Ländergemeinsame Abituraufgabe
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Übungsaufgabe 1
I Aufgabenstellung
In den Feuilletons wird immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven die
Frage aufgeworfen, ob der Medienwandel das Ende der Lesekultur mit sich
bringt.
Schreiben Sie auf der Grundlage der vorliegenden Materialien und Ihres Vorwissens einen Leserbrief an eine überregionale Tages- oder Wochenzeitung, in
dem Sie Ihre Haltung zu der Frage darlegen.
Wählen Sie eine geeignete Überschrift.
Der Leserbrief sollte etwa 800 Wörter umfassen.
I Materialpool
Es war einmal
Die Ära des gedruckten Buches geht zu Ende. Kein Grund zur Trauer.
VON JÜRGEN NEFFE
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Im Schatten der globalen Geldkrise des frühen 21. Jahrhunderts gewinnt eine
Revolution an Gewicht, deren Folgen weit über korrigierbare wirtschaftliche
Verwerfungen hinausreichen. Ihre Tragweite lässt sich allenfalls am Epochenwandel nach Gutenberg messen. Mit ihr geht die Ära des Buchdrucks zu Ende.
Digital aufgelöst wie zuvor schon Ton und Bild, beliebig häufig kopierbar und
mit einem Schlag weltweit millionenfach abrufbar, fügt sich das Buch in die
Multimediawelt seiner entleibten Verwandten von Foto, Film und Musik. Damit zerfällt auch der älteste serienmäßig herstellbare Datenträger in Gefäß und
Inhalt.
Das Medium der Aufklärung verliert seine Message und mit ihr ein Stück
Sinn und Sinnlichkeit. Über kurz oder lang werden gebundene Packen bedruckten Papiers nur noch als Hochpreisprodukte in Spezialgeschäften zu haben sein wie heute Vinylschallplatten. Selbst eisern Bibliophile werden
Gutenbergs Erbe in seiner jetzigen Form nicht erhalten können. Der Niedergang von Buchherstellung und -handel, so bitter wir ihn beklagen, folgt der
Material 1
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Übungsaufgabe 1: Themenfeld Literatur und Lesen
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Logik einer langen Kette bereits untergegangener Handwerke, Manufakturtechniken und Handelsverfahren.
[…] Wenn Bücher demnächst auf allen möglichen Geräten lesbar werden,
die gleichzeitig Bilder zeigen, Töne abspielen und Verbindungen zu Internet
und anderen Geräten herstellen können, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis sich ihrerseits ihre Erzeuger mehr und mehr multimedialer Mittel bedienen, um Werke zu produzieren, die in Gutenbergs Universum keinen Platz
mehr finden. Es wird Bestseller geben, die nie als Druckerzeugnis erscheinen,
Handyromane in Fortsetzung, die alle lesen, weil alle darüber sprechen (in der
U-Bahn von Tokyo eindrucksvoll zu beobachten), undruckbare, multimediale,
ständig aktualisierte, reichhaltig animierte Sachbücher, Individualreiseführer
oder Enzyklopädien, die kaum noch etwas mit ihren papiernen Vorfahren gemeinsam haben, vernetzte Werke aus Netzwerken von Autoren, verzweigte
Geschichten, die vor den Augen des Publikums entstehen, und so vieles mehr,
das wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. […]
Die Frage, ob „wir“ das wollen, ist so müßig wie die, ob wir Privatfernsehen wollten oder Handy oder Internet. Ist der Geist aus der Flasche, kehrt er
nicht mehr dorthin zurück. Kommende Generationen werden kaum glauben,
dass er je hineingepasst hat. Wie das Leben selbst, so erobert sich als Ausdruck
seines Bewusstseins die Kultur auf Dauer jeden verfügbaren Raum. Die Grenzen zwischen dem Buch und dem Rest der Medienwelt werden sich schließlich so vollständig verlieren wie die zwischen Werbung und Unterhaltung.
