David Jan Žák Der König vom Böhmerwald kehrt zurück Ein Roman über Josef Hasil JOSEF HASIL (1924 in Zabrd bei Prachatitz geboren) Im Oktober 1948 wurde er verhaftet und wegen illegaler Fluchthilfe in den Westen verurteilt. Nach seiner Flucht aus dem Arbeitslager begann er, als Agent für einen amerikanischen Nachrichtendienst zu arbeiten. Im Böhmerwald gelang es ihm quasi vor den Augen der Grenzsoldaten und der Staatssicherheit StB, ein dichtes Kontaktnetz an Mitarbeitern und Informanten aufzubauen. Nach Errichtung des Eisernen Vorhangs ging er im Jahre 1954 in die USA, wo er bis heute lebt. 2001 wurde er durch den tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel mit der Medaille für Heldentum ausgezeichnet. DAVID JAN ŽÁK (1971 in Prachatitz geboren) Prosaschriftsteller und Dichter, ursprünglich Journalist. Im Verlag Labyrint veröffentlichte er die Novelle Axe Africa (2006) und den KrimiThriller aus dem Böhmerwald Ticho (2009). Gegenwärtig unterrichtet er Bildnerische Erziehung und leitet Seminare zu Kunstgeschichte und schöpferischem Schreiben am tschechisch-englischen Gymnasium in Budweis, wo er teilweise lebt. Doch die meiste Zeit verbringt er mit seiner Frau im Böhmerwald und im Gratzener Bergland (Novohradské hory). Übersetzung: Maria Pobuda Seite 1 DER BIOGRAFISCHE ROMAN ÜBER JOSEF HASIL, den nicht aufzugreifenden Kurier, welcher zu einer Symbolfigur, dem König vom Böhmerwald wurde, basiert auf dessen eigenen Erinnerungen, auf Berichten von Zeitzeugen und Archivdokumenten. Dabei handelt es sich um die bislang umfangreichste literarische Rekonstruktion der schier unglaublichen Geschichte eines Mannes, der nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in der Polizeiuniform des damaligen Korps der Nationalen Sicherheit (SNB) mithalf, die Grenze zu schützen, aber nach dem Februar 1948 dessen gefürchtetster Gegner wurde. Vor dem spionagepolitischen Hintergrund werden in diesem Roman auch Geschichten seiner vielköpfigen Familie und seiner schicksalshaften Frauenbeziehungen erzählt. Das Buch hält so nicht nur ein aussergewöhnliches menschliches Schicksal fest, sondern gleichermassen auch die mit der Entstehung des berühmt berüchtigten Eisernen Vorhangs verbundenen dramatischen Ereignisse. Ebenso ist es eine Ehrbekundung gegenüber allen Männern und Frauen, die sich der politischen Willkür und der Tyrannei mutig entgegengestellt haben. Gegenwärtig ist eine Verfilmung dieses Romans in Planung. Žáks bislang bester Roman schildert auf ehrliche Art eine grosse Geschichte, in der sich das historische Dokument mit Fiktion vermischt. Ein sehr gut lesbares, starkes, authentisches Werk. (Lidové Noviny) Übersetzung: Maria Pobuda Seite 2 Der König vom Böhmerwald kehrt zurück (Textausschnitt, S. 169-185) AM GEÖFFNETEN FENSTER IM BÜRO des amerikanischen Geheimdienstes steht Charles Eckert, er stützt sich auf das Fensterbrett, vor sich hat er einen überfüllten Aschenbecher stehen. Er raucht eine Zigarette, ohne zu inhalieren. Ohne anzuklopfen, betritt der klein gewachsene Frank Taylor, seine rechte Hand, den Raum. „Es ist also wahr“, platzt es aus Taylor, noch bevor sich Eckert umdreht. „Hasil, dieser Typ vom Korps der Nationalen Sicherheit wird jetzt von einem unserer Jungs verhört. Er hat zusammen mit einem gewissen Antonín Vítek, einem ehemaligen Piloten, die Grenzen überschritten. Beide sind aus einem kommunistischen Lager entkommen.“ Eckert bläst Rauch aus, dieser tanzt einen Augenblick im Luftzug und entweicht durch das Fenster ins Freie. „Wir werden ihm eine Zusammenarbeit anbieten, Kašpar soll ihn unter seine Fittiche nehmen. Irgendetwas sagt mir, dass er uns dienlich sein wird. Er kennt den Böhmerwald.“ „Ist bereits geschehen. Ich denke, dass er jetzt gerade unterschreibt. Kašpar wird ihn bei sich beherbergen, damit er sich nicht unter den Flüchtlingen im Lager aufhält, denn dort könnte ein Spitzel auf ihn angesetzt sein. Wir würden nur ein unnötiges Risiko eingehen. Dieser Hasil ist genau der Typ Mensch, den wir zur Bildung eines Spionagenetzes auf tschechischer Seite brauchen. Er kennt dort zahlreiche Leute. Er ist ein ehemaliger Angehöriger des Korps der Nationalen Sicherheit, auch das trifft sich gut. Und ausserdem – er hat Courage. Ich würde ihn so bald wie möglich für die Aktion einsetzen.“ „Dennoch soll er zur Sicherheit eine Spezialausbildung absolvieren. Und noch was: Geben Sie mir regelmässig Bescheid, wie sich unsere Neulinge anstellen, auch dieser Hasil.“ JAROSLAV KAŠPAR, mit Decknamen Pátý oder König, ist zufrieden. Soeben hat er zwei neue junge Männer in sein Team aufgenommen. Bei beiden sieht er gleich mehrere Vorteile, sie haben schon in der Vergangenheit eine Ausbildung absolviert, Vítek in der tschechoslowakischen Armee bei der Luftwaffe, und Hasil in der Schule Übersetzung: Maria Pobuda Seite 3 des Korps der Nationalen Sicherheit. Beide können mit Waffen umgehen, haben eine hervorragende körperliche Kondition und fürchten sich nicht. Zudem wurden beide noch vom kommunistischen Lager geschult, sie haben die Praktiken der Staatssicherheit miterlebt. Am liebsten würden sie den Bolschewiken gleich morgen stürzen. Es geht ihm jedoch nicht aus dem Kopf, warum sich Eckert, der Chef selbst – durch Taylors Vermittlung – so sehr für einen unbedeutenden Angehörigen des Korps der Nationalen Sicherheit, und dann noch diesen Knasti Hasil, interessiert. Soweit Kašpar weiss, stammt dieser junge Mann aus ärmlichen Verhältnissen und hat an den bedeutenden Orten gar keine Beziehungen. „Aber das krieg ich noch raus.