem barbarischen Chaos
der Umwelt- und sozialen Zerstörung entscheidet.
Dieser Kampf ist sowohl poetisch – er ist voller Emotionen und Leidenschaften, denn es geht um die Rettung
des Zaubers dieser Welt, der aus uns vollwertige Menschen
macht – wie auch äußerst rational. Aber machen wir uns
keine Illusionen: Er wird weder durch die Poesie, noch
durch die Rationalität gewonnen werden, wie ausgeprägt
auch die Schönheit der Ersten und die Strenge der Zweiten
sein mögen.
Angesichts der Aktualität der vergangenen Wochen
möchte ich diese Behauptung mittels einer griechischen
Parabel illustrieren: Was haben Giannis Varoufakis und die
großen Umweltverbände gemeinsam? – Die Illusion, dass
die menschlichen Dramen und die vernünftigen Argumente, gestützt durch Nobel-Preise, den Gegner davon
überzeugen könnten, dass seine Politik widersinnig sei,
selbst aus der Sicht seiner eigenen, kapitalistischen Interessen.
Dieser Glaube ist in der Tat trügerisch. Es geht nicht in
erster Linie um Dummheit oder einen Mangel an Informationen der EntscheidungsträgerInnen, sondern um
materielle Interessen. Um das Klima zu retten müssten 1.
die Erdöl-, Erdgas- und Kohlenfirmen darauf verzichten,
die vier Fünftel der Reserven an fossilen Brennstoffen
abzubauen, die in ihrem Besitz sind und die ihren Börsenwert bestimmen; 2. der größte Teil des globalen Energiesystems – dessen Wert ungefähr ein Fünftel des globalen
BIP ausmacht – vor deren Amortisierung vernichtet
werden. In beiden Fällen würde diese Zerstörung von
Kapital eine schwere Finanzkrise nach sich ziehen.
Man kann noch einen anderen Vergleich à la grecque
ziehen: Was gibt es für Gemeinsamkeiten zwischen
Schäuble, Lagarde und den Klimaskeptikern? – Eine
eiserne Entschlossenheit, ihr System zu schützen, so wie es
die Kapitalistenklasse tut, von der sie ein Teil sind und die
die wesentlichen Elemente ihrer Macht seit zwei Jahrhunderten auf die Ausbeutung der fossilen Energien gegründet
hat.
Die Schäubles und die Lagardes aller Länder sind bereit,
für die Aufrechterhaltung dieses Systems ungeheure
Zerstörungen, die Opferung von Hunderten von Millionen Menschen in Kauf zu nehmen, ja selbst die Welt in ein
unüberschaubares Chaos zu treiben, mit Mitteln, die mit
der sogenannten „Zivilisation“ überhaupt nichts mehr zu
tun haben.
Wenn dann die Schandtat vollbracht ist, würden die
Schäubles und die Lagardes Krokodilstränen über die
Opfer vergießen und von einer „Naturkatastrophe“
sprechen. Denn diese Leute denken, dass die Marktgesetze
Naturgesetze sind, mindestens so unantastbar wie die
Gesetze der Physik.
Der bürgerliche Ökonom Schumpeter sagte, dass der
Kapitalismus aus seinen periodischen Krisen durch
„schöpferische Zerstörung“ heraustreten würde. Was
Ernest Mandel den „Spätkapitalismus“ nannte, kann aus
seiner doppelten sozialen und ökologischen Sackgasse nur
durch die „zerstörerische Zerstörung“ heraustreten. Es
geht also um einen Kampf und nicht um eine akademische
Debatte, und das griechische Beispiel zeigt uns im Kleinen,
wie gnadenlos dieser Kampf sein wird.
Erklären, blockieren, gemeinsam vorgehen
„Was tun?“, wie der andere sagte … Was tun, um die
Klimakatastrophe so gut wie möglich zu beschränken?
Als Erstes müssen wir überall und jederzeit den Ernst
der Lage und deren Ursache erklären, gerade in den
volksnahen Organisationen, also in der Gewerkschaftsbewegung, den Frauenorganisationen und den Jugendbewegungen. Es braucht eine andauernde Bildungsarbeit, an der
wir uns beteiligen müssen. Reden ist bereits handeln;
dadurch werden die Keime für die große und unverzichtbare Wut gesät.
Inprekorr 6/2015 21
Ö KO S OZ I A L I S M U S
Zweitens müssen wir überall gegen große Investitionsprojekte im Dienste der fossilen Industrie kämpfen: gegen
die neuen Flughäfen, die neuen Pipelines, die neuen
Autobahnen, die neuen Bohrungen, die neuen Minen,
gegen den neuen Irrsinn mit dem Schiefergas, gegen die
neuen Schrullen der Geoingenieure, die davon träumen,
die Erde mit einem Thermostaten auszurüsten, … den sie
dann kontrollieren könnten.
Naomi Klein hat vollumfänglich recht, wenn sie dazu
aufruft, überall den Widerstand zu verstärken, den sie
„Blokadia“ nennt. Sie hat recht, weil diese Blockierung
tatsächlich von strategischer Wichtigkeit ist: Der aktuelle
Stand der Entwicklung der Infrastrukturen erlaubt dem
Kapital nicht, weiterhin diejenige Menge der fossilen
Brennstoffe zu verbrennen, die zu einer Klimaerwärmung
um 6 °C bis 2100 führen würde.7 Moblisierungen wie
diejenige von Notre-Dame-des-Landes, der Pipeline
Keystone XL oder dem Yasuni-Park sind wie Riegel, die
ihnen den Weg versperren. Verteidigen wir sie, und
koordinieren wir uns für diesen Zweck!
Drittens müssen wir alle alternativen kollektiven,
sozialen und demokratischen Initiativen unterstützen, die die
Vorstellung des Gemeineigentums, der gemeinsamen
Verwaltung der Erde „als gute Familienmütter und -väter“
fördern. Wir dürfen nicht von oben auf die Gruppierungen,
die lokale Produkte und Bioprodukte kaufen, und andere
Initiativen, die beispielsweise die Ernährungssouveränität
anstreben, herabschauen. Wir glauben natürlich nicht daran,
dass der Kapitalismus auf diese Art und Weise, durch
Ansteckung, gestürzt werden kann. Dies hindert allerdings
nicht daran, dass solche Initiativen zu Hebeln einer Bewusstwerdung werden können, insbesondere, wenn durch sie ein
Dialog zustandekommt und dadurch die Trennmauern
zwischen Produzentinnen und Konsumenten niedergerissen
werden, die durch das Kapitalverhältnis verallgemeinert
werden, oder wenn die Gewerkschaftsbewegung daran
beteiligt ist.
Es versteht sich allerdings von selbst, dass die andauernde Aufklärungsarbeit, die Blockierungen und die Initiativen zur Eroberung des Gemeineigentums nicht genügen.
Für diesen Kampf ist ein Projekt einer alternativen Gesellschaft erforderlich, ein Programm, eine Strategie. Ich
werde im Folgenden kurz auf diese drei Aspekte eingehen.
Ein Gesellschaftsprojekt: Das ökosozialistische
Aggiornamento 8
Nennen wir die Sache beim Namen: Das Projekt einer
alternativen Gesellschaft kann nur sozialistischer Art sein.
22 Inprekorr 6/2015
Es geht um die Abschaffung der Tauschwertproduktion für
den Profit einer Minderheit von Kapitalisten und deren
Ersetzung durch die Gebrauchswertproduktion für die
Befriedigung der wirklichen, demokratisch festgelegten
menschlichen Bedürfnisse. Wir haben keine andere Wahl,
keine andere mögliche Alternative zu dieser Produktionsweise. Nun, diese Alternative entspricht grundsätzlich der
Definition des Sozialismus.
Die autonome Bewegung der Frauen appelliert an
unsere Organisationen, damit wir uns im Klaren sind, dass
der Sozialismus nicht nur die Abschaffung der Ausbeutung
der Lohnarbeit bedeutet, sondern ebenfalls die Beseitigung
der Unterdrückung der Frauen. Die unbezahlte Hausarbeit
im Dienste des Unterhaltes und der Reproduktion der
Arbeitskraft ist eine sorgsam durch das Patriarchat verdeckte Säule des Systems, das auch die Schwulen und die
Lesbierinnen unterdrückt. Unsere Bewegung versucht,
daraus alle Schlussfolgerungen für den von uns angestrebten Sozialismus zu ziehen.
Auf die gleiche Art und Weise müssen wir erkunden,
was die Tiefe der ökologischen Krise für unser sozialistisches Projekt bedeutet. Auch hier ist eine Erneuerung
notwendig. Ich führe kurz drei Punkte an:
„ Die Technologie. Lenin sagte: „ Sozialismus, das
bedeutet Sowjets plus Elektrizität“. Heute ist klar, dass
diese Definition nicht genügt. Wie würde die Elektrizität
produziert? Mit der Kohle, dem Erdöl, Erdgas, Atomenergie? Ein Sozialismus, der seines Namens würdig ist, würde
Elektrizität ausschließlich aus erneuerbaren Energiequellen
produzieren und mit dem bestmöglichen Wirkungsgrad
nutzen. Mit anderen Worten führt uns die „ökologische
Krise“ zum Schluss, dass die Technologien nicht neutral
sind.
„ Die Grenzen. Engels pries die „unbegrenzte Entwicklung der Produktivkräfte“, die möglich würde, sobald sich
die Menschheit der „kapitalistischen Fesseln“ entledigt
hätte. Man kann über die genaue Interpretation dieses
Satzes debattieren, über die Wichtigkeit, die Engels den
nicht-materiellen Produktivkräften, wie dem Wissen,
zuschrieb. Aber eines ist klar: Das sozialistische Projekt ist
versperrt durch das, was Daniel Bensaïd die „produktivistische Schlacke“ nannte. Beseitigen wir diese. Wir
kämpfen für einen Sozialismus, der die Grenzen der
Ressourcen, die Rhythmen und die Funktionsmodi der
Ökosysteme, wie auch die grossen Kreisläufe der Natur
respektiert. Ein Sozialismus, der den Grundsatz der
Vorsorge anwendet und auf die „Herrschaft über die
Natur“ verzichtet.
Ö KO S OZ I A L I S M U S
„ Die Dezentralisierung. Marx sagte von der Commune
von Paris, sie sei die „endlich gefundene politische Form
der Befreiung der Arbeit“. Auf der Grundlage dieser
revolutionären Erfahrung ließ er ab von eher zentralistischen Vorstellungen, sprach sich für eine Konföderation
von Gemeinwesen als Alternativen zum Staat aus und
begann, die Formen der Gemeinwesen in vorkapitalistischen Gesellschaften zu studieren. Ein wirkliche Demokratie der assoziierten Produzentinnen und Produzenten
ist tatsächlich nicht denkbar ohne eine Zerschlagung des
Staates und seine Ersetzung durch einen Verbund von
dezentralisierten Strukturen der Selbstorganisation, die
sich koordinieren. Die notwendige Energiewende ermutigt uns, uns kühn für diese Vorstellung zu entscheiden;
denn die erneuerbaren Energien erfordern eine weitgehende Dezentralisierung, da sie durch die Gemeinwesen
verwaltet und kontrolliert werden. Wir können also die
Formel von Marx vervollständigen: „Die Commune ist
die endlich gefundene politische Form der Befreiung der
Arbeit und der ökologischen Nachhaltigkeit“ (im wahren
Sinne des Begriffes).
Diese drei Punkte genügen, so denke ich, um aufzuzeigen,
dass der Ökosozialismus etwas anderes ist als eine neue
Etikette auf einer alten Flasche: Er ist ein emanzipatorisches Projekt, das die Herausforderungen beinhaltet, vor
denen die Menschheit aufgrund der kapitalistischen
Umweltzerstörung und der verheerenden Erfahrungen des
„Realsozialismus“ steht.
Programm: eine unumgängliche Radikalität
In Bezug auf das Programm möchte ich all jenen sagen, die
denken, dass die ökologische Frage uns von antikapitalistischen Antworten auf die Austeritätspolitik ablenken
könnte, dass sie sich schwer täuschen. Das Gegenteil ist der
Fall. In Wirklichkeit verschaffen die Dringlichkeit und die
Schwere der ökologischen Krise einem äußerst radikalen,
revolutionären Programm eine starke Legitimität, dessen
Grundpfeiler die doppelte Enteignung/Vergesellschaftung
der Energie und des Finanzsektors ist, ohne Entschädigung, ohne Rückkaufsrecht und unter der Kontrolle der
Arbeiterinnen und Arbeiter.
Diese beiden Bereiche sind eng miteinander verzahnt,
vor allem weil die gigantischen Investitionen des Sektors
der fossilen Energieträger (Aufspürung, Bohrungen,
Minen, Raffinerien, Kraftwerke, Hochspannungsleitungen usw.) langfristiger Natur sind und über Kredit finanziert werden. Angesichts der oben erwähnten Verschrot-
tung der Energiesysteme vor ihrer Amortisierung, wie
auch der im Boden verbleibenden fossilen Reserven, ist die
Verstaatlichung die conditio sine qua non, damit die
Gesellschaft über die Hebel und die Mittel verfügt, die
Energiewende unabhängig von den Imperativen des
Profites und in einem dezentralen Rahmen vollziehen
kann.
Unter dieser Vorraussetzung können zahlreiche
unmittelbare Forderungen organisiert werden, auf die ich
nicht eingehen werde. Ich möchte nur erwähnen, dass mir
zwei Fragen von großer Wichtigkeit scheinen, in einer
doppelten Perspektive einer Antwort auf die Austeritätspolitik und einer Weiterverbreitung der Idee des Gemeineigentums.
Die erste betrifft den freien Zugang zu den Dienstleitungen des Grundbedarfs, die den sozial anerkannten
Bedürfnissen beim Zugang zu Wasser, Beleuchtung,
Mobilität und Wärme entsprechen (kombiniert mit
einem schnell ansteigenden Tarif jenseits dieser Bedürfnisse).
Die zweite betrifft die Zurückdrängung der Marktregulierung mittels der Förderung eines demokratischen
öffentlichen Sektors, mit Kontroll- und Beteiligungsmechanismen für die Bevölkerung: Öffentliche Gesellschaften für die Dämmung und Erneuerungen von Wohnungen, öffentliche Verkehrsunternehmen usw.
Strategie: Zusammenführen der Kämpfe aller
Ausgebeuteten und Unterdrückten
Ich werde zum Schluss über die Strategie sprechen. Es ist
klar, dass die Menschheit nur mit revolutionären Mitteln
aus der Sackgasse gelangen kann, in die sie der Kapitalismus geführt hat. Ebenso ist klar, dass im zu führenden
antikapitalistischen Kampf die Arbeiterklasse notwendigerweise eine zentrale Rolle einnimmt (das heißt all jene,
deren Existenz von der direkten oder indirekten Ausbeutung ihrer Arbeitskraft durch den Kapitalismus in der
Produktion, in den Dienstleitungen oder in der Reproduktion der Arbeitskraft abhängt).
Die Revolution besteht jedoch nicht aus zwei abgegrenzten Armeen – der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie
– die sich auf dem Schlachtfeld gegeneinander aufstellen.
Jede revolutionäre Situation ist das Produkt einer Krise
einer ganzen Gesellschaft, eines wirren Auf brodelns von
Vorstößen der Klassen, aber auch einzelner Klassenfraktionen, von Gesellschaftsschichten usw. In diesem Auf brodeln muss die Arbeiterklasse eine Hegemonie erobern,
indem sie praktisch aufzeigt, dass ihr Programm AntworInprekorr 6/2015 23
Ö KO S OZ I A L I S M U S
ten auf die Probleme und das Streben aller Ausgebeuteten
und aller Unterdrückten bringt.
Diese Richtigstellung ist hier besonders angebracht,
denn die „ökologische Krise“ ist wie die Bedrohung durch
einen Atomkrieg: Sie macht Millionen von Frauen und
Männern aus allen Gesellschaftsschichten betroffen und
setzt sie in Bewegung, da sie sich um die Zukunft des
Planeten und diejenige ihrer Kinder Sorgen machen.
Aus diesem Grunde haben die großen ökologischen
wie die großen pazifistischen Mobilisierungen oft einen
„interklassistischen“ Einschlag. Sicherlich sind dort die
ArbeiterInnen in der Überzahl (zumindest in den „entwickelten“ Ländern, wo die Arbeiterklasse die Mehrheit der
Bevölkerung ausmacht), aber sie nehmen nicht als ArbeiterInnen, mit dem Bewusstsein ihrer spezifischen Rolle,
daran teil.
Meiner Ansicht nach besteht die Rolle der RevolutionärInnen nicht darin, einfach vom Straßenrand weg
Traktate zu verteilen, die zu einer sozialistischen Antwort
aufrufen. Solche Traktate sind sicher nützlich, aber unsere
Aufgabe besteht auch darin, die Massenbewegung
aufzubauen und sie auf antikapitalistische Lösungen hin zu
orientieren.
Diese Strategiediskussion ist umso wichtiger, als sich
die Arbeiterklasse heute in der Nachhut im Kampf um das
Klima befindet, während die Bäuerinnen und Bauern und
die indigenen Völker an vorderster Front mit antikapitalistischen Forderungen kämpfen, wobei die Frauen eine
Schlüsselrolle spielen.
Beim Auf bau der Massenbewegung müssen wir
strategisch darauf achten, dass wir die Arbeiterklasse
miteinbeziehen können, deren Rolle entscheidend sein
wird. Dafür müssen wir aber die spezifischen Gründe der
schwächeren Beteiligung der Arbeiterklasse an den
ökologischen Kämpfen im allgemeinen und insbesondere
der Klimakämpfe verstehen.
Die Erklärung dafür ist nicht kompliziert. Wenn die
kleinen Bäuerinnen und Bauern gegen das Agrobusiness
um ihre Existenzbedingungen kämpfen, so stimmen ihre
unmittelbar vorgebrachten Forderungen im Großen und
Ganzen mit dem Programm im Agrarbereich, um das
Klima zu retten, überein. Zudem wissen sie, dass sie
Unterstützung aus der breiten Bevölkerung benötigen, um
einem sehr mächtigen Gegner gegenüberzutreten, der sie
zerstören will, so dass sie eher zu einem „Bauern- und
Arbeiter-Bündnis“ als zu einem kleinbürgerlichen
Programm neigen. Beispielsweise verhält es sich mit den
indigenen Völkern mutatis mutandis ebenso, bei ihrer
24 Inprekorr 6/2015
Verteidigung ihrer Lebensweise, die aus der Symbiose mit
dem Wald besteht.
Es ist nicht erstaunlich, dass in diesen beiden Gruppen
die Frauen eine Schlüsselrolle spielen. Nicht aufgrund
eines ökologischen „weiblichen Wesenskerns“, sondern
weil die Frauen einerseits weltweit für 80 % der Produktion der Lebensmittel aufkommen, und weil andererseits
die ihnen vom Patriarchat im Rahmen der Arbeitsteilung
zugeordnete „Pflegerolle“ sie unmittelbar mit einigen der
brutalsten Folgen der Klimaerwärmung konfrontiert, wie
etwa der Verknappung der Wasservorräte.
Die Problematik wird von ArbeiterInnen anders
wahrgenommen. Tatsächlich gibt es auf den ersten Blick
eher eine Spannung als eine Übereinstimmung – ja einen
offenen Gegensatz – zwischen deren unmittelbaren
Forderungen, die sie spontan zur Verteidigung ihres
Broterwerbs stellen, und dem Programm, das auf ökologischem Gebiet umgesetzt werden müsste. Selbstverständlich
ist dieser Gegensatz nur oberflächlich, aber er stellt
nichtsdestotrotz ein Hindernis dar, gerade in Bezug auf die
Kämpfe in den je einzelnen Unternehmen. Häufig fühlen
sich die ArbeiterInnen in Schmutz schleudernden Unternehmen wie zerissen zwischen einem Bewusstsein von
ihren ökologisch schädlichen Aktivitäten und ihren
bestehenden Verpflichtungen, mit denen sie an ihren
Arbeitsplatz gebunden sind. Diese Zerrissenheit kann nur
durch antikapitalistische Antworten überwunden werden,
die alleine sowohl auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse
wie auch auf die ökologischen Zwänge antworten können.
Dies ist die generelle strategische Stoßrichtung des
Ökosozialismus.
Ich werde keinen Katalog dieser Forderungen aufstellen – sie müssen zu einem grossen Teil in den konkret
stattfindenden Kämpfen selbst erfunden werden, ausgehend vor allem von den Kämpfen um die Gesundheit an
den Arbeitsplätzen. Eine aber scheint mir unerlässlich:
eine radikale Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnkürzung,
mit der entsprechenden Einstellung von zusätzlichen
Arbeitskräften und einer unter Arbeiterkontrolle stehenden starken Verringerung der Arbeitsrhythmen.
Dies ist eine entscheidende Forderung, weil die
radikale Verkürzung der Arbeitszeit mit einer Verringerung der Arbeitsrhythmen die wirksamsten Mittel im
Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und gegen den Produktivismus sind. Um die strategische Bedeutung dieser
Forderung aus ökologischer Sicht zu verstehen, muss man
insbesondere wissen, dass die Reduktion der materiellen
Produktion und der Transporte eine notwendige Bedin-
Ö KO S OZ I A L I S M U S
gung für eine Energiewende in Richtung erneuerbarer
Energien unter Einhaltung der klimatischen Bedingungen
darstellt.
Zahlreiche Faktoren stellen sich gegen die Verbreitung
dieser Forderungen in der Arbeiterbewegung. Einer ist
sicher die Existenz einer Gewerkschaftsbürokratie, die die
Klassenzusammenarbeit pflegt und darauf hofft, auf diese
schräge Weise – noch eine Illusion mehr! – einen „direkten Übergang“ hin zu einem sozialen und ökologischen
Kapitalismus verfolgen zu können.
Sich für den Auf bau einer Massenbewegung zur
Verteidigung der Umwelt im Allgemeinen, des Klimas im
Besonderen einzusetzen, bedeutet, sich die Fähigkeit zu
verschaffen, die kapitalistische Logik aus dieser Bewegung
heraus anzuklagen, durch das Handeln in einem Massenzusammenhang. Dies wird die ArbeiterInnen unvermeidlich anstacheln, sich mit ihren Waffen dem Kampf anzuschließen und dort diejenige Rolle zu spielen, die ihnen
schlussendlich zukommen wird.
Die revolutionäre Strategie besteht nicht im Ouvrierismus oder im Ökonomismus. Es geht um die Entwicklung
einer universalen Antwort auf die Sackgasse des Kapitalismus, auf allen Gebieten und in allen Milieus.
5 Vgl. James Lovelock, Gaia. Die Erde ist ein Lebewesen. Was
wir heute über Anatomie und Physiologie des Organismus
Erde wissen und wie wir ihn vor der Gefährdung durch den
Menschen bewahren können, aus dem Englischen übersetzt
von Jochen Eggert und Marcus Würmli, Bern, München,
Wien: Scherz Verlag, 1992, Kapitel 8: „Die Menschenplage“,
S. 153–171. Hier besonders S. 155f.: „Als Kollektiv ist der
Mensch heute so zahlreich, daß er eine ernsthafte Krankheit
für den Planeten darstellt. Gaia leidet unter der Menschenplage.“
6 Emissions of ODSs and their substitutes in Scientific
Assessment of Ozone Depletion: 2010 unter http://www.
esrl.noaa.gov/
7 Corinne Le Quere, op. cit.
8 Ein sozialistisches Gesellschaftsprojekt, um den heutigen
Stand ökologischer Erkenntnisse erweitert.
Daniel Tanuro ist Mitglied der
Führung der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR-SAP,
der belgischen Sektion der IV. Internationale. Neben
zahlreichen Artikeln ist er Autor von Klimakrise und Kapitalismus, Neuer ISP Verlag, Köln/Karlsruhe 2015.
Dieser Text ist die vom Autor leicht gekürzte Transkription eines am 28. Juli 2015 im Rahmen des 32. Treffens der Jugend
der IV. Internationale gehaltenen Vortrages. Der Autor dankt
allen Diskussionsteilnehmerinnen und –teilnehmern für ihre
Beiträge, die dem Autor geholfen haben, den Text in einigen
Punkten zu korrigieren und zu präzisieren..
Aus inprecor 619/620, September/Oktober 2015
Übersetzung: W. Eberle
„
1 Scientists Warn of Rising Oceans From Polar Melt, unter
www.nytimes.com vom 12. Mai 2014
2 The inevitability of sea level rise, unter realclimate.org
vom 15. August 2013
3 World on track for nearly 11-degree temperature rise,
energy expert says, unter www.washintonpost.com vom 28.
November 2011
4 Corinne Le Quere, Tyndall Centre for Climate Change
Research, University of East Anglia „ The scientific case for
radical emissions reductions “. http://tyndall.ac.uk/communication/news-archive/2013/radical-emissions-reductionconference-videos-now-online
Inprekorr 6/2015 25
Ö KO N O M I E
WELCHES
NICHT
PRODUKTIVISTISCHE
MODELL?
Dieser Beitrag1 beschäftigt sich mit mehreren Punkten, durch die sich ein
roter Faden zieht: den vagen Begriff des Antiproduktivismus aufgreifend, soll
versucht werden, mit ein und derselben antikapitalistischen Logik soziale und
ökologische Fragen zu kombinieren.
Michel Husson
„
E
s gab eine Zeit, in der die Arbeiterbewegung
eine produktivistische Haltung vertrat. So warf die PSU2 ,
um nur ein Beispiel zu nennen, 1964 in ihrem „Gegenplan“ dem Plan der Regierung vor, ein jährliches Wachstum von lediglich 5 Prozent vorzusehen. Heute denken
viele Teile der Linken über die Möglichkeit eines nicht
produktivistischen Modells, zeitweise als Ökosozialismus
bezeichnet, nach. Diese Entwicklung erklärt sich durch
verschiedene Faktoren, die hier nur kurz in Erinnerung
gerufen werden: die Erdölschocks der 1970er-Jahre, das
wachsende Bewusstsein über die Klimaproblematik, die
Perspektive einer Jahrhundertstagnation etc. Sie greift aber
26 Inprekorr 6/2015
auch Elemente einer Kritik der Konsumgesellschaft auf,
die bereits auf die 1970er-Jahre zurückgeht.
