1. Mose 12,1-9

ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH
Aufbruch ins Ungewisse – Abraham zieht aus
Predigt von Pfarrer Ralph Müller
gehalten am 16. August 2015
Schriftlesung und Predigttext: 1. Mose 12,1-9
„Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Land und aus deiner
Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich
dir zeigen werde. Ich will dich zu einem grossen Volk machen und will
dich segnen und deinen Namen gross machen, und du wirst ein Segen
sein. Segnen will ich, die dich segnen, wer dich aber schmäht, den will
ich verfluchen, und Segen sollen durch dich erlangen alle Sippen der
Erde. Da ging Abram, wie der Herr es ihm gesagt hatte, und Lot ging
mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er von Charan
auszog. Und Abram nahm Sarai, seine Frau, und Lot, den Sohn seines
Bruders, und all ihre Habe, die sie besassen, und die Leute, die sie in
Charan erworben hatten, und sie zogen aus, um ins Land Kanaan zu
gelangen, und sie kamen ins Land Kanaan. Und Abram zog durch das
Land bis zur Stätte von Schechem, bis zur Orakel-Terebinthe. Damals
waren die Kanaaniter im Land. Da erschien der Herr dem Abram und
sprach: Deinen Nachkommen will ich dieses Land geben. Und dort baute er dem Herrn, der ihm erschienen war, einen Altar. Von dort zog er
weiter ins Gebirge östlich von Bet-El und schlug sein Zelt auf, Bet-El im
Westen und Ai im Osten, und dort baute er dem Herrn einen Altar und
rief den Namen des Herrn an. Dann zog Abram weiter und weiter nach
dem Südland.“
Liebe Gemeinde
Abraham zog weiter ins Südland. Der ganze Bibelabschnitt beginnt mit
der Aufforderung: „Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft …“ Seine Reise führte durch verschiedene Gebiete und es gab
teilweise mit anderen Völkern, die schon in den Gebieten lebten, grosse
Auseinandersetzungen. Die Reise ging weiter bis ins Südland. Wenn ich
früher diese Worte hörte, hatte ich als Nord-Schweizer immer Sehnsucht
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nach dem Südland. Das Südland war für mich das Tessin. Ich träumte
davon, weil das Land so anders ist als unser Norden. Heute muss man es
sich leider vier Mal überlegen, ob man bei diesem Stau am Gotthard in
den Süden fahren will. Die Romantik des Südlands hat ein bisschen an
Zauber verloren! Umso schöner, dass wir es alle einmal erleben durften.
Hermann Hesse schrieb 1920 auf einer Reise ins Tessin: „Beim Übergang über die Alpen fand ich mich jedes Mal wie vom Anhauch des
wärmeren Klimas, den ersten Lauten der klangvolleren Sprache, den
ersten Rebenterrassen, so auch vom Anblick der zahlreichen schönen
Kirchen und Kapellen so zart und mahnend berührt. Es war wie von
Erinnerung an einen sanfteren, milden Mutter nahen Zustand des Lebens.“ Hermann Hesse ist ein blumiger, romantischer viel schreibender
Schriftsteller. Zu Abrahams Zeiten war von Hermann Hesse und von
seinen romantischen Gedanken, weit und breit nichts zu sehen. „Und
der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft …“ Das bedeutet den kompletten Abbruch von dem, was
einem damals Sicherheit gab. Wie wenn es heute heissen würde: „Geh,
du bekommst jetzt keine AHV, keine Pension und gar nichts mehr, lebe
nun einfach einmal so weiter …“ Es braucht sehr viel Mut, dass man
diese Sicherheit und Vertrautheit einfach aufgibt.
In diesem Jahr überlegte ich mir, wohin ich in die Ferien fahren sollte.
Dabei fiel mir ein Ferienprospekt eines Reiseunternehmers in die Hände.
Darauf stand: „Suchen Sie wieder einmal das Abenteuer? Wollen Sie
nicht endlich mal wieder alle Leitplanken des Lebens hinter sich lassen?
Wollen Sie wieder einmal den Duft der Freiheit riechen?“ Danach standen tolle Reisen nach Afrika, Safari, Bootstouren auf dem Amazonas
usw. Im Gegensatz zu Abraham sind wir absolute ‚pseudo‘ Abenteurer.
Jemand erzählte mir, dass emsige Bedienstete den Touristen am Abend
auf den Campingstühlen, mitten im Dschungel oder der Savanne, gekühlten Weisswein zu den Häppchen servierten. Verrückt, gar nicht
abenteuerlich! Somit können wir uns gar nicht vorstellen, wie es Abraham erging, als er wirklich alles hinter sich liess. Daher möchte ich die-
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sen Entscheid eines Menschen, seine Heimat hinter sich zu lassen, etwas
genauer anschauen.
