TÜRKEI BULLETIN 04/16 Berichtszeitraum: 16.

TÜRKEI BULLETIN 04/16
Berichtszeitraum: 16. - 29. Februar 2016
Inhalt u. a.: Weiterer Anschlag – diesmal mitten im Regierungsviertel der Hauptstadt, Ein guter Tag
für Medienfreiheit – Cumhuriyet-Journalisten auf freiem Fuß, Medien der Gülen-nahen Ipek-Gruppe
werden geschlossen, Flüchtlingskrise - Türkei macht Ernst im Kampf gegen Schlepper, Kämpfe im
Südosten des Landes dauern an, TÜSIAD zu den Perspektiven der türkischen Wirtschaft im Jahre
2016, Demographie der Türkei: Verstädterung schreitet voran
Überblick
Die Türkei ist abermals durch einen verheerenden Bombenanschlag erschüttert worden. Am 17. Februar sprengte sich ein Selbstmordattentäter in der Hauptstadt Ankara mitten im Regierungsviertel in
die Luft. Ziel war diesmal ein Militärkonvoi. Bei dem Anschlag kamen 29 Menschen ums Leben, dutzende wurden z.T. schwer verletzt. Nur wenige Stunden nach dem Anschlag deuteten Regierungschef Davutoğlu und Staatspräsident Erdoğan auf die syrische Kurdenmiliz YPG als mutmaßliche
Drahtzieher des Attentats und riefen die USA abermals dazu auf, ihre Unterstützung für die YPG zu
einzustellen. Die YPG bestreitet jedoch jedweden Zusammenhang mit dem Angriff. Schlussendlich
bekannte sich die PKK-Splittergruppe ‘‘Freiheitsfalken Kurdistans (TAK)‘‘ zu dem Anschlag.
Durch eine Explosion ist in der schwedischen Hauptstadt Stockholm ein türkisches Kulturzentrum
verwüstet worden. Bei dem Vorfall im südwestlichen Stadtteil Fittja sei niemand verletzt worden, teilte
die Polizei mit. Demnach gingen Scheiben zu Bruch, über dem Gebäude stieg Rauch auf. In Fittja
war vier Tage zuvor am Rande einer pro-kurdischen Kundgebung ein Mann angeschossen und verletzt worden. Der Täter konnte nicht gefasst werden. In Schweden kommt es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Kurden und Türken.
Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) wertet den eskalierenden Kurdenkonflikt in der Türkei als neuen Krieg. In der Türkei sei der Konflikt mit der kurdischen PKK nach
zweijähriger Waffenruhe wieder entbrannt und gehöre nun zu insgesamt 409 kriegerischen Konflikten
weltweit im Jahre 2015, so die Heidelberger Forscher.
Drei Tage nach seiner Festnahme in der Türkei ist der syrische Journalist und Oppositionsaktivist
Rami Jarrah aus der Haft entlassen worden. ,,Leider habe ich bisher keine direkte oder offizielle Erklärung dafür erhalten, warum ich festgenommen wurde, und was mir zur Last gelegt wird‘‘, so Jarrah
auf Facebook. Er war 2011 aus Syrien geflohen, danach aber immer wieder dorthin zurückgekehrt
um zu berichten. Zuletzt war Jarrah im Januar aus dem syrischen Aleppo zurück in die Türkei gereist.
Seine kurzzeitige Festnahme war überraschend, da Jarrah nach seiner Rückkehr aus Aleppo von
Präsident Erdoğan im Präsidentenpalast empfangen worden war.
Nachdem der türkische Ministerpräsident Davutoğlu wegen des Terroranschlags in Ankara seine geplante Reise zum EU-Gipfel in Brüssel kurzfristig absagen musste, bemüht sich EU-Ratspräsident
Donald Tusk nun um einen neuen Termin für Verhandlungen. Tusk bestätigte den 07. März als Termin für den Sondergipfel der EU mit der Türkei zur Flüchtlingskrise.
In einem Zeitungsinterview sagte der ungarische Regierungschef Viktor Orban mit Blick auf den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan: ,,Wir betteln bei Herrn Erdoğan – im Gegenzug für Geld und Versprechungen – demütig um Sicherheit für unsere Grenzen, weil wir uns nicht schützen können.‘‘ Diese Politik mache ,,Europas Zukunft und Sicherheit abhängig vom Wohlwollen der Türkei‘‘.