Kapitalismus und Sozialismus: zwei
unterschiedliche Logiken
Es ist vielleicht nicht unsinnig, kurz in Erinnerung zu
rufen, dass es auf abstrakter Ebene zwei wirtschaftliche
und soziale Organisationsweisen gibt. Was den Kapitalismus betrifft, ist klar, dass sein Ziel darin besteht, möglichst
hohe Profite unter dem Vorbehalt tatsächlicher gesellschaftlicher Nachfrage zu erzielen. Das bedeutet, dass die
Kapitalisten ihre Waren nur unter der Bedingung verkau-
Ö KO N O M I E
fen, dass sie einen Gebrauchswert haben, kurz einer
gesellschaftlichen Nachfrage entsprechen, die natürlich
eine tatsächliche Nachfrage sein, d. h. einer entsprechenden Kaufkraft entsprechen muss. Die „Mikroökonomie“
versucht nachzuweisen, dass das Zusammentreffen von
„Produzenten“ (die ihren Profit maximieren) und „Konsumenten“ (die ihren „Nutzen“ maximieren) zu einem
Optimum führt, sofern nicht diverse starre Regelungen
dessen Realisierung verhindern.
Der Zweck dieses ideologischen Kraftaktes ist es, Ziele
und Hindernisse als symmetrisch darzustellen, aber auch
die Möglichkeit einer anderen Gesellschaftsorganisation,
des Sozialismus, zu leugnen, dessen Plan die Maximierung
des gesellschaftlichen Wohlergehens unter Vorbehalt der
mobilisierbaren Mittel wäre, was zu völlig anderen
Ergebnissen führen würde. Diese Mittel sind die menschliche Arbeit (und die daraus hervorgehenden Produkte),
aber auch die Natur. Arbeit und Natur sind, um die
Begriffe von Marx aufzugreifen, „Vater“ und „Mutter“
jeder Produktion von Gebrauchswert, mit anderen Worten
des „stofflichen Reichtums“.3 Das bedeutet auch, dass die
beiden Aspekte von „sozialer Ökologie“, die sich schlicht
mit dem Status des Arbeiters und der Ökologie befasst, in
der Definition des gesellschaftlichen Optimums als
Aspekte gleichwertig zu berücksichtigen sind und zusammen in einen Ausgleich münden, der ein Ergebnis demokratischer Beschlussfassung ist.
Im Kapitalismus spielen Zweck und Mittel also eine
andere Rolle als im Sozialismus. Im Kapitalismus dominieren private Entscheidungen die gesellschaftliche Wahl. Die
ökonomischen Berechnungsmodelle beider Gesellschaftssysteme operieren auch nicht mit denselben Effizienzkriterien. Der Kapitalismus bemisst die Effizienz nach dem Profit,
während das Kriterium des Sozialismus das gesellschaftliche
Wohlergehen ist, gemessen an der Einhaltung von Menschenrechten und Rücksichtnahmen auf die Umwelt.
Daher gibt es zwei mögliche Wirtschaftsrechnungen
und zwei Effizienzkriterien. Am konkreten Beispiel der
Medikamente bedeutet das kapitalistische Kriterium, den
Ertrag für Investitionen der pharmazeutischen Gruppen zu
maximieren, während das sozialistische Kriterium
bedeutet, die Zahl der behandelten Patienten zu maximieren. Daran ist leicht erkennbar, dass die Anwendung des
einen Kriteriums zu einem anderen „Nutzeffekt“ führt als
die des anderen.4
Diese Betrachtungen5 erlauben, die aktuelle Diskussion
über neue Reichtumsindikatoren zu beleuchten. Zu zeigen,
dass das BIP kein Maßstab für Wohlergehen oder Glück ist,
ist nützlich für die Kritik am produktivistischen Kapitalismus, selbst wenn man damit offene Türen einrennt. Das
BIP entspricht der kapitalistischen Logik und ist daher ein
geeignetes Instrument, um diese zu studieren. Es zu
verwerfen wäre ebenso absurd wie die Weigerung, die
Profitrate zu betrachten, weil der Profit auf Kosten der
Lohnabhängigen erzielt wird (müsste sie also um den
Aspekt der Mühseligkeit der Arbeit ergänzt werden?).
Multidimensionale oder synthetische qualitative
Indikatoren aufzustellen, die versuchen, das Wohlergehen
zu messen, ist zweifellos nötig, doch solche stehen bereits
zur Verfügung, beispielsweise in Form des Indikators für
menschliche Entwicklung des Entwicklungsprogramms
der Vereinten Nationen (UNDP) oder im Bereich von
Armut, Ungleichheit, Zugang zu Gesundheit etc. Im
Übrigen fragt sich, ob die Maschine anders funktioniert,
nur weil die Instrumente geändert werden. Das nahezulegen gibt Sarkozys Augenwischerei Gewicht, wenn er
erklärt: „Wir werden unser Verhalten nicht ändern, wenn
wir den Maßstab für unsere Leistung nicht ändern.“6
Am schlimmsten ist, dass diese Reflexion über die
Indikatoren in kontraproduktive Vorschläge mündet. Man
müsse beispielsweise das BIP korrigieren und ein NIP
(Nettoinlandsprodukt) errechnen, das man erhalte, wenn
man die „natürliche Abnutzung des Kapitals“ abziehe. Das
setzt einen Preis für etwas voraus, was keinen Preis hat,
und führt zu Monstrositäten wie, um nur eine unter vielen
zu erwähnen, diese Studie, die „den durchschnittlichen
Wert, der den Ökosystemen der Hauptstadt zuzuschreiben
ist, auf 970 Euro pro Hektar und Jahr“ schätzt.7
Der Versuch, das BIP zu korrigieren, indem nicht
marktwirtschaftliche Aktivitäten oder schlimmer noch
natürliche Rohstoffe und ihre „Dienste“ in Geldäquivalenten angegeben werden, ist völlig widersinnig, da es
gerade darum geht, das Wohlergehen (Gebrauchswert) von
der Warenproduktion (Tauschwert) zu unterscheiden.8
Die kapitalistischen Antworten auf die
Umweltproblematik
Bevor man sich der Klimagefahren bewusst wurde,
betrachtete die vorherrschende Ökonomie den Produktionsprozess als Kombination zweier Faktoren: des Kapitals
und der Arbeit. Diese beiden Faktoren wurden als eigentlich austauschbar erachtet, in dem Sinn, dass der eine je
nach relativem Preis beider Faktoren durch den anderen
ersetzt werden konnte. Die Energie tauchte in dieser
Darstellung nicht direkt auf oder nur vermittelt über die
im Energiebereich nötigen Investitionen.
Inprekorr 6/2015 27
Ö KO N O M I E
28 Inprekorr 6/2015
GRAFIK 1: BIP UND ENERGIEVERBRAUCH
GLOBAL
weltweiter Energieverbrauch
Dabei geriet in Vergessenheit, dass das weltweite
Wachstum des BIP seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit
einem ebenso erheblichen Wachstum des Energieverbrauchs einhergegangen ist. Grafik 1 zeigt, dass das globale
BIP zwischen 1860 und 2008 um ein 50-Faches gewachsen ist und der Energieverbrauch im selben Zeitraum um
ein 18-Faches. Das Verhältnis der beiden Zahlen zueinander zeigt jedoch, dass die Energieintensität (der Energieverbrauch in Bezug auf das BIP) konstant abgenommen
hat. Die Entwicklung des Kapitalismus beruhte also auf
der Verfügbarkeit von kostengünstigen Energiequellen, es
gab aber auch Bemühungen, die entsprechenden Kosten
und den Verbrauch einzudämmen (Grafik 1).
Die steigenden Erdölpreise und die Notwendigkeit, die
Umweltfrage zu berücksichtigen, führten die vorherrschende (neoklassisch genannte) Ökonomie dazu, diese
theoretischen Schemata durch Einführung eines dritten
Produktionsfaktors neben Arbeit und Kapital – der
Energie – zu ergänzen. Doch dieselbe Hypothese der
„Ersetzbarkeit“ zwischen den drei Faktoren wurde
grundlegend beibehalten. Das läuft auf die Behauptung
hinaus, es genüge, die Preise für Energie zu erhöhen, um
deren Gebrauch zu senken, fast so wie es gemäß neoliberalen Ökonomen genügt, die Arbeitskosten zu senken, um
Stellen zu schaffen.
Deshalb rät die vorherrschende Ökonomie vor allem zu
marktwirtschaftlichen Lösungen, nämlich Ökosteuern
und einen Markt für Emissionsrechte. Wobei man hier den
Advocatus Diaboli spielen und behaupten kann, diese
Vorkehrungen dürfen nicht systematisch zurückgewiesen
werden. Die Erhöhung der Energiepreise ist nicht irrational. Man muss sich nur vorstellen, was passieren würde,
wenn Energie nichts kosten würde. Und die steigenden
Erdölpreise haben den Verbrauch gedrosselt. Was die
Märkte für Emissionsrechte betrifft, kann das Prinzip als
ein Ersatz für Planung gesehen werden, insofern sie dazu
beitragen sollen, die Bemühungen um Einschränkung des
Treibhausgasausstoßes entsprechend den technologischen
Eigenheiten jedes Produktionsprozesses zu verteilen.
Beide Ansätze bleiben hinter der Problemstellung
jedoch weit zurück und prallen auf die kapitalistische
Logik. Die Emissionsrechte zogen Finanzspekulationen
nach sich, die zu einer Senkung der Kohlenstoffpreise
führten, sodass die Maßnahmen ineffizient geworden sind.
Was die Pläne für Ökosteuern betrifft, prallen diese an
soziale Widerstände, denn die ausgearbeiteten Modalitäten
wälzen die Lasten auf den gesellschaftlichen Lohn ab
anstatt auf Unternehmensprofite.
Bruttosozialprodukt weltweit
Das einzige Erfolgsbeispiel ist der Umgang mit Treibgasen (Chlorfluorkohlenstoffe CFK), die die Ozonschicht
angreifen. Das Montrealer Protokoll von 1987 führte zu
einer nahezu vollständigen Einstellung von deren Nutzung
innerhalb von zwanzig Jahren. Zwar wurden sie durch die
– weniger schädlichen – Fluorchlorkohlenwasserstoffe
(FCKW) ersetzt, doch die Bilanz zeigt, dass quantifizierte
Normen oder anders gesagt der Ansatz zu einer Planung
Wirkung zeigten.
Die Dimension der Aufgaben: unerreichbare Ziele?
In seinem letzten Bericht setzt der IPCC-Klimarat
(Intergovernmental Panel on Climate Change) als Ziel
fest, dass die Erwärmung bis Ende des Jahrhunderts (im
Vergleich zum vorindustriellen Niveau) höchstens zwei
Grad betragen dürfe, was bedeutet, dass die Konzentration
an Treibhausgasen 450 ppm an Kohlenstoffäquivalenten
nicht übersteigen darf. „ In den von IPCC untersuchten
Szenarien ist zur wahrscheinlichen Einhaltung der
2°C-Obergrenze eine Reduktion der globalen Treibhausgasemissionen in allen Sektoren bis zum Jahr 2050 von
40 % bis 70 % gegenüber dem Jahr 2010 notwendig und
Emissionen nahe null bzw. darunter im Jahr 2100.“9
Welches Wachstum des globalen BIP ist also mit der
notwendigen Senkung der CO2-Emissionen vereinbar?
Um diese Frage zu beleuchten, soll von der Definition der
ausgestoßenen CO2-Intensität pro Einheit des globalen
BIP ausgegangen werden. Das mit einem Emissionsziel
vereinbare BIP ist dabei vom Ziel der Reduktion der
Emissionen und der gewählten Annahme einer Senkung
der CO2-Intensität abgeleitet.10
Der Einfachheit halber (unter Ausklammerung anderer
Ö KO N O M I E
Zu vermeidende Lösungen
Da ist in allererster Hinsicht die Bevölkerung. Gemäß
UNO wird die Weltbevölkerung 2015 die Grenze von 7,3
GRAFIK2: CO2-EMISSIONEN UND
BIP-KOMPATIBILITÄT
Globales Wachstum des BIP (in % jährlich)
Treibhausgase wie Methan und Lachgas) setzt der IPCC als
Mindestziel eine Halbierung der CO2-Emissionen bis 2050
voraus. Daraus lässt sich ein Diagramm erstellen, das für
verschiedene Annahmen über den Rhythmus der CO2Intensität das mit diesem Ziel vereinbare BIP-Wachstum
zeigt (Grafik 2).
Punkt A entspricht der Annahme, dass der Rhythmus
der Senkung der CO2-Intensität bis 2050 gleich bleibt wie
jener der letzten beiden Jahrzehnte, also –1,7 % jährlich.
Das Ziel einer Halbierung der CO2-Emissionen bedeutet,
dass das globale BIP bis 2050 zu wachsen aufhört.
Punkt B entspricht der Annahme, dass der Rhythmus der
Senkung der CO2-Intensität auf 3 % jährlich gesteigert wird.
In diesem Fall beträgt das damit kompatible globale Wachstum des BIP 1, 3 % jährlich, was einer deutlichen Verlangsamung gegenüber den letzten zwanzig Jahren entspricht.
Mit demselben Instrument können auch die Ergebnisse
des letzten IPCC-Berichts bewertet werden, die kaum unter
diesem Gesichtspunkt diskutiert wurden. Das Mindeste, was
man sagen kann, ist, dass sie beruhigend sind. Das vom IPCC
vorgeschlagene durchschnittliche Szenario würde tatsächlich
nur eine Verlangsamung des Konsumwachstums um 0,0 6 %
jährlich bringen. Gegenüber einem Referenzwert von 2 %
jährlichem Konsumwachstum läge dieses mit Reduktion der
Emissionen bei 1,9 4 %.11
Konsum und BIP können hier gleichgesetzt werden.
Grafik 2 zeigt, dass die mittlere Annahme des IPCC von
einer Senkung der CO2-Intensität in einem gegenüber den
letzten zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelten Rhythmus
ausgeht. Bei aller Simplifizierung erlaubt diese Übung, die
den IPCC-Szenarien zugrunde liegenden impliziten
Annahmen aufzuzeigen, um ein Gefühl für Größenordnungen zu vermitteln.12
Der Weltklimarat geht mit anderen Worten davon aus,
dass in den nächsten 40 Jahren der CO2-Gehalt einer
BIP-Einheit auf ein Viertel reduziert werden könnte. Dieses
Ergebnis könnte nur durch eine Kombination mehrerer
technologischer wie sozialer Faktoren erreicht werden, die
in zwei große Gruppen eingeteilt werden können: jene, die
den Energiegehalt am BIP reduzieren, und jene, die „sauberere“ Energien privilegieren. Es ist völlig legitim, sich zu
fragen, ob ein so ehrgeiziges Ziel erreicht werden kann, und
diese Frage führt dazu, dass gefährliche und unzureichende
Lösungen diskutiert werden.
IPCC
Senkung der CO2-Intensität (in % jährlich)
Milliarden und 205013 die Grenze von 9,7 Milliarden
Menschen erreichen, was einem durchschnittlichen
jährlichen Wachstum von 0,8 % entspricht, das also vom
BIP-Wachstum abzuziehen ist, um ein BIP pro Kopf zu
erhalten. Unter sonst gleichen Bedingungen trägt das
Bevölkerungswachstum übrigens tatsächlich zur Steigerung des Energieverbrauchs und damit der Treibhausgasemissionen bei. Das führt eine ganze Strömung an
Neomalthusianern dazu, die Bevölkerung zu einer
Variablen der Anpassung zu machen. Sofern man nicht in
barbarische Lösungen kippt, muss aber auf soziale Faktoren
gesetzt werden, um durch die Senkung der Fruchtbarkeitsrate einen demografischen Wandel zu begünstigen: den
Abbau der Ungleichheiten und vor allem den sozialen
Status der Frauen.14 Im Großen und Ganzen ist es das, was
die niedrige Annahme der UNO voraussieht, die von
einem Wachstum der Weltbevölkerung von 0,5 % statt
0,8 % zwischen 2015 und 2050 ausgeht, also einer Milliarde Menschen „weniger“ bis 2050.
Ein anderer Weg, der kritisch zu hinterfragen ist, ist das
„Negativwachstum“. Welche Gefahr von dieser Ideologie
ausgeht, sieht man zweifellos in einem schon alten Artikel
von Serge Latouche15, wo dieser beteuert, dass die „Beibehaltung oder, schlimmer noch, die Einführung einer
Wachstumslogik im Süden unter dem Vorzeichen eines
Auswegs aus dem durch ebendieses Wachstum geschaffenen Elend diesen nur noch mehr verwestlichen kann“. Auf
die Feststellung von Jean-Marie Harribey16 , die Armen
hätten Anrecht „auf eine Zeit des Wachstums, um Schulen, Gesundheitszentren, Trinkwasserleitungen zu
errichten und ihre Ernährungssouveränität wiederzufinden“, erwiderte Latouche, dass „in diesem von einem
Inprekorr 6/2015 29
Ö KO N O M I E
guten Empfinden ausgehenden Vorschlag ein gewöhnlicher Ethnozentrismus liegt, der genau jener der Entwicklung ist“. Und stellte sogar die Frage, ob die Schulen und
Gesundheitszentren „gute Einrichtungen sind, um Kultur
und Gesundheit einzuführen“.
Klar ist, wie Latouche selbst einräumt, das Negativwachstum ein „Slogan“ und diese Denkrichtung nicht
einheitlich. Wenn es darum geht, die Flucht nach vorne in
Wachstum und übermäßigen Konsum zu kritisieren, sind
natürlich breite Übereinstimmungen möglich. Dagegen
müssen aber die Gleichsetzungen oder die Vermischung
von Wachstum und Suche nach einem menschenwürdigen
Lebensstandard, zwischen ökonomischer Analyse und
„Ökonomizismus“, zwischen Entwicklung und Ethnozentrismus zurückgewiesen werden. Am wichtigsten ist
jedoch, dass die Anhänger des Negativwachstums nie die
Frage nach den gesellschaftlichen Strukturen stellen, die
den Wettlauf zum Produktivismus hervorbringen, und
sich logischerweise oft in Schuldgefühle erweckenden
Ermahnungen ergehen. Andere engagieren sich dagegen
in ökologischen und sozialen Kämpfen, die konkrete
Alternativen in Aussicht stellen.
An dieser Stelle wären lange Ausführungen über die
Notwendigkeit einer Theorie der Bedürfnisse anzustellen, doch wir beschränken uns auf die knappe Formulierung zweier Hypothesen. Die erste ist, dass es eine
universelle Definition von Bedürfnissen gibt, die man
als humanistisch bezeichnen könnte und die mit Ian
Gough in zwei großen Kategorien eingeteilt werden
können: die Gesundheit und die Autonomie.17 Die
zweite Hypothese, die man als materialistisch bezeichnen kann, greift nur die berühmte Formulierung auf,
wonach das „Sein das Bewusstsein bestimmt“. Sie setzt
darauf, dass die Veränderung der sozialen Existenzbedingungen die Bedürfnisse und Wünsche der Einzelnen
verändern kann. Diese Hypothese kann sich beispielsweise auf die Arbeiten von Richard Wilkinson18 stützen,
die vielfache Korrelationen zischen sozialen Ungleichheiten und dem Gesundheitsniveau (im weitesten Sinn)
feststellen. Seine Botschaft ist ausgesprochen klar: Die
Gleichheit ist absolute Bedingung für gesellschaftliches
Wohlbefinden und wahre Freiheit, definiert als „das
Gefühl, nicht missachtet und als minderwertig behandelt
zu werden“. Die menschliche Natur zeichne sich nicht
zwangsläufig durch Habgier aus, sondern schwanke
gemäß einer jeder Gesellschaft eigenen „Dosierung“
zwischen den widersprüchlichen Bestrebungen Kooperation und Dominanz.
30 Inprekorr 6/2015
Es gilt also, die subjektivistische Kritik des übermäßigen Konsums hinter sich zu lassen und sie in gewisser
Weise umzudrehen. Wie Richard Smith19 angesichts des
Worldwatch Institute ätzend schreibt: „Sie glauben, dass es
die konsumorientierte Kultur ist, die die Unternehmen zur
Überproduktion treibt. Ihre Lösung ist also, die Kultur zu
verändern, indem die Leute dazu gebracht werden, ihre
Berichte zu lesen und sich umzuerziehen, damit sie den
Konsumwahn verstehen und sich entscheiden, auf unnützen Konsum zu verzichten – ohne die Wirtschaft selbst zu
verändern. Doch es ist nicht die Kultur, die die Wirtschaft
bestimmt, sondern vor allem die Wirtschaft, die die Kultur
bestimmt.“
Die Grenzen des grünen Kapitalismus
„Ein statischer Kapitalismus ist ein begrifflicher Widerspruch.“ Dieses Zitat von Schumpeter 20, dem Theoretiker
der „schöpferischen Zerstörung“, wird oft bemüßigt, und
das zu Recht. Die Konkurrenz zwischen individuellen
Kapitalien verläuft tatsächlich über die Akkumulation, die
unaufhörliche Suche nach Produktivitätsgewinnen, den
Kampf um Marktanteile, die beschleunigte Rotation des
Kapitals, die Veralterung der produzierten Güter. Sie wird
fortan auf weltweiter Ebene ausgetragen und entgeht
nahezu jedem wirklichen Regulierungsversuch. Dieser
Dynamik liegt tatsächlich das Suchen nach Profit zugrunde, das sich in der Notwendigkeit ausdrückt, immer mehr
zu produzieren.
Diese Logik hat in energetischer Sicht mehrere Folgen.
Wie wir gesehen haben, ist das kapitalistische Wachstum
direkt mit einem steigenden Energieverbrauch verbunden.
Doch die Profitrate ebenfalls, und man kann – hier im Fall
von Frankreich – einen sehr engen Zusammenhang
zwischen Fluktuationen in der Profitrate und Kosten des
Energieverbrauchs beobachten (Grafik 3). Und der
Wettbewerb hat zur Folge, dass „gute Praktiken“ in
ökologischen Angelegenheiten ebenso wie im Sozialen
verdrängt werden (Grafik 3).
Der „grüne Kapitalismus“ kann sich zweifellos
gewisser Sektoren bemächtigen, sofern diese rentabel
sind, doch er ist insgesamt unvereinbar mit einer verallgemeinerten energetischen Wende, die ab einer gewissen
Schwelle zur Senkung der Rentabilität führen würde.
Seine Ausweitung ist zudem begrenzt durch die neoliberale Politik, die darauf abzielt, das Eingreifen der
öffentlichen Hand, die gewisse grüne Investitionen
finanzierbar machen könnte, einzudämmen. Aus all
diesen Gründen ist der „grüne Kapitalismus“ ein Oxy-
Ö KO N O M I E
moron, wie Daniel Tanuro22 in seinem Referenzwerk
zeigt.
GRAFIK3: PROFITRATE UND ENERGIEVERBRAUCH: FRANKREICH 1960–2014
Verteilungsdilemmata
Am schwierigsten ist zweifellos das Problem der Lastenverteilung für die notwendigen Veränderungen zwischen
hochindustrialisierten Ländern und dem Rest der Welt.
Die vorliegenden Prognosen zeigen, dass der Großteil der
zukünftigen Emissionen auf Schwellen- und Entwicklungsländer entfallen wird. Muss daraus abgeleitet werden,
dass die Länder des Südens einwilligen müssten, die
wichtigsten Anstrengungen zu tragen?
Manche behaupten, die Klimakatastrophe sei unvermeidbar, wenn die Entwicklungsländer das „produktivistische“, energieverschleißende Modell des Nordens
übernehmen würden. Das ist nicht falsch, man kann aber
zwei diametral entgegengesetzte Schlüsse daraus ziehen. In
der fundamentalistischsten Version des Negativwachstums
von Latouche müssten die Länder des Südens auf das
„Haben“ verzichten und sich mit dem „Sein“ begnügen,
das ihren ganzen Reichtum ausmacht. Die reaktionärsten
Neomalthusianer rufen implizit zu einer Form von
weltweiter Eugenik auf, in der die Armen durch Dürren
ausgehungert und vom steigenden Meeresspiegel verschlungen würden und sich im Kampf um fruchtbare
Böden und Wasser gegenseitig töten würden, was einen
Teil der Lösung brächte. Diese Extrempositionen sind
selten, verweisen aber auf eine reale Tatsache: Die Armen
sind durch den Klimawandel am meisten verwundbar.
In dieser Logik wird aber mehreres vergessen: Der
Großteil der in der Atmosphäre angesammelten Treibhausgase geht auf Industrieländer zurück, und der Prokopfausstoß in den industrialisierten Ländern ist nach wie vor
viel höher als anderswo. Zudem entspricht ein Teil der
Emissionen der Schwellenländer der Produktion von
Gütern, die in den Industriestaaten konsumiert werden.
Diese Feststellung liegt der Konfrontation zwischen
China und den Vereinigten Staaten zugrunde und wird
auch beim COP21, der nächsten Klimakonferenz, im
Zentrum stehen. Die Industriestaaten sind gegenüber dem
Rest der Welt also ökologisch verschuldet. Es handelt sich
nicht um eine Art Schuld, die annulliert oder „umgeschichtet“ werden könnte, sie muss bezahlt werden, und
der einzig vorstellbare vernünftige Ausweg liegt in
Technologietransfer und technologischen Investitionen aus
dem Norden in den Süden, die erlauben würden, die Ziele
der Emissionsreduktion und des Rechts auf Entwicklung
der ärmsten Länder miteinander zu vereinbaren.
