DIE ZEIT

1 . O K TO B E R 2 0 1 5
D I E Z E I T No 4 0
NEU IN
GRAFIK 39
DEUTSCHLAND
HIER AUSREISSEN!
Wie ich Deutscher wurde
Mirwais Popal war zwölf Jahre alt, als er 1987 seine Heimat Afghanistan verließ. Seine Flucht war dramatisch
und voller Hindernisse, aber auch danach musste er noch allerlei Hürden überwinden, bis er endlich eingebürgert
wurde. Die Geschichte einer Reise, die nach fast 20 Jahren zu einem deutschen Pass führte
Kabul, 1987
328
No
a
Indien
Mudschahedin kämpfen gegen die sowjeti­
sche Besatzungsmacht in Afghanistan:
»Einmal die Woche gab es eine Beerdigung
in der Nachbarschaft.« Mirwais ist erst zwölf.
Dennoch machen sich seine Eltern Sorgen,
dass er zur Armee muss. Sie beschließen:
Er soll raus aus Afghanistan.
Was die Eltern als Ferienreise
ange­kündigt haben, entpuppt sich als
Flucht: Mirwais soll von Delhi aus
weiter nach Deutschland zur älteren
Schwester: Ihr Verlobter studiert in
Hamburg. Ein Schleuser wird engagiert.
Die Themen der
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327
Fahrradfahren
326
Kühe und Klima
325
Reisepässe
Mumbai
Weitere Grafiken
im Internet:
Wenige Tage Aufenthalt. Eines Abends soll es dann losgehen:
Flug nach Delhi. Also wieder zurück? »Ich wusste nicht, was
das sollte. Aber ich habe nicht gefragt. Man ist den Schleppern
vollkommen ausgeliefert, muss alle Rechte abgeben.« Doch
Delhi ist nicht Endstation: Nach einer Zwischenlandung dort
geht es mit einer falschen Bordkarte nach Frankfurt.
www.zeit.de/grafik
Thiruvananthapuram
Der Schleuser schickt Mirwais mit
einer Gruppe von Flüchtlingen hierhin.
»Ich fand es spannend, ich habe da auch
das erste Mal das Meer gesehen.«
Flug
Delhi
Die Polizei nimmt
die Gruppe fest
Mirwais lernt einen neuen
Schleuser kennen, der ihn nach
Deutschland schicken und erst
dann bezahlt werden will.
Frankfurt a. M.
(1988)
Dort direkt zum
Bundesgrenzschutz.
Gefängnis
für zwei Monate. »Wir kamen in
kleine Zellen für vier, fünf Mann.«
Busfahrt
Ein Anwalt holt sie
aus dem Gefängnis
Agra
Arrest
Nur kurzer Aufenthalt.
in einem Hotel. Der Schleuser besticht die
Polizisten, die sie bewachen. Sie können fliehen.
Amt
Hamburg
Mit der Bahn geht’s
zur Schwester.
Mirwais bekommt eine vorüber­
gehende Aufenthalts­erlaubnis,
gültig für sechs Monate – die
Folgepapiere manchmal auch
nur für drei Monate. »Ich musste
da immer schon nachts um
3 Uhr hin und mich in die
Schlange stellen, damit ich auch
bis 14 Uhr sicher drankam.«
Kleine Jobs
Widerspruch durch Anwalt
Nur zu festgelegten, in einem Dokument beschriebenen
Zeiten darf Mirwais arbeiten. »Einige Arbeitgeber haben
mich gefragt, ob ich nicht mehr arbeiten wolle, aber ich
konnte nicht, ich durfte ja nicht.«
Erfolgreich!
Ausländerbehörde meldet sich (1990)
»Ich bekam ein Schreiben: ›Sie sind illegal über
Frankfurt eingereist, ohne gültige Dokumente.
Das ist eine Straftat.‹« Er soll innerhalb von vier
Wochen das Land verlassen. »Ich war total
schockiert, hatte eine Riesenangst.«
Mirwais darf in der ganzen Zeit
nicht aus Hamburg raus: »Ich war
eine Person ohne Recht«
Alle drei bis sechs Monate muss er
zum Amt: »Ich hatte jedes Mal
wieder diese Angst: Was ist, wenn
die das nicht verlängern?«
Schule
»Weil ich nicht so gut Deutsch konnte,
haben mich viele Lehrer für dumm erklärt.
Sie haben dann gesagt: ›Du schaffst das
nicht, mach lieber eine Lehre!‹« Abitur 1997.
Beginn des Studiums (1999)
Sozialökonomie an der Universität
Hamburg: »Weil ich Hamburg nicht
verlassen durfte.«
»Die Mitarbeiter im Amt haben
einem immer zu verstehen gegeben:
›Du bist hier nicht willkommen‹«
Befristete
Aufenthaltserlaubnis (ca. 2000)
Reise nach Berlin (1999)
zur afghanischen Botschaft, um den afghanischen
Pass zu holen. »Bis dahin war ich staatenlos.«
Zwölf Jahre lang. Mit dem afghanischen Pass kann
er eine befristete Aufenthaltserlaubnis beantragen.
wird gewährt: Jetzt darf er reisen, ­
endlich raus aus Hamburg!
Erste Reise
mit einem Freund,
in die Dominikanische
Republik.
Unbefristete
Aufenthaltserlaubnis (ca. 2000)
ist Voraussetzung für die Einbürgerung. ­
Noch fühlt er sich »nicht in Sicherheit. Die
Erlaubnis kann jederzeit widerrufen werden.«
Deutsche
Staatsbürgerschaft
(2005)
Antrag auf Einbürgerung
»Ich habe dann ganz schnell, nachdem ich
es formal konnte, die deutsche Staatsbürger­
schaft beantragt. Das war eine völlig andere
Prozedur als vorher. Die Beamten waren ­
total nett.«
»Ich war so erleichtert, als
ich endlich den Pass in den
Händen hielt. Das war ein
tolles Gefühl. Ich wollte ihn
immer haben, von Anfang
an, und es war eine sehr ­
lange Reise bis dahin.«
DIE VITA
Zwei Stunden
hatte Mirwais
Popal im Ge­
spräch mit der
ZEIT ­erzählt, wie
er Deutscher ­
wurde. Das
reichte nicht:
Immer wieder
mussten wir ihn
anschließend
nach Details
fragen, die der ­
Illustrator Uli
Knörzer brauchte,
um das Leben des
Mannes nachzu­
zeichnen. Ein Satz
von Mirwais
Popal hat sich
uns eingeprägt:
»Ich wollte unbe­
dingt den Titel
›Deutscher
Staatsbürger‹
bekommen, erst
dann ist man
richtig ange­
kommen.« Heute
ist er 40, doch
noch immer lässt
ihn das Thema
nicht los: Er
macht Islamfortbildungen für
Polizisten und
engagiert sich in
Projekten mit
Flüchtlingen.
Illustration:
Uli Knörzer
Infografik:
Jelka Lerche
»Wie man Deutscher wird«: Seite 40
Recherche/
Protokoll:
Nora Coenenberg,
Jan Schweitzer