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Weiterer Anschlag – diesmal mitten im Regierungsviertel der Hauptstadt
Die Türkei kommt nicht zur Ruhe. Gut einen Monat nach dem Selbstmordattentat auf deutsche Urlauber in Istanbul, das 12 Menschen das Leben gekostet hat, ist nun die türkische Hauptstadt Ankara
von einem schweren Bombenanschlag erschüttert worden. Ziel war diesmal ein Konvoi mit Bussen
der Armee. Bei dem Anschlag am 17. Februar kamen 29 Menschen ums Leben, mehr als 60 wurden
verletzt – mehrheitlich Angehörige des Militärs. Der Anschlag ereignete sich um 18.31 Uhr Ortszeit,
als ein Militärkonvoi an einer roten Ampel gehalten hatte. Laut Augenzeugenberichten war die Detonation in weiten Teilen der Stadt zu hören. Zahlreiche Sanitäter und Feuerwehrleute waren im Einsatz. Über dem Anschlagsort, der in unmittelbarer Nähe des Generalstabs und des Parlaments liegt,
stieg dichter Rauch auf.
Staatspräsident Erdoğan kündigte gleich nach dem Anschlag Vergeltung an: Die Türkei werde von
ihrem ‘‘Recht auf Selbstverteidigung‘‘ Gebrauch machen. Der Kampf gegen den Terror werde noch
entschlossener weitergeführt. Nach dem verheerenden Anschlag bombardierten türkische Kampfflugzeuge mutmaßliche PKK-Stellungen im Nordirak und YPG-Stellungen in Nordsyrien.
Wie bei ähnlichen Ereignissen mittlerweile üblich, verhängte die Regierung aus Gründen der ‘‘nationalen Sicherheit‘‘ prompt eine Nachrichtensperre über den Anschlag. Premier Davutoğlu sagte seine
geplante Reise zum EU-Gipfel nach Brüssel ab. ,,Die Rechnung für diesen Angriff wird bezahlt werden‘‘, drohte der Regierungschef. Wann und wie, behalte sich die Türkei vor.
Nur wenige Stunden nach dem Anschlag wollte Davutoğlu schon den Attentäter ausgemacht haben.
Zuvor hatten regierungstreue Zeitungen bereits berichtet, der mutmaßliche Täter sei aufgrund seiner
Fingerabdrücke identifiziert worden. Er sei vermutlich mit Flüchtlingen in die Türkei gekommen; beim
Grenzübertritt habe man seine Fingerabdrücke genommen. Der Regierungschef teilte in einer TVAnsprache mit, der Attentäter, ein 23-jähriger Syrer namens Salih Necar, sei als Mitglied der syrischen Kurdenmiliz YPG identifiziert worden [YPG ist der bewaffnete Arm der syrisch-kurdischen ‘Partei der Demokratischen Union PYD‘. Sie gilt als syrischer Verbündeter der PKK, Anm.d.Red.]. Diese
Gruppe habe den Anschlag gemeinsam mit Kämpfern der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK
verübt. Der Anschlag zeige, dass die YPG eine Terror-Organisation sei [im Gegensatz zur PKK wird
die YPG/PYD von den USA und der EU nicht als Terrororganisation gesehen. Sie gilt als ein wichtiger Faktor im Kampf gegen den ‘Islamischen Staat‘ (IS), Anm.d.Red.]. Er erwarte von den Verbündeten der Türkei ein gemeinsames Vorgehen gegen die Miliz.
Präsident Erdoğan nutzte die Gelegenheit, die USA für ihre Unterstützung der YPG zu kritisieren.