Profitrate (linke Skala)
Energieverbrauch in Prozentwerten des BIP (rechte Skala)
Quelle: Pierre Villa 21 , Insee.
Um diese enorme Schwierigkeit zu illustrieren, kann
über die Auswirkungen der Forderung nachgedacht
werden, die aus Anlass der COP21 vorgebracht werden:
„Die Regierungen müssen die Subventionen einstellen,
die in die auf fossile Rohstoffe gestützten Industrie fließen,
und deren Abbau einfrieren, indem auf die Förderung von
80 Prozent aller fossilen Kohlenstoffe verzichtet wird.“23
Dieses Ziel ist mit den Zielen des IPCC absolut vereinbar.
Doch die praktische Umsetzung wirft das Problem der
Verteilung dieser Regel auf die gesamte Erde auf, denn die
angesprochenen Reserven sind sehr ungleich verteilt, wie
Tabelle 1 zeigt.
Ein anderes Dilemma wird sichtbar, wenn man sich die
Verteilung der Emissionen nach sozialen Kategorien
TABELLE 1
Erdöl
Erdgas
Kohle
Mio. Barrel
% Mrd. m³
% Mrd. t
USA-Kanada
Europa
ehem. UdSSR
China u. Indien
Afrika
Südamerika
Nahost
Andere
Welt
%
45
9,9
800
0,8
5
1,2
300
0,3
250 28,2
28
6,2
36000
36,0
209 23,6
207 23,3
74
9
2,0
2500
2,5
28
6,2
4400
4,4
30
8,3
3,4
63
14,0
5000
5,0
11
1,2
264
58,8
47000
47,0
3
0,4
7
1,6
4000
4,0
102
11,5
449 100,0
100000 100,0
887 100,0
Quelle: Christophe McGlade, Paul Ekins24 .
Inprekorr 6/2015 31
Ö KO N O M I E
Das nicht produktivistische Modell ist
Antikapitalismus
Statt ein fertiges „Programm“ vorzuschlagen, das weit
über die Absicht dieses Beitrags hinausgehen würde, soll
hier nur gezeigt werden, wie sehr in einer (weder vollständigen noch systematischen) Auflistung von Gegensatzpaaren alternative Ansätze, die in Tabelle 2 dargestellt sind,
mit der kapitalistischen Logik kollidieren.
Somit ist es ausgeschlossen, sich angesichts der Umweltprobleme ein nicht produktivistisches Modell vorstellen zu können, ohne die Grundlagen des kapitalistischen
Funktionierens infrage zu stellen. Diese Schlussfolgerung
muss um die Feststellung ergänzt werden, dass es keinen
grundlegenden Unterschied zwischen der Art gibt, wie
soziale und wie ökologische Fragen zu behandeln sind. Die
Parameter sind dieselben: Ob es darum geht, allen menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen zu
gewährleisten oder das Überleben des Planeten zu sichern,
in beiden Fällen muss den Kapitalisten die Macht entzogen
werden, ihre Privatentscheidungen durchzusetzen, und
stattdessen eine weltweit koordinierte Planung eingeführt
werden. 26
Die Perspektive auf einen Ökosozialismus stützt sich
auf diese Ähnlichkeit im Ansatz, der ein praktisches Ziel
vorgibt, nämlich das Zusammenlaufen von Kämpfen der
sozialen Bewegungen und der Umweltbewegung. Das
32 Inprekorr 6/2015
GRAFIK4: ENERGIEVERBRAUCH NACH EINKOMMENSNIVEAU IN GROSSBRITANNIEN
Belastung durch Energieverbrauch
ansieht. Dafür liegt eine sehr detaillierte Studie vor, die
den Zusammenhang zwischen Treibhausgasen und
Einkommensniveau untersucht.25 Sie bezieht sich auf
Großbritannien im Jahr 2006 und ist interessant, weil sie
nicht nur die direkten Emissionen (z.B. Heizungen von
Privathaushalten oder Autoabgase) einbezieht, sondern
auch indirekte Emissionen (in Form von Konsumgütern,
öffentlichem Verkehr etc.). Das Emissionsvolumen steigt
mit dem Einkommen. Dafür variiert die Last des Energieverbrauchs am Einkommen, gemessen anhand eines Index
mit einem Durchschnittswert von 100, umgekehrt proportional zum Einkommen: Sie beträgt 200 bei den 10 %
Ärmsten, während sie bei den 10 % Reichsten nur 50
beträgt (Grafik 4).
Dieses Ergebnis ist wesentlich, denn es unterstreicht,
dass jede Steigerung der Energiepreise – z. B. eine Steuer
auf Kohlenstoffe – die Haushalte mit den geringsten
Einkommen sozial ungerecht belasten würde. Für jede
Maßnahme dieser Art sind also Mechanismen vorzusehen,
die deren unsoziale Schlagseite in Form von Ausgleichszahlungen oder gestaffelten Tarifen korrigieren.
Verfügbares Einkommen (in 1000 £ pro Jahr)
Quelle: Ian Gough et al.
einzige Hindernis liegt in einem unterschiedlichen
Zeithorizont, der sich beispielsweise im Widerspruch
zwischen der unmittelbaren Verteidigung der Arbeitsplätze und dem Kampf gegen Umweltrisiken äußert. Um
diesen Widerspruch zu überwinden, braucht es selbstverständlich Überzeugungsarbeit und Diskussionen, aber es
ist zweifellos – leider – auch die Häufung von Umweltka-
TABELLE 2: NICHTPRODUKTIVISMUS
VERSUS KAPITALISMUS
Nicht produktivistisches
Modell
Kapitalismus
Erneuerbare Energien
Ausbeutung fossiler
Energieträger
Haltbarkeit der Güter
Rotation des Kapitals
Verkürzung der Arbeitszeit
Lohndruck, Prekarisierung,
Ausschluss aus Lohnarbeit
Kostenlosigkeit und Ausbau
der öffentlichen Dienste
Sparhaushaltspläne,
Privatisierungen
Schaffung nützlicher, aber
„nicht rentabler“ Stellen
Druck auf die „Kosten der
Arbeit“ und Infragestellung
sozialer Errungenschaften
Öffentliche Investitionen
„Privatinitiative“
Desintensivierung des Handels Freihandelsabkommen
und produktive Umlagerung
Selbstversorgung in der
Ernährung
Globalisierte intensive
Landwirtschaft
Soziale Kontrolle über die
wirtschaftlichen Prioritäten
und die Arbeitsorganisation
„freier, nicht verzerrter“
Wettbewerb
Ö KO N O M I E
tastrophen, die dieses notwendige Zusammenlaufen
beschleunigen wird. Dieser Prozess scheint in China
bereits im Gange zu sein.27
Übersetzung: Tigrib
„
1 Er basiert auf einem Vortrag vom 23. August 2015 an der
Sommeruniversität von „Ensemble“, einem Teil des französischen Front de gauche (Linksfront).
2 Le contre-plan du PSU, 1964.
3 Karl Marx: „Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von
ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums.
Die Arbeit ist der Vater, wie William Petty sagt, und die Erde
seine Mutter.“ MEW 23, S. 52.
4 Der Ausdruck ist von Engels: „[Die Gesellschaft] wird den
Produktionsplan einzurichten haben nach den Produktionsmitteln, wozu besonders auch die Arbeitskräfte gehören. Die
Nutzeffekte der verschiednen Gebrauchsgegenstände,
abgewogen untereinander und gegenüber den zu ihrer
Herstellung nötigen Arbeitsmengen, werden den Plan
schließlich bestimmen.“, Anti-Dühring, Dritter Abschnitt,
Kap. IV, http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_239.
htm#Kap_IV, | 288 |.
5 Michel Husson, „L’hypothèse socialiste“, in Stathis Kouvelakis (Hg.) Y a-t-il une vie après le capitalisme?, Le Temps des
Cerises, 2008; Le capitalisme en 10 leçons, La Découverte, 2012,
Kapitel 4.
6 In seiner Rede an der Sorbonne im Rahmen der Übergabe
des Berichts von Stiglitz-Sen-Fitoussi über das Maß wirtschaftlicher Effizienz und sozialen Fortschritts (la mesure des
performances économiques et du progrès social), Paris, 14.
September 2009.
7 Centre d’analyse stratégique, Approche économique de la
biodiversité et des services liés aux écosystèmes, 2009.
8 Siehe Jean-Marie Harribey, „La nature, les écosystèmes
peuvent-ils résister à leur financiarisation?“, Juni 2015; und
sein Buch: La richesse, la valeur et l’inestimable, Paris, Les
Liens qui libèrent, 2013.
9 IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change),
Climate Change 2014. Synthesis Report. Summary for Policymakers, deutsche Kernbotschaften: http://www.de-ipcc.
de/_media/141102_Kernbotschaften_IPCC_SYR.pdf
10 Ausführlicher dargestellt in Michel Husson, „Un abaque
climatique“, note hussonet n° 89, 20. August 2015, http://
hussonet.free.fr/abacli.pdf.
11 Ebd, S. 24: „if the reduction is 0.06 percentage points per
year due to mitigation, and baseline growth is 2.0 % per year,
then the growth rate with mitigation would be 1.94 % per
year“.
12 Dabei handelt es sich eher um minimale Schätzwerte, da nur
CO2 berücksichtigt wird. Die Ziele des letzten IPCC-Berichts
betreffen aber alle Treibhausgase (Senkung um 40 bis 70 %
zwischen 2010 und 2015), während im vorigen Bericht nur die
CO2-Emissionen beziffert wurden (zwischen 50 und 85 %).
13 Es handelt sich um ein durchschnittliches Szenario. Das
„untere“ Szenario ergibt bis 2050 8,7 Milliarden und das
„obere“ 10,8 Milliarden. Quelle: United Nations, Population
Division, 2015 Revision of World Population Prospects.
14 Vgl. eine bereits weiter zurückliegende Argumentation:
Michel Husson, „Une seule solution, la population?“, Alternatives Economiques, hors-série „Le développement durable“, 2005.
15 Serge Latouche, „Et la décroissance sauvera le Sud…“, Le
Monde Diplomatique, November 2004.
16 Jean-Marie Harribey, „Développement durable : le grand
écart“, L’Humanité, 15. Juni 2004.
17 Ian Gough, „Climate change and sustainable welfare: the
centrality of human needs“, Cambridge Journal of Economics,
2015.
18 Richard Wilkinson, L’égalité c’est la santé, Demopolis,
2010; siehe auch mit Kate Pickett: The Spirit Level. Why
Greater Equality Makes Societies Stronger, Bloomsbury Press,
New York, 2009.
19 Richard Smith, „Green Capitalism: The God That Failed“,
Truthout, 9. Januar 2014.
20 Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung.
Berlin 1912, S. 157.
21 Pierre Villa, Un siècle de données macro-économiques,
Insee Résultats Nr. 303-304, 1994.
22 Daniel Tanuro, L’impossible capitalisme vert, Les empêcheurs
de penser en rond/La découverte, 2010. Siehe auch seine
Analyse der Bedeutung des COP21: „sommet provisoire du
mensonge, du business et du crime climatiques“, in dieser
Ausgabe der Inprekorr.
23 Siehe den internationalen Appell „Pour une insurrection
climatique“, August 2015
24 Quelle: Christophe McGlade und Paul Ekins, „The
geographical distribution of fossil fuels unused when limiting
global warming to 2 °C“, Nature, 8. Januar 2015.
25 Ian Gough, Saamah Abdallah, Victoria Johnson, Josh
Ryan-Collins und Cindy Smith, „The distribution of total
greenhouse gas emissions by households in the UK, and some
implications for social policy“, Centre for Analysis of Social
Exclusion, März 2012
26 Vgl. den Aufsatz von Daniel Tanuro: „Face à l’urgence
écologique : projet de société, programme, stratégie“, 28. Juli
2015.
27 Siehe: Richard Smith, „Chine. „ Accidents industriels “ et
désastre écologique“, A l’encontre, 17. August 2015. Teilübersetzung von: „China’s Communist-Capitalist Ecological
Apocalypse“, Real-World Economics Review Nr. 71, 28. Mai
2015.
Inprekorr 6/2015 33
SUBSAHAR A-AFRIK A
IMPERIALISTISCHE
FREMDHERRSCHAFT
IN NEUER GESTALT
„Im Rohstoffbereich läuft in Afrika die derzeit spannendste und dynamischste
Entwicklung, in die Entwicklungs- und Industrieländer sowie globale
Rohstoffunternehmen verwickelt sind.“ (Günter Nooke, persönlicher
Afrikabeauftragter der Bundeskanzlerin)
Jean Nanga
„
D
er in den 1940er Jahren eingeläutete Entkolonialisierungsprozess war eigentlich nur ein Übergang zum
Neokolonialismus, ein Gestaltenwandel der alten Kolonien,
in dem die Ausbeutungs- und Herrschaftsmechanismen
seitens der alten Kolonialmächte als auch der anderen
kapitalistischen Metropolen aktualisiert worden sind. Denn
sowohl die Metropolen als auch die Kolonien mussten sich
den neuen internationalen Kräfteverhältnissen infolge des
Kalten Krieges und der Verschiebung der wirtschaftlichen
und militärischen Hierarchie anpassen. Und 30 bis 40 Jahre
später ermöglichte das Ende des „realen Sozialismus“ eine
Umstrukturierung der Weltordnung und eine zunehmend
neoliberale Ausrichtung des Kapitalismus, die bereits Ende
der 70er Jahre und Anfang der 80er Jahre in Angriff
genommen worden war. Ausdruck davon sind die zunehmende kapitalistische Durchdringung des Weltmarktes
34 Inprekorr 6/2015
(Globalisierung) und die Auflösung der einst exklusiven
Einflusssphären, etwa Frankreichs in seinen ehemaligen
Kolonien oder der USA in seinem „Hinterhof “ in Lateinamerika, die als Hemmnisse für den freien Kapitalverkehr
galten.
Inzwischen ist der weltweite Kapitalverkehr allumfassend und in keiner Weise mehr mit dem „imperialen Zeitalter“ vergleichbar. Daran haben auch – in ungleicher und
kombinierter Form – die Kapitale mancher einstigen
Kolonien teil, was soweit gehen kann, dass einstige hierarchische Verhältnisse umgedreht werden. Mitunter wird
sogar bereits von einer drohenden Umkehrung des Imperialismus gesprochen, abgeleitet aus den exponentiellen
wirtschaftlichen Wachstumsraten in manchen vormals peripheren Ländern, die nunmehr als Schwellenländer gelten,
was auch für vormals „realsozialistische“ Staaten zutrifft,
SUBSAHAR A-AFRIK A
namentlich China, das die Schwelle bereits überschritten
hat und, gemessen am BIP nach Kaufkraftparität, zur
führenden Wirtschaftsmacht geworden ist, die zunehmend
auch in Europa und den USA investiert. Auch in Afrika
verleitet das gegenwärtige Wirtschaftswachstum manche
zur Annahme, dass Afrikas „große Zeit“ bevorstünde oder
– so Nelson Mandela 2005 – gar schon gekommen sei.
Noch weiter geht Antoine Glaser, ein bestens über die
politische und militärische Gemengelage zwischen Frankreich und Afrika (südlich der Sahara) informierter Beobachter, der im Sinne der „Umkehrung des Imperialismus“
herausgefunden haben will, dass eine Verkehrung von
Françafrique in Richtung Africafrance bevorstünde.1 Die
Beweisführung jedoch ist ziemlich oberflächlich, wenn
man bedenkt, dass sich der französische Imperialismus in
Afrika wieder voll entfaltet hat. Stattdessen verbleibt Afrika
in der ihm vom Kapitalismus zugedachten Rolle als
Austragungsfeld wirtschaftlichen Konkurrenzstrebens der
alten und neuen Metropolen, wobei es vorrangig um den
Zugriff auf die Rohstoffe geht, auch wenn mittlerweile
ebenfalls afrikanisches Privatkapital im Globalisierungsprozess mitmischt. Die Einmischung der Metropolen erfolgt
auch militärisch mit zunehmendem Nachdruck, wobei es
vorgeblich um die „Bekämpfung des Terrorismus“ und des
„drohenden Chaos“ geht, wie Vertreter eines „humanitären“ Imperialismus behaupten. Auch wenn es daneben
noch andere Formen der Kapitalherrschaft in den afrikanischen Gesellschaftssystemen gibt, bleibt der Imperialismus
eine unbestreitbare Realität im gegenwärtigen Afrika, die
auch über die ökonomische und militärische Sphäre hinaus
wirkt, wie wir am Schluss darlegen wollen.
Der Verlust der staatlichen Souveränität
Die wirtschaftlichen Verhältnisse im heutigen Afrika sind
andere als zu Lenins Zeiten. Wir haben es nicht mehr mit
einer Ansammlung von Kolonialgebieten zu tun, sondern
fast gänzlich mit formal souveränen Staaten, zu denen die
übrige Staatenwelt einschließlich der alten Kolonialmächte
eigentlich Beziehungen unterhalten sollte, die von Kooperation und Partnerschaft unter Beachtung der internationalen Verpflichtungen geprägt sind. Diese Souveränität indes
gibt es nur bedingt und sie wird durch die anhaltende
Tendenz zur Neokolonialisierung eingeschränkt. Denn die
Mechanismen sind nicht verschwunden, die zu Unterordnung und Abhängigkeit vom Auslandskapital, vom Rohstoffexport und von der Einfuhr gefertigter Waren aus den
alten „Mutterländern“ und anderen Metropolen führen. Sie
sind lediglich an die Entwicklung der ungleichen Weltord-
nung angepasst worden. Nichts anderes belegt auch die
wirtschaftliche Realität in Afrika, die als vermeintliche
Heldentat allerorten gefeiert wird, da dort das durchschnittliche Wachstum des BIP seit einem Jahrzehnt konstant um
die 5 % und damit über dem weltweiten Durchschnitt liegt
und das auch – abgesehen von einem leichten Rückgang
2009 – nicht von der sonstigen Wirtschaftskrise des
Kapitalismus 2008 betroffen wurde. Der Finanzsektor hat
im Großen und Ganzen dort keinen Schaden genommen,
wenn man von Südafrika absieht, das am ehesten unter der
Krise gelitten hat.
Dennoch lässt dies nicht auf eine eigene wirtschaftliche
Dynamik schließen, sondern ist nur ein Ausdruck der
kapitalistischen Fremdherrschaft. Das sogenannte Wachstum fußt hauptsächlich auf der Erdöl- und Minenbranche,
wo neue Vorkommen entdeckt wurden (was zu noch mehr
Extraktivismus führt – und wo – abgesehen von den Minen
in Südafrika – hauptsächlich Kapital der US-amerikanischen und europäischen Erdöl- und Minenkonzerne
dahinter steht. Diese multinationalen Konzerne agieren mit
der Unterstützung ihrer Herkunftsstaaten im Namen des
sog. freien Wettbewerbs – was auch Joint Ventures einschließt – und nicht mehr als neokoloniale Monopolisten,
wie dies lange der Fall war, etwa beim französischen
Mineralölkonzern Elf (aufgegangen in Total) in der
Republik Kongo (Brazzaville) und Gabun. Ein weiterer
Wachstumsfaktor ist der Export anderer Rohstoffe (oft
derselben wie früher) aus den Ländern ohne Erdöl- oder
Mineralienvorkommen. Auch hier dominieren beispielsweise US-amerikanische und europäische Agrarkonzerne
wie Cargill, ADM, Louis Dreyfus etc. Diese Konzerne
werden natürlich auch durch die weltweit beispiellos hohen
Kapitalrenditen, Extraprofite und das einfache Ausschleusen von Schwarzgeld, das durch Ressourcenplünderung,
Steuerbetrug etc. zusammen gekommen ist, angelockt:
Allein aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahara
wurden zwischen 2003 und 2012 zusammen 528 Mrd.
Dollar abgezogen, was mit durchschnittlich 5,5 % des
jährlichen BIP weltweit einmalig ist. Zynischerweise
verweigern sich die ach so sauberen Metropolen einer
fiskalischen Kontrollinstanz der UNO zur Unterbindung
dieser Betrugsmechanismen, wie sie kürzlich erst wieder
seitens der peripheren Länder vorgeschlagen worden ist.
Diese Situation rührt aus der seit den 1980er Jahren
laufenden wirtschaftlichen Umstrukturierung Afrikas von
außen mittels neoliberaler Strukturanpassungsmaßnahmen,
die auch auf die gesetzlichen Regelungen von Investitionen
und Arbeitsrecht abzielen. Diese Maßnahmen wurden
Inprekorr 6/2015 35
SUBSAHAR A-AFRIK A
seither den peripheren oder abhängigen Ländern seitens
IWF und Weltbank auferlegt, nachdem diese sich auf
Betreiben der Weltbank (aufgrund des Überflusses an
Liquidität aus Petrodollars) verschuldet hatten. Wenn man
die Kräfteverhältnisse in diesen multilateralen Institutionen
betrachtet, die sehr stark hierarchisiert und in Hinblick auf
die Umstrukturierung der Weltwirtschaft von den Wirtschaftsinteressen der USA stark beeinflusst sind, dann wird
klar, dass das gegenwärtige Wachstum Afrikas in erster
Linie auf Unterordnung und Anpassung an die Herrschenden in den USA gebunden ist, denen sich die anderen
kapitalistischen Mächte in der Trilateralen Kommission
bereitwillig und auch über scheinbare Kontroversen hinweg
unterordnen.
Infolge der erdrückenden finanziellen Abhängigkeit
wurden die afrikanischen Staaten gezwungen, ihre
Souveränität teilweise aufzugeben, die bereits zuvor unter
der klassischen neokolonialen Fremdherrschaft nur bedingt
gegeben war. So werden sie regelmäßig von den Sendboten
des Kapitals an die Kandare genommen, nämlich den
internationalen Finanzinstitutionen, die im Rahmen des
Washington Consensus die Aneignung der profitabelsten
unter den ehemaligen Staatsunternehmen in Afrika durch
US-amerikanisches und europäisches Kapital organisieren.
Ein ärztlicher Beistand der besonderen Art, der eher den
Gesunden als den Lahmen gilt. Wieder eine „zivilisatorische“ Maßnahme in Form einer Enteignung, mit der diese
Länder in die nunmehr neoliberal ausgerichtete kapitalistische „Zivilisation“ integriert werden sollen, so wie einst
unter der Kolonialisierung zu Zeiten des niedergehenden
klassischen Liberalismus.
In diesem Zusammenhang steht auch, dass mit dem
Schuldendienst gegenüber ausländischen Gläubigern
aufgrund der Zinszahlungen ein erheblicher Kapitalabfluss
zugunsten des internationalen Finanzkapitals stattfindet. In
ihrem Bericht von 2004 stellte die UN-Konferenz für
Handel und Entwicklung (UNCTAD) nahezu empört fest,
was seit Jahren schon die Initiativen für Schuldenstreichung
der Dritten Welt aufbringt: „Schon ein kurzer Blick auf die
Verschuldung Afrikas zeigt, dass der Kontinent zwischen
1970 und 2002 etwa 540 Milliarden Dollar an Darlehen
erhalten hat und im gleichen Zeitraum etwa 550 Milliarden
an Tilgung und Zinsen zurückgezahlt hat. Trotzdem
verbleibt eine Restschuld von 295 Milliarden. Davon haben
allein die Länder südlich der Sahara 294 Milliarden
erhalten, haben 268 Milliarden zurückgezahlt und sitzen
noch immer auf etwa 210 Milliarden Restschuld. […] Auch
ohne die künftigen Zinsen und Zinseszinsen stellt allein die
36 Inprekorr 6/2015
Rückzahlung dieser noch ausstehenden Beträge bereits eine
Umkehrung des Ressourcentransfers dar.“ (Bis 2013 ist die
Verschuldung dieser letztgenannten Länder sogar auf 367,5
Milliarden angestiegen.) Dieser Aderlass betrifft eine
Region, die als die ärmste der Welt gilt. Die hoch gerühmte
„wirtschaftliche Leistung“ im heutigen Afrika hat die
ohnehin schon alarmierende Staatsverschuldung bei den
internationalen Finanzmärkten noch weiter angeheizt.
Die scheinbare Großzügigkeit, die den „überschuldeten“
Staaten in Form von Schuldenerleichterung oder Schuldenerlass gewährt wird, muss eher als eine „Gefälligkeit“ aus
einschlägigen Interessen seitens einflussreicher Einleger bei
der Weltbank oder dem IWF verstanden werden. Ein
umgekehrtes Beispiel hierfür ist der Druck, der vor einigen
Jahren auf die kongolesische Regierung Joseph Kabila
ausgeübt wurde, die Vertragsklauseln nach unten zu
korrigieren, weil diese angeblich zu vorteilhaft für China
ausfielen. Würde sich die Regierung in Kinshasa weigern,
würden die internationalen Finanzinstitutionen dafür
sorgen, dass der vom Pariser Club dem Land zugesicherte
Teilschuldenerlass wieder zurückgenommen würde. Die
Erpressung ging durch und der Vertrag wurde revidiert. Das
zeigt, dass die altvorderen Haupteinleger bei den internationalen Finanzinstitutionen in ihrer Gier nach Rohstoffen
bestimmen, wie weit die Kapitalpartnerschaft zwischen der
Demokratischen Republik Kongo und China gehen darf.