Abraham steht an einer Wegkreuzung, bei der es in zwei Richtungen
gehen kann. Soll ich da bleiben oder soll ich wegziehen? Er hat die
Wahl etwas Neues zu beginnen und gleichzeitig kämpft er mit der
Furcht, alles zu verlieren. Kein Mensch verlässt gerne und leichtfertig all
das, was ihm lieb und vertraut ist. Daher kann man erahnen, welch ein
Kampf in ihm getobt hatte. Wir können diese Situation sehr unmittelbar
auch auf unser Leben übertragen. Kennen wir das nicht alle auch? Stehen wir nicht alle auch immer wieder vor schwierigen Entscheidungen,
bei denen wir nur eine Richtung wählen können? Kürzlich habe ich mit
drei Menschen über diese Situationen gesprochen. Sie standen alle an
einem Scheideweg. Ein ehemaliger Konfirmand wollte ins Ausland, um
an einer Universität zu studieren. Dazu musste er das Elternhaus, all
seine Freunde und sein Umfeld verlassen. Er hat lange mit sich gerungen.
Ich traf einen älteren Herrn, der nach fünfzig Jahren Autofahren seinen
Führerschein freiwillig abgab. Er erklärte mir, dass diese Zeit für ihn
nun abgelaufen sei. Er habe ausgerechnet, dass er mit seinen sechs Autos, die er in seinem ganzen Leben hatte, die Erde ungefähr zweiundzwanzig Mal umfahren habe! Deshalb sei die Entscheidung nun so
schwierig. Er gebe damit seine ganze Freiheit auf. Da er das Tramfahren
noch nie leiden mochte, wird das Abgeben des Autos umso schwieriger.
Ebenso traf ich jemanden, der nun ins Altersheim ziehen wird. Mit welchen Gedanken dieser Schritt verbunden ist, wurde mir erst wieder deutlich, als diese Person aufzuzählen begann, was sie mir bei meinem Besuch für den Bazar der Kirchgemeinde alles aus der ursprünglichen
Wohnung mitgeben wollte. Doch ich war nur mit dem Velo zu Besuch
und konnte deshalb nur mit zwei bescheidenen Taschen am Lenkrad in
die Kirchgemeinde fahren! Sie sehen, liebe Gemeinde, dass man immer
wieder eine Entscheidung treffen muss. Es ist etwas ganz Prägendes und
etwas, das wir eigentlich kennen.
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In Matthäus 3 nennt Jesus Abraham als Vater des Glaubens, da er Vertrauen hatte. Er wusste, dass er nicht alleine loszog. Abraham folgte
schlicht und einfach dem Ruf Gottes. Das bedeutet: Ich gehe von nun an
nicht allein. Gott und Jesus sind immer bei mir. Ich vertraue darauf, dass
ich keinen Schritt ohne sie tun muss. Sie merken schon, liebe Gemeinde,
wenn man das glauben und denken kann, dann sind 40‘000 Kilometer
eigentlich gar nicht so weit! Aber man geht anders los, wenn man die
Gewissheit hat, dass Gott und Jesus bei uns sind. Nun sind wir nicht alle
Abraham und hören Gott nicht so direkt. Aber Jesus ist für uns auch in
diesem Sinn gestorben. Durch seinen Tod spricht er uns zu, dass er wirklich immer bei uns ist. Dadurch wird er so mit dem Heiligen Geist verbunden, dass er immer mit uns sein wird.
Deshalb dürfen wir, die Abrahams-Kinder, immer mit dem genau gleichen Gefühl losziehen: Wenn ich mich entschieden habe, jetzt wirklich
loslasse und alles hinter mit lasse, bin ich nicht allein! Ich kann davon
ausgehen, dass mir der Segen Gottes zugesprochen und verheissen ist
und Jesus mir diesen jeden Tag mitgeben möchte. Wir brauchen das.
Wir müssen oft losgehen. Vielfach sind es Kleinigkeiten; es braucht
nicht unbedingt ein Wechsel des Studienortes oder der Weg ins Altersheim. Es gibt immer wieder Entscheide im Leben, die so klein sind, wo
man aber Liebgewonnenes verabschieden muss. Überlegen Sie einmal
und Sie werden, liebe Gemeinde, etwas finden, das Ihnen im Moment
Kummer macht, weil Sie es nicht loslassen können. So ist es im Leben,
es ist ein ständiges Loslassen und Hintersichlassen. Das ist so in unserem Leben!