“ Josef ahnt nicht, dass er den Namensvetter des Befehlshabers der Eisensteiner Einheit vom Korps der Nationalen Sicherheit vor sich hat. Ihm und Vítek stellt sich Jaroslav Kašpar mit dem Namen Pátý vor, denn über einen gewissen Zeitraum, während dem die beiden unter ihm dienen werden, sollen sie seinen richtigen Namen nicht erfahren. Aber auch sie werden unter Decknamen auftreten. Josef Hasil heisst jetzt Josef Marek. An der Ausbildung nehmen noch weitere dreissig junge Männer teil, alles tschechische Flüchtlinge. Sie leben in kleinen Hütten und halten sich später in der konspirativen Villa bei ihrem Befehlshaber Jaroslav Pátý auf. „Es erwartet uns Krieg, Jungs, und ihr seid die Vorhut der amerikanischen Armee. Merkt euch! Es geht uns um Informationen, und nicht darum, Scharmützel und Auseinandersetzungen auszulösen. Wir müssen zuerst ein weit verzweigtes Informationsnetz innerhalb der Tschechoslowakei aufbauen, wir müssen genügend Leute einbinden und allmählich dieses sozialistische Paradies der Kommunisten von innen zersetzen. Wir werden erst im richtigen Moment zuschlagen und die Bolschewiken zermürben.“ Hasil verbringt viele Stunden liegend an der Grenze und beobachtet die Wachposten. Er notiert die genaue Zeit. Tag und Nacht. Er ist so nahe dran, dass ihn die Diensthunde aufspüren könnten. Ihm wird bewusst, dass er dennoch ruhig ist, das einzige Problem stellt der Schlaf dar. Wenn die Informationen genau sein müssen, darf er nicht einschlafen. Aufgrund seiner Notizen werden sie die Wachablösung kennen und wissen, wie das System bei den Einheiten in der Tschechoslowakei funktioniert. „Eine hervorragende Idee, Josef, das wirst du immer bewältigen müssen, bevor du Richtung Grenzlinie aufbrichst. Ein paar Tage beobachten, die Situation beurteiÜbersetzung: Maria Pobuda Seite 4 len, und erst dann losziehen. Man darf so wenig wie möglich riskieren. Hier geht’s um Leben und Tod, klar?“ „Klar, Chef! Genau das hab‘ ich getan, bevor Tonda und ich hergekommen sind. Vier Tage lang habe ich die Postierung der Wachen beobachtet und die Zeiten, wann diese den ausgewählten Sektor passieren, notiert.“ „Gut, Josef, aber merk dir: nur ein Fehler, und du oder jemand, für den du verantwortlich bist, kann ums Leben kommen. Vergesst nicht, Jungs, es gilt eine einzige Regel – die Aufgabe erfüllen und unversehrt zurückkehren. Sollte jemand von euch den Kommunisten in die Hände geraten, so ist es besser, sich selbst zu erschiessen oder diese Kapsel hier zu schlucken, sie enthält ein starkes Gift. Jeder von euch wird eine solche dabeihaben. Und die letzte Kugel hebt ihr für euch selbst auf. Die meisten von euch wissen sehr wohl, wie die Verhöre der Staatssicherheit ablaufen. Wir dürfen nicht zulassen, dass irgendwer von uns redet, sonst wären auch die Übrigen von uns in Gefahr. Seid ihr damit einverstanden?“ „Ja, Chef! Besser eine Kugel im Kopf als den Rechen der Staatssicherheit im Hintern.“ JOSEF MELDET SICH FREIWILLIG, wenn es nötig ist, lange Tage zu liegen und die Bewegung der Grenzwächter auf der tschechischen Seite zu beobachten. Er fühlt sich wie in seiner Kindheit, als er mit den Buben gegen die Bande aus dem anderen Dorf kämpfte. Die Abenteuer der tapferen indianischen Kämpfer, die er aus Büchern kannte, erlebte er am eigenen Leib stets als Kundschafter. Er braucht nicht lange zu warten, da schickt ihn Pátý mit der Gruppe bereits auf die erste Erkundungstour. Gemeinsam schreiten sie über die Grenze und trennen sich, jedes Paar bekommt eine andere Aufgabe. Josef und Tonda Vítek sollen Josefs Bekannte in der Region um Prachatitz, Wodnian sowie in Pisek kontaktieren, und Tonda soll seine Leute in der Region um Saaz aufsuchen. Josef hatte in Pisek Fassbinder gelernt und dort gearbeitet, bevor er ins Reich zur Zwangsarbeit musste. Und so beginnen sie langsam, ein weit verzweigtes Netz aufzubauen, welches nicht nur den ganzen Böhmerwald, sondern auch den westlichen Teil des Landes, Prag, Pardubitz sowie die Regionen um Brüx und St. Joachimsthal abdeckt. Die meisten Leute hören sich Hasil an, bieten ihm einen Unterschlupf und lassen sich auf eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern ein. Er verteilt die Aufgaben, gibt Übersetzung: Maria Pobuda Seite 5 ihnen Geld für die nötigen Kosten wie Fahrkarten und Bestechungsgeld für Beamte. In Pisek verspricht er den Leuten, dass er beim nächsten Mal ein Funkgerät mitbringen und sie anleiten wird, damit zu arbeiten. Unterwegs macht er von der Gastfreundschaft der Nachbarn und Verwandten Gebrauch. Dort, wo er um ein Nachtlager und um Essen bittet, kommt man ihm entgegen, auch wenn man ihn zuvor noch nie gesehen hat. Er ist jung, sympathisch und fröhlich. In Pisek verstecken ihn seine Schwester Žofie und deren Mann. Adolf Pavelka aus Sablat arbeitet mit Václav Mareš, Podlešák, Hodina und Tvrdek zusammen. In Pisek trifft sich Josef mit Männern einer Gruppe, die sich Dritter Befreiungskampf nennt. Antonín Ouředník besorgt Waffen und erklärt sich bereit, das Funkgerät zu bedienen. Jaroslav Kubašta aus Höfen stellt Josef sowie dessen Kameraden und den Flüchtlingen sein Versteck zur Verfügung, das er während des Krieges unweit einer Mühle für seine Tochter und deren Kinder angelegt hatte. Der Gastwirt Fábera aus Zabrd und sein Bruder Miroslav sowie