Da eine Herrschaft umso effizienter ist, wenn sie mit
einem „nationalistischen“ Anstrich versehen wird, wird die
Macht des internationalen Finanzkapitals über die afrikanischen Staaten durch eine Schaltstelle vor Ort gesichert – die
Afrikanischen Entwicklungsbank (AfEB), die die wichtigste regionale Finanzinstitution darstellt und die Neue
Partnerschaft für Afrikas Entwicklung (NEPAD) der
Afrikanischen Union als der Organisatorin der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Region überwachen soll. Ihrem
Anspruch nach ist sie panafrikanisch, wobei unter den 78
Mitgliedsstaaten 25 nichtafrikanisch sind, von denen
wiederum 5 als Teil der G7 zusammen 25 % des Kapitals
innehaben (Deutschland, Frankreich, Japan, Kanada und
USA). Hinzu kommen die beiden anderen G7-Staaten,
andere europäische Länder wie die Schweiz und sogenannte
Schwellenländer, die durch ihr Gewicht dafür sorgen, dass
die Hauptinteressen der Metropolen bei den jeweiligen
Entwicklungsprogrammen gewahrt bleiben. Folglich lassen
sich auch die Empfehlungen der AfEB von denen der
Bretton-Woods-Organe als den traditionellen Wahrerinnen der imperialistischen und zuvörderst US-Interessen
kaum unterscheiden.
SUBSAHAR A-AFRIK A
Trotzdem wird durch die „Entwicklungshilfe“ diesem
Instrument zur Wahrung der Abhängigkeit Afrikas ein
Anschein von Großzügigkeit verliehen, aber das Komitee
für die Streichung der Verschuldung der Dritten Welt
(CADTM) fragt zu Recht: „Im Jahr 2012 wurden aus
dieser weltweit ärmsten Region 5 % des BIP an Gewinnen
„repatriiert“, während nur 1 % an Entwicklungshilfe
zugeflossen ist. Insofern muss man sich fragen: Wer hilft
hier wem?“
EU – eine ungleiche „Partnerschaft“
Große Teile Afrikas fallen unter die vermeintlich großzügigen Präferenzabkommen nach dem Muster des Abkommens zwischen den AKP-Staaten und der EWG bzw. EU.
Mithilfe dieser Abkommen, die zunächst in Yaoundé, dann
in Lomé und zuletzt in Cotonou geschlossen wurden, war
es Europa möglich, Erzeugnisse zu einseitig festgelegten
Preisen zu erwerben und die „Entwicklungsländer“ auf den
Status von Exportnationen für Rohwaren festzunageln,
Kolonialwaren also auf der Grundlage von Spezialisierung
oder Monokultur.
Diese „privilegierte“ Form von Abhängigkeit sollte
seitens der EU 2002 an die neuen Bedingungen der
neoliberalen Globalisierung angepasst werden, indem durch
sogenannte Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA)
Freihandelszonen eingerichtet werden sollten. Vorgesehen
war, dass nach fünfjährigen „Verhandlungen“ entlang der
Vorgaben der WTO die betroffenen afrikanischen Staaten
– wobei Nordafrika ausgenommen war – hätten unterzeichnen sollen. Einen solchen Knebelungsvertrag mochte
jedoch nicht einmal der wirtschaftsliberale Präsident von
Senegal, Abdoulaye Wade unterzeichnen, der am Vorabend
des 2. afrikanisch-europäischen Gipfeltreffens im Dezember 2007 – also 6 Wochen vor der ursprünglichen Zeichnungsfrist – erklärte: „Es geht hier um das wirtschaftliche
Überleben unserer Länder und der Bevölkerung, die
ohnehin schon genug geplagt sind. […] Wenn Europa uns
jedoch nur ein solches Zwangskorsett in Form der WPA
anzubieten hat, dann ist es mit der Fantasie und Kreativität
in Brüssel nicht weit her.“ In der Folge verweigerten sich
dann auch die afrikanischen Staaten und Regionalgruppen
der Vertragsunterzeichnung, deren letzte Frist 2014 auslief.
Nachdem Afrika 50 Jahre lang durch die EU in einem
Abhängigkeitsverhältnis als Rohstofflieferant gehalten
worden war, war es für Europa nicht schwer, die Spielregeln
zu diktieren. Dazu wurden auf Druck der EU sechs sog.
Regionalgruppen, finanziell abhängig von der EU und
nach deren Gusto zurechtgeschneidert, eingerichtet, um
nicht mit der Afrikanischen Union als Ganzes verhandeln
zu müssen. Dieses klassische Prinzip des „Teile-und-herrsche“ wurde nochmals verschärft durch die spezifische
Exportausrichtung der einzelnen Länder, die davon
abhingen, Blumen oder Bananen oder Kakao oder Baumwolle etc. nach Europa auszuführen. Infolge der Erpressung
durch die EU und falschen Versprechungen haben schließlich 2014 die Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikani-
Infolge der erdrückenden ... Abhängigkeit
wurden die afrikanischen
Staaten gezwungen, ihre
Souveränität teilweise aufzugeben ...“
schen Staaten (ECOWAS), die Entwicklungsgemeinschaft
des Südlichen Afrika – mit einer Sonderregelung für
Südafrika – und die Ostafrikanische Gemeinschaft (EAC)
ein Abkommen ratifiziert, das nach Einschätzung des
Netzwerks westafrikanischer Bauern und Erzeuger
landwirtschaftlicher Produkte (ROPPA) „mittelalterlich“
ist.
Darin erklären sich die betreffenden afrikanischen
Länder dazu bereit, binnen 20 bis 25 Jahren ihre Märkte zu
75 – 80 % für europäische Waren zu öffnen, ohne dafür den
geringsten finanziellen Ausgleich zu erhalten. Im Gegenzug
können diese Länder ihre Waren zu 100 % frei in die EU
exportieren. Sieht man von der Ausnahmeregelung für die
Republik Südafrika (RSA) ab, handelt es sich hierbei
jedoch hauptsächlich um Agrarprodukte, die in Europa
nicht erzeugt werden können und daher auch nicht mit
europäischen Produkten konkurrieren. Allerdings stoßen
sie dabei in Europa auf die Konkurrenz aus Lateinamerika
und Asien, die ähnliche Produkte exportieren. Unter diesen
Ländern rangieren auch die (ehemaligen) Kolonien der EU
wie die DOM-TOM2, die Frankreich zum „Großerzeuger“
von Ananas, Bananen und Rohrzucker werden lassen.
Durch die so geschaffene Konkurrenz zwischen den
„Dritte-Welt-Ländern“ kann die EU tropische Waren zum
Dumpingpreis importieren.
Im Gegenzug werden künftig mit der – vorübergehenden? – Ausnahme bestimmter „heikler“ Produkte (Fleisch,
Getreide, Teigwaren, Tiefkühlhähnchen, Farben etc.),
deren ungehinderter Import die Staatskassen und einen
Inprekorr 6/2015 37
SUBSAHAR A-AFRIK A
großen Teil der lokalen Kleinerzeuger ruinieren würde, die
Waren aus der EU auf dem afrikanischen Markt gehandelt.
Dabei werden sich dann ungleiche Partner gegenüberstehen, wo doch eine vorgebliche Partnerschaft „unter
Gleichen“ vereinbart worden ist.
Abgesehen von den Waren aus Südafrika, mit dem die
EU gegenseitige Schutzzölle und Kontingentierungen
vereinbart hat – wobei allerdings nur 105 südafrikanische
Erzeugnisse vs. 251 europäischen geschützt sind – können
die Waren aus Afrika mit den einheimischen in Europa
kaum konkurrieren. Noch nicht einmal auf den heimischen
oder (sub)regionalen Märkten in Afrika sind sie konkurrenzfähig, da der zwischenafrikanische Handel kaum
funktioniert und fast zu 90 % mit anderen Ländern der Welt
abgewickelt werden.
Dabei hatten die Neoliberalen doch versprochen, dass
diese Schwäche dank einer dynamischen wirtschaftlichen
Integration auf regionaler und kontinentaler Ebene behoben würde. Die Realität jedoch in Form der WPA-Verhandlungen hat dieses Versprechen schnell eingeholt. Für
die EU stand dabei zu viel auf dem Spiel, als dass sie die
Afrikanische Union als Verhandlungspartner akzeptiert
hätte. […] Die EU, die auf ihren Beitrag zur afrikanischen
Integration pocht, hat dadurch der Umsetzung einer – und
sei sie auch nur bürgerlich orientiert – autonomen Afrikanischen Union eindeutig geschadet, trotz ihrer finanziellen
Beihilfen.
Daher rührt die Opposition gegen die WPA, die nicht
nur von den kleinbäuerlichen und bürgerrechtlichen
Organisationen getragen wird, sondern auch von bestimmten panafrikanischen Kapitalverbänden wie dem Afrikanischen Industrieverband (AIA). Der Industrieverband
Ghanas ist gespalten in die Exporteure tropischer Erzeugnisse und Produzenten, die mit den Importwaren aus der
EU konkurrieren müssen. Denn über die WPA hat sich die
EU ein Instrument geschaffen, diese afrikanischen Industriekapitale zugunsten der europäischen Multis aus dem Weg
zu räumen. Wie der AIA meint: „Angesichts der Schwäche
der afrikanischen Wirtschaft liegen die Nachteile des
Freihandels auf der Hand. Viele Wirtschaftszweige bei uns
sind gerade erst im Aufbau begriffen und durch die
Marktöffnung werden wir aber dazu verdammt, weiter
nach dem Gutdünken der Metropolen importabhängig zu
sein.“ Fast hört man Karl Marx dahinter: „Sooft Irland also
auf dem Punkt, sich industriell zu entwickeln, wurde es
niedergeworfen und in bloß agrikoles Land zurückverwandelt.“3
Die vergangenen Jahre waren also nicht nur durch das
38 Inprekorr 6/2015
Wachstum des afrikanischen BIP und die sprunghafte
Zunahme dortiger Millionäre und Milliardäre geprägt,
sondern paradoxerweise auch durch Deindustrialisierung
infolge der Strukturanpassungsprogramme, wie die
UNCTAD feststellt.
Darum geht es in Wahrheit auch bei der „Brüsseler
Vereinbarung“, die die EU Afrika bei dem Gipfeltreffen im
April 2014 vorgelegt hat. Unter anderem hat sich die EU
vorgenommen, „die Privatwirtschaft bei der Eroberung der
afrikanischen Märkte zu unterstützen“. Der dortige Umsatz
lag „2013 bei 600 Milliarden € und für 2020 wird eine
Billion erwartet“4. Der wirtschaftliche Aufschwung in
Afrika wird momentan auch wegen der angeblichen
massenhaften Zunahme der dortigen Nachfrage nach
Importwaren durch den angeblichen Boom der Mittelschichten gefeiert. Die EU, die gegründet wurde, um die
Kapitalherrschaft über die europäische Bevölkerung zu
festigen und die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem
US-Kapital zu stärken, erweist sich hier als Sachwalterin der
europäischen Kapitalinteressen bei deren Zugriff auf die
afrikanischen Märkte.
Die Wiederauferstehung zweier alter Bekannter
In diesem neuerlichen Run auf Afrika setzen manche
Staaten auf eigene Faust ihre imperialistische Tradition fort,
um „ihr Kolonialerbe besser auszuschlachten“. So hat
beispielsweise Frankreich im Dezember 2013 einen Bericht
der Wirtschafts- und Finanzministerien veröffentlicht,
wonach unverhüllter denn je ein Anknüpfen an die
imperialistische Tradition gefordert wird. Darin geht es um
die Wiedererlangung wirtschaftlichen wie auch kulturellen
Einflusses, der durch die Globalisierung, die Expansion der
USA und den Durchbruch neuer Großmächte – besonders
Chinas – gelitten habe. Frankreich will also unbedingt über
das hinausgehen, was die Französische Entwicklungsagentur (AFD) als Koordinator des neokolonialen Vormarsches
Frankreichs in Afrika bereits geleistet hat. Der Rat französischer Investoren in Afrika (CIAN) und die nach Afrika
exportierenden Firmen im Unternehmerverband MEDEF
scharren bereits mit den Hufen. Einen Tag nach dem Gipfel
der Frankofonie (eine Art Commonwealth à la française) in
Dakar 2014 traf man sich zum ersten Wirtschaftsforum
dieser Runde und weiter ging’s mit dem französisch-afrikanischen Wirtschaftsforum in Paris 2015 – immer im Sinne
des o.g. Berichts.
Großbritannien steht zwar nicht so sehr im Rampenlicht wie Frankreich, zeigt deswegen aber nicht weniger
Interesse. Entgegen der landläufigen Annahme steht nicht
SUBSAHAR A-AFRIK A
das wirtschaftliche Engagement Chinas in Afrika an erster
Stelle, sondern britisches Kapital, das zwischen 2003 und
2012 Fusionen und Übernahmen in Höhe von über 30,5
Mrd. Dollar getätigt hat, während Frankreich knapp
dahinter und China mit knapp 21 Mrd. Dollar an dritter
Stelle liegen. Nach Enthüllungen von Christian Aid flossen
von Juli 2005 bis Juli 2006 etwa 17 Mrd. Pfund aus Großbritannien nach Afrika südlich der Sahara, im gleichen
Zeitraum aber 27 Milliarden in die Gegenrichtung, davon
17 Milliarden an Fluchtkapital. Wer hilft also wem?
Das Ministerium für Internationale Entwicklung
(DFID) in Großbritannien verwendet gegenwärtig noch
mehr Energie und Papier, um zu verkünden, dass das Heil
für die Armen in den „Entwicklungsländern“ im Allgemeinen und in Afrika im Besonderen nur durch Privatkapital gewährleistet sei. Um die Armen in Afrika soll es also
gegangen sein und nicht um die Jagd nach Profiten, als
Tony Blair – inzwischen hochdotierter Berater bei afrikanischen Regierungen – seinerzeit die Afrikakommission
eingerichtet hat, die 2005 einen Bericht mit dem vielsagenden Titel Our Common Interest geliefert hat? Gemeinsame
Interessen gibt es bloß zwischen den britischen Regierenden und Kapitalisten und auch den Neureichen in Afrika.
Ausgerechnet Tony Blair, der die korrupten Praktiken des
Rüstungskonzerns BAE Systems gedeckt hat, deren Opfer
u.a. Tansania war.
Bedeutsamer jedoch war die amtliche Schützenhilfe für
das britische Kapital, die ihm 2011 unter dem Titel The
engine of development : the private sector and prosperity
for poor people vom DFID zuteil wurde. Ganz im Sinne
von Business Action for Africa (BAA) engagiert sich das
DFID für die britischen Multis, die in Afrika aktiv sind.
Beispiele hierfür sind Unilever (wo ehemalige Regierungsmitglieder gerne untergebracht werden), Diageo (wegen
Schmiergeldzahlungen in Asien kürzlich vor Gericht), Rio
Tinto (angeklagt wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen und
Völkermord in Papua-Neuguinea und unter Kritik von
Umwelt- und Bauernverbänden aus Madagaskar, Mosambik, Namibia etc.) oder Shell (unter Anklage wegen
Beihilfe zur Unterdrückung der Ogoni und wegen Falschinformationen über die Ölverpestung in Nigeria). Es
überrascht kaum, dass sich diese britischen Multis (darunter
Lonmin, das für die Massaker in Marikana verantwortlich
ist) gewissermaßen wie Neokolonialisten aufführen. „Kein
britischer Minenkonzern hat sich in Sierra Leone an das
Bergbaugesetz von 2009 gehalten, das seinerzeit mit
internationaler Unterstützung verabschiedet wurde, um
sicher zu stellen, dass die ausländischen Minengesellschaften
verantwortungsvoll vorgehen. (…) Die Argumente, mit
denen diese Konzerne ihren Steuerbetrug rechtfertigen
wollen, sind daher völlig obsolet.“, wie eine Beobachterin
schreibt. In die gleiche Kerbe haut ein Sprecher der ghanaischen Energiekommission: „Sie glauben wohl, dass sie sich
in Afrika alles erlauben können.“
Das „amerikanische Zeitalter“
Mit der Ausrufung des 21. Jahrhunderts zum „Neuen
amerikanischen Jahrhundert“ meint der US-Imperialismus
auch die wirtschaftliche Eroberung Afrikas. George H. W.
Bush hatte es angekündigt und unter Bill Clinton wurden
dem Projekt Konturen verliehen, als 2000 das Freihandelsabkommen AGOA (African Growth and Opportunity Act)
verabschiedet wurde. Den Sinn dieses Abkommens versteht
man nur, wenn man weiß, dass 1992/93 von den größten
multinationalen Konzernen der Handelsverband Corporate
Council on Africa (CCA) gegründet wurde. Beteiligt daran
sind momentan 180 Unternehmen, die mindestens 85 % der
privaten Investitionen in Afrika kontrollieren. Hinzu
kommen ein paar afrikanische Unternehmen wie Dangote
Group, Ethiopian Airlines, Heirs Holdings, Telkom SA, die
den Segen der Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung (USAID) genießen. Durch das
AGOA-Abkommen sollen privilegierte Handelsbeziehungen geschaffen werden, wodurch einerseits mehr US-Investitionen in Afrika getätigt werden sollen, andererseits
Waren aus Afrika frei auf den US-Markt geliefert werden
können – ausgenommen landwirtschaftliche Erzeugnisse.
De facto ist dies also eine sehr begrenzte Öffnung des
Marktes, wenn man den Stellenwert der Agrarproduktion
in der afrikanischen Wirtschaft bedenkt. Mag Obama auch
sagen, dass „wir keine Energieressourcen aus Afrika
brauchen“, so erstrecken sich doch ca. 90 % der Importe im
Rahmen des Abkommens auf fossile Energieträger, gefolgt
von Textilerzeugnissen und Kleidung. Entgegen der
sogenannten „amerikanischen Werte“ können im Rahmen
dieses Gesetzes einseitige Sanktionen gegen alle „Partner“
verhängt werden. Insofern wird dies Abkommen selbst von
wohlwollenden Wirtschaftsliberalen als „trojanisches Pferd
der USA in Afrika“ bezeichnet.
Die Zugriffsmöglichkeiten wurden Clintons Nachfolger Bush jr. noch durch den sog. Entwicklungshilfefonds
MCA (Millennium Challenge Account) ausgebaut. In den
Genuss dieser „Wohltat“ kommt man nur, wenn man die
Prinzipien der US-Regierung akzeptiert. Auch hier sorgt
die staatliche Behörde USAID wieder einmal dafür,
privatkapitalistische Interessen öffentlich abzustützen.
Inprekorr 6/2015 39
SUBSAHAR A-AFRIK A
Unter Obama hat sich daran nichts geändert.
Im Zeitraum von 2003 bis 2012 belegte die USA bei
Unternehmensfusionen und –übernahmen in Gesamtafrika
im Wert von ca. 12 Milliarden Dollar lediglich den fünften
Rang und wurde darin sogar noch vom Schwellenland
Indien (ca. 15 Mrd. Dollar) übertrumpft. Auch als Handelspartner rangieren die USA seit 2009 hinter China. Bei den
Direktinvestitionen (ADI) in Afrika hingegen behauptet
die USA mit 61,4 Mrd. Dollar den ersten Rang, wobei China mit 27,7 Mrd. weit hinter Großbritannien (58,9 Mrd.)
und Frankreich (57,9 Mrd.) rangiert.
Über diese Direktinvestitionen können die US-Multis,
genauso wie ihre britischen und französischen Pendants, die
politischen Entscheidungen der afrikanischen Staaten,
gerade in den alten englischen Kolonien, in gewisser Weise
beeinflussen. Bekannt ist das Beispiel Firestone in Liberia,
der nach 1929 die einheimischen Arbeitskräfte und die
fruchtbaren Böden auf den Kautschukplantagen exzessiv
ausgebeutet und den liberianischen Staat quasi als Protektorat behandelt hat (Methoden, die auch nach der Übernahme durch den japanischen Konzern Bridgestone fortdauern). Ein anderes Beispiel ist Chevron, das in den 90er
Jahren die nigerianische Armee mit Navigationsmaterial zu
Luft und zu See ausrüstete, damit sie ihre mörderischen
Strafexpeditionen gegen die Völker der Ijaws und Ogoni
durchführen konnten, die für ihre durch die Erdölförderung bedrohten sozialen Rechte im Nigerdelta kämpfen.
Mag auch das Image von Coca-Cola, das mit ca. 70 000
Beschäftigten in 160 Werken als größter privater „Arbeitgeber“ in Afrika gilt, auf diesem Kontinent nicht so angegriffen sein wie in Kolumbien und Indien, so ist doch unbestritten, dass der Konzern des autokratisch herrschenden
Königs Mswati III. in Swasiland massiv unterstützt. Dort
lässt das Unternehmen das Konzentrat für sein Markengetränk fertigen, „weil ihm das Regime Steuervorteile
gewährt und es dort zuhauf billige Arbeitskräfte und
Rohzucker gibt. (…) Das eigentliche Problem jedoch liegt
darin, dass Coca-Cola sich wahrscheinlich deswegen in
Swasiland niedergelassen hat, weil dort eine Diktatur
herrscht, die Gewerkschaften und Bevölkerung unterdrückt
und dadurch die Löhne niedrig hält.“ Die „Coca-Kolonialisierung von Swasiland“ ist zum geflügelten Wort geworden, da das Unternehmen nach Schätzungen bis zu 40 % des
BIP beisteuert. Dies erklärt auch, warum die US-Regierung bis heute fast MenschenrechtsaktivistInnen aus
Swasiland kaum zur Kenntnis genommen hat.
Um ihre weltweite Vormachtstellung zu zementieren,
hat die US-Regierung im August 2014 ein Gipfeltreffen
40 Inprekorr 6/2015
mit den afrikanischen Staaten anberaumt, das über das
AGOA-Abkommen hinaus die wirtschaftliche Partnerschaft vertiefen sollte. Den nach Washington einberufenen
afrikanischen Staatschefs wurden Investitionen in Höhe
von 33 Mrd. Dollar in Aussicht gestellt. Dies dürfte den
Chef des Handelsverbands CCA, Stephen Hayes beglücken,
der sich über die mangelnde Unterstützung privater
Investitionen in Afrika beklagt hatte. Und es zeigt, dass
auch multinationale Konzerne weiterhin auf ihren Herkunftsstaat rekurrieren müssen und sich mit dem Sternenbanner identifizieren, wie beispielsweise anlässlich der
offiziellen Zeremonie in Äquatorialguinea, wo „die
amerikanischen Fahnen (…) von einer Delegation der
dortigen Niederlassung von Exxon-Mobil geschwenkt
wurden, gefolgt von den Delegationen mit den Schildern
von Halliburton, ChevronTexaco und Marathon Oil.“
Eine „grüne Revolution“ unter kapitalistischen
Vorzeichen
Wie sehr die Expansion der multinationalen Konzerne mit
der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der
afrikanischen Staaten und ihrer Bevölkerung verwoben ist,
zeigt sich besonders deutlich in der Landwirtschaft. In
diesem lebenswichtigen Sektor rangieren die US-Konzerne
weltweit unangefochten an der Spitze. In Abstimmung mit
der staatlichen Behörde USAID haben die „philanthropischen“ Stiftungen 2006 die Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika (AGRA) gegründet. Gepflastert mit denselben guten Vorsätzen wie schon in den 50er Jahren, als die
Ford- und Rockefeller-Stiftungen in Lateinamerika und
v.a. Asien die Grüne Revolution mit den bekannt schmerzhaften Ergebnissen eingeläutet haben, stellt diese neoliberale Neuauflage ein Trojanisches Pferd für die GentechnikKonzerne (Monsanto, Pioneer, Dupont etc.) dar. Letztlich
geht es nur darum, gentechnisch verändertes Saatgut
durchzusetzen. Wie weit es um die Philanthropie der
Gates-Stiftung, die „120 Millionen Dollar zur Förderung
der Agrarerträge in Afrika, teils gezielt für die Umstellung
auf gentechnisch modifiziertes Saatgut“ ausgegeben hat,
bestellt ist, erschließt sich von selbst: Diese „philanthrokapitalistische“ Stiftung ist Aktionärin von Monsanto und
übt – getrieben vom Rentabilitätsdenken – Druck auf die
afrikanischen Parlamente aus, gentechnisch modifiziertes
Saatgut zuzulassen und dafür die in den allermeisten
afrikanischen Staaten noch hinderliche Gesetzeslage zu
ändern.
Einer der jüngsten Vorstöße der Saatgut-Lobby fand in
Ghana statt. Dieser Staat steckt seit mindestens zwei Jahren
SUBSAHAR A-AFRIK A
in finanziellen Schwierigkeiten und war schon dabei, auf
Druck von außen ein neues Pflanzenzüchter-Gesetz
zugunsten gentechnisch veränderten Saatguts und zulasten
der traditionellen Methoden zu verabschieden. Vorerst
konnte dies durch eine Mobilisierung und eine internationale Aufklärungskampagne gestoppt werden. […] Die
ghanaische Regierung steckt in einem Dilemma: Soll sie
angesichts der weiter steigenden Verschuldung der finanziellen Erpressung durch die USA nachgeben und das Gesetz
verabschieden, oder soll sie auf die Verfechter der Ernährungssouveränität hören, die zugleich die öffentliche
Meinung beeinflussen? Im Anschluss an Obamas Besuch
hat übrigens Kenia angekündigt, das Verbot von gentechnisch veränderten Organismen (GMO) aufzuheben.
Die nationalen Parlamente sind gehalten, sog. „investitionsfreundliche“ Gesetze entlang der Interessen der multinationalen Konzerne und entgegen der Grundsätze von
Gerechtigkeit und Ernährungssouveränität zu machen. Da
in Europa und den USA eine breite und recht wirkungsvolle Kampagne gegen GMO-haltige Produkte betrieben
wird, die beispielsweise die Schnellrestaurant-Kette
Chipotle schon zum Umdenken gebracht hat, richtet die
Agrarindustrie ihr Augenmerk zunehmend auf Afrika,
einen Wachstumsmarkt für Nahrungsmittelkonzerne.