Kurdische Milizen sollen demnach im syrischen Bürgerkrieg von den USA gelieferte Waffen gegen
Zivilisten eingesetzt haben. Es gehe dabei um die syrische Kurdenpartei PYD und deren bewaffneten
Arm YPG, sagte Erdoğan. Er habe schon vor Monaten bei einem Treffen mit US-Präsident Obama
beklagt, dass die USA Waffen lieferten. Das US-Außenministerium wies Erdoğans Vorwürfe zurück:
Man habe die YPG in keiner Form mit Waffen versorgt. Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu erklärte, es
sei ein Zeichen von Schwäche, sich im Kampf gegen den IS auf ‘‘Terrorgruppen‘‘ wie die YPG zu
stützen. ,,Jeder muss diesen Fehler korrigieren – insbesondere unser Verbündeter USA muss diesen
Fehler sofort korrigieren. ‘‘
Der Co-Chef der syrischen Kurdenpartei PYD, Saleh Muslim, wies die Anschuldigungen der türkischen Regierung mit Nachdruck zurück. Die syrischen Kurden seien in keiner Weise in den Anschlag
verwickelt. ,,Mit den inneren Angelegenheiten der Türkei haben wir nichts zu tun. Wir denken, dass
diese Vorwürfe eine Erfindung der türkischen Seite sind‘‘, so Muslim. Er bezeichnete zudem Berichte
als falsch, wonach YPG-Kämpfer Ziele in der Türkei beschossen haben sollen. ,,Wir sehen die Türkei
nicht als Feind‘‘, sagte er weiter. Auch PKK-Kommandeur Cemil Bayık distanzierte sich von dem Attentat. ,,Wir wissen nicht, wer das getan hat‘‘, erklärte er. Der Anschlag könne aber ‘‘eine Vergeltung
für die Massaker gegen Kurdistan‘‘ gewesen sein.
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Etwa 48 Stunden nach dem Anschlag bekannte sich dann die militante Organisation ‘‘Freiheitsfalken
Kurdistans‘‘ (TAK) zum Terrorakt in Ankara. ,,Wir haben im Herzen des faschistischen türkischen
Staates zugeschlagen‘‘, teilte die Gruppe auf ihrer Homepage mit. Mit der Bombenexplosion habe
man Vergeltung für das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in der Stadt Cizre (Prov. Şırnak)
geübt. In Cizre hatten sich Armee und Polizei wochenlange, verbissene Häuserkämpfe mit Kämpfern
der PKK geliefert. Dabei wurden auch schwere Waffen eingesetzt und ganze Straßenzüge zerstört.
145 Menschen sollen ums Leben gekommen sein.
In dem Bekennerschreiben kündigt die TAK weitere Anschläge auch in Touristengebieten an und
warnt die Urlauber davor, in die Türkei zu reisen. Die ‘‘Freiheitsfalken‘‘ sollen 2004 aus der PKK hervorgegangen sein. Ende vergangenen Jahres hatte sich die TAK zu einem Mörserangriff auf den Istanbuler Flughafen Sabiha Gökçen bekannt. Damit widerspricht die TAK der türkischen Regierung,
die die syrische Kurdenmiliz YPG für den Anschlag verantwortlich macht. Präsident Erdoğan bekräftigte jedoch, für ihn gebe es an der Täterschaft syrischer Kurden ‘‘keinen Zweifel‘‘. Er sprach von ‘‘Informationen und Belegen‘‘, verzichtete aber darauf, diese näher zu erläutern. ,,Es gibt einen direkten
Zusammenhang zwischen dem Anschlag und den YPG‘‘, fügte Regierungschef Davutoğlu hinzu.
Die türkische Regierung bemüht sich zunehmend verzweifelt darum, die YPG im Westen als Terrororganisation zu diskreditieren. Ankara befürchtet nämlich, die YPG könnte bald beinahe die gesamte
Grenze Syriens zur Türkei kontrollieren. Erdoğan warnte noch vor kurzem: ,,Wir werden niemals zulassen, dass an unserer Südgrenze ein neues Kandil entsteht [In Kandil im Nordirak hat die PKK ihr
Hauptquartier, Anm.d.Red.]. ‘‘
Etwa eine Woche nach dem Anschlag teilte die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu mit, dass es
sich bei dem Täter laut DNA-Test um den türkischen Kurden Abdulbaki Sömer handele. Demnach
stammt der 26-Jährige aus der osttürkischen Stadt Van. Er habe sich 2005 der PKK angeschlossen
und sich bis 2014 in einem Lager in den Kandil-Bergen im Nordirak aufgehalten. Der türkische VizeRegierungschef Numan Kurtulmuş erklärte zum DNA-Beweis, dies ändere ‘‘nichts an der Tatsache‘‘,
dass der Anschlag gemeinsam von türkischen und syrischen Kurden verübt worden sei. Der Attentäter sei definitiv im Sommer 2014 aus PYD-kontrolliertem syrischem Gebiet in die Türkei eingereist.
Laut Medienberichten soll er dabei Papiere benutzt haben, die auf den Namen Salih Necar ausgestellt waren.
Währenddessen wurde bekannt, dass türkische Sicherheitskräfte nach Regierungsangaben seit Anfang des Jahres 18 Selbstmordanschläge vereitelt haben. Drei Autos mit Sprengstoff seien beschlagnahmt worden, bevor Attentate verübt werden konnten, so Innenminister Efkan Ala in einem FernsehInterview. Von wem die Anschläge geplant wurden oder gegen wen sie gerichtet waren, sagte er
nicht.