Antonín Heinzl aus Witzemil und Antonín Jungvirt sagen Hilfe bei einzelnen Aktionen zu. Mehrere Dutzend Menschen aus der Gegend um Hussinetz, Wällischbirken, Blatná und Pisek beginnen, mit Hasil zusammenzuarbeiten… Die erste Mission verläuft ohne Komplikationen. Alles Nötige wird erfüllt. Tonda und Josef treffen sich bei Familie Samrhel auf dem Hof. Josef wartet einen ganzen Tag und eine ganze Nacht auf seinen Begleiter. IN BUDWEIS ergreift der Oberleutnant des tschechoslowakischen militärgeistlichen Dienstes Josef Šuman die Flucht. Er hat das nazistische Konzentrationslager überlebt, und jetzt verfolgt ihn die Staatssicherheit. Er versteckt sich in Pisek bei Frau Drašnarová, die ihn in der Nacht mit dem Auto in die Wälder hinter Hussinetz fährt, wo er schon von Josef Hasil erwartet wird. Gemeinsam mit Šuman führt Josef eine Gruppe mit Ehefrauen und kleinen Kindern von Exulanten über die Grenze. Marie und der kleine Josef bleiben auf der tschechischen Seite. „Gib mir Zeit, Pepík…“ Sie halten sich im Wald versteckt und warten auf Nachricht von Josefs Verbindungsmann. Gegen Abend taucht ein junger Bursche auf einem Fahrrad auf. „Schleb und Zassau könnt ihr vergessen. Ihr müsst einen anderen Weg nehmen. Dort ist es wie in einem Wespennest, eine Schiesserei.“ Übersetzung: Maria Pobuda Seite 6 Josef entscheidet sich rasch. Den Burschen schickt er zu Fábera, dieser soll mit seinem Bruder einen Transporter, einen Tatra, bereitstellen. Šuman setzen sie zusammen mit den verängstigten Frauen und Kindern auf die Ladefläche und brechen auf. Verschiedene Möglichkeiten eines Grenzübertrittes jagen Josef durch den Kopf. Er kontrolliert die Waffen. Er hat eine amerikanische Maschinenpistole über die Schulter hängen. Eine Pistole und eine Handgranate drücken ihn in den Kleidertaschen. Zwischen den Fingern spielt er mit der Ampulle. „Es reicht, wenn du uns unterhalb von Oberplan rauslässt, von dort aus schaff ich’s schon selbst“, sagt Hasil und sieht den Fahrer an. Dieser nickt und fährt los. Die Gebrüder Fábera helfen den Frauen von der Ladefläche. Josef nimmt die Kinder und reicht sie Šuman hinunter ins Dunkel. Bis jetzt weint keines von ihnen, doch das soll sich bald ändern. Sie stehen am Ufer der Moldau. Vom Wasser her dringt die Kälte zu ihnen. „Jetzt werden wir durch den Fluss waten“, sagt Hasil und kann den Schrecken in den Gesichtern der Frauen erahnen. „Habt keine Angst. Wir machen es so, dass zuerst ich und unser Monsignore hier hinübergehen. Auf der anderen Seite lassen wir unsere Sachen und kommen zurück, um die Kinder zu holen. Wir tragen sie… Die Sache hat aber einen Haken… Bis auf die Kinder müssen wir uns alle ausziehen und all unsere Sachen und Kleider über dem Kopf tragen. Falls jemand ausrutscht, wird er in nassen Kleidern weitergehen müssen… Ihr werdet wohl ahnen, was das bedeutet…“ Niemand gibt einen Mucks von sich. Josef hat bereits nur noch die Unterhose an, neben ihm stapelt sich ein kleiner Haufen, zuoberst die Maschinenpistole. Er bindet seine Sachen zu einem Bündel zusammen. Er blickt auf den nach wie vor angekleideten Geistlichen. „Monsignore…“ Mit einer Kopfbewegung zeigt er von oben nach unten. Der Mann beginnt sich zaghaft auszuziehen. „Und nun halten Sie Ihre Kleider fest.“ Sie tauchen ins eiskalte Wasser ein. Der Mond guckt für einen Moment hinter den Wolken hervor. Die Steine schneiden in die Fusssohlen, die Strömung reisst einen mit, und die beiden schaffen es nur mit Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Schon fast haben sie das andere Ufer erreicht, als Šuman auf einem der Kieselsteine ausrutscht und ins Wasser stürzt. Seine Kleider fliegen ihm nach. Josef zögert keinen Übersetzung: Maria Pobuda Seite 7 Augenblick. Er wirft die Waffe und seine Sachen ans Ufer und springt in die Strömung. Das schwere Bündel ergreift er gerade noch rechtzeitig. Jetzt muss er noch dem erschütterten Mann helfen. „Keine Sorge, irgendwie werden wir das schon schaffen. Es kann stets noch schlimmer kommen.“ Hasil zieht seine Sachen aus dem Gebüsch. Die Maschinenpistole hat sich in den Ästen festgeklemmt, die Kleider sind allerdings auf den schlammigen Uferboden gefallen und dann wieder in den Fluss gerutscht. „Versuchen Sie unsere Sachen auszuwinden, während ich die Kinder hertragen werde.“ Josef stürzt zum Ufer. Die Frauen auf der anderen Seite überzeugt er davon, ihm mit den Händen über dem Kopf zu folgen. Josef trägt zwei Kinder auf einmal hinüber. Ein Mädchen schläft in seinen Armen. Auch ein Wasserspritzer kann es nicht aufwecken. Er kehrt noch dreimal zurück. Seine Hände und Füsse spürt er nicht mehr. Er reibt sich seinen Körper mit klammen Fingern. Zum Glück ist keine der Frauen umgefallen, wenigstens sie werden in trockenen Kleidern weitergehen können. „Ziehen Sie die Kleider nass an. Wir werden zügig voranschreiten, diese Fetzen werden an Ihrem Körper trocknen. Wir müssen durchhalten, bis wir in Österreich sind. Wir nehmen den kürzesten Weg.“ Die Leute um ihn herum haben Angst. „Ich hab‘ hier gedient. Ich kenn‘ hier jeden Stein.“ „Ist hier irgendwo ein Grenzposten?“, flüstert eine der Frauen. „Ja, Josefstal, wir werden an ihm vorbeigehen.