Angeblich um die afrikanische Landwirtschaft zu
„modernisieren“ fungiert die AfEB unter den Förderern
der „Grünen Revolution“ an vorderster Stelle und ruft dazu
auf, gentechnisch verändertes Saatgut zu verwenden, „um
die Produktivität der afrikanischen Landwirtschaft zu
verbessern“. Darin trifft sie sich mit dem ehemaligen
Vorsitzenden und jetzigen Ehrenpräsidenten der AGRA,
Kofi Annan, der damals seinen Posten als Generalsekretär
der UNO seiner Eilfertigkeit gegenüber den US-Interessen
verdankt hat. So finden die Blutsauger der Völker halt
immer wieder ihre Sachwalter in Afrika. Wie Aimé Césaire
es ausgedrückt hat: „Es lässt sich nicht bestreiten, dass auch
Afrikaner [in den Sklavenhandel] verwickelt waren, aber
anders, als man denkt. Nicht die afrikanischen Völker,
sondern die profit- und geldgierigen Politiker sind mit an
Bord.“
Es überrascht nicht, dass die AfEB als sogenannte
panafrikanische Finanzinstitution bewusst über die
Organisationen der Kleinbauern hinweggeht und auch die
ganzen Publikationen ignoriert, die zu dem Ergebnis
gelangt sind, dass die bäuerliche Landwirtschaft in Afrika
kein gentechnisch verändertes Saatgut braucht, um die
Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln zu gewährleisten.
Es geht hierbei nicht um die Implementierung irgendwel-
cher– aus Sicht der afrikanischen Bevölkerung exotischen
– Nahrungsmittel, die in Form von mehr oder minder gut
gemeinten „Nahrungsmittelspenden“ marktgängig
gemacht werden, sondern um die Kontrolle über die lokale
Produktion der Grundnahrungsmittel.
Man würde die Technokraten der AfEB beleidigen,
wenn man ihnen unterstellte, dass sie nicht über die
Mechanismen der „Grünen Revolution“ Bescheid
Im Anschluss an
Obamas Besuch hat
übrigens Kenia angekündigt,
das Verbot von gentechnisch
veränderten Organismen
(GMO) aufzuheben.“
wüssten, dass diese nämlich nicht ohne Land- und gar
Wasserraub vonstattengehen kann. Der mithin jüngste Fall
von Enteignung hat sich im Bundesstaat Taraba in Nigeria
ereignet, wo die lokalen Kleinbauern von den Behörden
vertrieben wurden, um dem US-Konzern Dominion
Farms 30 000 ha Ackerland zum Reisanbau überlassen zu
können. Bereits in Kenia war dieser Konzern wegen
ähnlicher Vergehen zu unrühmlichen Ehren gekommen.
Die betroffenen Bauern werden dadurch gezwungen, sich
als rechtlose Landarbeiter zu verdingen, und zwar Erwachsene und Schulkinder, oder aber die Slumbevölkerung in
den Zentren weiter zu mehren. Damit findet eine Pauperisierung statt, die zu den Ideen der NRO und ihrer Missionarstätigkeit im Sinne der demütigen Wohltat bei der
Bekämpfung „der extremen Armut“ passt, wie sie in den
USA und Afrika entwickelt und von USAID mitfinanziert
oder unterstützt werden. Betrachtet man die Vorgänge in
Taraba, wäre es kein Wunder, wenn die Fundamentalisten
von Boko Haram dort Zulauf erhielten, sofern sie der
gegenwärtigen Staatsoffensive entgehen. Und über Nigeria
hinaus ist diese „Grüne Revolution“ geeignet, die Emigration anzuheizen und weitere Opfer auf dem Weg durch die
Sahara oder über das Mittelmeer zu erzeugen.
Neue Mitspieler auf dem Markt
Wirklich neu an diesem neuerlichen Ansturm auf Afrika ist
die rege Beteiligung der wirtschaftlichen Schwellenländer
und namentlich Chinas (das eigentlich die Schwelle bereits
überschritten hat), die das rege Engagement der traditionelInprekorr 6/2015 41
SUBSAHAR A-AFRIK A
len Metropolen noch mal anheizt. Die Besonderheit dieser
aufstrebenden und bereits angekommenen kapitalistischen
Großmächte liegt darin, dass sie in Asien und Lateinamerika – im Falle der RSA sogar in Afrika – gelegen sind, also in
der ehemaligen „Dritten Welt“. Für ihren wirtschaftlichen
Aufstieg wollen auch sie nicht abseitsstehen bei dem nahezu
„selbstverständlichen“ Zugriff auf Afrika.
Wenn auch nicht mit derselben Dynamik wie China ist
auch indisches Kapital mit breit gestreutem Engagement
(Erdöl, Mineralien, Industrie, Landwirtschaft, Mobilfunk,
Fertigwaren, soziale Dienstleistungen etc.) auf dem
Vormarsch in Afrika. Hierbei stützt es sich auf die lang
dauernden gegenseitigen Beziehungen in der PostkolonialÄra (Blockfreiheit) und den hohen Bevölkerungsanteil
indisch-stämmiger Afrikaner in Süd- und Ostafrika (von
Mauritius über Südafrika hin zu Kenia), auch wenn Nigeria
mit 25 % der größte Handelspartner ist.
Dem brasilianischen Kapital wiederum, das sich im
Öl- und Gas-Sektor, Agrar- und Bau-Sektor, Anlagenbau,
Lebensmittel-Sektor etc. breitmacht, kommt der hohe
Anteil afrikanisch-stämmiger BrasilianerInnen und die
gemeinsame Sprache in den ehemaligen portugiesischen
Kolonien zugute. Folglich liegt auch in Angola der Schwerpunkt brasilianischer Wirtschaftstätigkeit.
Zwar weniger bekannt, aber dennoch beträchtlich ist
die Investitionstätigkeit Malaysias in der Erdöl- Holz- und
Agrarindustrie, die hinsichtlich der ADI 2012 an erster
Stelle der südlichen Länder lag. Auch die Golfstaaten
profitieren von den Gemeinsamkeiten mit dem großen
muslimischen Bevölkerungsanteil in Afrika, um ihre
Ölrenditen in der dortigen Ölindustrie, aber auch im
Finanz- und Agrar-Sektor etc. anzulegen. Ebenso scheint
sich die Türkei einstiger Größe als Mittelpunkt des Osmanischen Reiches zu besinnen und verstärkt seine ökonomische Präsenz auf dem Kontinent über Nordafrika hinaus. Es
sind also eine ganze Menge von Staaten, die sich ihren Teil
am „Kuchen“ Afrika ergattern wollen.
Das Engagement der Schwellenländer führt u.a. dazu,
dass Afrika viel Aufmerksamkeit seitens der Medien und
Wissenschaften in den alten nördlichen Metropolen zuteil
wird, wobei die Sorge vorgeschoben wird, es könne seiner
natürlichen Ressourcen beraubt und anderweitig betrogen
werden und dadurch in seiner „stetigen Entwicklung“
behindert werden. Diese läuft angeblich schon seit 50
Jahren, kommt aber nicht voran. Diese Klagen über Raub
und Betrug seitens der neuen Wirtschaftsmächte erinnern
daran, wie einst die Kolonialisierung Ostafrikas Ende des
19. Jahrhunderts gerechtfertigt worden ist, nämlich dass
42 Inprekorr 6/2015
man die dortige Bevölkerung vor dem Sklavenhandel
schützen müsse, der damals von arabisch-suahelischen
Händlern (als Erbe der uralten Rassenmischung zwischen
Arabern und Schwarzafrikaner) betrieben wurde. Und
nunmehr im 21. Jahrhundert muss die afrikanische Wirtschaft vor der Begehrlichkeit der Schwellenländer geschützt
werden, besonders vor China, das diesen „Flug der Wildgänse“ aus drei Kontinenten anführt [und die anderen
Schwellenländer nachzieht].
Diese kapitalistische Expansion bringt natürlich den
Washington-Consensus aus dem Lot, als dessen Gegenstück
von manchen bereits der Pekinger Konsens betrachtet wird.
Dem Sinologen Arif Dirlik zufolge „bezieht der Begriff
seine Bedeutung und seinen Reiz nicht aus einer kohärenten ökonomischen oder politischen Haltung, sondern weil
er einen Anziehungspol im internationalen Wirtschaftsgeflecht suggeriert, der die Gegner des US-Imperialismus
vereinen kann“. Der Chefökonom der AfEB hält dies für
einen „Ansatz, wo die Entwicklung der Privatwirtschaft
und das Wirtschaftswachstum im Mittelpunkt stehen, ohne
dass sich die Investoren in die innenpolitischen Angelegenheiten der afrikanischen Länder einmischen“. China macht
nicht die „Beachtung der Menschenrechte“ oder die
„Demokratie“ zum Handlungsmaßstab. Die kapitalistische
Entwicklung Chinas vollzieht sich demnach „im Einklang
mit den asiatischen Werten“, die u.a. durch die Auffassung
geprägt seien, dass die („westliche“) Demokratie keine
unabdingbare Voraussetzung für den privatwirtschaftlichen
Erfolg sei.
Unter den alten Kolonialmächten in Afrika rufen die
Erfolge des angeblichen asiatischen Pragmatismus nicht
wenige Befürchtungen hervor, da die afrikanische „Elite“
sich vermehrt China zuwendet. Ganz deutlich kommen
diese Befürchtungen bei Frankreich zum Ausdruck, das
sich über sinkende Marktanteile in Afrika beklagt, die
binnen 10 Jahren von 10 % auf ca. 5 % zurückgegangen
seien (was von anderer Seite bestritten wird). In das gleiche
Horn stoßen Obama und seine frühere Außenministerin
Clinton, die Afrika ständig vor der Schädlichkeit der
Investitionen aus den Schwellenländern warnen. Investitionen aus China gelten als Ausdruck von Neokolonialismus und Imperialismus und werden daher kritisiert. In
Afrika finden solche Anschuldigungen ihre Wiederkäuer,
beispielsweise in der Gestalt des früheren Präsidenten der
Zentralbank von Nigeria und heutigen Emirs des Bundesstaates Kano, Malam Sanusi, der zugleich hochrangiger
Banker im Dienste des US-Investors Blackstone ist. Er
schreibt: „China nimmt uns Rohstoffe und liefert uns
SUBSAHAR A-AFRIK A
Fertigwaren. Dadurch zeichnet sich der Kolonialismus
aus. […] Afrika hat sich jetzt bereitwillig dem Imperialismus in neuer Gestalt geöffnet.“ Diese wiederholten
Anschuldigungen wurden inzwischen von offizieller
chinesischer Seite gekontert. Der Außenminister meinte,
„dass die USA die chinesischen Investitionen in Afrika
objektiv und rational werten müssen“. Und Premier Li
versicherte vor seiner Afrikarundreise 2014: „Ich möchte
meinen afrikanischen Freunden von ganzem Herzen
versichern, dass China keinesfalls in imperialistischer
Manier vorgehen wird, so wie es bestimmte Länder früher
getan haben. Der Kolonialismus muss der Vergangenheit
angehören.“
Chinesischer Imperialismus in Afrika?
Um seinen wirtschaftlichen Aufstieg zur Weltmacht zu
vollziehen, musste sich China Zugang zu Energiereserven
und Bodenschätzen verschaffen. Es lag nahe, sich diese in
Afrika zu erwerben. Rohstoffe wurden importiert und
dabei Vorzugskredite vergeben, wodurch sich manche
Staaten wie Angola aus den Klauen von IWF und Weltbank
befreien oder sie gleich umgehen konnten. Zudem wurden
Waren, die der Kaufkraft der Armen in Afrika eher
angemessen waren, dorthin exportiert und ebenso technisches Know-how (im Bauwesen beispielsweise). Und es
wurden infrastrukturelle Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen etc. gebaut, die in den Jahrzehnten der „Zusammenarbeit“ oder „Entwicklungshilfe“ seitens des
imperialistischen Westens vernachlässigt worden waren.
Investitionen flossen in den Industrie-, Finanz- und
Agrarsektor etc. Trotz gelegentlicher Reibereien mancher
chinesischer Investoren wie z. B. mit dem Tschad oder
Sambia, hat die VR China Taiwan nahezu alle afrikanischen Verbündeten mit Ausnahme von Burkina Faso, São
Tomé und Príncipe und Swasiland abspenstig machen
können, während es in den 90er Jahren noch ein Dutzend
davon gab. Dazu ist anzumerken, dass China seine Zusammenarbeit an die Anerkennung des Einstaatenprinzips in
China knüpft.
Die afrikanischen Staaten scheinen in gewisser Weise
von der „Süd-Süd-Bindung“ bei der Zusammenarbeit mit
China zu profitieren – desgleichen von dessen (relativer)
finanzieller Stabilität, dem raschen Wachstum der staatlichen und privaten Unternehmen etc. Die vermeintliche
Solidarität zwischen den Staaten des Südens ermöglicht den
neokolonialen afrikanischen Staaten mehr Autonomie
gegenüber den alten Großmächten. Diese sehen sich mit
einer stürmischen Entwicklung konfrontiert, mit der sie
nicht zurechtkommen, und sie stehen vor einem Dilemma:
Wenn sie die Beziehungen in althergebrachter Weise
fortsetzen, könnte Afrika weiter in die Arme der Schwellenländer getrieben werden; wenn sie aber – konkurrierend
oder gar in enger Zusammenarbeit mit China – die
kapitalistische Entwicklung Afrikas vorantreiben, könnten
auch dort ein paar Schwellenländer entstehen, die die
Überproduktion auf dem Weltmarkt noch weiter anheizen.
Dabei steht das Beispiel Chinas vor Augen, das sich in den
alten Metropolen breitmacht und dadurch die Vorstellung
des „umgekehrten Imperialismus“ nährt.5
Die von China gezeigte „Solidarität“ schmälert freilich
nicht seinen Machtzuwachs oder seine vordere Teilhabe an
der weltweiten Kapitalkonkurrenz. Mag China zwar mit
den westlichen Konzernen in Afrika konkurrieren, so
schließt dies nicht aus, dass sich China an den multilateralen
Institutionen (und wechselseitig auch am Konzernkapital)
beteiligt, die unter der Federführung des westlichen
Imperialismus stehen, wie z. B. IWF oder WB oder deren
afrikanische Schaltstelle AfEB. Deren Regeln hat China
nicht wirklich angetastet, da es sich davon den größtmöglichen Profit verspricht (von den 150 Mrd. Dollar, die China
zwischen 2006 und 2014 in Afrika, sind fast 10 % in den
Finanzsektor geflossen.). China beteiligt sich also unter
Einsatz staatlichen und privaten Kapitals daran, den
Kapitalismus in Afrika zu festigen. Seine Nachfrage nach
Rohstoffen stärkt die Abhängigkeit der afrikanischen
Staaten vom extraktivistischen Modell und verhindert, dass
die Erdölreserven unter der Erde bleiben, was notwendig
wäre, um den Klimawandel zu bekämpfen.
Chinas Anteil an der Industrialisierung Afrikas – die
nicht dem Vorhaben der alten Kolonialmächte entspricht
– liegt hauptsächlich in der Schaffung von „Sonderwirtschaftszonen“ oder „Freihandelszonen“, etwa in Ägypten,
Äthiopien, Mauritius, Nigeria oder Sambia. Mit anderen
Worten findet hier eine in erster Linie der höheren Profitrate geschuldete Produktionsverlagerung statt. So ist beispielsweise die Arbeitskraft in Äthiopien billiger und
erzeugt mehr Mehrwert als in China, wo zunehmend
höhere Löhne gefordert werden. Also setzt der chinesische
Staat darauf, die Lohnabhängigen in China und Äthiopien
untereinander konkurrieren zu lassen, was zulasten der
ersteren geht. Nebenbei bemerkt hat auch die schwedische
Mode-Kette H&M, die unter mörderischen Bedingungen
in den „Entwicklungsländern“ fertigen lässt, einen Teil
ihrer Produktion nach Äthiopien verlagert, um vom
Standortvorteil billiger Löhne zu profitieren. Weitere
Sonderzonen sind demnach in Planung. Es wäre übrigens
Inprekorr 6/2015 43
SUBSAHAR A-AFRIK A
überraschend, wenn Chinas besonderer Beitrag zur
Industrialisierung Afrikas weniger umweltbelastend ausfiele
als in China, zumal Umweltschutz auch bei der afrikanischen Elite nicht sonderlich groß geschrieben wird.
Diese Standortverlagerungen chinesischer Produzenten
sind auch der Grund für einige von China verantwortete
Infrastrukturmaßnahmen auf dem Transportsektor, wie
beispielsweise der elektrischen Eisenbahnverbindung
zwischen Äthiopien und Dschibuti. Im gleichen Zusammenhang steht auch die Erweiterung des Hafens von
Dschibuti unter der Kontrolle von Chinas Marktführer, der
Chinese Merchant Group International zulasten, der bisher
beherrschenden Dubai Ports World.
Chinesisches Kapital ist auch nennenswert an der
Verdrängung der afrikanischen Kleinbauern beteiligt,
indem es sich Anbauflächen aneignet, die von den staatlichen Behörden dem Gemeinbesitz entrissen und in „leer
stehendes“ Land umgewandelt werden. Folglich gibt es
immer weniger selbständige Kleinbauern und dafür ein
wenig mehr Lohnabhängige oder LumpenproletarierInnen,
die das Heer derer mehren, deren wirtschaftliche Existenz
als Kleinproduzenten in anderen Branchen durch die
billigen Importprodukte aus China ruiniert worden ist, da
sie dagegen nicht konkurrieren können.
Der in diesem neoliberalen Süd-Süd-Geflecht von
chinesischen Konzernen erzielte Extraprofit wird teilweise
über dunkle Kanäle repatriiert und in den Reproduktionskreislauf eingeschleust. Bestimmte Praktiken des chinesischen Privatkapitals – v.a. im südlichen Afrika – unterscheiden sich nicht von den französisch-afrikanischen
Handelsgebaren, sodass auch von „ChinAfrique“ (s. Fußnote 1) gesprochen wird.
Die afrikanischen Partnerstaaten sind trotz gelegentlicher
Reibereien (Tschad, Sambia etc.) nicht gewillt, etwas gegen
diese Übermacht zu unternehmen. Ganz im Gegenteil sind
manche Staaten (RSA, Ghana, Mauritius, Nigeria etc.)
bereits dazu übergegangen, den finanzstarken Yuan neben
dem Dollar, dem Euro etc. als internationales Zahlungsmittel anzuerkennen. Eine gewissermaßen „sanfte“ und
schleichende Errungenschaft der chinesischen Großmacht in
Afrika, die manche noch nicht wahrhaben wollen …
Natürlich geht es nicht mehr wie früher um „die
Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf
Schwarzhäute“, die zur „Genesis der industriellen Kapitalisten“ beigetragen hat, wie Karl Marx in ersten Band des
Kapitals schrieb, oder um die militärische Eroberung,
gefolgt von Verwaltung und Ausbeutung der Ländereien,
wie es Ende des 19. Jahrhunderts typisch für den kolonialen
44 Inprekorr 6/2015
Imperialismus gewesen ist. Es handelt sich um eine neue,
der neoliberalen Epoche angepasste Form, wobei der
Verweis auf diese gemeinsame Vergangenheit zur Abgrenzung beim Konkurrenzkampf zwischen den Kapitalisten
dient. Allgemein gesprochen hindert die Zugehörigkeit zu
einem Land, das ehemals Opfer des westlichen Kolonialismus oder Neokolonialismus war, das Kapital aus den
Schwellenländern nicht daran, die Praktiken der multinationalen Konzerne aus den westlichen Metropolen nachzuahmen. Dies zeigt sich an den Kapitalgesellschaften aus
Brasilien, Indien, Indonesien etc., die im Agrar- und
Bergbausektor aktiv sind und die in die Bodenenteignung
der ländlichen Bevölkerung und in die Ausbeutung der
Arbeitskräfte zu Hungerlöhnen verstrickt sind und dabei
die Komplizenschaft der afrikanischen Staaten genießen,
die nach ADI gieren, weil sie sich dadurch auf dem Weg zu
einem Schwellenland wähnen.
De facto vollziehen sich die Süd-Süd-Beziehungen in
einem hierarchischen Rahmen: Die ADI der Schwellenländer Lateinamerikas und Asiens in Afrika lassen sich nicht
mit den ADI in umgekehrter Richtung vergleichen, selbst
wenn hier eine steigende Tendenz vorliegt. In China „lagen
die afrikanischen ADI Ende 2012 bei 14,24 Mrd. Dollar,
was gegenüber 2009 einer Zunahme von 44 % entspricht“,
während sie in Indien „im Gesamtzeitraum von 2000 bis
2010 bei 170 Millionen Dollar“ lagen. Dies geht hauptsächlich auf das Konto südafrikanischen Kapitals, das 36
Unternehmen in China betreibt (vs. 72 chinesische in der
RSA) und 54 in Indien (vs. 115 indische in der RSA). In
Brasilien und Russland verhält es sich sogar umgekehrt
bzw. ausgeglichen, ohne dass freilich die südafrikanische
Wirtschaftsstärke mit der in Brasilien oder Russland
verglichen werden könnte: 25 südafrikanischen Unternehmen in Brasilien stehen 4 brasilianische in der RSA
gegenüber und in Russland liegen die Zahlen mit jeweils 12
gleichauf.
Panafrikanismus als Alibi
Die Position als subimperialistische Regionalmacht (von
Lesotho bis Angola), die der südafrikanische Kapitalismus
in der Apartheid-Ära innehatte, ist mit dem Ende des
damaligen Regimes nicht verschwunden, sondern besteht
weiter und hat sich nur den neuen Gegebenheiten angepasst. So wird beispielsweise der südafrikanische Mobilfunk-Multi MTN beschuldigt, genau wie Coca-Cola das
Regime in Swasiland zu stützen und im Gegenzug wirtschaftliche Protektion seitens des Königs Mswati III. zu
genießen, der 10 % der Anteile an der Niederlassung in
SUBSAHAR A-AFRIK A
seinem Land innehat. Das Post-Apartheid-Regime in der
RSA ist der Kapitalexpansion in Afrika dienlicher als das
Vorgängerregime. Somit bildet der Panafrikanismus für die
herrschende Klasse Südafrikas die regionale Version der
hierarchischen Beziehungen unter den südlichen Ländern
und soll als Sprungbrett im internationalen Ranking
dienen. Die o.g. NEPAD war für den damaligen Vizepräsidenten und späteren Präsidenten der RSA, Mbeki, das
Instrument dieser afrikanischen Renaissance unter südafrikanischer wirtschaftlicher Dominanz. Dank des Programms der „Wirtschaftlichen Stärkung von Schwarzen“
(BEE), das auch von den weißen Großkapitalisten unterstützt wurde, entstanden schwarze Großkapitalisten, die
dem südafrikanischen Kapital, das ebenfalls unter dem
Verdacht der „systematischen internen Plünderung Afrikas“
stand, als Botschafter dienen können.
Auch das angolanische Kapital, das nahezu zwei
Jahrzehnte lang zweistellige (hauptsächlich durch Rohstoffförderung getragene) Wachstumsraten vorwies, hatte über
seine Exklave Cabinda hinaus mit einem Projekt zu
expandieren versucht, das als Auftakt zur Domestizierung
von Guinea-Bissau verstanden wurde: einem Joint Venture
zwischen dem staatseigenen Konzern Bauxite Angola und
dem Staat Guinea-Bissau im Verhältnis 90 % zu 10 %. Diese
ungleiche Partnerschaft wurde begleitet vom Ausbau des
Hafens von Buba in Guinea-Bissau durch das angolanische
Konsortium. Hinter diesem Geschäft steckt die angolanische Militärpräsenz im Rahmen einer Mission der Gemeinschaft der portugiesischsprachigen Länder (CPLP) und
des Sicherheitsrats der Afrikanischen Union (PSC). Das an
Öl und Mineralien (Diamanten, Bauxit etc.) reiche Angola
sieht sich als Führungsnation der CPLP und verhehlt auch
nicht seine Führungsambitionen in Subsahara-Afrika an der
Seite von oder gar in Konkurrenz zu Südafrika und
Nigeria. Daneben wird bereits staatliches und privates
Kapital im ehemaligen Mutterland Portugal investiert und
betätigt sich als Großaktionär in strategischen Sektoren wie
Banken, Telekommunikation etc. und Übernahmen in der
Immobilien- und Zeitungsbranche etc., was den Begriff des
„umgekehrten Imperialismus“ fördert. Jorge Costa vom
Bloco de Esquerda schreibt in seinem Beitrag zu dem Buch
Die angolanischen Herrscher Portugals: „Der Zustrom angolanischen Kapitals hat die größte Umwälzung der strategischen Sektoren der portugiesischen Wirtschaft seit der
Privatisierungswelle der 90er Jahre bewirkt“. Es ist das erste
Kapital, dem so etwas in dem ehemaligen „Mutterland“
gelungen ist. Die Tochter des angolanischen Präsidenten
und reichsten Mann Afrikas, Isabel Dos Santos, spricht
deshalb vom „umgekehrten Imperialismus. Aber ist dieser
Begriff gerechtfertigt, wenn wir bedenken, dass 2013 das
angolanische Kapital gerade mal „mit insgesamt 2,8 Mrd.
Euro (3,8 % des portugiesischen Aktienmarktes)“ beteiligt
ist?.
Nicht ohne Stolz zitieren viele panafrikanische OnlineZeitungen die Auflistung afrikanischer Milliardäre in
Forbes, wonach es 2014 insgesamt 55 afrikanische Dollar-
Chinesisches Kapital
ist auch nennenswert
an der Verdrängung der
afrikanischen Kleinbauern
beteiligt ...“
milliardäre gab, deren Vermögen zwischen 2013 und 2014
von 143,2 Mrd. Dollar um 12,4 % auf 161,74 Mrd. Dollar
gestiegen ist. Mit anderen Worten haben etwa 40 Multimillionäre zwischen 2009 und 2015 ihr Vermögen so
gemehrt, dass sie zu den damals 8 Milliardären aufschließen
konnten – nicht gerechnet die zunehmend korrupte
Regierungselite im neoliberalen Afrika.
