„Psst!“ war gestern. Bibliotheken heute

© StadtLandKind. · 01.12.2015
Die Zukunft des Lesens
„Psst!“ war gestern. Bibliotheken heute
Stadtbüchereien haben sich verwandelt. Aus den spaßfreien
Ausleihstätten sind Wohlfühlorte für alle geworden, an denen man lesen,
lernen, diskutieren, spielen oder einfach nur da sein kann – ganz
ohne Rechtfertigungszwang.
„Geschafft! Der Drache hat mich nicht gefressen.“ Stapelweise habe ich als Kind Bücher aus
der Bibliothek unserer Kleinstadt getragen – und war jedes Mal sehr erleichtert, wenn ich
wieder draußen war. Denn vor den Lesespaß hatte die Stadtverwaltung die Bibliothekarin
gesetzt. Ein fleischgewordenes Pssst! mit brauner Strickjacke, Dutt und Augenbrauen, die
missbilligend in die Höhe schnellten bei jedem Buch, das sie mit Rückgabestempel versah.
Kein Zweifel: Tina und Tini, George und Timmy, Tarzan, Karl und Klößchen – das waren
vielleicht meine Helden, aber ganz bestimmt nicht ihre.
30 Jahre ist das her und gefühlt Welten entfernt von diesem Mittwochvormittag im Herbst
2015. Die zweite Etage im Stadthaus in N1, Hauptstelle der Stadtbibliothek Mannheim, ist
erfüllt von friedlichem Stimmengemurmel. Freundlich erklärt eine Mitarbeiterin einer älteren
Dame die Suchfunktion am PC. Weiter hinter, in einem etwas abgetrennten Bereich,
bekommt eine Schülergruppe eine Einführung. Thema: Wie funktioniert Bücherei? Die
Jugendlichen sind aufmerksam bei der Sache. Vielen hört man an, dass Deutsch nicht ihre
Muttersprache ist. Ein bisschen linkisch streifen die Jungs wenig später durch die
Regalreihen, witzeln, rempeln sich an in der offenbar ungewohnten Umgebung. Ob sie
wiederkommen? Bernd Schmid-Ruhe hofft es. Der Leiter der Mannheimer Stadtbibliothek will
mit dem Angebot seines Hauses ein möglichst breites Publikum ansprechen. Vor-Ort-Arbeit
sowie eine gute Vernetzung mit anderen Organisationen und auch mit Schulen werden dafür
immer wichtiger, sagt er. „Die Stadtbibliotheken treten heute als Bildungseinrichtungen auf
und leisten zunehmend pädagogische Arbeit“, beschreibt er das neue Selbstverständnis
seiner Zunft.
Auf die rasanten Veränderungen in der Medienwelt reagieren die Bibliotheken nicht nur mit
der Erweiterung ihres Angebots um E-Books und Internet-Arbeitsplätze, sondern auch mit
vielfältigen Informations- und Fortbildungsveranstaltungen. Vom Medienelternabend über
Gaming-Tage, Film- und Fotoworkshops sowie Referate-Coaching bis hin zur 3D-DruckSprechstunde reichen die Aktivitäten, mit denen die Büchereien die Medienkompetenz ihrer
Besucher schulen, um sie fit zu machen für eine zunehmend digitalisierte Umgebung. Denn
Lesenkönnen alleine reicht nicht mehr. „Mediennutzer müssen heute viel mehr Fähigkeiten
mitbringen als früher. Wer nicht weiß, wie man einen E-Book-Reader bedient, kann auch
nicht damit lesen“, so Bernd Schmid-Ruhe.
Doch nicht nur die Medienwelt selbst ist im Wandel. Auch die Art und Weise, wie die
Besucherinnen und Besucher die städtischen Bibliotheken nutzen, hat sich verändert. Rein –
Buch ausleihen – raus und dabei bloß keinen Mucks machen? Das war einmal, damals in
der Bibliothek 1.0. Die Bibliothek 2.0 ist anders – ein Ort zum Sein, zum Wohlfühlen, zum
Austausch. So sieht das auch Victor. Entspannt fläzt der 15-Jährige auf einem Sitzsack in
der Jugendecke in der Stadtbücherei Heidelberg und blättert in einem Comicroman. Heute
ist er alleine da. Manchmal kommt er zusammen mit seinen Geschwistern, um Bücher und
Spiele auszuleihen. Manchmal trifft er sich hier mit Klassenkameraden zum gemeinsamen
Lernen oder für Projektarbeiten.