“ Sie umgehen das Dorf Bližší Lhota. Šuman zittert. Hasil weiss, dass sie sich unterkühlen können. Es kann sein, dass sie es nicht bis nach Österreich schaffen. Lieber denkt er nicht darüber nach und führt sie auf einen Weg durch den Wald. Er riskiert es. Wenn sich die Zeiten der Wachen nicht geändert haben, sollten sie durchkommen. Und falls doch… Dann wird er entweder die Leben zweier ehemaliger Kollegen oder die Leben von sieben Frauen, acht Kindern und einem Geistlichen auf dem Gewissen haben. Es ist ihm schon klar, was er in so einem Fall tun würde. Sie umgehen teilweise den Hügel Lhotský vrch und schlagen den Weg Richtung Lazebník ein, wo sie leicht nach links einbiegen und durch den Wald Hut’ský les bis nach Hüttenhof (Hut’ský Dvůr) gehen. Am liebsten würde er abbiegen und am Schwarzenberger Schwemmkanal vorbei nach Neuhofen gehen, doch er weiss, dass Übersetzung: Maria Pobuda Seite 8 dies nur ein unnötiger Umweg wäre. Er muss dreist sein. Und das ist er. Die kleinsten Kinder haben begonnen zu weinen, er gibt ihnen eine mit Honig gesüsste Brühe aus Mohn zu trinken. Es sind drei Mädchen und drei Jungen. Zwei weitere Knaben – der eine wird etwa acht Jahre alt sein, der andere zwölf – können selber laufen. „Sie müssen einschlafen, das Weinen würde uns verraten.“ Ein nasses Hemd, eine nasse Hose, ein nasser Pullover, all das kühlt und lähmt die Muskeln. Šuman schlägt sich bis jetzt tapfer, er kriegt kaum Luft, aber er hält das Tempo. Die Frauen haben sogar eine grössere Ausdauer als beide Männer. Keinem von ihnen sagt Josef, dass sie bald direkt unter den Fenstern des Grenzpostens durchgehen werden. Er will sie nicht in Angst versetzen. Unter dem Leuchter ist es finster. Er kontrolliert die Zeit. Als er die dunklen Umrisse des Postens erblickt, führt er seine Leute tiefer in den Wald und weist sie an, hier unter den Bäumen versteckt zu bleiben und zu warten. Er begibt sich einstweilen auf Erkundungstour. Er versteckt sich hinter einem Holzstapel. Von da aus hat er gute Sicht auf den Haupteingang. Falls alles beim Alten ist, kehren bis in einer Viertelstunde beide Wachen zurück. Er wartet. Die Kleider kleben an seinem Körper. Er spürt ein Zittern in den Muskeln. Er weiss, dass sie noch ein gutes Wegstück von der Grenze entfernt sind. „Feuer. Wärme, Feuer…“ Plötzlich tauchen von Glöckelberg her zwei dunkle Gestalten aus dem Wald auf. Die Männer sind in ein Gespräch vertieft. Sie pochen an die Tür. Diese wird geöffnet und Licht überflutet von innen her den Eingang. Auch auf diese Distanz wärmt es. Josef erblickt den Kopf des Aufsehers, wie er in die Nacht hinausspäht. Josef würde seine Hand dafür ins Feuer legen, dass es Míčko ist. Vom Weg, der auf den Hochficht hinauf führt, sind Schritte zu hören. Kies rieselt. Eine weitere Wache. Auch sie verschwindet im Haupteingang zum Posten. Hasil ist zufrieden, die Zeiten der Wachablöse haben sich nicht geändert. Sie werden warten, bis beide neuen Wachen zu ihrem Rundgang aufbrechen, und dann werden sie der ersten von ihnen auf dem 6-5-6-Sektor mit genügend Abstand folgen. Während er überlegt, will er voranschreiten und erstarrt. Er verwandelt sich in einen unbeweglichen Monoliten, weil sich von dort, wo er hergekommen ist, jemand nähert. Es besteht kein Zweifel. Eine dritte Wache! Das ist hier also neu. Es patrouillieren nicht mehr nur zwei. Die Tür wird geöffnet, zwei Männer treten ein und drei Zweiergruppen kommen heraus, jede von ihnen verschwindet in einer anderen Richtung. „Mehr Wachen gibt es nicht, also drei“, überlegt Hasil, „und keine hat einen Hund dabei.“ Übersetzung: Maria Pobuda Seite 9 Als überall wieder nur Dunkelheit und Ruhe herrschen, kehrt er zu seinen Leuten zurück. Eine der Frauen hat Šuman ihren Mantel geliehen. Dennoch zittert er wie Espenlaub. „Wir gehen!“ befiehlt Josef flüsternd. Sie nehmen wieder den Weg und schreiten am Posten vorbei geradewegs zum Hochficht. Zu ihrer Rechten rauscht der Medvědí potok. Am Fusse des Hochfichts halten sie eine Weile an. Hasil kontrolliert die Zeit. Die Wache ist eine halbe Wegstunde vor ihnen. Er umarmt den Geistlichen. „Haltet durch, wir werden bald da sein. Bald können wir uns aufwärmen.“ Zwei durchfrorene Männer, sieben erschöpfte Frauen, sechs schlafende Kinder in den Armen der Mütter und zwei verängstigte Knaben. Ein endloser Aufstieg. Sie stolpern in der Dunkelheit über Steine und Baumwurzeln. Endlich der Hochficht. Sie überschreiten die Grenze und stürzen den Ästen und Ranken entgegen. Ein paar Dutzend Meter von den Grenzsteinen entfernt machen sie Halt. Josef sammelt Reisig. Ein Feuer wird entfacht. Aus den Kleidern steigt Dampf empor. Die Frauen starren ins Feuer. Die Kinder schlafen zusammengekauert bei ihren Müttern. Josef legt weitere Äste nach. Es ist ihm egal, dass das Feuer die österreichischen Grenzsoldaten herbeilocken kann. Denen wird er schon irgendwie erklären, dass er ein amerikanischer Agent ist… Entlang der österreichischen Grenze steuert er auf Bayern zu. Die schlaftrunkenen verängstigten Kinder heulen. Es ist nicht einfach, sie zu beruhigen. Hasil weiss, dass die tschechische Wache zu dieser Zeit auf einem anderen Grenzabschnitt patrouilliert... In einem in der Nähe gelegenen Forsthaus sollten sie sich mit den übrigen Agenten treffen, denn sie wollen gemeinsam mit ihnen zum Militärstützpunkt zurückgehen. Die über die Grenze geführten Leute werden sie zur CIC-Dienststelle (Counter Intelligence Corps) bringen. Im Forsthaus warten nur zwei Männer. Diese erfüllten ihre Aufgaben in der Region um Pibrans. Über die andern wissen sie nichts. Unter denen, die nicht eingetroffen sind, befinden sich auch zwei junge Männer, die