Diese neureiche afrikanische Bourgeoisie tätigt erhebliche Investitionen auf nationaler, kontinentaler Ebene und
auch darüber hinaus: „Während der schweren Rezession in
Europa zwischen 2007 und 2012 sind die Investitionen in
Afrika sieben Jahre in Folge gestiegen und erreichten 77
Mrd. Euro.“ (PANA, http://www.panapress.com/-L-UEnie-avoir-perdu-le-commerce-africain-et-la-bataille-desinvestissements) Diese Entwicklung liegt in der Logik des
Washington-Consensus: Das Hohelied auf das Privatkapital, das von den internationalen Finanzinstitutionen
angestimmt wird, gilt auch der Beteiligung des heimischen
Privatkapitals. Die heimische Bourgeoisie erwartet, dass ihr
infolge der internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen eine angemessene Position im Rahmen der
kapitalistischen Akkumulation zusteht und dies nicht durch
Handelsabkommen geschmälert werden darf.
Neureiche und wachsende Armut
Dieser wirtschaftliche Aufstieg mancher Länder des Südens
bringt zwar das traditionelle Nord-Süd-Gefüge durcheinander, steht aber nicht im Widerspruch zu einer gewissen
Tradition der „Dritten Welt“. Hier wird zwar wechselseitige Solidarität und gleichberechtigter Austausch der periInprekorr 6/2015 45
SUBSAHAR A-AFRIK A
pheren Länder propagiert, zugleich aber werden die
sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in den
einzelnen Ländern verschwiegen und die Klassenwidersprüche oftmals repressiv gehandhabt. Afrika liegt denn
auch an der Spitze, was soziale Ungleichheit anlangt: „Die
ungleiche Vermögensverteilung ist in Subsahara-Afrika mit
37 % am grellsten, gefolgt von Südasien mit 25 %. […]
Während die Einkommensunterschiede in Lateinamerika
und der Karibik zurückgegangen sind, haben sie in Südasien und Subsahara-Afrika wohl zugenommen.“6 Ursächlich
dafür sind die Plünderung der heimischen Ressourcen und
die Klientelpolitik der Regierungen, was besonders
augenscheinlich am Beispiel von Isabel Dos Santos und den
schwarzen Multimillionären oder Milliardären der RSA
wird.
Aus US-diplomatischen Quellen ist bekannt, dass der
reichste Mann Afrikas, der Nigerianer Aliko Dangote,
seinen Reichtum auch seinen politischen Beziehungen
verdankt. Der damalige US-Generalkonsul, Brian Browne
schrieb: „Für seine Anhänger gilt er als Symbol dafür, dass
Nigerianer nicht nur zu Tauschgeschäften und Handel
fähig sind. Für seine Kritiker ist er ein Schmarotzer, der
seine Beziehungen zu Politik und Wirtschaft nutzt, sich
Vorteile zu verschaffen und potenzielle Konkurrenten
auszuschalten. Die Wahrheit wird irgendwo dazwischen
liegen. Dangote gehört zum engsten Wirtschaftsberaterkreis von Präsident Obasanjo. Es ist sicher kein Zufall, dass
viele Produkte, an deren Umsatz Dangote maßgeblich
beteiligt ist, dem Importverbot nach Nigeria unterliegen.“7
Dies ist nichts grundlegend Neues gegenüber dem Raubrittertum der USA Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts.
Dangote steht auch für den Zynismus der afrikanischen
Kapitalisten, auch bei ihrer Expansion auf dem Kontinent.
„Seit wir bei diesem Unternehmen arbeiten, erhalten wir
unsere Löhne mit über dreiwöchiger Verspätung und
müssen stets bangen, ob sie überhaupt ausgezahlt werden.
Nach fünf Monaten im Betrieb haben wir noch immer
keine Arbeitsverträge erhalten, obwohl wir uns mehrfach
an die Gewerbeaufsicht gewandt haben. Insofern verfügen
wir über keinerlei soziale Rechte, wie sie das senegalesische
Gesetz vorsieht“, beklagten sich kürzlich die Arbeiter von
Dangotes Zementwerken in Senegal.
Der neoliberale Kapitalismus zeichnet sich nicht durch
sonderlichen Respekt vor den ohnehin kümmerlichen
Rechten der Lohnabhängigen aus. Genauso wenig kümmert sich dieser Urtyp unter den „neuen Giganten des
afrikanischen Kapitalismus“ um die von seinen Zementwerken verursachten Umweltprobleme. Wie seinesgleichen
46 Inprekorr 6/2015
inner- und außerhalb von Afrika profitiert er vom nahezu
inexistenten Umweltschutz und von der massiven Flexibilisierung der Arbeitsmärkte im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme. Damit sorgen diese Herren dafür, dass in
Subsahara-Afrika die prekäre Beschäftigung mit Hungerlöhnen und working-poor auf Rekordniveau liegt.
Militär … heute wie damals
Typisch für die imperialistische Beherrschung der afrikanischen Völker Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrhunderts war
weniger der Kapitalzustrom als vielmehr Gewaltanwendung
und militärische Eroberung. Dieser militärische Aspekt
macht auch heute den Unterschied zwischen den aufstrebenden Wirtschaftsmächten und den alten imperialistischen
Praktiken. Unter den früheren Kolonialmächten ist Frankreich stets in seinen ehemaligen Kolonien militärisch präsent
geblieben, nachdem die knappe Hälfte aller afrikanischen
Kolonien Anfang der 1960er Jahre in rascher Folge unabhängig wurde. (England beispielsweise versuchte seinen
Einfluss durch militärische Zusammenarbeit von außen zu
wahren, behielt aber de facto keine eigenen Truppen vor
Ort.) Durch diese militärische Präsenz sicherte Frankreich
seine Vormachtstellung in den ehemaligen subsaharischen
Kolonien oder konnte sie sogar noch über die ehemaligen
Kolonialgebiete hinaus erweitern, indem es z. B. im
Biafra-Krieg aufseiten der Sezessionisten mitmischte – einerseits, um den Zugriff auf das Erdöl in Nigeria zu sichern,
andererseits, um neokoloniale Strukturen zu garantieren.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und mit Beginn der
neoliberalen Globalisierung änderte sich die Strategie und
die Zahl der Militärbasen in Afrika wurde reduziert.
Stattdessen wurden einheimische Militärs geschult und als
abhängige Armeen aufgebaut. Dies geschah in Abstimmung
mit der EU und dem Konzept punktueller und befristeter
Einsätze durch multinationale Interventionskräfte (EUFOR), deren Einsatz in der Demokratischen Republik
Kongo, im Tschad und in Zentralafrika – weit vor der
Operation Sangaris – unter französischer Leitung stattfand.
In Anerkennung seiner „historischen Rolle“ in Afrika
wurde Frankreich auch zu bestimmten Manövern hinzugezogen, die von der US-Armee gemeinsam mit afrikanischen
Verbänden seit den 90er Jahren durchgeführt wurden, um
den US-Interessen in Afrika Nachdruck zu verleihen – ein
Engagement, das aufgrund der gescheiterten Intervention in
Somalia nicht frei von Rückschlägen verläuft.
Die militärische Supermacht, die in Diego Garcia eine
der größten Militärbasen außerhalb der USA unterhält,
nutzt schon länger weitere militärische Einrichtungen wie
SUBSAHAR A-AFRIK A
etwa den Luftwaffenstützpunkt in Thebephatshwa (Botswana), der mit US-Hilfe zu einem Zeitpunkt errichtet
wurde, als der alte Vorposten Südafrika abhandenkam und
die „Kommunisten des ANC“ an die Macht zu kommen
drohten. Inzwischen ist die US-Armee, die seit 2007 über
ein eigenes Afrika-Kommando (Africom) verfügt, zur
größten ausländischen Militärmacht in Afrika aufgestiegen:
Neben Diego Garcia unterhält sie seit 2002 im ehemaligen
französischen Militärcamp Lemonnier in Dschibuti einen
Stützpunkt für die Combined Joint Task Force-Horn of
Africa (CJTF-HOA) als Einheit der Africom sowie weitere,
oftmals geheim gehaltene Stützpunkte in ca. 40 weiteren
Staaten Afrikas. Diese flächendeckende Präsenz, (als
Ausgleich für den gescheiterten Versuch, das Hauptquartier
der Africom in Afrika zu installieren, das sich hilfsweise
nunmehr in Stuttgart und mit Außenstellen in Spanien,
Italien und Portugal befindet) wird offiziell mit der „Bekämpfung des Terrorismus“ begründet, kann aber über die
realen wirtschaftlichen und besonders auf Erdöl gerichteten
Interessen nicht hinweg täuschen.
Mit dreister Arroganz haben die USA die Ebola-Epidemie in Westafrika als Vorwand genommen, um mit der
„humanitären“ Entsendung von 3000 Militärs nach Liberia
das Image der Africom aufzupolieren. Mit dieser Operation
zur „Gewinnung der Herzen und Köpfe“ hofften sie, sich
mithilfe der botmäßigen Präsidentin Ellen Sirleaf Johnson
(die sich schon 2007 für die Aufnahme des Hauptquartiers
in Liberia starkgemacht hatte und am Widerspruch der
Afrikanischen Union gescheitert war) einen Vorwand für
eine bleibende Militärpräsenz in Westafrika verschaffen zu
können, so wie es ihnen zuvor mithilfe ihres Lakaien
Michel Martelly in Haiti gelungen war.
Die Verlegung des militärischen Schwerpunkts in
Richtung Asien ändert nichts am Stellenwert der Africom
für die USA. Die Schaffung der Africom war auch ausschlaggebend dafür, dass der lang gehegte Plan zur Schaffung einer panafrikanischen Eingreiftruppe nicht durchgesetzt werden konnte, der seit 1994 in Form der African
Standby Force durch die Afrikanische Union weiter
betrieben wird. Die Afrikanische Union spricht sich
einerseits gegen die Einrichtung neuer Militärbasen in
Afrika aus, zählt andererseits jedoch auf die finanzielle
Unterstützung der USA und der EU für die Aufstellung
einer solchen Armee, mithilfe derer Afrika angeblich seine
Sicherheitsprobleme selbst lösen könnte. Zudem entfiele die
Rechtfertigung für die militärischen Interventionen von
außen, denen Afrika als Exerzierfeld und Werbebühne
neuer Waffensysteme und als Geschäftsfeld ihrer Söldnerfir-
men dient. Dass diese gesamtafrikanische Eingreiftruppe
bisher nicht umgesetzt wurde, erklärt mitunter auch das
klägliche Versagen der afrikanischen Truppen in Somalia
und die französischen Militärinterventionen in Mali und
Zentralafrika. Diese imperialistischen Eingriffe werden
mithilfe der dreisten Instrumentalisierung des UN-Sicherheitsrats humanitär verbrämt. Dabei ist die Lage in Mali
nicht nur den fortdauernden neokolonialen Strukturen
geschuldet, sondern auch der desolaten Situation in Libyen,
die durch die NATO-Eingriffe und entgegen den Vermittlungsversuchen der Afrikanischen Union dort geschaffen
wurde.
Gestützt auf mancherlei Anerkennung seiner Militärinterventionen (die Ersetzung des früheren ivorischen
Präsidenten Laurent Gbagbo durch Ouattara oder die
Operationen Serval und Sangaris) nimmt Frankreich eine
Umstrukturierung und künftige Verstärkung seiner
Militärpräsenz in Angriff. Dabei kooperiert und konkurriert das Land zugleich mit den USA, die im Zuge ihrer
Machtentfaltung an der „Expertise“ Frankreichs nicht
vorbeikommen. Beredtes Beispiel hierfür ist die Koexistenz
eines französischen und eines US-amerikanischen Stützpunktes in Dschibuti.
Als strategischer Stützpunkt ist Dschibuti zum Symbol
für die neuen militärischen Interessen der Großmächte in
Afrika geworden. Das Land gerät in seiner Rolle als
Wächter des Golfs von Aden und der dortigen Schiffspassage zum militärischen Drehkreuz, was dem Grundsatz der
Afrikanischen Union Hohn spricht, wonach fremde
Armeen nicht dauerhaft in Afrika stationiert sein dürfen.
Neben den Franzosen und US-Amerikanern haben Japan
(2011) und Italien (2012) eine Basis errichtet, China eine
Genehmigung dazu erhalten, während Russland und
Kanada darüber verhandeln und spanische und deutsche
Soldaten vertreten sind, ohne eigene Stützpunkte zu
unterhalten.
Das japanische Militär hat 600 Soldaten in Dschibuti
stationiert und zahlt dort 30 Millionen Dollar Miete. Dies
passt sich ein in den Neuformierungsprozess des japanischen Militarismus, der Japans Rolle als wirtschaftlicher
Großmacht gerecht werden will, wobei das Land bereits
zuvor durch seine räuberischen Praktiken in der Hochseefischerei in der Region präsent gewesen war. Diese neue
„Verteidigungsideologie“ anerkennt freilich weiterhin das
militärische Primat der USA.
China ist im Begriff, seine militärische „Zurückhaltung“ aufzugeben und strebt eine Militärpräsenz an, die
unabhängig von den UN-Missionen in Kongo und
Inprekorr 6/2015 47
SUBSAHAR A-AFRIK A
Südsudan sein soll und anders als sein wenig bekannt
gewordener Beitrag zur „Bekämpfung des Terrorismus“ in
Mali sein will. Auf dieser Grundlage ist die Genehmigung
zur Einrichtung eines Stützpunktes in Dschibuti erfolgt, die
über die Interessen in Afrika hinaus auch als Reaktion auf
die Spannungen im Südchinesischen Meer gerechtfertigt
wird. „Peking trifft Vorkehrungen, die militärische
Einkreisung durch die USA operationell und strategisch
zuvereiteln.“8 Zudem wird wohl die Errichtung eines
Marinestützpunktes in der Walfischbucht in Namibia
erwogen. Insofern bekommt die militärische Seite der
chinesisch-afrikanischen Zusammenarbeit zunehmende
Bedeutung. Auch unterliegt der chinesische Waffenexport
nicht der Doppelbödigkeit der anderen Wettbewerber, die
gekonnt Embargos verhängen. Selbst Gabun, immerhin
Hochburg der französischen Armee, hält gemeinsame
Militärmanöver mit China ab. Noch mehr als im wirtschaftlichen Sektor offenbart sich im militärischen, dass
China in diesem Süd-Süd-Geflecht die Federführung
innehat. Aber im Unterschied zu dem, was im Südchinesischen Meer zwischen China und den USA vorgeht, gibt es
in Afrika (noch?) keine Spannungen zwischen den alten
Großmächten und den neuen.
Eine Ausnahme hiervon betraf Zentralafrika unter
François Bozizé, wo die südafrikanische und die französische Armee gegeneinander konkurrierten, als die erstere im
Zuge einer Militärpartnerschaft dorthin entsandt wurde,
um das wankende Regime zu stützen, dem Frankreich die
Unterstützung entzogen hatte. Dabei ging es auch um die
Sicherung südafrikanischer Kapitalinteressen. Im Zuge des
folgenden Aufstands im Land verloren südafrikanische
Soldaten ihr Leben und letztlich wurde das Regime
gestürzt. Im Zuge der Operation Sangaris stellte Frankreich
später wieder seine Vormachtposition her.
Die wachsende ideologische Hegemonie
Die zunehmende Kapitalinvasion in Afrika geht nicht nur
mit einer verstärkten militärischen Präsenz seitens der alten
und neuen Großmächte einher. Es gibt daneben auch die
ideologische oder kulturelle Dimension zur Förderung der
Akzeptanz, ein Hegemoniepfeiler im Sinne Gramscis. Auch
in dieser Beziehung hat der Neoliberalismus die Herrschaftsmechanismen verändert.
Zu Kolonialzeiten und in den ersten 20 Jahren danach
wurde auch Afrika von dem weltweiten intellektuellen
Gärungsprozess erfasst, der sich in einer Kritik des Imperialismus und Kapitalismus entlud und mitunter mit politischer Praxis einherging. Auch wenn die meisten afrikani48 Inprekorr 6/2015
schen Intellektuellen (auch die „unpolitischen“) dem
neokolonialen Lager zuzurechnen waren, so gab es doch
eine gewisse Meinungsvielfalt im Land (sofern diese
toleriert wurde) oder im Exil .
Seit Ende der 80er Jahre ist dies absolut nicht mehr so,
nachdem bereits im Jahrzehnt davor eine Gegenoffensive
begonnen hatte, die dazu beitrug, viele Antiimperialisten
und Antikapitalisten in die Machtstrukturen des Landes
oder in die internationalen Institutionen zu integrieren und
ihr kritisches Engagement letztlich auf der Karriereleiter
versanden zu lassen. Mit dem Zerfall des realsozialistischen
Lagers und der gleichzeitigen Durchsetzung der neoliberalen Umstrukturierung Afrikas verschlimmerte sich die
Lage und die Vielfalt der sozialen und politischen Ideale
verkümmerte. Im Zuge der „Demokratisierung“ Afrikas
überwogen schließlich die kapitalistischen Wertvorstellungen und die Kritik an den Anpassungsmaßnahmen versandete auf den Konferenzen oder in Reformprozessen in den
„souveränen“ Staaten. Ziel war, die kapitalistische Marktwirtschaft in Stein zu meißeln. Dabei schwang sich die
Weltbank zur Bekämpferin der extremen Armut auf, die sie
gemeinsam mit dem IWF überhaupt erst verursacht hatte,
und bediente sich dazu der UN-Strukturen, der Entwicklungshilfe-NROs, karitativer Organisationen etc. Der
neoliberalen Globalisierung wurde zugeschrieben, dass sie
das Elend, das sie hervorgerufen hat, beseitigen könne: Aus
extremer Armut würde einfache Armut – aber nicht durch
die Schaffung eines „Sozialstaats“ oder „staatlicher Vorsorge“, wie es in manchen afrikanischen Ländern in entsprechend abgeschwächter Form während der zwanzig Jahre
zuvor praktiziert worden war, sondern durch die Entwicklung des Privatsektors.
In diesem Sinne wird auch den philanthropischen
Stiftungen (dem sog. „Philanthro-Kapitalismus“) die
Fähigkeit zuerkannt, die Welt zu retten und die großen
sozialen Probleme der Menschheit zu lösen. Hinter deren
vermeintlicher Großzügigkeit stecken zum einen Steuervorteile für die Finanziers und zum anderen die ideologische Aufrüstung im Namen des Washington-Consensus.
Die reichsten Menschen der Welt, Bill und Melinda Gates,
(Gates-Stiftung) gerieren sich in dieser Propaganda-Show
als Nothelfer der afrikanischen AIDS-Kranken und
instrumentalisieren notabene dabei die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Den afrikanischen Kindern wird der
Schulbesuch ermöglicht dank des Engagements einiger
Filmstars, mit denen afrikanische Vertreter des Africa
Progress Panel (einer prominent besetzten internationalen
Beratergruppe für die „nachhaltige“ Entwicklung Afrikas)
SUBSAHAR A-AFRIK A
für das Gruppenfoto posieren. So funktioniert die Unterordnung des Öffentlichen unter das Private, während
zugleich die öffentlichen Gelder in den Taschen der
Regierenden verschwinden. Durch die Unterstützung, die
dieser „Philanthro-Kapitalismus“ gemeinsam mit westlichen Regierungsstellen bestimmten Menschenrechtsorganisationen und Bürgerrechtsbewegungen zukommen lässt,
sollen zugleich emanzipatorische Bestrebungen und Kritik
an den lokalen Verhältnissen wie an denen in den Geberländern im Keim erstickt werden.
Die afrikanischen Angestellten der Soros-Stiftung
„Offene Gesellschaft“ dürfen nur die dort vorgegebene
oberflächliche Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen
nachbeten und selbstredend gilt die Beteiligung des Stifters
am Land Grabbing und an der Ausbeutung der ArbeiterInnen nicht als inhuman. Diese Vorgehensweise hat Slavoj
Zizek mal als „praktizierte Heuchelei“ bezeichnet … von
der sich aber auch Kritiker der afrikanischen Verhältnisse
blenden lassen. So hat beispielsweise ein führender Vertreter
der regierungskritischen, jugendorientierten Protestbewegung in Senegal „Y en a marre“ (Wir haben’s satt)9 die
Zusammenarbeit mit Soros gerechtfertigt, nachdem die
Bewegung zuvor auch die Präsidentschaftskandidatur des
neoliberalen Milliardärs Macky Sall gegen den amtierenden
Abdoulaye Wade unterstützt hatte. Ein anderer Vertreter
meinte, dass US-Präsident Obama ein „sympathischer und
aufmerksamer Präsident [sei], der sich als sehr pragmatisch
erwiesen [habe]“. In ihrer Selbstdarstellung beschreibt sich
diese Bewegung so: „Y en a marre neigt weder zum
Marxismus, noch zum Kapitalismus, noch zum Kommunismus. Wir sind von keiner Seite abhängig und verstehen
uns als aktive Bürger auf der Grundlage der afrikanischen
Werte und unserer soziokulturellen Gegebenheiten.“
Diese ideologische Beliebigkeit entspricht dem Zeitgeist, dem auch andere derartige Bewegungen in Afrika
anhängen, wie beispielsweise die Führung der burkinischen
Protestbewegung „Balai citoyen“ (Bürgerbesen), die zu den
Akteuren gehört, die den Präsidenten Compaoré zum
Rücktritt gezwungen haben. Manche Kritiker der afrikanischen Verhältnisse bezeichnen diese „Opposition“ auch als
„die neue Infanterie des Imperialismus in Afrika“ oder als
„Lakaien des Westens“.
Das oberflächliche Demokratieverständnis, das in diesen
afrikanischen Bewegungen vorherrscht, resultiert auch aus
der Einflussnahme des Imperialismus auf die dortigen
Universitäten über Stipendien oder die Einrichtung von
Lehrstühlen. Die USA binden afrikanische Hochschulabsolventen näher an sich über Einrichtungen wie der
Partnership for African Universities, die 2000 in Dakar ins
Leben gerufen wurde und hauptsächlich von diversen
Stiftungen (Carnegie, Ford, MacArthur und Rockefeller)
getragen wird. Inzwischen fordern afrikanische Intellektuelle eine stärkere „Partnerschaft“ der afrikanischen Universitäten mit den US-Stiftungen als den wichtigsten Betreibern der Umstrukturierung des Hochschulwesens. Es
versteht sich, dass das kritische Denken, das an manchen
Im Zuge der „Demokratisierung“ Afrikas
überwogen schließlich die
kapitalistischen Wertvorstellungen ...“
Universitäten noch einen Nischenplatz einnehmen konnte,
dabei unerwünscht ist.
Landwirtschaftliche Forschungsanstalten werden
zunehmend von der Finanzierung durch die Agrarindustrie
abhängig. In den sozialwissenschaftlichen Bereichen setzen
sich mehr und mehr die Paradigmen einiger weniger
Thinktanks durch, die auch mit entsprechendem publizistischem Aufwand agieren. Bereits vor einigen Jahren
beklagte ein afrikanischer Wirtschaftswissenschaftler, der
sich nicht als Revolutionär versteht: „Wir müssen damit
umgehen, dass makroökonomische Paradigmen nicht mehr
diskutiert werden und wir den sozialen Herausforderungen
unvorbereitet gegenübertreten. Zumindest an den mir
bekannten afrikanischen Universitäten in den ehemals französischen Kolonien werden solche Paradigmen absolut nicht
infrage gestellt. […] Es findet überhaupt keine Diskussion
mehr statt in den Wirtschaftswissenschaften. […] Diejenigen, die an der Spitze der Institutionen stehen, befassen sich
kaum mit (kritischer) Theorie, und diejenigen, die an den
Universitäten sind, haben keinen Kontakt zur Wirklichkeit.
[…]Ein abweichender Standpunkt hat seinen Preis und
insofern wird die gängige Lehrmeinung kaum infrage
gestellt. Wir sind abhängig und lassen uns daher vereinnahmen.“10 Die Schwellenländer, v.a. China, beschränken sich
auf diesem Gebiet auf die Gewährung von Stipendien, aber
halten sich ansonsten im Vergleich zu den alten Kolonialmächten zurück.
Seinerzeit rechnete Kwame Nkrumah auch Hollywood,
Inbegriff der „Kulturindustrie“ zur Verbreitung des
„american way of life“, zu den Propagandamitteln des
Inprekorr 6/2015 49
SUBSAHAR A-AFRIK A
Imperialismus oder Neokolonialismus. Er schrieb damals:
„Auch die Hollywood-Filme sind Waffen. Man muss nur
hören, wie die afrikanischen Zuschauer applaudieren, wenn
die Hollywood-Helden die Indianer oder Asiaten massakrieren, um zu verstehen, wie mächtig ein solches Medium
ist.“ In dieser Hinsicht hat die Macht der imperialistischen
Kulturindustrie exponentiell zugenommen, einschließlich
ihrer lokalen Adepten: der chinesische Fernsehsender
CCTV in Nairobi, die Telenovelas, die Bollywood- und
Nollywood-Filme (Indien bzw. Nigeria) etc.
Aber eine „der schlimmsten Methoden des Neokolonialismus ist wohl die evangelikale Kirche“, meinte
Nkrumah. „Auf die Befreiungsbewegung folgte eine wahre
Flut von religiösen Sekten, vorwiegend aus den USA.“ Seit
Anfang der 80er Jahre hat dieses Phänomen noch zugenommen und verleiht den sozialen Folgen der Schuldenkrise und den Rosskuren der Finanzinstitutionen eine
„spirituelle Note“. Die Ausbreitung der Erweckungs- und
Pfingstkirchen erfolgt ganz offensichtlich auch unter
Einsatz erheblicher finanzieller Mittel der reichen Pfaffen,
die ihrem Gott und dem Mammon zugleich huldigen.