Weil Gott das weiss, sandte er uns Jesus und sendet uns seinen Segen
immer wieder, dass wir loslassen können. Das Entscheidende ist, dass
Abraham im Rucksack, als grösster Proviant, den Segen hatte. Das, was
er brauchte, um die Reise durchzuhalten und durchzustehen. Das, was
ihn stärken sollte, wenn in der Nacht die Zweifel kamen und er am liebsten umkehren wollte. So geht es uns auch manchmal. Nein, ich lege auf
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dich die Gewissheit, dass all deine Wege mit meinem Geist geführt und
begleitet sind, mit meinem Segen, egal was nun kommt.
In einer deutschen Radiopredigt hat einmal ein Kollege über diese Bibelstelle gepredigt. Er erwähnte ein Denkmal, das ich einmal gesehen
hatte. Im Bremerhaven besuchte ich einen alten Schulfreund, der in einer
Zweigstelle einer Schweizer Speditionsfirma, an der Nordsee im Bremerhaven, arbeitete. Wir machten einen Spaziergang und kamen am
Abend an einer Skulptur vorbei auf der eine vierköpfige Familie dargestellt ist. Die Mutter steht gebückt da und hält schützend die Hand über
ein kleines Mädchen. Der Mann steht und zeigt in die Richtung, wohin
es gehen wird. Dabei zeigt er aufs offene Meer, ins Ungewisse. Das
Ungewisse, das wir von Abraham kennen. Es ist das Auswandererdenkmal vom Bremerhaven auf der eine Auswandererfamilie dargestellt ist.
In der Nähe dieses Denkmals gibt es ein Museum, in dem man vieles
lesen und erfahren kann, weshalb dieses Denkmal dort steht. Man kann
es sich schwer vorstellen, doch zwischen 1815 und 1940 sind über
50‘000 Millionen Europäer von unserem Europa in neue Welten losgezogen! In dieser Zeit haben im Bremerhaven 7,2 Millionen Menschen
Segelschiffe und Ozeandampfer bestiegen, um eine lange Reise anzutreten. Vor 150 Jahren dauerte die Überfahrt mit einem Segelschiff 42 Tage, auf engstem Raum zusammengepfercht, bis man in der neuen Welt
eintraf. Es gab Armut und Hungersnöte in Europa. Vor allem war Irland
davon stark betroffen. In unserem Land hatten damals viele Bauern und
Heimbetriebe Webstühle zu Hause. Als die Industrialisierung mit den
grossen Maschinen in die Fabriken kam, wurden die Leute zum Aufgeben gezwungen. Tatsächlich drohte der Hunger und man suchte das
Glück in einer neuen Welt. Politische Unruhen, Judenverfolgungen, aber
auch Abenteuerlust, alles Dinge, die die Menschen dazu trieben, wegzuziehen. Oft waren es wirklich Elend und Verfolgung. Es waren nicht nur
andere Europäer, die loszogen. Auch Schweizer waren dabei. Wenn Sie
die Landkarte der USA anschauen, finden Sie ein Zurich mit einem
zweiten Lake Zurich im Staat Illinois. Im Staat Kansas gibt es ein weite-
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res Zurich, ein Winterthur und ein Bern. Als Balser habe ich jedoch
Basel nirgends gefunden! Das gibt’s nur einmal auf der Welt!
Vorletzte Woche klingelte es an meiner Pfarrhaustür. Ein 45-jähriger,
kleinerer Mann stand vor mir. In gebrochenem Englisch erklärte er mir,
dass er aus Syrien komme und Architekt sei. Bis vor wenigen Wochen
habe er noch ein Unternehmen in Syrien gehabt. Doch eines Tages sei
sein Haus und Arbeitsort von einer Bombe getroffen worden. Seine ganze Familie sei dabei umgekommen und nur ein Kind habe überlebt. Dieses habe beim Angriff jedoch einen Arm verloren. Da er alles verloren
habe, entschied er sich, zu fliehen und kam in die Schweiz. Obwohl er in
einer Hitzeperiode angekommen sei, merke er, dass die Schweiz ein
kaltes Land sei. Man wolle ihn überhaupt nicht und wolle ihm auch gar
nicht helfen. Die Menschen seien sehr abweisend, er fühle sich nicht
willkommen. Er gehöre zur christlichen Minderheit in Syrien und er bete
zu Gott, dass man ihm helfen möge. Aber er wisse nicht mehr, wohin er
sich noch wenden soll. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie es mir
dabei ging. Zum ersten Mal war das für mich ein Moment, bei dem der
Krieg aus dem Nahost, den ich sonst nur aus dem Fernsehen und aus der
Zeitung kannte, plötzlich leibhaftig vor mir stand. Es waren nicht mehr
nur Bilder und Worte. Der Krieg, das Elend, die Not bestand nun aus
einem lebendigen, unsicheren, verängstigten und schwitzenden Mann.