Ein guter Tag für Medienfreiheit – Cumhuriyet-Journalisten auf freiem Fuß
Die beiden Journalisten Can Dündar und Erdem Gül konnten nach drei Monaten Untersuchungshaft
das Silivri-Gefängnis vor den Toren Istanbuls verlassen. Dündar und Gül wurden von ihren Familien
und Kollegen jubelnd empfangen. Das Verfassungsgericht hatte das Vorgehen gegen den Chefredakteur und den Hauptstadtkorrespondenten der regierungskritischen Zeitung ‘Cumhuriyet‘ am Vortag für nicht rechtens erklärt. Das Oberste Gericht entschied mit zwölf gegen drei Richterstimmen,
dass die ‘‘Rechte auf persönliche Freiheit und Sicherheit‘‘ der beiden Journalisten verletzt worden
seien. Die ‘Cumhuriyet‘ erklärte in ihrer Onlineausgabe: ,,Es gibt noch Richter in der Türkei. ‘‘ Das
Verfahren wird allerdings fortgesetzt; der Gerichtsprozess soll am 25. März beginnen. Das zuständige
Strafgericht verfügte nach der Freilassung, dass Dündar und Gül das Land nicht verlassen dürfen.
Dündar sprach nach seiner Freilassung von einem ‘‘historischen Urteil‘‘ des Verfassungsgerichts für
die Pressefreiheit.
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Zugleich erinnerte er aber an andere Journalisten, die in seinem Land weiterhin in Haft sitzen. ,,Wir
sind draußen, aber mehr als 30 unserer Kollegen sind drinnen‘‘, sagte er. ,,Drinnen haben unsere
Kollegen gesagt, wir sollen sie nicht vergessen.‘‘ Mit Blick auf den kommenden Prozess kündigte
Dündar an: ,,Wir werden uns verteidigen.‘‘ Seine Freilassung sei „ein Geschenk zum Geburtstag
Erdoğans“, der am 26. Februar 62 Jahre alt geworden ist, erklärte Dündar spöttisch.
Die Verhaftung der beiden Journalisten Ende November 2015 hatte in der Türkei und anderen Ländern für Empörung gesorgt. Ihr Fall gilt als ein Paradebeispiel für die zunehmende Unterdrückung der
Presse in der Türkei. Die für Terrordelikte zuständige Staatsanwaltschaft wirft den Journalisten Spionage und einen Umsturzversuch gegen die Regierung vor. Sie sollen mit Berichten über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes MIT an islamistische Rebellen in Syrien Staatsgeheimnisse
verraten haben. Erdoğan hatte Dündar nach Veröffentlichung des Berichts gedroht, dieser werde
einen ‘‘hohen Preis‘‘ zahlen. Die Staatsanwaltschaft hatte daraufhin lebenslange Haft für Dündar und
Gül gefordert.
Sichtlich erbost über die Freilassung Dündars, erklärte Präsident Erdoğan, er habe ‘‘keinen Respekt‘‘
für die Entscheidung des Verfassungsgerichts. Die Veröffentlichungen hätten nichts mit Meinungsund Pressefreiheit zu tun, vielmehr handele es sich um ‘‘Spionage‘‘, bekräftigte das türkische Staatsoberhaupt. Seiner Meinung nach könne es ‘‘keine grenzenlose Freiheit der Medien“ geben; so etwas
gebe es schließlich nirgendwo auf der Welt.
Ausgerechnet während eines Interviews mit den gerade freigelassenen Journalisten stoppten die
türkischen Behörden die Ausstrahlung des pro-kurdischen, regierungskritischen Fernsehsenders IMC
TV. ,,IMC kann nur noch über das Internet gesehen werden, nicht mehr im Fernsehen‘‘, sagte der
Programmdirektor von IMC. Der Satelliten- und Kabelanbieter Türksat habe IMC auf Antrag der
Staatsanwaltschaft aus dem Programm genommen.