Trotz alledem fügen sich die ausgebeuteten und
unterdrückten Völker Afrikas nicht einfach in die Unterwerfung, die ihnen der westliche Imperialismus, inzwischen ergänzt um die Schwellenmächte und den aufstrebenden afrikanischen Kapitalismus, zuteilwerden lassen
will. Davon zeugen die allfälligen Kämpfe in Afrika, die
sich gegen die Ausbeutung der Menschen und die Umweltzerstörung durch die Erdöl- und Minen-Multis richten,
gegen Land Grabbing und die aufgezwungene Abhängigkeit von Saatgut, gegen Unrecht und Benachteiligung
seitens raffgieriger Cliquen, die sich an der Regierung
abwechseln und sich zu heimischen Kapitalisten aufschwingen, gegen die Diskriminierung im Bildungs- und Gesundheitswesen, gegen die Instrumentalisierung der unterschiedlichen Ethnien, Rassen und Religionen für politische
und militärische Zwecke, gegen die Unterdrückung
mithilfe neokolonialer Konzepte oder obskurantistischer„af
rikanischer Traditionen“ usw.
In diesen Kämpfen lassen wir uns leider allzu oft
auseinanderdividieren, da der Kapitalismus – ob in Gestalt
der traditionellen oder der neu hinzugekommenen Mächte
– sein neokoloniales Instrumentarium dafür einsetzt, uns zu
isolieren und in Zaum zu halten. Wenn wir keine Solidarität unter den Völkern herstellen und aufrecht erhalten und
nicht die Kämpfe gegen die allgegenwärtigen Angriffe der
kapitalistischen Mächte koordinieren, wenn wir also keine
antikapitalistische Bewegung über ganz Afrika hinweg
50 Inprekorr 6/2015
schaffen, dann wird sich das ausgebeutete und unterdrückte
afrikanische Volk nicht befreien und ein menschenwürdiges Leben führen können.
September 2015
Jean Nanga ist Korrespondent der
Presse der IV. Internationale in Afrika11
Übersetzung: MiWe
„
1 Der Begriff Françafrique verweist auf die fortdauernde
Beherrschung der ehemaligen französischen Kolonialgebiete
durch das alte „Mutterland“. Die Umkehrung hiervon wäre
Africafrance.
2 Franzöische „Überseegebiete“, also die nicht einmal formal
unabhängigen Länder in der Karibik, dem indischen und dem
pazifischen Ozean. Anm. d. Red.
3 Karl Marx: Entwurf eines Vortrages zur irischen Frage, gehalten
im Deutschen Bildungsverein für Arbeiter in London am 16.
Dezember 1867 aus MEGA Bd. 16, S 451
4 Bruno Alomar und Thierno Seydou Diop
5 Die europäischen Direktinvestitionen in China sind erheblich
zurückgegangen und beliefen sich 2014 nur noch auf 9,14 Mrd.
Euro (vs. 17,1 Mrd. 2013). Hingegen sind die chinesischen ADI
im selben Zeitraum von 5,5 Mrd. auf 12,1 Mrd. gestiegen.
6 Pnud, Rapport sur le développement humain 2014. Pérenniser le
progrès humain : réduire les vulnérabilités et renforcer la résilience, p.
42, http://hdr.undp.org
7 http://wikileaks.org/cable/2005/03/05LAGOS362.html
8 Alfred McCoy, „ The Geopolitics of America Global Decline.
Washington Versus China in the Twenty-First Century “, TomDispatch.com, June 7, 2015, http://www.tomdispatch.com/
blog/176007/.
9 Einen informativen, allerdings recht unkritischen Einblick in
die Arbeitsweise dieser am Rap orientierten Protestbewegung
liefert der – allerdings bereits 2012 verfasste – Beitrag http://
www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2013/prause.pdf.
10 Kako Nubukpo, „ L’Afrique malade de ses économistes “,
Alternatives économiques, 21 septembre 2011, http://alternativeseconomiques.fr/blogs/
nubukpo/2011/09/21/l’Afrique-malade-de-ses-economistes
11 Der sehr umfängliche Text von Jean Nanga zu Afrika hat im
Original über hundert Anmerkungen (Fußnoten), auf die wir
- schon aus Platzgründen aber auch zur besseren Lesbarkeit großenteils verzichtet haben. Wer sich intensiver mit dem
Thema auseinandersetzen möchte und die französisch- und
englischsprachigen Anmerkungen und Quellenangaben
nachlesen möchte, den/die verweisen wir auf die Website
(www.inprekorr.de), wo wir das französische Original dieses
Artikels einstellen. Eure Redaktion
Die Internationale
52
BENJAMIN UND TROTZKI: 1940
„Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ (W. Benjamin)
56
LINKSREFORMISMUS IN DER DEFENSIVE
Die Annahme des Dritten Memorandums durch Syriza wirft auch ein Schlaglicht auf die
bisherige Strategie anderer linker Organisationen in Europa.
51 Inprekorr 5/2014
D I E I N T E R N AT I O N A L E
BENJAMIN UND
TROTZKI: 1940
Der Autor erinnert an den 75. Todestag des deutschen Philosophen und
Literaturkritikers Walter Benjamin und des russischen Revolutionärs Leo Trotzki und
gibt einen Einblick in deren Geschichtsphilosophie.
Helmut Dahmer
„
T
rotzki war der Sohn eines jüdisch-ukrainischen
Gutsbesitzers aus dem südrussischen Bezirk Cherson, der
zwölf Jahre jüngere Benjamin der Sohn eines wohlhabenden deutsch-jüdischen Berliner Kaufmanns. Als „gottlose
Juden“ (Sigmund Freud) gehörten sie zur sozialrevolutionären Avantgarde des Diaspora-Judentums. Beide versuchten, ihre Zeit zu begreifen und ihre Einsichten publik zu
machen, um die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern. Beide sahen in der Literatur eine Form
der Geschichtsschreibung, beide waren selbst bedeutende
Literaten und verdienten damit ihren Lebensunterhalt.1
Benjamin und Trotzki waren an der Psychoanalyse ebenso
interessiert wie am französischen Surrealismus, der ohne
Freud nicht zu denken ist.
Trotzki wurde Berufsrevolutionär, führte zwei Revolutionen an, organisierte und kommandierte die Rote
Armee in den Jahren 1918-1924, gründete zwei kommunistische „Internationalen“, die III. von 1919 und die
IV. von 1938, und schrieb nebenher an die zweihundert
Literaturkritiken. Der andere entwickelte seine kritische
Theorie der Geschichte in einer Reihe von Interpretatio-
52 Inprekorr 6/2015
nen bedeutender Lyriker (wie Hölderlin, Baudelaire und
Brecht), großer Erzähler (wie Goethe, Lesskow, Kafka
und Proust) oder der Essays des Herausgebers der (Wiener)
Zeitschrift Die Fackel, Karl Kraus.
Zu Trotzkis Hauptwerken gehören seine Autobiografie (Mein Leben, 1929), die 1935 geschriebene Analyse der
stalinistischen Sowjetunion (Verratene Revolution), vor allem
aber seine zweibändige Geschichte der russischen Revolution von 1917, die Anfang der dreißiger Jahre in deutscher
Übersetzung erschien und die Benjamin, wie er schrieb,
„mit atemloser Spannung in sich aufnahm“2 . Benjamins
Hauptwerk galt Charles Baudelaire, einem „Lyriker im
Zeitalter des Hochkapitalismus“.3 Im Zusammenhang mit
den Baudelaire-Studien und -Übersetzungen entstand
zudem in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre eine
Fragment gebliebene, umfangreiche Studie über Paris, die
„Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“. Von diesem PassagenWerk versprach Benjamin sich – wie von seinen anderen
(literar-)historischen Untersuchungen – neuartige Aufschlüsse über sein eigenes, das unheilvolle 20. Jahrhundert.
Im Zusammenhang mit seinen Studien über das Paris des
D I E I N T E R N AT I O N A L E
19. Jahrhunderts interessierten ihn vor allem der Frühsozialist Charles Fourier4 und der revolutionäre Kommunist
Auguste Blanqui5, von dem er schrieb, der „Erzklang“ seines Namens habe das 19. Jahrhundert „erschüttert“. 6 Was
die Marx’sche Theorie anging, orientierte er sich vor allem
an Schriften der Hegelianer-Marxisten Lukács, Korsch
und Horkheimer 7, ferner am spezifisch Brecht’schen
„Materialismus“, wie er in dessen Gedichten, Stücken und
Erzählungen Ausdruck fand.8
Trotzki hatte die Marx’sche Theorie ebenfalls durch
die Lektüre eines Hegelianer-Marxisten des 19. Jahrhunderts kennengelernt, des Italieners Antonio Labriola.9
Bewegte Trotzki sich zeit seines Lebens in revolutionären
Zirkeln und Parteien und bildete notfalls eine Ein-MannPartei, so stand Benjamin den politischen Organisationen
ebenso fern wie den literarischen Cliquen seiner Zeit.
Trotzki war ein genialischer Autodidakt, Benjamin ein
Privatgelehrter (oder besser: ein homme de lettres), der den
Zugang zur Universität nicht fand (und vielleicht auch
nicht finden wollte).
Trotzki hat Benjamins Schriften nicht gekannt, und
Benjamin war weder Mitglied einer kommunistischen
Partei noch „Trotzkist“.10 Wohl aber las er nicht nur
verschiedene Schriften Trotzkis11, sondern auch die Ende
der zwanziger Jahre unter dem Namen von Panaȧt Istrati
erschienenen drei Bände mit Analysen von Linksoppositionellen zur Entwicklung der Sowjetunion12 oder den
(1939 erschienenen) dokumentarischen Roman von Victor
Serge über die Unterdrückung der russischen Linken
Opposition13.
Wir Heutigen sind es, die Trotzki und Benjamin als
sozialistische Zeitgenossen mit ähnlichem Schicksal wahrnehmen und ihre historisch informierte Geistesgegenwart
im ersten Jahr des Zweiten Weltkriegs bewundern.
Trotzki hatte im Juli 1933 die Insel Prinkipo im Marmarameer verlassen und hielt sich dann knapp zwei Jahre
in Frankreich auf, ehe er (bis Ende 1936) in Norwegen
– und dann ab 1937 in Mexiko – Asyl fand. Die beiden
Emigranten teilten in den Jahren 1933–35 das französische Exil, ohne miteinander in Kontakt zu kommen. Der
eine wurde von Regierung und Polizei nur widerwillig
geduldet, siedelte, von wenigen politischen Freunden
unterstützt, von einem unsicheren Ort zum andern über,
stets auf der Suche nach alternativen Asyl-Ländern. Der
Andere zog von einer behelfsmäßigen Pariser Unterkunft
zur anderen, wich gelegentlich nach San Remo, Ibiza und
Dänemark aus, wo sein Freund Brecht auf der Insel Fünen
ein Haus gemietet hatte. Benjamin kränkelte und war
meist in Geldnöten. Immer wieder versuchte er, seine Texte (notfalls unter Pseudonym) bei den wenigen überhaupt
noch infrage kommenden deutschsprachigen Zeitschriften
unterzubringen. Seinen Lebensunterhalt sicherte einzig
ein knapp bemessenes Forschungs-Stipendium des exilierten Horkheimerschen „Instituts für Sozialforschung“
in New York, in dessen Zeitschrift für Sozialforschung in den
Jahren 1934–1939 verschiedene seiner Texte veröffentlicht wurden. Trotzkis russisches Bulletin der Opposition
(Bjulleten Opposizii), das 1929–1941 erschien, und Horkheimers Zeitschrift für Sozialforschung (1932–1941) waren die
bedeutendsten politisch-soziologischen Zeitschriften der
dreißiger Jahre.
Der kampflose Sieg Hitlers über die deutsche Arbeiterbewegung und die Verleugnung dieser Niederlage
durch die stalinisierte Komintern, der „Große Terror“
in der Sowjetunion mit den Moskauer Schauprozessen
gegen die alten Bolschewiki, der rasche Niedergang der
„Volksfront“ in Frankreich, die Niederlage der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg und Hitlers europäische
Eroberungskriege hatten die Hoffnungen auf europäische
sozialistische Revolutionen, die einen Zweiten Weltkrieg
hätten verhindern können, zunichtegemacht. Der Historiker Karl Thieme, mit dem Benjamin seit 1934 korrespondierte14, schrieb ihm am 25.1.1940: „Ob Sie mir nachfühlen können, mit welchem Aufatmen der Befreiung ich die
gemeinsame Selbstentlarvung der beiden Totalitarismen
beim Bekanntwerden des bevorstehenden Hitler-StalinPakts am 21. August begrüßt habe?“ Benjamins Antwort:
„Ich verstehe nur zu gut Ihren Stoßseufzer der Erleichterung, als sich der apokalyptische Albtraum derart enthüllte. Wir sind da einer Meinung.“15
Benjamins Versuche, mithilfe des „Instituts für Sozialforschung“ in die Vereinigten Staaten zu gelangen, stießen
auf immer neue Schwierigkeiten. Nach dem Kriegsausbruch im September 1939 wurden ihm Paris und Frankreich zur Falle. Zunächst war er als „feindlicher Ausländer“
bis Ende November 1939 in einem Auffanglager interniert.
Dann blieb ihm noch ein gutes halbes Jahr, ehe die NaziWehrmacht (am 14. 6. 1940) Paris besetzte und er mit
Zehntausenden südwärts über Lourdes nach Marseille floh,
um den Menschenjägern der Gestapo und der Vichy-Kollaborationsregierung zu entkommen. Als er endlich Port
Bou auf der spanischen Seite der Pyrenäen erreicht hatte,
verwehrte man ihm die Weiterfahrt nach Spanien, und er
setzte (am 27. September 1940) seinem Leben ein Ende.
Zu diesem Zeitpunkt war Trotzki, auf den Stalins
Killergangs seit 1937 eine wahre Treibjagd eröffnet hatten,
Inprekorr 6/2015 53
D I E I N T E R N AT I O N A L E
schon seit fünf Wochen tot. Der Agent Ramón Mercader
hatte sich als Freund einer Sekretärin in das befestigte Haus
im Vorort Coyoacán der mexikanischen Hauptstadt eingeschlichen und Trotzki, den er um seine Meinung zu einem
selbstverfassten politischen Artikel gefragt hatte, bei dessen
Lektüre hinterrücks erschlagen.
Benjamins letzter Text umfasst nur 13 Druckseiten.
Es handelt sich um achtzehn, von ihm im ersten Halbjahr
1940 in Paris zusammengestellte und redigierte „Geschichtsphilosophische Thesen“.16 Verschiedene Versionen
davon schickte er als das „Vermächtnis einer geschlagenen
Generation“17 an wenige gute Freunde. Das Thema dieser
Thesen ist die ausstehende Revolution, nämlich eine, die
dem ruinösen „Fortschritt“, wie er im gesellschaftlichen
Rahmen von Ausbeutungsverhältnissen zustande kommt,
„Trümmer auf Trümmer“18 und Massaker auf Massaker
häuft, ein Ende macht. Rosa Luxemburg hatte im Ersten Weltkrieg (1915) geschrieben, die „Daseinsform“ des
Kapitalismus sei die Katastrophe.19 Die Führer, Ideologen
und Anhänger der sozialdemokratisch-reformistischen wie
der stalinisierten kommunistischen Parteien aber schlug
ihr sturer Fortschrittsoptimismus mit Blindheit. 1914, 1933
und 1939 – jedes Mal wurden sie von den „Ereignissen“,
mit denen sie nicht gerechnet hatten, überrascht. Benjamin
markierte drei Grundfehler dieser „linken Führer“: ihren
fatalen Fortschrittsglauben, das einfältige Vertrauen auf ihre
„Massenbasis“ und „ihre servile Einordnung in einen unkontrollierbaren Apparat“ – „drei Seiten derselben Sache“.20
Von der „klassenlosen Gesellschaft“ sagte er, sie sei
mitnichten „das Endziel des Fortschritts in der Geschichte
sondern dessen so oft missglückte, endlich bewerkstelligte
Unterbrechung.“21 Es bedarf einer radikalen Richtungs-Änderung der gesellschaftlichen Entwicklung. Hatte Marx im
Rahmen der Eisenbahn-Metaphorik des 19. Jahrhunderts in
den Revolutionen „Lokomotiven“ gesehen, die den langsamen Zug der gesellschaftlichen Entwicklung beschleunigen
können, so hatte Benjamin, ein halbes Jahrhundert später,
eine ganz andere Funktion der Revolutionen im Sinn:
„Vielleicht sind [sie] der Griff des in diesem Zug reisenden
Menschengeschlechts nach der Notbremse.“22
Trotzki hat seine eigenen, in Reaktion auf den Beginn
des Zweiten Weltkriegs formulierten geschichtsphilosophischen Thesen in seinem am 25. September 1939 niedergeschriebenen (und im Januar 1940 in der Zeitschrift
der deutschen Trotzkisten, Unser Wort, in Übersetzung
veröffentlichten) Artikel „Die UdSSR im Kriege“ formuliert.23 Darin rief er zur Verteidigung des gesellschaftlichen Eigentums in der Sowjetunion und zum Sturz der
54 Inprekorr 6/2015
Stalin’schen Despotie auf. Alle Hoffnung setzte er darauf,
dass die internationale Arbeiterklasse dem Zweiten Weltkrieg durch Revolutionen ein Ende machen werde, so, wie
sie sich 1917/18 gegen das nationalistische Gemetzel des
Ersten Weltkriegs aufgelehnt hatte.
Die Freiheit seines Denkens ermöglichte es dem
großen Revolutionär, nicht nur die günstigen Entwicklungstendenzen ins Auge zu fassen, sondern auch die
in der jeweiligen Gegenwart wirksamen, destruktiven
Gegentendenzen. In den Jahren 1939/40 hatten Soziologen wie Bruno Rizzi und Rudolf Hilferding (denen
sich 1941 Friedrich Pollock und James Burnham zugesellten) prognostiziert, der Erbe des Kapitalismus werde
nicht der Sozialismus, sondern eine neuartige, totalitärbürokratische Gesellschaftsformation sein. Prototypen
dieser neuen Klassengesellschaft seien das stalinistische
Russland, Mussolini-Italien, Hitler-Deutschland und das
New-Deal-Amerika F. D. Roosevelts. Trotzki hielt diese
Entwicklungsvariante für unwahrscheinlich, schrieb aber:
Sollte sich das Proletariat der führenden kapitalistischen
Länder während und nach dem Krieg tatsächlich als unfähig erweisen, die Macht zu erobern und zu behalten, dann
„wären wir gezwungen einzugestehen, dass der Grund für
den bürokratischen Rückfall [in der Sowjetunion] nicht in
der Rückständigkeit des Landes zu suchen ist, auch nicht in
der imperialistischen Einkreisung, sondern in einer naturgegebenen Unfähigkeit des Proletariats, zur herrschenden
Klasse zu werden.“ In diesem Fall wäre „das sozialistische
Programm, das auf den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft beruht, eine Utopie“.24
Was aber sei die Aufgabe der Revolutionäre, falls diese
unwahrscheinliche, nicht aber unvorstellbare Entwicklung
zu einem Orwellschen Superstaat eintrete? „Dann wäre
offenbar ein neues ,minimales‘ Programm notwendig –
zum Schutz der Interessen der Sklaven einer totalitären
bürokratischen Gesellschaft.“25
(21. August 2015)
Helmut Dahmer ist ein deutscher
Soziologe und lebt als freier Publizist in Wien. In Inprekorr
468/9 erschien seine Rezension zu Band 19 der Kritischen
Gesamtausgabe von Walter Benjamin.
1 Gäbe es eine Trotzki-Gesamtausgabe, würde sie etwa starke
80 Bände umfassen. Die seit 2008 erscheinende „Kritische
Gesamtausgabe“ der Benjamin‘schen Werke und seines Nachlasses wird die bereits abgeschlossene, siebenbändige Edition
seiner Gesammelten Schriften und die sechsbändige Sammlung
seiner Briefe vervollständigen.
D I E I N T E R N AT I O N A L E
2 Brief an Gretel Karplus vom Mai 1932. Benjamin, W. (1998):
Gesammelte Briefe, Bd. IV, Frankfurt (Suhrkamp), S. 97. Vgl.
dazu auch ebd., S. 187.
3 Benjamin (1974): Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter
des Hochkapitalismus. Gesammelte Schriften, Frankfurt (Suhrkamp), Bd. I.2, S. 509–690.
4 Vgl. dazu das 1. Kapitel von „Paris, die Hauptstadt des XI.
Jahrhunderts“ („Fourier oder die Passagen“) in: Benjamin
(1982): Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften, Bd. V.1;
Frankfurt (Suhrkamp), S. 45 ff. Ferner Benjamins FourierExzerpte in: Benjamin (1982), Bd. V.2: „Aufzeichnungen und
Materialien (Fortsetzung)“, Abschnitt W. Schließlich die XI.
der Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ in: Benjamin
[1940]: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt (Suhrkamp)
1974, S. 699. [Zu Benjamins Fourier-Lektüren siehe das Quellenverzeichnis in: Benjamin (1982), S. 1294, Nr. 307–314.]
5 Vgl. dazu Benjamins Exzerpte aus Schriften von Blanqui
[L’Éternité par les astres (1872); Critique sociale (1885)] und aus
der Blanqui-Biographie von Gustave Geffroy (L’Enfermé,
1897). Benjamin (1982), a. a. O. (Anm. 4), in den Abschnitten
D, K und W.
6 Benjamin [1940]: „Über den Begriff der Geschichte.“ A. a.
O. (Anm. 4), S. 691–704; Zitat auf S. 700. (These XII). – „Man
kann sich von dem revolutionären Prestige, das Blanqui damals
besessen und bis zu seinem Tode bewahrt hat, schwerlich einen
zu hohen Begriff machen. Vor Lenin gab es keinen, der im
Proletariat deutlichere Züge gehabt hätte.“ Benjamin (1974),
a. a. O. (Anm. 3), S. 528. Vgl. dazu auch den Bericht über eine
konspirative „Truppenschau“ des „geheimnisvollen Generals“
Blanqui (im Januar 1870). Benjamin fand diesen Report in der
Blanqui-Biographie von Gustave Geoffroy (1897). A. a. O.,
S. 603 f., und Benjamin (1982), a. a. O. (Anm. 4), S. 761.
7 Zu Benjamins Marx-Studien vgl. Benjamin (1982): Das
Passagen-Werk. (Hg. von R. Tiedemann.) Gesammelte Schriften,
a. a. O., Bd. V.2: Aufzeichnungen und Materialien (Fortsetzung), Abschnitt X [Marx], S. 800–823. Ferner das Verzeichnis der von ihm verwendeten Marx-Schriften, a. a. O., S. 1308
f. (Nr. 578–592).
8 Vgl. dazu unter anderem: Brecht, Bertolt ([1940/41] 1956):
Flüchtlingsgespräche. Erweiterte Ausgabe. Berlin (Suhrkamp)
2000. [Auch in: Brecht (1967): Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. VI, Frankfurt (Suhrkamp), S. 1381–1515.]
9 Labriola, A. (1895/96): Über den historischen Materialismus. Frankfurt (Suhrkamp) 1994.
10 Hannah Arendt schreibt: „Benjamin dürfte wohl der seltsamste Marxist gewesen sein, den diese an Seltsamkeiten nicht
arme Bewegung hervorgebracht hat.“ Arendt (1971): „Walter
Benjamin.“ In: Arendt (2012): Menschen in finsteren Zeiten.
München, Zürich (Piper) 2014, S. 195–258; Zitat auf S. 212.
11 Unter anderem (in französischer Übersetzung) Trotzki, L.
(1933): Der Klassencharakter des Sowjetstaats. Die IV. Internationale und die UdSSR. (Saint-Palais, 1. 10. 1933.) In: Trotzki (1988): Schriften, Bd. 1.1; Hamburg (Rasch & Röhring),
S. 456–499.
12 Istrati (1930): Drei Bücher über Sowjetrussland: I. Auf falscher
Bahn. Sechzehn Monate in Russland. II. So geht es nicht! Die
Sowjets von heute. III. Russland nackt. Zahlen beweisen. München. – Autor des II. Bandes war Victor Serge, Autor des III.
Boris Souvarine.
13 Serge, V. (1939): Schwarze Wasser. [S’il est minuit dans le
siècle.] Zürich (Rotpunktverlag) 2014. Benjamin kommt auf
das Buch in einem (für Max Horkheimer und das „Institut für
Sozialforschung“ im Frühjahr 1940 geschriebenen) Bericht
über aktuelle französische Literatur zu sprechen. [Brief an Max
Horkheimer vom 23. 3. 1940; Benjamin (2000): Gesammelte
Briefe, Bd. VI; Frankfurt (Suhrkamp), S.420.] Serge war als
Angehöriger der russischen Linken Opposition in den Jahren
1932–1936 nach Orenburg (im Ural) deportiert worden, kam
dann frei und schrieb (1936–38) seinen dokumentarischen
Roman, der ausgezeichnet über die Situation der illegalisierten Trotzkisten in den stalinistischen Lagern (in den Jahren
1932–34) informiert. Einer der verbannten Revolutionäre
(„Jolkin“) sagt in Serges Roman über Hitler und Stalin: „Diese Totengräber sind geschaffen, einander zu verstehen. Der
eine trägt in Deutschland eine fehlgeschlagene Revolution zu
Grabe; der andere trägt in Russland eine siegreiche Revolution
zu Grabe, die aus einem zu schwachen und vom Rest der Welt
sich selber überlassenen Proletariat hervorgegangen war; beide
führen diejenigen, denen sie dienen – in Deutschland die
Bourgeoisie, bei uns die Bürokratie – in die Katastrophe…“
Serge (1939), S. 90.
14 Thieme hatte 1924 über Kant und Schopenhauer promoviert, war seit 1926 Mitglied im Bund Religiöser Sozialisten,
wurde 1933 von den Nazis vorübergehend in „Schutzhaft“ genommen, emigrierte 1935 in die Schweiz und rief (zusammen
mit Walter Gurian) 1937 Kirche und Christen zur Stellungnahme gegenüber Antisemitismus und Judenverfolgung auf.