zusammen mit Josef und Tonda die Ausbildung absolviert haben, sie gehörten zur Gruppe der Gebrüder Šedý. Erst später wird bekannt, dass sie unweit der Stelle, an der man sich getrennt hatte, von einer Grenzwache des Korps der Nationalen Sicherheit erschossen worden sind. Übersetzung: Maria Pobuda Seite 10 DIE TAGE VERGEHEN SCHNELL, entweder verbringt er sie mit den anderen in der Hütte oder bei der Grenze. Die meisten Agenten leben jedoch in Flüchtlingslagern, in die konspirativen Villen ziehen sie erst kurz vor der Aktion. Nur einige von ihnen sind ununterbrochen im Dienst. Sie beobachten, führen Buch und passieren die Grenze. In den Wäldern und bei Freunden hat Josef gleich einige Verstecke samt Bekleidung. Er macht sich Verkleidungen zunutze, um auf den ersten Blick nicht erkannt zu werden. Die Erfahrung einer Zugfahrt, als er mit einem Stoss verschiedener Zeitungen unterwegs war, hat ihn das gelehrt. Bei jeder Gelegenheit trägt er die Zeitung Rudé právo mit sich, nur damit man ihn für einen Kommunisten hielte. In einer anderen Zeit wäre er wohl ein vielversprechender Schauspieler gewesen. Das eine Mal erblicken die Leute einen alten, buckligen Opa, der sich auf einen Stock stützt, das andere Mal einen streng aussehenden Angehörigen vom Korps der Nationalen Sicherheit. Die Uniform bringt ihm Bohumil nach Fürstenhut und versteckt sie dort beim Förster. Josef denkt sich mit jedem Gang über die Grenze neue und aberneue Möglichkeiten aus, in wen er sich verwandeln und wie er allfällige Wachen überlisten kann. Die Grenze passiert er mit seinem Begleiter Tonda Vítek, oft bekommen sie eine gemeinsame Aufgabe. Manchmal werden sie durch einen Dritten, Tonda Kubala, unterstützt. Doch dieser lehnt es nach einigen Erfahrungen mit Hasil, bei denen sie sich wortwörtlich bis zur Grenze durchschiessen mussten, ab, weiterhin die Grenze zu passieren. Er behauptet, Pepík riskiere zu viel. Er hat Recht. Aber Hasils Aktionen versprechen indessen hundertprozentigen Erfolg. Im deutschen Flüchtlingslager in Murnau wird Josef von Václav Slavíček, dem ehemaligen Leiter der Wirtschaftsvereinigung aus Kieselhof, angesprochen. Der will, dass ihm Josef die Familie über die Grenze führt. Hasil taucht deshalb dreimal in Kieselhof auf und spricht Slavíčeks Frau an, doch in deren Leben ist bereits ein neuer Mann getreten. Josef gelingt es nicht, die Familie herüberzuführen, und so wird ein weiterer Kerl nun traurig und verlassen sein. BOHUMIL WARTET mit einer Gruppe Männer aus Zabrd und den umliegenden Dörfern am Waldrand. Sie sollten hier ein Treffen mit Josef haben. Er wird ein schweres Funkgerät über die Grenzlinie schleppen. Überall herrscht Ruhe, nur die Übersetzung: Maria Pobuda Seite 11 alte Frau von Kovářs Hof sammelt in einem riesigen Korb Reisig und Tannzapfen zum Anfeuern. Sie kann sich kaum bücken, steht auf einen Stock gestützt. Es ist ein Moment des Verschnaufens und schmerzhaften Sich-Aufrichtens, sofern bei einer vom Alter gezeichneten zittrigen Frau von Aufrichten überhaupt die Rede sein kann. Die Jungs erkennen sie an ihrem geblümten Rock und dem dunkelroten Kopftuch, welches die grauen Haarsträhnen verdeckt. Die Männer haben für Josef eine Stange Salami dabei, sie wollen ihm eine Freude machen. Sie wissen, dass er nie Essen mit sich trägt und dass er leicht, flink und unauffällig sein will. Die Zeit zieht sich, er müsste schon längst hier sein, und sie verlieren allmählich ihre anfängliche Wachsamkeit. Einer zieht eine Flasche heraus. Die macht die Runde, und zum Branntwein schneiden sie mit dem Messer noch einige Scheiben Salami ab, eine Scheibe nach der andern, bis für Josef kein einziger Bissen mehr übrigbleibt. Ein junger Mann aus Repsin, der früher bei Kovář diente und die Pferde in seiner Obhut hatte, und der sich mit ihnen auskennt und sie auch über unübersichtliches Waldterrain führen kann – oft sammelt er Holz oder transportiert mit einem Karren Stroh nach der Ernte und Heu von den Wiesen – dieser junge Mann trifft eine Entscheidung. Die alte Frau tut ihm leid. Er erhebt sich und geht ihr helfen. „Schönen guten Tag, Frau Kovářová, wollen Sie nicht da drauf pfeifen? Warten Sie, ich helfe Ihnen damit.“ „Ach, du lieber Gott, bin ich aber erschrocken! Ich hatte gedacht, ich sei hier völlig allein, während nun dieser junge Karas… Pfuj Teufel, du hast’s mir jetzt aber gegeben! Aber was lungerst du hier überhaupt herum?“ Durch den Alkohol beflügelt, beginnt der junge Mann zu lachen. „Grossmütterchen, ich werde Ihnen nun also erklären, dass ich hier auf Hasil warte.“ „Waaas? Ich hör‘ schlecht.“ „Das ist gut, Grossmütterchen, das ist gut.“ Die anderen Jungs beobachten die ganze Szene und amüsieren sich köstlich auf Kosten des jungen Karas und der alten Kovářová. Der junge Mann wirft noch ein paar Tannzapfen und Holzstecken dazu, doch der Korb ist schon voll. Er will ihn hochheben und greift nach dem Tragegriff. „Zum Teufel nochmal! Grossmütterchen, Sie haben da wohl Steine drin, was?“ „Auf wen, hast du gesagt, wartest du, junger Mann?“ Übersetzung: Maria Pobuda Seite 12 „Auf wen, auf wen…“ Da springt er plötzlich von der Alten weg, die übrigen Männer kommen laut fluchend aus ihrem Versteck gerannt. „Herrgott nochmal, Josef, was ist denn das für eine Maskerade?