Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Urs Kindhäuser Skript zur Vorlesung Strafrecht AT § 10: Kausalität Fall 1: B überfährt vorsätzlich das bereits von A angefahrene und lebensgefährlich verletzte Unfallopfer O. O stirbt sofort. § 212 (B) 1. Obj. DTb: (Tod eines Menschen verursachen)? I. Kausalbegriff Bei den Erfolgsdelikten ist die Kausalität das Bindeglied zwischen dem tatbestandsmäßigen Erfolg und der Handlung. Die Kausalität ist daher ein Merkmal des objektiven Deliktstatbestands. II. Kausalitätstheorien 1. Äquivalenztheorie (Bedingungstheorie): Ursache ist jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt (d.h. als bestimmtes räumlich-zeitliches Ereignis) entfiele (sog. condicio-sinequa-non-Formel; nach v. Buri, Über Causalität und deren Verantwortung, 1873; vgl. auch RGSt l, 373; BGHSt 1, 332 ff.; 7, 112 [114]; Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992; Schlüchter JuS 1976, 312; Welzel § 9 II). Im obigen Beispiel: Denkt man sich das Überfahren durch B hinweg, wäre O sicher später, aber nicht zu diesem Zeitpunkt gestorben. Ohne das Überfahren durch A hätte O überhaupt nicht auf der Straße gelegen, wäre also ebenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht an diesem Ort zu Tode gekommen. Daher sind beide Personen für den konkreten Tötungserfolg ursächlich gewesen. Beim Unterlassungsdelikt fehlt eine aktive Herbeiführung des Taterfolgs, die hinweggedacht werden könnte; das Unrecht liegt ja gerade in einem Nichtstun. Daher wird hier (umgekehrt) die Kausalität unter der Frage geprüft, ob die gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. Alle Bedingungen sind gleichwertig (äquivalent). Die Kausalität bezieht sich allein auf den konkreten Erfolg. Soweit die Handlung ursächlich für den Erfolg ist, wird die Kausalität durch das mitwirkende Verhalten Dritter oder des Opfers selbst nicht unterbrochen (kein kausales Regressverbot; vgl. BGH MDR 1994, 82; OLG Stuttgart NStZ 1997, 190; Roxin Tröndle-FS 177). Daher kann etwa A im obigen Fall nicht einwenden, dass letztlich B den konkreten Todeserfolg bewirkt habe. Problem: Wie weiß man, ob der Erfolg bei Weg- (oder Hinzu-)denken entfiele? Daher: 2. Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung: Eine Handlung ist für einen bestimmten Erfolg ursächlich, wenn dieser mit ihr (natur-)gesetzlich verbunden ist (h.L., vgl. nur Jescheck/Weigend § 28 II 4; Roxin AT I § 11/14; SK-Rudolphi Vor § 1 Rn. 41 f.; Schulz Lackner-FS 39). 1 Kritik: Im psychischen und sozialen Bereich stehen kaum allgemeine deterministische Gesetze zur Verfügung. • Aufgrund der Lebenserfahrung und des einschlägigen (anerkannten) Fachwissens ist nach einer Begründung zu suchen, welche die Anwendbarkeit der condicio-sine-qua-non-Formel nachprüfbar und in einer vernünftige Zweifel ausschließenden Weise bestätigen: • Der Anwendbarkeit der Formel dürfen keine sie falsifizierenden Gründe entgegenstehen. Modifizierte Formel: Ein Verhalten ist die Ursache eines Erfolgs, wenn es nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Eintritt dieses Erfolgs in seiner konkreten Gestalt nach Maßgabe der anerkannten Kausalgesetze entfiele. Literaturhinweise: Zu Kausalitätsproblemen bei der Produkthaftung vgl. BGHSt 37, 106 (Lederspray); BGHSt 41, 206 (Holzschutzmittel); Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung in der „Risikogesellschaft“, 1993, 114 ff. und passim; Puppe JZ 1994, 1147 ff. 3. Adäquanztheorie: Eine Handlung ist nur dann als Ursache eines Erfolgs anzusehen, wenn sie allgemein und erfahrungsgemäß dazu geeignet ist, den Erfolg herbeizuführen (Zivilrecht). Beachte: Anders als im Zivilrecht spielt die Adäquanztheorie im Strafrecht (fast) keine Rolle, da der Adäquanzgedanke im Rahmen der objektiven Zurechnung berücksichtigt wird; ihre Erörterung im Gutachten ist daher nicht erforderlich. Weiter Fall 1: 1. Obj. DTb: verursachen + 2. Subj. DTb: Vorsatz (§ 15) + 3. Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe: nicht ersichtlich Ergebnis: strafbar nach § 212 *** III. Kausalitätsprobleme 1. Hypothetischer Kausalverlauf Fall 2: A pflegt nachts die Reifen parkender Autos zu zerstören, weil er dabei ein eigenartiges Lustgefühl empfindet. Eines Nachts zersticht er die Reifen an einem Pkw, in dem eine revolutionäre Gruppe bereits eine Bombe versteckt hatte. 