15 Benjamin, W. [1940]: Brief aus Paris an Karl Thieme vom
10. 2. 1940. In: Benjamin (2000): Gesammelte Briefe, Bd. VI,
Frankfurt (Suhrkamp), S. 394 ff.
16 Benjamin, W. [1940]: „Über den Begriff der Geschichte.“
Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt (Suhrkamp) 1974,
S. 691–704.
17 Benjamin (2010): Über den Begriff der Geschichte. (Hg.
von G. Raulet.) Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Berlin (Suhrkamp), S. 66 (These XIV der französischen
Fassung).
18 Benjamin [1940], a. a. O. (Anm. 16), S. 697 (These IX).
19 Luxemburg, R. ([1915] 1919): Die Akkumulation des Kapitals
oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben.
Eine Antikritik. In: Luxemburg (1975): Gesammelte Werke, Bd.
5, Berlin (Dietz), S. 521.
20 Benjamin [1940], a. a. O. (Anm. 16), S. 698 (These X).
21 Benjamin (2010), a. a. O. (Anm. 17), S. 152 (These XVII a).
22 Benjamin (2010), a. a. O. Konvolut IV, S. 153. [Vgl. meine
Rezension dieses Bandes der Gesamtausgabe in Inprekorr Nr.
468/469, November/Dezember 2010. H. D.]
23 Trotzki, Leo D. (1939): „Die UdSSR im Krieg.“ In: Trotzki (1988): Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur. Schriften,
Bd. 1.2. Hamburg (Rasch und Röhring), S. 1272–1308.
24 A. a. O., S. 1281.
25 Ebd.
Inprekorr 6/2015 55
D I E I N T E R N AT I O N A L E
LINKSREFORMISMUS IN
DER DEFENSIVE
Syrizas Niederlage ist eine Niederlage für den Linksreformismus in Europa.
Dies wirft ein Licht auf die Unterschiede zwischen revolutionärer und
reformistischer Strategie.
Mikael Hertoft
„
A
nfang Juli wurde die griechische Regierung
gezwungen, genau das zu tun, was sie nicht tun wollte: Sie
akzeptierte, unter Aufsicht der EU gestellt zu werden und
sie akzeptierte eine neoliberale Politik von Privatisierungen, Anhebung des Renteneintrittsalters und „Arbeitsmarktreformen“, d. h. Fesseln für die Gewerkschaften und
Schwächung der Tarifverträge. All dies für ein verlängertes Schuldenabkommen: ein drittes Memorandum. Das ist
eine massive Niederlage in vielerlei Hinsicht.
Es besteht kein Zweifel, dass dies eine Niederlage zunächst einmal für wirtschaftliche Vernunft und Demokratie ist. Eine Niederlage für die wirtschaftliche Vernunft,
weil die wirtschaftlichen Zerstörungen, die EU und IWF
in Griechenland anrichten, weder zu wirtschaftlicher Erholung noch zur Abzahlung der Schulden führen werden.
Sie werden stattdessen zu einem Bereicherungsfest
für die internationalen Finanzorganisationen führen, die
Griechenlands Werte kaufen und zu Armut und Fremdbestimmung der Griechen in ihrem eigenen Land führen.
Daher ist es eine Niederlage für die Vernunft, aber ein Sieg
für das Finanzkapital.
Darüber hinaus sehen es auch viele als schwere Nie-
56 Inprekorr 6/2015
derlage der Demokratie, wenn eine gewählte Regierung,
obendrein mit einer eindeutigen, legitimen Volksabstimmung im Rücken, gezwungen wird, eine Politik
gegen den Willen des eigenen Volk und ihren eigenen zu
verfolgen.
Der gesamte Prozess ist auch eine Niederlage für die
politische Maschine der EU, die Krisen eher verstärkt als
sie zu lösen, und sich als völlig unfähig gezeigt hat, die
Wirtschaftskrise zu bewältigen. Auf diese Weise ist es auch
eine Niederlage für die Kräfte, die glauben, dass die EU
reformiert werden und zu einer Maschine für fortschrittliche Veränderung, soziale Gleichstellung und grüne Umstellung werden soll. Das sind ja genau die Ansichten, die
in der SF1 seit vielen Jahren dominiert haben und auch ein
markanter Teil des politischen Programms von „Alternativet“2 sind. In den EU-Ländern gibt es auch viele andere
auf der Linken mit dieser Haltung, darunter die Mehrheit
in vielen der Parteien, die die „Europäische Linke“ bilden
– dem Partner der Enhedslisten in Europa. Man muss
sagen, dass es vorläufig vollständig gescheitert ist, die EU
zu einer vernünftigen Politik gegenüber Griechenland zu
drängen. Es ist schwer, die EU als Leuchtfeuer der Ver-
D I E I N T E R N AT I O N A L E
nunft in Europa zu sehen – oder der Welt, wenn mensch
so will.
Niederlage für Syriza
Zunächst einmal ist das Abkommen eine Niederlage für
Syriza und die politische Linie, die erprobt wurde.
Die Situation heute ist: Die Privatisierungen gehen
weiter und beschleunigen sich: Privatisierung der wichtigsten Häfen, Flughäfen und des Elektrizitätswesens – die
zentrale Infrastruktur einer Gesellschaft. Wenn das durchgeführt ist, dann hat sich Griechenland in eine Art Kolonie
verwandelt, wo ausländische Interessen über die Infrastruktur und die Produktionseinheiten bestimmen und die
Bevölkerung zu einer Art Leibeigenen in ihrem eigenen
Land wird, die für die Nutzung von Straßen, Elektrizität,
Wasser und Nahrung den ausländischen Eigentümern
bezahlen muss. Allmählich verändert sich der griechische
Staat von einem Wohlfahrtsstaat zu einer Maschine, die
Geld aus der Bevölkerung saugt, um Schulden zu bezahlen.
Gewerkschaftsrechte sollen durch „Reformen“ geschwächt werden. Es ist eine wichtige Aufgabe für die
Linke und vor allem natürlich für alle, die in den Gewerkschaften aktiv sind, zu beobachten, was geschieht, und zu
rufen und zu protestieren, wenn die Arbeitsbedingungen
verschlechtert werden – auch in Griechenland. Im Wettlauf um die niedrigsten Löhne gibt es unter den Lohnabhängigen nur Verlierer, keine Gewinner.
Das Renteneintrittsalter wird in einem Land heraufgesetzt, in dem viele Familien seit etlichen Jahren nur von
einer Rente lebten, weil die Jugend ihre Einkommensgrundlage verloren hat.
All dies ist genau das, was zu verhindern Syrizas
Wahlprogramm versprochen hatte. Syriza hat – noch – die
Regierungsmacht, ist aber gezwungen, eine neoliberale
Politik durchzuführen.
Niederlage wegen des Fehlens eines Plans B
Syriza hat immer unter der Voraussetzung verhandelt, dass
man einen Kompromiss mit der EU finden will. Ich habe
Tsipras häufig darüber reden gehört und hatte auch viele
Male Gelegenheit, dies mit Vertretern von Syriza zu diskutieren. Ich und andere Däninnen und Dänen wie Kenneth
Haar fragten immer wieder: Was ist der Plan B – was
macht ihr, wenn die EU und der IWF sich weigern, einen
akzeptablen Kompromiss mit euch einzugehen?
Wir bekamen immer gesagt, dass es keinen Plan B gibt
– die EU würde einem Abkommen zustimmen, weil es das
einzig Vernünftige wäre, das einzige, was die Wirtschaft
wieder aufrichten könnte.
Wir blieben dabei zu sagen, dass es mehr als möglich,
ja sogar sehr wahrscheinlich sei, dass die EU sich nicht den
Forderungen der neuen griechischen Regierung beugen
werde – und man sich daher auf einen Bruch mit der EU
vorbereiten müsse.
Es gab auch viele in der Syriza-Linken, die nach einer
Alternative suchten. Bei der Abstimmung über die von
der EU aufgezwungenen Gesetze gab es zum Beispiel 32
Syriza-Mitglieder, die dagegen stimmten. Es gibt kaum
Zweifel, dass es auch eine große Zahl von Syriza-Mitgliedern gibt, die unzufrieden damit sind, wie Syriza sich
verbiegt.
Nach den Verhandlungen und nach dem Abschluss des
Abkommens mit der EU am 12. Juli hat Varoufakis – der
von Tsipras gefeuerte Finanzminister – enthüllt, dass er
einen Plan B vorbereitet hatte: den Ausstieg aus dem Euro.
Aber ein Plan, Nein zur EU zu sagen, kann nicht aus einer
Geheimschublade gezogen werden. Er braucht eine öffentliche und breite Vorbereitung des griechischen Volkes auf
eine ganz andere Art und Weise.
Was könnte der Plan B sein?
Die Syriza-Linke hat versucht, diese Diskussion zu beginnen. Ich will hier nur zwei zentrale Personen nennen:
Costas Lapavitsas, Syriza-Parlamentsabgeordneter und
Ökonom und Stathis Kouvelakis vom Syriza-Zentralkomitee.
Kurz gesagt haben sie eine politische Linie mit einem
Stopp der Schuldenzahlungen, breiten Mobilisierungen
zusammen mit Kapitalverkehrskontrollen, Renationalisierung der Banken und einem Festhalten am Sozialprogramm vorgeschlagen.
Das könnte dazu führen, dass Griechenland aus dem
Euro gezwungen würde und zeitweise oder endgültig eine
andere Währung einführen müsste. Ja, aber die Alternative
wäre weniger schlimm, als zum Leibeigenen innerhalb des
Euro-Rahmens gemacht zu werden.
Griechenland hat Möglichkeiten zur Nahrungssicherheit auf Basis der eigenen Ressourcen des Landes – es gibt
auch eine gewisse Energieproduktion und weit größere
Potenziale für Solar- und Windenergie als in den meisten
Ländern.
Griechenland liegt zentral in der Welt und mit einer
Drachme, die vielleicht ein wenig zu billig wäre, könnte
Griechenland ein Super-Touristenziel werden und die
Touristen würden ja Euro mitbringen. In der MobilisieInprekorr 6/2015 57
D I E I N T E R N AT I O N A L E
rung der Bevölkerung könnte man noch weiter gehen und
auf die Erfahrungen anderer Revolutionen und Volksaufstände verweisen: Ein wichtiges Instrument sind hier
Selbsthilfe-Komitees zur gegenseitige Hilfe beim Überleben: Essen, Kleidung, Schule – in Verbindung mit einem
Programm zur Wiederaufnahme der Arbeit: Übernahme
leerer Fabrikhallen, Brachflächen, etc.
Es versteht sich, dass diese Alternative nicht vollständig
entwickelt und schon gar nicht erprobt ist. Aber darüber
nachzudenken ist wichtig, um darauf hinzuweisen, dass es
eine Alternative dazu gibt, sich der EU zu beugen.
Das ist eine interessante Diskussion, und man konnte
sie in englischer Sprache in International Viewpoint, der
internationalen Online-Zeitschrift der 4. Internationale,
verfolgen.
Und jetzt?
Syriza hat heute effektiv die Rolle der PASOK übernommen – und riskiert, das gleiche Schicksal wie diese Partei
zu erleiden, nämlich den Verlust der Unterstützung in der
Bevölkerung.
In Griechenland, haben wir jetzt eine Regierung, die
linksorientiert, aber unter Aufsicht gestellt ist und die Politik ausführen muss, die die EU vorschreibt und die in öffentlich zugänglichen Dokumenten niedergeschrieben ist.
Sie muss wie frühere Regierungen hinter dem Tränengas
der Polizei Schutz vor der wütenden Bevölkerung suchen.
Kann die Linke jetzt in die Offensive kommen?
Syrizas Linke protestiert und stimmte sogar dagegen
und rettete damit die Ehre. Aber es ist schwer zu erkennen,
was sie ansonsten gerettet hat. Kann von dort die Kraft zur
Entwicklung einer starken und inspirierenden linken Kraft
kommen? Wir werden sehen.
Links von Syriza gibt es auch eine ganze Reihe von
Parteien. Da ist die KKE, über die eine Analyse im
Arbejderen3 veröffentlicht wurde.
Der KKE muss man zugutehalten, dass sie hartnäckig
am Nein zum Neoliberalismus festhält. Sie hat auch Recht
mit ihrer Kritik an Syriza als sozialdemokratisierter Partei.
Aber wenn es um vorwärts gerichtete Politik geht, ist die
Partei meiner Meinung nach nicht sehr vernünftig. Sie
hat praktisch nicht versucht, Druck auf Syriza auszuüben,
sondern sich für einen ultralinken Kurs mit verschränkten
Armen entschieden.
Die Gewerkschaftsbewegung in Griechenland ist auch
stark. Darüber hinaus gibt es große Gruppen von Anarchisten, Autonomen, Volksbewegungen, Organisationen
der Einwandererinnen und Einwanderer und Flüchtlings58 Inprekorr 6/2015
hilfsorganisationen. Wir können weitere Kämpfe gegen
die EU-diktierte Politik erwarten.
Aber für die verschiedenen Strömungen der Linken wird es für eine lange Zeit schwierig bleiben, in die
Offensive zu kommen, weil wir eine Regierung haben,
die formell links ist, aber tatsächlich ein aufgezwungenes
neoliberales Programm verwaltet.
Die Initiative kann leicht auf andere Kräfte übergehen
wie die Goldene Morgenröte am äußersten rechten Rand,
und das verheißt nichts Gutes.
Reform oder Revolution?
Es wurde viel Unsinn über die Frage von Reform und
Revolution gesagt. Aber die Erfahrungen von Griechenland hier im Jahr 2015 werfen ein helles Licht auf dieses
Problem. Bei der Frage von Reform und Revolution geht
es nicht um die Geschwindigkeit der Entwicklung, es geht
nicht um Geduld oder Ungeduld, und es geht nicht um
Gewalt. Die Revolutionäre arbeiten für einen Bruch mit
dem bestehenden System und einen Bruch mit der herrschenden Klasse. Sozialdemokratische Bewegungen auf
der ganzen Welt und oft auch kommunistische und andere
sind wieder und wieder vor Schritten zurückgescheut, die
zum Bruch mit dem Bürgertum führen könnten oder ein
Angriff auf die Interessen der Bourgeoisie wären.
Revolutionäre Strömungen hingegen verstehen,
dass in einer Gesellschaft in der Krise ein Bruch mit der
herrschenden Klasse und Ordnung der einzige Weg sein
kann, um die Gesellschaft nach vorne und aus der Krise zu
bringen.
Ein solcher Bruch hat nur eine Chance, erfolgreich zu
sein, wenn er von einem starken Wunsch der Menschen
nach Veränderung und Bewegung getragen wird, um aus
der Krise zu kommen: Lebensmittelausschüsse, Selbsthilfekomitees – solche Strukturen spielen eine Rolle in fast
allen Revolutionen.
Bei Reform und Revolution geht es auch nicht darum,
ob man Kompromisse eingeht. Sowohl Revolutionäre als
auch Reformisten gehen Kompromisse ein, ständig. Es
geht darum, sich zur richtigen Zeit und am richtigen Ort
zu entscheiden, zu kämpfen und nicht aufzugeben.
Ein wichtiger Unterschied zwischen revolutionärer
Politik und reformistischer Politik ist hingegen, was man
als die Hauptarena betrachtet. Die reformistische Politik
sucht nach Kompromissen in Verhandlungen, und ihre
wichtigste Arena ist daher der Verhandlungssaal, was oft
mit großer Mystik und Geheimniskrämerei verbunden ist.
Wenn man in Verhandlungen geht, will man dem Geg-
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ner seine Karten nicht zeigen, und deshalb kann man den
Leuten nicht sagen, was man will.
Die revolutionäre Politik hingegen betrachtet die ganze Gesellschaft als Arena und sieht die breite Bevölkerung
als die aktive Kraft. Die politische Partei muss sich daher
mit einer klaren Politik an die Menschen wenden. Man
muss sich darauf verlassen können, wenn sie sagt, dass sie
die sozialen und wirtschaftlichen Interessen der breiten
Bevölkerung verteidigen will, und man muss großen Wert
auf Vorschläge legen, die geeignet sind, die Menschen zu
mobilisieren und zu organisieren.
Geheimverhandlungen nützen den herrschenden Finanzkapitalisten und Bürokraten und schaden den Arbeiterinnen und Arbeitern. Wir müssen feststellen, dass sich
Syriza, seit sie an die Regierung kam, in einer Falle von
Verhandlungen auf glattem Boden fangen ließ.
Die seltsame Volksabstimmung
Das seltsamste in den ganzen griechischen Ereignissen
war natürlich die Volksabstimmung, um der griechischen
Regierung das Mandat zu geben, Nein zum EU-Diktat zu
sagen. Tsipras hat hier wirklich um das Mandat gebeten,
Nein zur EU zu sagen und Ihr den Finger zu zeigen. Er
traf auf Begeisterung, Optimismus und Unterstützung im
ganzen Volk. Zum ersten Mal ging Syriza einen wichtigen Schritt zur Mobilisierung der Bevölkerung. Einige
von uns waren sehr nervös – können die das schaffen? Ist
es nicht gefährlich, ein Referendum so kurzfristig anzusetzen? Was, wenn sie ES verlieren? Aber das taten sie
nicht. Die Syriza-Regierung sicherte sich mehr als 62%
Unterstützung im Referendum – und ja, damit hatten sie
ja im Prinzip auch ein Mandat für eine radikalere Politik.
Aber sie sprangen wie ein Tiger und landeten als Bettvorleger. Weniger als 14 Tage später hatte sich Syriza der EU
gebeugt.
Warum? Was sollte diese Pantomime?
Man könnte es als einen letzten Versuch sehen, Druck auf
die EU auszuüben. Tsipras hatte die Bügelfalten glatt gezogen und war zu Mutti Merkel mit einem schlanken Aktenkoffer gegangen, in dem sich die Abstimmungsergebnisse in einem kleinen Ordner und in einem anderen ein
Abkommen auf Griechisch, Deutsch und Englisch befand,
von dem Tsipras wollte, dass Frau Merkel es unterzeichnen
solle: Eine Lösung der Krise, alle sind glücklich.
Hier ist ein weiterer Unterschied zwischen Revolutionären und Reformisten. Sowohl Revolutionäre als auch
Reformisten versuchen, Aktivitäten in der Bevölkerung
in Gang zu setzen – das, was wir in den alten Tagen in der
Linken mit dem schrecklichen Wort „Mobilisierungen“
bezeichneten. Aber für reformistische Politikerinnen und
Politiker ist das bloß ein Hilfsmittel zur Erreichung einer
stärkeren Verhandlungsposition. Für Revolutionäre ist die
Aktivierung der Bevölkerung der Kern der politischen
Linie.
Was bedeutet das für die Enhedslisten und die dänische
Linke? Für die europäische Linke muss dies zu umfassenden Diskussionen und Selbstreflexionen führen. Der
nächste Ort, wo der Kampf stattfinden wird, kann Spanien
mit Podemos sein, und es ist notwendig, von Syriza zu
lernen.
Für Dänemark hoffe ich, dass die Enhedslisten etwas
daraus lernen wird. Es bestätigt die Anti-EU-Linie, die
die Partei seit ihrer Gründung prägt. Alle können daraus lernen, dass man nie in Verhandlungen gehen sollte,
ohne sich überlegt zu haben, was man tun will, wenn die
Gegenseite zu den eigenen Forderungen Nein sagt. Die
Bilanz muss notwendigerweise auch recht kritisch gegenüber Syrizas Linie während der letzten sechs Monate sein.
Wenn wir uns Hoffnungen machen, uns an die Spitze
der Verteidigung der sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Menschen und letztlich der Veränderung der
Gesellschaft zu stellen, müssen wir eine Partei auf bauen,
die auf breiter Basis Aktivitäten der Menschen initiieren
und fördern kann.
20. August 2015
Mikael Hertoft ist Mitglied des
Vorstands und des Geschäftsführenden Ausschusses der
Enhedslisten.
Übersetzung: Björn Martens
„
1 SF, Socialistisk Folkeparti (Sozialistische Volkspartei), ist
eine zwischen den Grünen und (linker) Sozialdemokratie
angesiedelte Partei. Anm. d. Red.
2 Parteigründer Elbæk stellte „Die Alternative“ so vor: Sie
braucht kein Programm, sondern stützt sich auf sechs Werte:
„Mut, Großzügigkeit Transparenz, Bescheidenheit, Humor,
Einfühlungsvermögen“. Dazu gibt es ein Manifest für einen
grünen Wandel in Dänemark und gegen das „neoliberale
Denken“. Anm. d. Red.
3 Linke, vormals maoistische Tageszeitung in Dänemark
Inprekorr 6/2015 59
D I E I N T E R N AT I O N A L E
Erklärung zu den Wahlen am 30.9.
Politisches Büro der OKDE-Spartakos
Kamen in den Wahlergebnissen vom Januar 2015 noch die
hoffnungsvollen Erwartungen – und auch Illusionen – der
Arbeiterklasse zum Ausdruck, auf parlamentarischem Weg
mit einer „linken Regierung“ die Memorandums- und
Austeritätspolitik beenden zu können, so hat das mehr oder
minder gleiche Wahlergebnis vom 20. September eine
völlig andere Bedeutung: Es verdeutlicht die gegenwärtigen
Grenzen der Arbeiterbewegung. Der mit nur unwesentlich
weniger Stimmen errungene Sieg von SYRIZA, nur wenige
Wochen nach Hinnahme des dritten Memorandums, zeigt,
dass ein Großteil der ArbeiterInnen annimmt, dass es momentan keine Alternative gab.
In den Arbeitervierteln hat SYRIZA wieder einmal
sehr viele Stimmen erzielt. Dies lag nicht an den bescheidenen Versprechungen und den lächerlichen Ausflüchten
von SYRIZA, sondern an der Verhasstheit der Rechten, der
PASOK und der alten Memorandumsregierungen unter den
Wählern. So sehr sich diese Abscheu nachvollziehen lässt,
so wenig macht sie das Wahlergebnis besser. Zählt man alle
Stimmen zusammen, ergibt sich ein leichtes Übergewicht
zugunsten der Linken, was aber wenig bedeutet angesichts
dessen, dass eben diese Linke ihr Regierungsmandat dafür
hernimmt, gemeinsam mit der rechts-nationalistischen
ANEL ein Sparprogramm und Reformen zugunsten des
griechischen und internationalen Kapitals durchzuführen.
Die hohe Enthaltung spiegelt eher Desorientierung und
Enttäuschung wider als eine spezifische politische Botschaft.
Zugleich jedoch zeigt dies, dass das Memorandum nicht
automatisch als unabwendbares Übel hingenommen wird.
Die geringen Erwartungen an den Ausgang der Wahlen
sind nicht automatisch ein schlechtes Zeichen, auch wenn
bewusste Enthaltung eher unpolitisch wirkt.
Das eigentliche Problem, das die Wahlen aufgeworfen
haben, ist, dass sich eine ganze politische Strömung, die
jahrelang hart gekämpft, Regierungen zu Fall gebracht
und die Kräfteverhältnisse umgedreht hat, sich nunmehr
hinter Tsipras und SYRIZA gestellt und sich damit zur
Passivität verurteilt und in die konservative Ecke gestellt hat.
Die Annahme, dass der Verrat automatisch das Ende von
SYRIZA bedeuten würde, hat sich als naiv erwiesen. Dazu
ist der Einfluss der Führung politischer Bewegungen auf das
Bewusstsein ihrer Basis zu groß. Die Linke außerhalb von
SYRIZA trägt auch eine gewisse Verantwortung für ihre
Unzulänglichkeiten und Fehler. Die Hauptverantwortung
60 Inprekorr 6/2015
jedoch liegt bei der Opposition innerhalb von SYRIZA und
bei den Strömungen, die ihr kritische und taktische Unterstützung gewährt und so dazu beigetragen haben, dass eine
ganze politische Strömung Tsipras ausgeliefert ist.
ANTARSYA gehört zu den wenigen, die bei den
Wahlen Stimmen hinzugewonnen haben. Das Ergebnis ist
achtbar, wenn es auch der Präsenz in den Klassenkämpfen
und den politischen Erfordernissen noch nicht gerecht wird.
Unsere Wahlkampagne und das Bündnis mit der EEK haben
sich positiv ausgewirkt. Trotz einiger Widersprüche haben
wir uns mehr als im Januar als eindeutig antikapitalistische
Organisation profilieren können.
Die Entscheidung von ANTARSYA, sich nicht hinter
den Fahnen der „Volkseinheit“ zu versammeln, war richtig,
wie deren Wahlkampagne nochmals bestätigt hat. Überholte Diskussionen wieder aufleben zu lassen, wenn es um
programmatische Allianz und Wahlbündnis geht, kann uns
nicht weiterbringen und allenfalls Druck auf ANTARSYA
ausüben, sich nach rechts zu bewegen.
Die sozialen und politischen Kräfteverhältnisse können
jedoch nur geändert werden, wenn eine breite Aktionseinheit auf der Grundlage konkreter Zielsetzungen gegen die
neuen Sparmaßnahmen entsteht, die sich auf Komitees und
Koordinationen aller bestehenden Kämpfe stützt und in der
die antikapitalistische Linke und die außerparlamentarische
Aktivität in den Straßen und Betrieben einen zentralen
Stellenwert haben.
Anders als das Wahlergebnis glauben machen mag, kann
sich die Lage schnell ändern, da das System nach wie vor
instabil ist. Wir dürfen Tsipras nicht die politische Führung
der Unzufriedenen überlassen, was nur den Rechten oder
PASOK oder gar den Nazis zugute kommen kann. Die Zeit
ist reif für einen wirklichen Aufstand.
OKDE-Spartakos ist die griechische Sektion der IV. Internationale.
Aus http://www.okde.org/index.php/en/
announcement/83-uncategoried1/291-announcement-ofthe-political-bureau-of-okde-spartakos-about-the-elections-in-20th-of-september
Übersetzung aus dem Englischen MiWe
„