“ Unter dem Kopftuch der alten Kovářová kommt Hasils lachendes Gesicht zum Vorschein. „Als ich diese Altweiberfetzen sah, war mir sofort klar, dass die alte Kovářová, die sich ständig im Wald aufhält, weder die Typen vom Korps der Nationalen Sicherheit noch andere Gaffer interessieren wird. Und so wollte ich es nur einmal ausprobieren, und es hat tatsächlich geklappt. Jungs, ihr wart so unauffällig, wie die Zwetschge auf dem Kirschbaum. Ich brauchte bloss etwas Zeit, um sicher zu gehen, dass die Typen von der Staatssicherheit euch nicht verfolgen. Seid nächstes Mal vorsichtiger! Und keine Sauferei!“ Zusammen mit Bohumil und zwei anderen Freiwilligen transportieren sie das versprochene Funkgerät nach Pisek. Während einer Nacht besucht Josef seine Mutter und seine Brüder. Niemals vergisst er Marie und seinen kleinen Sohn. Er bringt ihnen Geld und Geschenke. Marie verspricht, mit Josef mitzugehen, sobald er wiederkommt. Jedes Mal wartet sie mit gepacktem Koffer, doch am Ende sagt sie immer: „Nein.“ Sie gesteht sich selbst nicht ein, dass sie auch wegen eines gewissen Bräuer aus Budweis unsicher ist. Sie hat ihn in Prachatitz kennengelernt. Sie gefällt ihm. Bis jetzt haben sie sich zwei-, dreimal gesehen. Und er ist aufmerksam, gibt ihr sogar Blumen und will sie nach Budweis einladen. Angeblich würde er für sie eine Anstellung finden. Bei Bräuer hat sie ein Gefühl von Sicherheit. Er würde es schaffen, sich um sie und ihren Sohn Josef zu kümmern, und noch dazu hat er eine gute Stellung. Mit ihm würde sie nicht so ein kümmerliches Dasein fristen. Doch was hätte sie von einem Leben mit Pepík Hasil zu erwarten? Eine gefährliche Reise über die Grenze, ein Unterkommen in einem Flüchtlingslager, auch wenn er behauptet, dass sie eine Wohnung oder ein Häuschen bekämen; wohnen unter fremden Leuten, unter Deutschen, die während des Krieges ihre Feinde gewesen waren und es auch weiterhin sind, oder vielleicht doch nicht? Solche Überlegungen wechseln sich freilich mit einem Ansturm liebevoller Sehnsucht ab, denn sie hat ihn immer noch lieb. Sie würde gern mit ihm leben, er ist schliesslich der Vater ihres gemeinsamen Sohnes. Aber nicht dort. Hier. Ein ruhiges Übersetzung: Maria Pobuda Seite 13 ordentliches Leben führen. Diese Genossen sind doch gar nicht so schlimm, man muss ihnen nicht immer nur böse Absichten unterstellen. Wenn er zurückkäme und seinen Fehler zugäbe, dann würden sie ihm sicher noch eine Chance geben… Zumindest behauptet das ihr neuer Verehrer. Marie denkt nicht mehr daran, dass Josef zu neun Jahren verurteilt worden war. Sie ist sich nicht bewusst, dass er aus dem Gefängnis wohl nicht mehr herauskäme. Nein, vorläufig geht sie mit dem kleinen Josef nirgendwohin, sie wartet ab. Es wird sich schon von selbst zeigen, wo die Wahrheit liegt, wohin der richtige Weg führt. Sie lehnt es ab, allein für sich einen Schritt zu wagen, mögen doch andere für sie entscheiden. Und Josef? Er will sie nicht zwingen. Vielleicht wird sie aus freien Stücken mit ihm nach Bayern gehen. Wenn er poltern würde, wenn er sie und den Jungen packen und mit sich ziehen würde, dann würde sie sich fügen und mitgehen. Doch nach Jahren könnte sie ihm dann vorwerfen, ihr Weggang sei nicht freiwillig erfolgt. Und wie hätte es ihr bloss ergehen können, wenn sie geblieben wäre! „CHEF?“ „Was denn, Josef?“ „Als ich noch in Glöckelberg war, trug ich kleine Pakete mit Kriminalromanen von Oberst Kot zu Kommandant Kašpar nach Eisenstein.“ „Ja, und?“ „Ich meine nur, die Typen von der Staatssicherheit haben sich beim Verhör ziemlich dafür interessiert.“ „Und du willst wissen, warum?“ „Ja. In diesen Päckchen waren wirklich nur Kriminalromane, in Zeitungen eingewickelt und zusammengeschnürt.“ „Hattest du eine Idee, worum es da eigentlich ging?“ „Eben nicht.“ „Dann versuch, darüber nachzudenken. Und wenn es bei dir Klick macht, bekommst du eine sehr schwierige und auch ziemlich gefährliche Aufgabe. Aber nun streng erst einmal deine Hirnzellen an.“ „Na gut, Chef.“ Übersetzung: Maria Pobuda Seite 14 „Bauernverstand, Hasil, dafür genügt dir gewöhnlicher Bauernverstand und du errätst es. Nimmst du einen Branntwein? Ich hab‘ einen ausgezeichneten schottischen.“ „Nein danke, Chef, ich trinke nicht. Nur einmal haben mir meine Brüder Rum eingeschenkt, das war kurz nach der Befreiung, und ich hab‘ gedacht, ich werd‘ die Seele aushauchen. Drei Tage lang hab‘ ich gekotzt wie ein Reiher.“ „Wie was?“ „Ein Reiher, das sagt man bei uns so.“ „Aha, na gut, wenn du nicht willst, dann werde ich dir das nicht aufzwingen. Nimmst du ernsthaft nie einen zu dir? Nicht einmal ein klein wenig?“ „Nein, im Ernst, Chef. Ich trinke nicht, ich rauche nicht. Ich treibe Sport und laufe über die Grenzlinie. Hin und zurück.“ Tonda Vítek und er führen ganze Familien mit Kindern hinüber. Sie suchen sich tote Briefkästen aus, wo ihnen ihre Helfer auf der tschechischen Seite Nachrichten bzw. Informationen hinterlassen. Marie sitzt nach wie vor auf ihrem Koffer und lehnt es ab, sich von dieser Stelle zu rühren und nach Deutschland zu fliehen. Der kleine Josef wächst schnell. Josef und Tonda verstecken sich bei Bekannten und Freunden in Sablat, Höfen, Repsin, Kratusin, in Pisek bei Schwester Žofie, in Zabrd bei Fábera, in Barau bei Familie Starý und in den Wäldern bei Familie Samrhel. „JOSEF, im Auffanglager ist irgendein Landsmann von dir.“ „Aus Zabrd?