Die Flüchtlingskrise – eine realpolitische Herausforderung Europas

Am 2. Januar 2016 als Meinungsbeitrag in der Zeitung De Tijd auf Niederländisch veröffentlicht:
Die Flüchtlingskrise – eine realpolitische Herausforderung Europas
von Rüdiger Lüdeking, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Königreich Belgien
Die Flüchtlingskrise ist eine historische Bewährungsprobe. Wir müssen uns ihr stellen und
können uns nicht wegducken. Auch lässt sie sich nicht mit einfachen populistischen
Maßnahmen bewältigen. Eine Politik, die auf die Abschottung Europas setzt, ist weder
realistisch noch liegt sie im wohlverstandenen Interesse Europas.
Die Sorgen der Menschen angesichts einer Gefahr der Überforderung und der Erschöpfung
vorhandener Aufnahmekapazitäten sind ernst zu nehmen. Es gibt jedoch keinen Grund zu
Furcht oder Verzagtheit. Vielmehr haben wir allen Anlass, zuversichtlich zu sein - gerade auch
zuversichtlich nach dem, was wir nach dem Ende des zweiten Weltkriegs in Europa erreicht
haben: Wir haben den Wiederaufbau geschafft, wir haben eine erfolgreiche Europäische Union
aufgebaut und wir haben die Teilung Europas überwunden. Dies sollte uns Vertrauen in die
eigene Kraft geben. Wir werden auch die Flüchtlingskrise meistern.
Wir schaffen das aber nur, wenn wir uns auf unsere Verantwortung und unsere Stärken
besinnen. Wir brauchen eine enge europäische Zusammenarbeit auf der Grundlage einer
nüchternen Analyse der Handlungsmöglichkeiten und eines daraus abgeleiteten gemeinsamen
realpolitischen Politikansatzes.
Im Zentrum dieses Politikansatzes müssen zwei Kernziele stehen:
Zum einen muss Europa seinen Werten entsprechend politisch Verfolgten und um ihr Leben
fürchtenden Menschen Schutz gewähren. Gerade in der aktuell schwierigen Weltlage, in der
zentrale Menschenrechte in Frage gestellt werden, kann es nicht im europäischen Interesse
sein, Asylberechtigte einfach abzuweisen. Die EU ist vielmehr gut beraten, für die Herrschaft
des Rechtes und die unbedingte Achtung der Menschenrechte einzutreten und dies durch
eigenes Verhalten vorzuleben.
Zum zweiten muss es darum gehen, eine nachhaltige Lösung der Flüchtlingskrise zu erreichen.
Angesichts zunehmend erschöpfter Aufnahmekapazitäten steht dabei aktuell die spürbare
Reduzierung des Zustroms von Flüchtlingen im Vordergrund.
Es ist jetzt entschlossenes und mutiges Handeln auf mehreren Ebenen gefordert:
Auf nationaler Ebene müssen die Verfahren und Bestimmungen zur kontrollierten Aufnahme
von Flüchtlingen angepasst werden, um der Herausforderung gerecht werden zu können.
Hierzu zählen neben kurzfristigen Maßnahmen wie die Beseitigung von Fehlanreizen auch
Maßnahmen zur schnellstmöglichen Rückführung abgelehnter Asylbewerber. Längerfristig geht
es vor allem darum, für eine wirksame Integration derjenigen Sorge zu tragen, die als
Schutzsuchende aufgenommen werden müssen. Diese Menschen müssen sich unzweideutig zu
den zentralen Werten unserer Gemeinwesen wie Freiheit, Rechtstaatlichkeit und Toleranz
bekennen. Es gibt keinen Platz für religiöse Fanatiker und Gewalttäter. Eben so wenig können
wir Parallelgesellschaften dulden. Deutschland hat bereits in den letzten Monaten durch eine
Reform seiner Asylgesetzgebung notwendige Weichenstellungen getroffen.
Entschlossenes Handeln ist auch auf europäischer und internationaler Ebene unverzichtbar.
Die Flüchtlingskrise ist ein globales Problem, das sich nicht allein auf nationaler Ebene meistern
lässt. Diese Aussage scheint banal, wird jedoch in der Praxis augenscheinlich vielfach ignoriert.
Vor allem Europa ist zu gemeinsamem und solidarischem Handeln gefordert. Dabei geht es
darum, den strikten Schutz der Außengrenzen Europas wiederherzustellen und eine
gemeinsame Asylpolitik zu schaffen, die auch das Erfordernis einer fairen Lastenteilung bei der
Bewältigung des Flüchtlingsproblems umfasst. Der Europäische Rat hat sich in der letzten
Woche kritisch mit der bisherigen Bilanz der EU in der Flüchtlingsfrage auseinandergesetzt und
den dringenden Handlungsbedarf zu einer großen Zahl von Fragen unterstrichen.
Schließlich geht es um die Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunfts- und
Transitländern. Dies ist die vermutlich schwierigste Aufgabe, die wiederum nur auf der
Grundlage europäischer Solidarität und enger Kooperation mit den betroffenen Ländern
bewältigt werden kann. Wir müssen uns gemeinsam für Frieden und Stabilität in Syrien, Irak,
Afghanistan und in afrikanischen Staaten einsetzen. Auch müssen wir nachdrücklich diejenigen
Staaten unterstützen, die bereits große Zahlen von Flüchtlingen aufgenommen haben. Daher
kommt gerade der Zusammenarbeit mit der Türkei, aber auch mit Jordanien und Libanon, eine
so zentrale Bedeutung bei.
Deutschland stellt sich seiner Verantwortung und lässt sich von einem realpolitischen Ansatz
leiten, der alle genannten Handlungsebenen einbezieht. Deutschland setzt sich für ein aktives
und entschlossenes Handeln der Europäischen Union ein. Europa muss sich auf seine
gemeinsamen Interessen besinnen, sich den Realitäten stellen und gemeinsam handeln. Wer
sich aus der europäischen Solidarität verabschiedet, handelt kurzsichtig: Das
Flüchtlingsproblem kann weder ignoriert werden noch durch Errichtung von Zäunen und
Mauern gelöst werden. Ein Scheitern in der Flüchtlingsfrage birgt die Gefahr weitreichender
Konsequenzen für Europa als Ganzes. Es steht sehr viel mehr als nur die Integrität des
Schengen-Systems auf dem Spiel.