Und wenn ich nicht mehr leben möchte?

Und wenn ich nicht mehr leben möchte?
Sterbehilfe in Deutschland
Bislang habe ich kein Buch gelesen, das umfassender und (selbst)kritischer das Thema
Sterbebegleitung und Beihilfe zur Selbsttötung von allen Seiten beleuchtet.
Das Buch eröffnet mit einem Streitgespräch des Politikers Hermann Gröhe und des
Theologe Nikolaus Schneider mit der ZEIT-Redakteurin Evelyn Finger, gefolgt von
einem Interview mit Anne Schneider. Im Abspann liefert der Präsident der
Bundesärztekammer Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery Argumente für seine These:
'Wir brauchen keine Sterbehelfer – schon gar keine organisierten'.
Wäre das Thema nicht so ernst, man könnte fast sagen, es ist ein echter Lesegenuss.
Und das besonders für jene, die nicht so viele Gelegenheiten hatten, Sterbende zu
begleiten und dem Tod dabei im Wortsinne ins Auge zu blicken. Dennoch ist es eine
Freude, dass sich ein renommierter Theologe und ein Politiker in hoher Verantwortung
diesem Thema so praxisrelevant nähern.
Kluge Fragen der Journalistin werden oftmals weise beantwortet. Wenn es um die Sorge
und Nöte am Lebensende aus der Sicht der nicht-professionell Versorgenden geht, wird
kein Thema ausgeklammert. Angst vor dem Tod ist nur allzu menschlich, ja macht uns
als Menschen aus. Vertrauen ist die wichtigste Basis in der Not, auch und gerade, wenn
es darum geht, dass unsere Kräfte schwinden und wir gepflegt werden müssen. Wie
gehen wir – mit unserer eigenen – Pflegebedürftigkeit um? Was macht Scham aus und
wie begegnen wir ihr? Wo verlaufen die Grenzen zwischen der Beihilfe zur Selbsttötung
und der Tötung auf und ggf. ohne Verlangen? Und sind eventuell doch – wenn auch
sehr selten – Handlungen denkbar, für die wir im Vorfeld weniger auf den Gesetzgeber
denn vielmehr auf einen engagierten Anwalt setzen sollten, wenn wir uns anschließend
verantworten müssen? Wann kann die eigene Freiheit andere in deren Freiheit
beeinträchtigen?
Da ringen zwei bekennende Christen ohne missionarischen Eifer mit einer kritischen
Gesprächspartnerin aus menschlicher, philosophischer, ethischer, soziologischer,
politischer, religiöser Sicht um Antworten. Und die macht sich keiner der Teilnehmer
leicht. Im Gegenteil, der Leser erlebt, wie authentisch auch in eigener Erfahrung und
Betroffenheit die prominenten Interviewpartner doch auch einsam, zweifelnd und
verzweifelt am Bett von Leidenden gesessen haben müssen.
Das Buch ist ein überaus gelungener, lesenswerter Beitrag zur aktuellen Diskussion.
Natürlich für alle, die ähnlicher Meinung sind, aber ganz besonders für Menschen mit
einer konträren Einstellung. Denn gerade dann kann es die eigene – andere – Position
schärfen oder was ich selber mir wünschen würde, auch ein wenig in Frage stellen, Will
man sich eine fundierte Meinung bilden, dann sollte man beiden Seiten zu Wort
kommen lassen! Deshalb habe ich selbst auch die engagiert verfassten Bücher von
Arnold, Borasio und Kusch gelesen.
Aus meiner Sicht als Arzt, der in großem Umfang Sterbende begleitet, haben sich einige
wenige – indes wesentliche – Fehler eingeschlichen.
Es wird leider wieder einmal mehrfach betonend und deshalb nicht richtiger, das
'Morphium' dämonisiert. Evelyn Finger mahnt an, dass Schmerzmittel doch leicht töten
könnten und Gröhe und Schneider haben da fachlich wenig entgegenzusetzen. Dabei
sollte doch eigentlich jeder der einmal operiert wurde genau wissen: fachgerechter
Einsatz vorausgesetzt, bergen gerade die morphiumähnlichen Schmerzmittel kein
größeres Risiko einer Lebensverkürzung oder gar -beendigung als die Operation selber
oder auch die Anwendung anderer Medikamente.
Es wäre schön gewesen, wenn man in diesen sonst überaus kompetenten Beiträgen
gleich noch mit dem unsäglichen Morphium-Mythos aufgeräumt hätte:
Starke Schmerzmittel töten nicht!
Statt dessen hätte man betonen können, dass die fehlende, unzureichende
Schmerzbehandlung bei unerträglichem Leiden eine strafbare Körperverletzung ist.
Deshalb sollte eine gute Schmerztherapie so weit gehen, bis der Patient sagt, die
Schmerzen seien endlich erträglich. Und wenn er es denn will, so kann er auch mit Hilfe
eines fachlich exzellenten Teams in den natürlichen Tod hineinschlafen. Auch meine
Phantasie reicht aus, um mir Fälle vorzustellen, in denen ich selber vielleicht lieber tot
sein, sogar getötet werden will. Und die kann kein Gesetz jemals regeln.
Zugleich gilt aber auch, dass sich bis auf diese allerextremsten Einzelfälle wegen
unbehandelbarer Schmerzen kein Palliativpatient das Leben nehmen muss.
Die beiden teilweise sehr konträren Beiträge mit Anne Schneider und Frank Ulrich
Montgomery bringen neue Gesichtspunkte zutage, die die ersten Diskutanten sonst
vielleicht ausgeklammert hätten und runden die Diskussion sehr gut ab. Fürwahr, dieses
Buch macht es sich nicht einfach und bietet auch kein Patentrezept an, aber es hält
Handelnden wie Betroffenen lebensnahe Handlungsspielräume offen.
Thomas Sitte
€ 17,99, ca. 192 Seiten
ISBN 978-3-86334-069-8
Erhältlich auch bei der Deutschen PalliativStiftung