533 FMH Editorial Eine zeitgemässe Fortpflanzungsmedizin für betroffene Paare Jürg Schlup Dr. med., Präsident der FMH Im letzten Jahr stimmte eine grosse Mehrheit der Denn nur Paare, die auf natürlichem Wege keine Kin- Stimmbürgerinnen und -bürger der Änderung des der bekommen können oder die Träger schwerer Erb- Artikels 119 der Bundesverfassung zu und votierte krankheiten sind, dürften die PID einsetzen und dies damit für eine moderne Fortpflanzungsmedizin. Wo bei den Kinderwunschbehandlungen auch nur, um zuvor nur «so viele menschliche Eizellen ausserhalb Chromosomenstörungen erkennen zu können. Vor des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt wer- diesem Hintergrund erscheint es unangemessen, dass den» durften, «als ihr sofort eingepflanzt werden kön- das Referendumskomitee eine «eklatante Ausweitung nen», wurden neu so viele Embryonen erlaubt, «als für der flächendeckenden Suche nach Chromosomenstö- die medizinisch unterstützte Fortpflanzung notwen- rungen» prophezeit und von einer «Auswahl der soge- dig sind». Weil damit die zuvor gültige Obergrenze von nannt besten Embryonen im Labor» spricht. drei Embryonen auf zwölf angehoben werden konnte, Falsch ist es, wenn die Gesetzesgegner «Chromoso- könnten ungewollt kinderlose und durch schwere Erb- men-Checks» als «Lebendversuche» und als nutzlos zu krankheiten vorbelastete Paare in der Schweiz heute brandmarken versuchen. Darüber hinaus ist es auch widersprüchlich, wenn die Gegner gleichzeitig solche Ungewollt kinderlose Paare könnten von einer Fortpflanzungsmedizin profitieren, die bislang nur ausserhalb der Schweiz – in fast allen europäischen Ländern – verfügbar ist. Chromosomenuntersuchungen als Ursache zukünftig zunehmender Diskriminierungen behinderter Menschen und künftiger Leistungsverweigerungen der Sozialversicherungen darstellen. Dabei ignorieren sie schlicht, dass mit dem neuen Gesetz und der PID die deutlich verbesserte Chancen haben, eine weniger bereits heute bestehenden und allgemein zugängli- belastende, aber wirksamere Behandlung zu erhalten. chen «Selektionsmöglichkeiten» Pränataldiagnostik Sie könnten von der Präimplantationsdiagnostik (PID) und Schwangerschaftsabbruch in keiner Weise erwei- und einer Fortpflanzungsmedizin profitieren, die bis- tert werden. Eine Zustimmung zum Gesetz kann Fehl- lang nur ausserhalb der Schweiz – aber dort in fast geburten und Abtreibungen vermeiden helfen. allen europäischen Ländern – verfügbar ist. Das revidierte Gesetz lässt das Einfrieren von Embryo- Damit diese Verbesserungen bei den betroffenen Paa- nen zu − eine europaweit seit Jahrzehnten praktizierte ren ankommen, braucht es aber neben der erfolgten Methode. Damit können wiederholte, für betroffene Verfassungsänderung auch das vom Parlament revi- Paare belastende Hormonbehandlungen und Eizell dierte Fortpflanzungsmedizingesetz. Weil gegen letzteres im Dezember 2015 das Referendum eingereicht wurde, stimmen wir in diesem Juni erneut Eine Präimplantationsdiagnostik kann Fehl geburten und Abtreibungen vermeiden helfen. an der Urne über die für ungewollt kinderlose Patientinnen und Patienten wichtige Fortpflanzungs- entnahmen vermieden und das Risiko von Mehrlings- medizin ab. Das Referendumskomitee argumentiert, schwangerschaften reduziert werden. Die Änderung man müsse ein Signal gegen eine «schrankenlose Fort- von Artikel 119 der Bundesverfassung war, wie wir pflanzungsmedizin» setzen. Das Gegenteil ist der Fall: heute sehen, nur ein erster Schritt auf dem Weg zu Es wird über ein Gesetz abgestimmt, das eben Schran- einer Fortpflanzungsmedizin auf europäischem Ni ken setzt. Von den Gegnern ins Feld geführte Szenarien veau. Soll diese bei betroffenen Paaren in der Schweiz wie Designerbaby, Embryonenspende oder Leihmutter- möglich werden, braucht es Ihre Zustimmung zu schaft stehen nicht zur Debatte – sie sind und bleiben einem zeitgemässen Fortpflanzungsmedizingesetz. klar verboten. Es geht um eine gute Regelung fortpflanzungsmedizinischer Hilfestellungen, einschliesslich der PID, für eine kleine und klar definierte Gruppe. SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2016;97(15):533
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