Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge

Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge
Nach Meinung des ungarischen Kunsttheoretikers László F. Földényi besteht das Geheimnis
jedes bedeutenden Gemäldes darin, „dass das Sichtbare voll ʻblinder Fleckenʼ ist, voll nicht
sichtbarer Energie, die dennoch als Kraft wahrnehmbar ist“.1 In der Geschichte der
abendländischen Malerei gibt es wohl nur wenige Gemälde, die dies derart eindrucksvoll
belegen wie Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge (um 1665; im Niederländischen:
Meisje met de parel), das gemeinhin als das bekannteste Werk des niederländischen Malers
Jan Vermeer gilt, wozu nicht zuletzt auch der Roman von Tracy Chevalier (Das Mädchen mit
dem Perlenohrring; Originaltitel: Girl with a pearl earring) beigetragen hat sowie
insbesondere auch der auf dieser Vorlage basierende Film (mit Scarlett Johansson in der
Titelrolle).
Vermeers Gemälde zeigt ein Mädchen, das mit einer Jacke und einem Turban bekleidet ist
und einen Ohrring trägt. Weder die Identität der Porträtierten ist uns bekannt noch ihr
Verhältnis zu Jan Vermeer. Das Bild weist einen dunklen, völlig neutralen Hintergrund auf, es
sind keinerlei Attribute oder Handlungen dargestellt, die das Meisje in einen erzählerischen
Kontext stellen würden. Seinen Kopf zum Betrachter gewendet, blickt es diesen mit leicht
geöffnetem Mund direkt an – und in diesem Blick steckt so ungeheuer viel von der
unsichtbaren, jedoch als Kraft spürbaren Energie, von der Földényi spricht. Der Betrachter
kommt gar nicht umhin, sich diesem Blick hinzugeben und sich sogleich die Frage zu stellen,
welcher Art die Beziehung des Mädchens zu dem Maler, mit dem es auf diese Weise (mit
eben diesem (offenen) Blick und dem leicht geöffneten Mund) interagierte, wohl gewesen sein
mag – und schon ist man in einer Erzählung, die je nach Phantasiekonstitution des Betrachters
mehr oder weniger lang und detailliert sowie in mehr oder weniger starkem Maße erotischsexuell geprägt sein wird. Der Blick des Mädchens ist somit ein Fragment, das im Sichtbaren
das Unsichtbare vergegenwärtigt, wobei der Reiz des Unsichtbaren hier noch dadurch
gesteigert wird, dass das Mädchen nicht nur äußerliche Schönheit zeigt, die durch das kräftige
Rot der Lippen, den blauen Turban und den Ohrring noch gesteigert wird, sondern uns im
Ausdruck ihrer Augen auch noch eine betörende Wesensschönheit zu erkennen gibt.
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László F. Földényi, Das Schweißtuch der Veronika. Museumsspaziergänge, Frankfurt am Main, Suhrkamp,
2001, S. 59.
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