3 Minuten später fliegt der Pkw in die Luft. Für die Kausalität reicht es aus, wenn der Erfolgseintritt (und sei es auch nur geringfügig) beschleunigt wird (vgl. BGHSt 2, 20; 13, 13; BGH NStZ 1981, 218 mit Anm. Wolfslast; BGH StV 1986, 59; Kühl § 4/11 ff.). 2. Atypischer Kausalverlauf Fall 3: A schießt mit Tötungsvorsatz auf B. Durch den Schuss wird B aber nur leicht am Arm verletzt. Auf der Fahrt zum Arzt wird B in einen Verkehrsunfall verwickelt; ein anderer Pkw hatte ihm die Vorfahrt genommen. B verstirbt noch an der Unfallstelle an den Unfallverletzungen. Für die festzustellende Kausalität ist es ohne Belang, ob der tatsächliche Kausalverlauf von dem (subjektiv oder nach der Alltagserfahrung) erwarteten Kausalverlauf abweicht. Das „Herausfiltern“ atypischer Kausalverläufe ist vielmehr eine Aufgabe der objektiven Zurechnung (dazu § 11). 2 3. Abgebrochener und überholender Kausalverlauf Fall 4: A hat erfahren, dass seine Braut B ihn mit C betrügt. Aus Enttäuschung hierüber bringt er der B ein langsam, aber mit Sicherheit zum Tode führendes Gift bei, das keine Spuren hinterlassen soll. Ehe die Giftwirkung einsetzt, erscheint C und erschießt die B, weil auch er sich von ihr hintergangen fühlt. • Ein Verhalten ist dann nicht als ursächlich für einen Erfolg anzusehen, wenn es von einem anderen Geschehensverlauf dergestalt überholt wird, dass es für die Erklärung des Erfolgseintritts keinerlei Bedeutung mehr hat (vgl. BGH NStZ 1989, 431). • Überholend ist der Kausalverlauf, der an die Stelle des abgebrochenen tritt. • Beachte: Aus der Perspektive des C handelt es sich bei der Giftbeibringung um einen hypothetischen Kausalverlauf (oben 1), der ihn nicht entlastet. Jeder abgebrochene Kausalverlauf stellt also auch eine hypothetische Ersatzursache dar. 4. Kumulative Kausalität Fall 5: A will ihren Ehemann E vergiften, weil sie Beziehungen zu einem neuen Freund F aufgenommen hat. Sie versetzt deshalb den Likör ihres Mannes mit einer Dosis E 605, die jedoch für sich allein nicht ausreicht, einen Menschen zu töten. In Unkenntnis dieser Initiative schüttet auch F dieselbe Menge E 605 in die Likörflasche. Nunmehr reicht die Dosis aus, E stirbt. • Kausalität ist gegeben, wenn unter den gegebenen Umständen (wenigstens) zwei Verhaltensweisen notwendig sind, damit ein Erfolgseintritt hinreichend erklärt werden kann. 5. Alternative Kausalität Fall 6: Die Vettern A und B haben jeweils für sich beschlossen, ihren gemeinsamen Erbonkel E umzubringen. Jeder gießt ohne Kenntnis vom Vorhaben des anderen eine Portion Gift in den Frühstückskaffee des Onkels. Der Onkel fällt tot nieder, kaum dass er die Tasse abgesetzt hat. Jede einzelne Giftmenge war stark genug, um mehrere Menschen auf der Stelle zu töten. • Mehrere Bedingungen sind jeweils für sich als Ursache eines Erfolgs anzusehen, wenn sie zwar alternativ, aber nicht kumulativ hinweggedacht werden können, ohne dass der Eintritt dieses Erfolgs unter den gegebenen Umständen nicht mehr hinreichend erklärt werden kann (vgl. BGHSt 39, 195; Kühl § 4/20a; vgl. auch NK-Puppe Vor § 13 Rn. 92 ff; nach Toepel JuS 1994, 1009 ist in beiden Fällen nur Versuch gegeben).. • Sonderfall: Gremienentscheidungen (Kindhäuser AT § 10/39 ff. m.w.N.) Aber: Im Gebirge schießen die Wilderer A und B nahezu gleichzeitig, aber ohne voneinander zu wissen, auf den Förster F. Der eine Schuss trifft F in den Kopf, der andere in das Herz. Jeder Schuss wäre sofort tödlich gewesen; es ist aber nicht zu klären, wer welchen Schuss abgegeben und wer als erster geschossen hat. Diese Konstellation ist kein Fall alternativer Kausalität, da nur eine der beiden Kugeln den Tod verursacht hat; der jeweils andere Kausalverlauf ist abgebrochen. Wenn sich nicht mehr feststellen lässt, wer den tödlichen Schuss abgegeben hat, gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“: Beide Täter werden dann nur wegen Versuchs bestraft (vgl. Kaufmann Schmidt, Eb.-FS 211). 6. Abbruch eines rettenden Kausalverlauf Fall 7: Nichtschwimmer N ist ins Wasser gefallen und droht zu ertrinken. Helfer H ist dabei, seine Kleider auszuziehen, um ins Wasser zu springen und N zu retten. A, der N schon lange eins auswischen will, sieht dies. Mit einem kräftigen Fausthieb schlägt er H zu Boden. N ertrinkt. • Die Ursächlichkeit des Abbruchs eines (aller Wahrscheinlichkeit nach) rettenden Kausalverlaufs für den Erfolg ist zu bejahen: Der Eintritt des Todes durch Ertrinken kann nicht hinreichend erklärt werden, wenn man den die Rettung hindernden Eingriff hinwegdenkt. 3
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