Nach dieser Begegnung musste ich tatsächlich an Abraham denken, der
auch so aufgebrochen war. Stand er auch manchmal vor fremden Türen,
klopfte an und bat um Hilfe? Fühlte er sich auch nicht willkommen?
Nach dieser Bibelstelle lesen wir im 20. Kapitel wie Abraham gelebt
hat: „Er liess sich nieder als Fremder im Gebiet Gerar.“ Er lebte als
Fremder unter Fremden. Letzten Sonntag predigte ich in Oerlikon über
diese Bibelstelle. Danach hatten wir Kirchenkaffee und ein Mann kam
auf mich zu und sagte, dass dieser Syrer bestimmt gelogen habe. Alle
würden nur Lügen und Geschichten erzählen, damit sie Geld und Mitleid
bekämen.
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Wenn wir die Bibelstelle von Abraham weiterlesen, sehen wir, dass
Abraham um seine Frau Sarah Angst hatte. Deshalb gab er sie als seine
Schwester aus. Ein übler Trick, der Mann steht nicht zu seiner Frau und
setzt ihr Schicksal aufs Spiel. König Abimelech fand es jedoch heraus,
kam zu Abraham und sagte ihm, dass er ihn angelogen habe. Auch Abraham arbeitete mit Tricks – etwas Menschliches. Liebe Gemeinde, Sie
merken, dass diese Predigt von den Flüchtlingen handelt. Ich möchte
Ihnen aufzeigen, dass Flüchtling- und Fremder sein ein uraltes Thema
und etwas Biblisches ist. Was jetzt geschieht, ist nichts Neues. Beim
Kirchenkaffee hörte ich oft das Argument, dass es früher mehr Platz
gegeben habe. Ehrlich, es sind doch alles Ausreden. Wir hätten genug
Platz und Geld, wir hätten alles, um mehr Menschen aufzunehmen. Wir
haben einfach keinen Platz in unserem Herzen. Das ist das Problem.
Als Pfarrer habe ich Verpflichtung gegenüber meinem eigenen Volk und
meiner Gemeinde. Deshalb darf ich nicht alle mit dem Gedanken überfordern, alle Grenzen zu öffnen und alle Menschen hineinzulassen. Wir
Schweizerinnen und Schweizer haben eigentlich ein gutes Herz und
würden gerne helfen. Aber wir wissen oft nicht wie und was tun mit
diesen Fremden. Ich habe diesem Mann geholfen. Er wollte weiterziehen
und ich kaufte ihm eine Fahrkarte nach München. Ich kann nun sagen,
dass somit das Problem für mich gelöst war. Aber das Problem bleibt.
Die beste Hilfe, finde ich immer noch, ist die Hilfe vor Ort. Deshalb
unterstütze ich Projekte, bei denen wir Leuten in diesen Ländern helfen.
Ich habe Leute, die an meine Pfarrhaustüre kommen. Mit ihnen bespreche ich, wie ich ihnen in ihrem Land helfen kann. Wenn sie mir eine
gute Antwort geben, unterstütze ich sie finanziell. So helfe ich einem
Rumänen, dem ich sagen musste, dass er hier in der Schweiz keine Arbeit finden würde. Er wollte in Rumänien Taxifahrer lernen, um dort zu
arbeiten. Die Ausbildung kostete 1800 Franken. Ich besorgte ihm das
Geld, damit er diese Ausbildung in seinem eigenen Land machen konnte. So kommt er nicht mehr in die Schweiz zurück.
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Gott gibt uns immer wieder jemanden, den man so unterstützen kann.
Wenn Sie jemanden auf einer persönlichen Ebene unterstützen, werden
Sie sehen, dass es Ihnen danach besser geht. Das Elend dieser Flüchtlinge überfordert die ganze Welt. Gott und Jesus und der Heilige Geist
wollen uns weise Gedanken geben, damit wir mit unserem Herzen vereinbaren können, etwas zu tun, persönlich und bescheiden. Dann arbeiten wir an Gottes Reich. Für Mut und Kraft dazu können wir immer
wieder bitten. Amen.
ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH
St. Anna-Kapelle, St. Annagasse 11, 8001 Zürich
Gottesdienste: Sonntag 10.00 Uhr, Bibelstunden: Mittwoch 15.00 Uhr
Sekretariat St. Anna, Grundstrasse 11c, 8934 Knonau, Telefon 044 776 83 75