Medien der Gülen-nahen Ipek-Gruppe werden geschlossen
Die türkische Staatsanwaltschaft hat die Schließung aller Medien der regierungskritischen IpekGruppe angeordnet. Sowohl Fernseh- als auch Radiosender und Zeitungen dieses Konzerns seien
geschlossen worden, meldeten Medien. Dazu zählen unter anderem die Fernsehsender ‘Kanaltürk‘
und ‘Bugün TV‘ und die Zeitungen ‘Bugün‘ und ‘Millet‘. Die regierungskritische Ipek-Media-Gruppe
war Ende Oktober vergangenen Jahres von staatlichen Treuhändern übernommen und ‘über Nacht‘
auf Regierungskurs gebracht worden. Dem Mutterkonzern wird Geldwäsche und Unterstützung der
Hizmet-Bewegung des im Exil lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen, die in
der Türkei inzwischen offiziell als Terrororganisation gilt.
Flüchtlingskrise - Türkei macht Ernst im Kampf gegen Schlepper
In der Flüchtlingskrise will die Türkei nach Angaben der Regierung Menschenschmuggler ähnlich hart
wie Terroristen bestrafen. Das Parlament werde ein entsprechendes Gesetz ,,sehr bald‘‘ verabschieden, sagte der stellvertretende Ministerpräsident Numan Kurtulmuş bei einem Treffen mit Korrespondenten internationaler Nachrichtenagenturen. ,,Wir werden dieses Gesetz sofort anwenden‘‘, so
Kurtulmuş. Er wies auf neue Anstrengungen hin, den Strom von Flüchtlingen zu regulieren und gegen
Schlepper vorzugehen. So wurde etwa Anfang des Monats eine neue Abteilung für die Bekämpfung
von Menschenschmuggel eingerichtet. Strafen für Schlepper sollen verschärft werden; derzeit drohen
ihnen bei einer Verurteilung drei bis acht Jahre Gefängnis. Im vergangenen Jahr fassten die türkischen Sicherheitskräfte 4471 Schlepper, dreimal mehr als im Jahre 2014.
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Vom Jahresbeginn 2016 bis zum 15. Februar fasste die türkische Küstenwache 8550 Migranten, die
illegal das Land über den Seeweg zu verlassen suchten. Dabei wurden auch 190 Schlepper festgenommen.
Kurtulmuş kündigte außerdem an, noch in diesem Jahr solle allen 650.000 schulpflichtigen syrischen
Flüchtlingskindern in der Türkei der Schulbesuch ermöglicht werden. Derzeit gehe etwa die Hälfte
von ihnen zur Schule. Eine Rücknahme von Flüchtlingen, die von NATO-Schiffen in der Ägäis aus
Seenot gerettet werden, ist nach Angaben von Kurtulmuş noch nicht abschließend vereinbart. Dieser
Punkt werde nach seinem Wissen noch verhandelt, so der stellvertretende Regierungschef.
Kämpfe im Südosten des Landes dauern an
Die Kampfhandlungen zwischen türkischen Streitkräften und kurdischen PKK-Rebellen werden in
weiten Teilen des Südostens fortgeführt.
Hier eine Zusammenfassung der Ereignisse vom 16. -29. Februar:
19. Februar: In der Kurdenhochburg Diyarbakır haben nach Armeeangaben kurdische Kämpfer zwei
Soldaten und einen Polizeioffizier getötet. Der Angriff der PKK habe sich im Stadtbezirk Sur ereignet,
teilte das Militär mit. In Teilen dieses Gebietes herrscht seit Dezember eine ganztägige Ausgangssperre.
19. Februar: In der Türkei sind drei Journalisten der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu offenbar
von Mitgliedern der PKK vorübergehend entführt worden. Diese bekannte sich aber nicht zu der Tat.
Der Vorfall habe sich im kurdischen Südosten des Landes ereignet. Die Journalisten wurden demnach mehr als 48 Stunden festgehalten, kamen dann aber wieder frei. Ömer Çelik, Sprecher der
AKP-Regierung, nannte die Entführung ‘‘niederträchtig‘‘.
21. Februar: Die türkische Armee hat nach eigenen Angaben 14 kurdische Rebellen im Südosten des
Landes getötet. Es habe sich um PKK-Kämpfer gehandelt. Vier seien in der Kurdenmetropole
Diyarbakır getötet worden, zehn weitere im Bezirk Idil (Prov. Şırnak) an der Grenze zu Syrien.
24. Februar: Die türkische Armee hat Luftangriffe im südosttürkischen Idil geflogen. Militärhubschrauber hätten Kämpfer der PKK beschossen, die auf dem Weg ins Stadtzentrum gewesen seien, so
Nachrichtenagenturen. Es habe viele Tote gegeben. Eine genaue Opferzahl wurde nicht gemeldet. In
der Stadt gilt eine Ausgangssperre.