Am längsten dürften sich noch Genres wie Roman, Biografie oder Wörterbuch gegen andere und neue Formen behaupten – bis wir „Buch“ nur noch gebrauchen wie heute die „Feder“ der Autoren. […]
In Zukunft muss es kein unpubliziertes Buch mehr geben – das ist die gute
Nachricht für die Unberücksichtigten und Verkannten. Alle erhalten die
Chance, ihr Werk einer Öffentlichkeit vorzustellen, und sei es über OpenSource-Plattformen oder soziale Netzwerke. Dort müssen sie sich zwar ebenfalls dem Wettbewerb stellen. Wir dürfen aber davon ausgehen, dass unter
den Bergen digitaler Ladenhüter auch echte Schätze schlummern. So bekommt am anderen Ende des Spektrums auch die Masse der heutigen Durchschnitts-, Klein- und Nichtsverdiener ihre Chance. […]
Womöglich werden wir oder unsere Nachfahren eines Tages, um das Lesen
und Schreiben zu retten, noch einen Schritt weiter gehen und allen alle Texte
und Inhalte grundsätzlich kostenlos zur Verfügung stellen. Freie Lektüre als
Teil des Grundrechts auf Bildung – und als Erfolgsmodell moderner Wissensgesellschaften. Open Access wäre nicht der Untergang des Abendlandes. Im
Gegenteil.
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Übungsaufgabe 1: Themenfeld Literatur und Lesen
I Schritt-für-Schritt zum materialgestützten
argumentierenden Text
1. Schritt
Klärung der Aufgabenstellung
a Klärung zentraler Begriffe
• Ein Feuilleton ist die Sparte einer Zeitung, in der kulturelle Themen
wie Literatur, Theater und Musik aufgegriffen werden.
• Mit Medienwandel ist die Veränderung des Medienangebots und damit
des Medienkonsums gemeint, der mit der ständigen Weiterentwicklung
der sogenannten Neuen Medien einhergeht. Der Begriff impliziert im
Ansatz auch die zunehmende Verdrängung analoger und traditioneller
Medien, wie Bücher und Zeitungen, durch die digitalen Medien, wie
E-Books und Internet.
• Der Begriff Lesekultur umfasst das Lesen als kulturgeschichtliche Errungenschaft, als Zeichen von Zivilisation, als gesellschaftliches Thema,
als Ausdruck von Bildung, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht, Voraussetzung für Geselligkeit und Teilhabe am kulturellen Leben. Die Lesekultur beinhaltet auch die ästhetische Dimension des
Lesens, das sinnliche Erleben und die Freude an schönen Büchern.
• Ein Leserbrief ist ein Beitrag in einer Zeitung, der von einem Leser verfasst, von der Redaktion zwar ggf. gekürzt, in Wortlaut und Meinung jedoch unverändert abgedruckt wird. Im Leserbrief drückt sich der
Wunsch eines Lesers nach der Äußerung der eigenen Meinung aus, der
durch die Lektüre der Zeitung ausgelöst wurde. Dabei möchte der Leser
einer Darstellung beipflichten, sie korrigieren oder ihr widersprechen.
Leserbriefe können ihrerseits wieder die Reaktion anderer Leser auslösen.
b Formulierung der Aufgabenstellung in eigenen Worten
Ich soll einen Leserbrief im Umfang von ca. 800 Wörtern und mit passender Überschrift schreiben, der in einer mit der ZEIT, der FAZ oder der Süddeutschen Zeitung vergleichbaren Zeitung erscheint. Das bedeutet, dass er
in einer Zeitung erscheinen soll, in deren Feuilleton der Diskurs selbst geführt wird. Ich könnte mich also unmittelbar auf einen Artikel aus der Zeitung berufen.
Inhaltlich soll ich eine klare Haltung zu der Frage darlegen, ob die zunehmende Popularität und Verbreitung digitaler Medien dazu führen wird,
dass die Menschen weniger und/oder weniger anspruchsvolle Inhalte lesen