„Die Funktion als Ort der Kommunikation und der kulturellen Aktivität hat wahnsinnig
zugenommen“, sagt Christine Sass, Leiterin der Heidelberger Stadtbücherei. „Es gibt immer
weniger Plätze, an denen man sein kann, ohne sich zu rechtfertigen und ohne konsumieren
zu müssen. Die Bibliotheken sind so ein Platz und das wird unheimlich geschätzt.“ Third
Space (dritter Raum) lautet der Fachbegriff für solche Orte an der Grenze zwischen
Öffentlichkeit und Privatheit. In den vergangenen Jahren sind sie immer seltener geworden.
Mehr und mehr übernehmen die Büchereien ihre Funktion.
„In einer Zeit, in der vermeintlich alle Informationen überall abrufbar sind, könnte
man denken, der Ort wird unwichtig. Aber das Gegenteil ist der Fall“, hat Bernd SchmidRuhe beobachtet. „Anker-Orte sind ganz wichtig.“ Die Digitalisierung der Welt, so seine
Vermutung, verstärke das Bedürfnis nach Geborgenheit und die Sehnsucht nach realen
Orten, an denen man mit echten Menschen kommunizieren kann. Dabei komme es weniger
auf Ästhetik an als auf Behaglichkeit und Bequemlichkeit. Wichtiger Faktor: Bei
Familienbesuchen in der Bücherei sollten alle auf ihre Kosten kommen. Die
Voraussetzungen dafür könnten in Mannheim besser sein. Die Tatsache, dass die Kinderund Jugendbibliothek ebenso wie die Musikbibliothek nicht in N1 sondern im benachbarten
Dalberghaus untergebracht sind, beschäftigen den Bibliotheksleiter und sein Team sehr.
„Unser Wunsch wäre eine Vereinigung unter einem Dach“, so Bernd-Schmid-Ruhe.
Dass in den Büchereien neuen Zuschnitts kein silencium wie in einer Klosterbibliothek
herrscht, liegt in der Natur der Sache. Zu Konflikten kommt es laut Bernd Schmid-Ruhe und
seiner Kollegin Christine Sass trotzdem nur selten. „Sicher ist es lebhafter geworden. Aber
wir achten auf einen Interessensausgleich und versuchen zum Beispiel verschiedene Zonen
einzuteilen“, sagt Sass. Und so stört es auch niemanden, wenn in der Heidelberger Bücherei
der kleine Moritz sein Stimmchen erhebt, um seine Mama wortreich zum Puzzeln
aufzufordern. In der Kinderabteilung mit ihrem langgestreckten grünen Sofa und den
Kuschelecken fühlen sich der Zweieinhalbjährige und sein jüngerer Bruder Theo sichtlich
wohl. Ihre Mutter Ann-Kathrin Günter weiß es zu schätzen: „Wo findet man in der Stadt sonst
einen Ort, an dem man mit kleinen Kindern mal kurz runterkommen und auftanken kann?“
npo
Prototyp der Bibliothek 2.0 in Stuttgart
Dass etwas in Bewegung geraten ist in der Bibliotheken-Landschaft, sieht man in manchen
Fällen schon von außen. Zum Beispiel in Stuttgart. 2011 hat sich die badenwürttembergische Landeshauptstadt eine neue Zentralbibliothek gegönnt: 40 Meter hoch
ragt der markante Neubau in unmittelbarer Nähe zum umstrittenen Stuttgart21-Areal in die
Höhe. Nachts leuchten alle Fenster des weißen Kubus blau. Das außergewöhnliche
architektonische Konzept setzt sich in dem fantastisch-futuristisch anmutenden Inneren des
Gebäudes fort – und findet sein Pendant in einem zukunftsträchtigen bibliothekarischen
Ansatz, für den die Einrichtung 2013 den Titel „Bibliothek des Jahres“ erhielt. Immer wieder
stehen in den Regalen zwischen den Büchern auch Notebooks. Mit ihnen oder mit eigenen
Geräten können die Besucher auch den digitalen Bestand nutzen. Eine Besonderheit des
Hauses ist die Graphothek im 8. Stock: Über 2500 Originalgrafiken stehen hier für
Kunstliebhaber zum Ausleihen bereit. Ein anderes Schmankerl: die Bibliothek für Schlaflose
– ein „intelligenter“ Medienschrank, der rund um die Uhr mit einem wechselnden
Medienangebot aufwartet.
npo // Foto: Stadtbibliothek Stuttgart