“ „Aus Prachatitz. Es wäre gut, wenn du ihn dir anschauen würdest, vielleicht kennst du ihn ja. Er war beim Korps der Nationalen Sicherheit, ich möchte nur sicher sein, dass die uns da keinen Schädling geschickt haben. Er fuhr auf seinem Dienstmotorrad über Eleonorenhain und Böhmisch Röhren. Die Grenze überquerte er am 19. August zwischen neun und zehn Uhr morgens bei der Ortschaft Laka. Er meldete sich bei der Grenzpolizei in Bischofsreut. In München haben ihn die Kollegen vom Geheimdienst in die Zange genommen, steckten ihn in die Luitpolder Kaserne und haben ihn dann nach Windischbergerdorf gebracht. Und jetzt im November gelangte er ins Flüchtlingslager Valka.“ „Alles klar, Chef! Ich fahr‘ hin.“ Übersetzung: Maria Pobuda Seite 15 „Valka ist voll von verschiedenen Individuen, hier hast du seine Papiere, er heisst Josef Ludvík. Schau ihn dir an. Sollte er sich dazu eignen, versuch ihn anzuwerben. Wir brauchen jeden tüchtigen Kerl. Falls er ein Böhmerwäldler ist, umso besser!“ Valka bei Nürnberg ist eines der bekanntesten Flüchtlingslager, ein ehemaliges Gefangenenlager, das später zu einer Einrichtung für Obdachlose umfunktioniert wurde. Ab November 1949 verwandelt sich Valka in einen Zufluchtsort, der ausschliesslich Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei vorbehalten ist. Die deutschen Behörden betreiben das Lager mit staatlichen Mitteln. Hier sind um die fünftausend Personen untergebracht. In den ersten Nachkriegsjahren hielten sich hier hauptsächlich Esten und Letten auf. An der Grenze zwischen Lettland und Estland liegt das Städtchen Valka. Es symbolisiert Zusammenarbeit und Freundschaft, und keinesfalls Teilung. Hasil findet Josef Ludvík rasch. Er sitzt in der örtlichen Schankstube, wohl eher in einem aus Holzbrettern errichteten Schuppen, wo einer der Flüchtlinge illegal eine Kneipe betreibt. Hier machen die Leute Geschäfte mit allem Möglichen, mit Kleidung, Essen, Zigaretten, Medikamenten, ja sogar mit Erdölfässern. Sie trinken billigen Branntwein und denken vor allen Dingen daran, wie schön es in der Heimat gewesen war. Ludvík sitzt auf einer Holzbank an der Wand, durch die Ritzen dringt ein kalter Wind ins Innere des Raumes. Ihm gegenüber sitzen zwei junge Männer. Hasil grüsst sie. „Kann ich mich dazusetzen? Ihr seid doch Landsleute von uns aus dem Süden? Ich bin Pepa Hasil aus Zabrd und Prachatitz.“ „Honza Mašek aus Budweis, und das hier ist mein Kollege Jarda Kaska, ebenfalls ein Budweiser.“ Sie geben sich die Hand. Josef wendet sich dem sitzenden Ludvík zu, doch dieser nimmt vermutlich nicht einmal wahr, dass jemand Neues zu ihnen gestossen ist. Er sitzt über den Tisch gebeugt, den Blick irgendwo zwischen die Astknorren gerichtet, in der Blechtasse vor sich hat er einen längst kalt gewordenen Zichorienkaffee stehen. „Und Sie müssen Josef Ludvík sein, ein ehemaliger Kriminalbeamter aus Prachatitz“, sagt Hasil und sieht den sitzenden Mann prüfend an. „Ja ja, der Onkel von Jarda hier ist tatsächlich beim Kriminaldienst gewesen“, meldet sich Mašek zu Wort und fügt entschuldigend hinzu: „Er hat seine Frau mit den Übersetzung: Maria Pobuda Seite 16 zwei Kindern drüben gelassen, er macht sich deswegen Vorwürfe. Aber er ist gerade noch rechtzeitig weggekommen, die Kommunisten haben seine Schwester, Jardas Tante, und deren Mann eingebuchtet, und den Josef hier haben sie als Fahrer nach Kaplitz beordert. Sie haben ihn eigentlich vom Dienst suspendiert. Jarda und ich sind auch erst im letzten Moment noch ausgerissen.“ „Eigentlich hat uns Doktor Rokycký gerettet“, sagt Kaska. „Der Chef der Polizeidirektion in Budweis, kein bolschewistisches Kader, eher ein Polizist der ersten Republik. Mein Vater hat in Fünfhaus eine Bäckerei. Als er am Morgen des 24. Februar den Laden seines Geschäfts hochzog, da fand er einen Zettel mit der Nachricht, dass ein Haftbefehl auf mich ausgestellt worden sei. Wahrscheinlich existiert so etwas wie eine Vorsehung, denn ich hatte gerade Ferien und war zu Hause. Ich sollte als Soldat nach Taus einrücken. Doktor Rokycký warnte mich, weil er wusste, dass beide Onkel, also der Pepa hier und Honza Rachač, bei der Polizei vom Dienst suspendiert worden waren. So hat er also geahnt, was die Kommunisten im Schilde führen. Innerhalb einer Stunde habe ich Honza gewarnt, und dann sind wir schnell in Richtung Böhmerwald aufgebrochen. Die Grenze haben wir bei Zassau überquert.“ „Ich bin beim Kriminaldienst in Prag gewesen.“ Josef Ludvík dreht seinen grossen Kopf zu Hasil. Er hat veilchenblaue Augen. Ein breites Kinn, eine hohe Stirn, Josef sieht einen Mann mit festen Grundsätzen und starkem Geist, keinen weinerlichen Typ, wie er anhand des ersten Eindrucks geurteilt hätte. „Nach dem Krieg hat man mich zum Korps der Nationalen Sicherheit nach Prachatitz beordert. Ich habe zusammen mit meinem Schwager und meiner Schwester in einem Haus in St. Margarethenbad gewohnt – falls Sie die Gegend dort kennen, es war die erste gelbe Villa in der Kurve. Honza, also mein Schwager, hat für eine angeblich staatsfeindliche Aktion zehn Jahre gekriegt. Er hatte gemeinsam mit den Jungs hier antikommunistische Flugblätter verteilt. Und meine arme Schwester, die gar nichts angestellt hat… nur damit sie einen Vorwand haben, diese bolschewistischen Schweine… angeblich wegen illegalem Lebensmittelschmuggel für politische Gefangene im Gefängnis von Prachatitz. Alle Prachatitzer Bürger wussten, dass diese in den Kellerräumen unter dem alten Rathaus von den Typen der Staatssicherheit gequält werden. Auf der Höhe des Platzes sind dort nämlich vergitterte Fenster angebracht, und wer vorbeiging, hörte ihr Jammern. Die Gefange- Übersetzung: Maria Pobuda Seite 17 nen baten um Wasser, um Essen, und die Leute brachten ihnen, was sie konnten. Nur, um diese Leiden ein bisschen zu lindern.“ „Ich weiss, wie es dort unten aussieht“, Hasil reibt sich die Augen. „In Bory sass mit mir ein Bursche aus Prachatitz. Er erzählte, wie ihn Lec, ein Chef der Staatssicherheit, mit Salzheringen vollstopfte und sich anschliessend darüber amüsierte, wie dieser Tag um Tag immer mehr um Wasser bettelte. Man sagt, dieser Lec sei ein unwahrscheinlicher Dreckskerl.“ Josef erzählt ihnen in aller Kürze seine Geschichte samt seiner Flucht aus dem Lager. „Ich könnte Ihre Kinder und Ihre Frau herüberbringen“, fügt er am Ende hinzu. „Die Jungs hier haben es mir auch schon angeboten. Die Sache hat aber einen Haken, ich bin mit dem Dienstfahrzeug weggefahren, ohne ihnen etwas zu sagen. Ich bin so sauer geworden, dass ich alles ganz schnell erledigt habe. Ich fühlte mich wie ein hilfloser gefesselter Kerl, dem man noch dazu ‘nen Knebel in die Fresse gesteckt hat… Und in diesem Wutanfall… tja, kurz und gut, ich bin rasch in der Kneipe in Fefry eingekehrt, habe ein paar Schnäpse gekippt, und dann hab‘ ich im Schuppen hinter der Kneipe meinen Personalausweis zerrissen und angezündet, als mir von alledem die Galle hochkam… und im Morgengrauen machte ich mich auf den Weg.“ „Sie könnten…“ „Du kannst mich duzen, ich bin Pepa.“ „Ja, also gut, ich auch, Pepa Hasil.“ „Honza.“ „Jarda.“ „Auf das Du trinken wir jetzt aber einen!“ „Ich nicht, ich nehm‘ einen Kaffee oder gewöhnliches Wasser, aber keinen Schnaps. Ich kann nicht trinken, also trink‘ ich lieber nicht. Aber ich wollte nur noch sagen, dass du den Bolschewiken auf eine andere Art schaden und dich dabei mit deiner Frau treffen könntest.“ Josef Ludvík sieht seinen Neffen Honza und dessen Kameraden an. Alle drei schweigen. Hasil wird klar, dass beide jungen Männer bereits für eine Gruppe des amerikanischen Geheimdienstes arbeiten. Er tippt auf Jungs der Gebrüder Šedý. Er irrt sich Übersetzung: Maria Pobuda Seite 18 nicht. Nur bei Ludvík ist er sich nicht sicher. Da sagt ihm die Intuition, dass man den noch überzeugen muss. ER SEHNT SICH MEHR UND MEHR NACH MARIE, zumindest glaubt er das. Bisweilen kommt er sich wie ein verliebter Junge vor. Er entschliesst sich, sie zu holen, er muss sie endlich davon überzeugen, den kleinen Josef zu nehmen und mitzugehen. Sie werden wie eine Familie leben. Er wird auch mit Pátý reden, und der wird ihm versprechen, bei Eckert ein gutes Wort einzulegen, damit dieser ihm und danach auch Marie im Voraus die Papiere zur Einreise in die Staaten ausstellt. Dort werden sie ein neues Leben beginnen. Er hat frei, die nächste Aufgabe wartet erst Anfang Dezember auf ihn. Angeblich wird er zwei junge Burschen, die aus einem Lager entkommen sind, über die Grenze führen müssen. Sie sind für Eckert von grosser Bedeutung, deshalb betraut dieser Josef und Tonda mit dieser Aufgabe. Diese zwei politischen Gefangenen – Čáp und Škramlík – muss jemand von den Leuten verstecken und richtig füttern, damit sie die Kraft haben, die Grenze im Schnee zu überqueren. Bei dieser Gelegenheit führt Josef gleich noch Familie Hraš aus Hussinetz hinüber. Mit dem alten Hraš vereinbart er dies vorgängig in Murnau. Fábera hilft ihnen, er besorgt beim Bürgermeister einen Transporter, aber fahren wird sein Bruder Miroslav. Auf der Ladefläche fährt er den Rest der Familie noch bei Dunkelheit bis zur Säumerbrücke, von da aus gehen sie dann zu Fuss. Josef plant die ganze Aktion sorgfältig, Tag für Tag beobachtet er die Bewegung der Wachen, also deren Ablösung. Im Dezember wird schon überall Schnee liegen, und die aus der Ferne sichtbaren Spuren könnten sie verraten. Sie brauchen deshalb genügend Vorsprung. Es wird eine anspruchsvolle Tour. Familie Hraš hat eine Tochter, und mit Kindern ist es immer mühsam. Tonda mischt den kleinen Knirpsen immer Schlafmittel ins Getränk, damit sie nicht heulen und sich ruhig tragen lassen. Zum Glück ist Vlasta schon neunzehn, nur die Eltern sehen in ihr immer noch das kleine Mädchen. Die Aktion setzen sie auf den 7. Dezember an, Čáp und Škramlík können sich einige Tage lang bei Josefs Schwester Aloisie verstecken. Als es in Zabrd aber ein bisschen zu heiss wird, helfen ihnen Fábera und Pavelka. In der Nacht bringen sie beide auf den Heuboden, zu guter Letzt versteckt sie auch noch Familie Starý auf Samrhels Hof. Fábera setzt sie dann zusammen mit Familie Hraš auf den Übersetzung: Maria Pobuda Seite 19 Transporter. Die Vorbereitungen dafür trifft Josef mithilfe eines festen Zeitplans, sie dürfen sich nicht einmal um eine Minute verspäten. So eine Verzögerung könnte für alle fatal sein. Der Förster aus Soumarák kennt ein paar Jungs im Grenzposten, und wenn der Transporter mit den Leuten genau zur rechten Zeit kommt, wird die Wache bei ihm im Forsthaus gerade Tee mit Rum trinken. Er wird sie aufhalten. Bei diesem frostigen Hundewetter werden die Männer vom Korps der Nationalen Sicherheit keine Lust haben, nach draussen zu gehen. Jetzt schreitet Josef über den Hügel auf Zabrd zu. Sie haben Orte vereinbart, wo sie sich gegenseitig Nachrichten hinterlassen. Ab und zu taucht Fábera auf, um noch die Details zu besprechen. Am 7. Dezember werden sie in Eile sein. Josef schreibt. Übersetzung: Maria Pobuda Seite 20
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