25. Februar: Die türkische Luftwaffe hat erneut Stellungen der PKK im Nordirak angegriffen. Die Angriffe in der Region Kandil hätten zwei Stunden gedauert und seien erfolgreich verlaufen, meldete die
staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Militärkreise. Über Tote und Verletzte wurde zunächst nichts bekannt. In Kandil unterhält die PKK ihr Hauptquartier.
TÜSIAD zu den Perspektiven der türkischen Wirtschaft im Jahre 2016
Der führende türkische Wirtschaftsverband TÜSIAD hat kürzlich seinen Bericht zur Lage der „türkischen Wirtschaft und der Weltwirtschaft zu Beginn des Jahres 2016“ vorgelegt. Dabei geht der 1971
gegründete, bedeutendste Verband der türkischen Großindustrie - mit Blick sowohl auf die heimische
als auch die Weltwirtschaft - von eher negativen Entwicklungen aus. TÜSIAD sieht – zusammengefaßt – die Gefahr eines weiteren Anwachsens der Inflation in der Türkei, eine Schwäche in der Investitionsbereitschaft, potentielle Probleme im Bankensektor, ein Nachlassen des Kapitalimports und
weitere Risiken aufgrund der politischen Entwicklung in der Region.
In weltwirtschaftlicher Hinsicht erwartet TÜSIAD für die nähere Zukunft kein Anziehen der Wachstumsraten. Gerade die Schwellenländer, die nach der Bankenkrise 2008/09 von hohen Kapitalzuflüssen aus dem Ausland profitiert hätten, befänden sich nun in einem negativen Zyklus von steigender
privater Verschuldung und nachlassender Konsumnachfrage.
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Trotz der starken Abwertung der nationalen Währungen der Schwellenländer (inkl. der Türkei), insbesondere gegenüber dem US-Dollar, seien die Exporte dieser Staaten rückläufig, während gleichzeitig
ihre (Auslands-)Verschuldung dramatisch zunehme.
Mit Blick auf die sehr mäßigen Erfolge der in den zurückliegenden Jahren von vielen Zentralbanken
praktizierten Finanzpolitik des „quantitative easing“ (QE) spricht TÜSIAD von einem Kurs der reinen
Verzweiflung. Denn nur mit dem Faktor „Verzweiflung“ könne man erklären, warum trotz der ausbleibenden Wirkungen und der vielen negativen Begleiterscheinungen der „Politik des billigen Geldes“ an
dieser Strategie festgehalten werde. TÜSIAD vergleicht die Weltwirtschaft zugespitzt mit einem „Patienten in einem Beatmungsgerät“ – wenig Hoffnung auf baldige Genesung.
Was die Türkei anbelangt, so sieht TÜSIAD die dramatischen geopolitischen Risiken, die die ohnehin
schwierige weltwirtschaftliche Lage für das Land noch schwieriger machten. Zu nennen seien hier vor
allem die Konsequenzen der andauernden Konfrontation der Türkei mit einem ihrer wichtigsten Handelspartner: Russland. Zusätzlich wird auf die vielfältigen Konsequenzen des syrischen Bürgerkrieges hingewiesen.
Die Wachstumsrate von 4% im Jahre 2015 ist nach TÜSIAD vor allem auf steigenden Inlandskonsum
und öffentliche Ausgaben zurückzuführen bei gleichzeitig sinkenden Exporten und nachlassender
Investitionsneigung. Der wachsende Binnenkonsum führe aber zu einer Steigerung der Nachfrage
nach Importgütern, was eine erhöhte Auslandsverschuldung zur Folge habe. Dieser Schuldenzuwachs sei zwar durch die sinkenden Ausgaben – aufgrund stark gesunkener Erdöl- und Gaspreise für den Energieimport z. T. kompensiert worden. Die schwindenden Exporte habe man aber so nicht
ausgleichen können. Der Binnenkonsum sei zusätzlich durch die politische Instabilität des (doppelten) Wahljahres und den starken Wertverfall der Türkischen Lira (minus 24,6% gegenüber dem USDollar) belastet worden, gegen Jahresende dann noch zusätzlich durch die „eskalierenden Terrorattacken“ und die wachsenden Spannungen in Syrien.
Für 2016 prognostiziert TÜSIAD einen weiteren Anstieg der Inflationsrate auf über 9% (nach 7,67% in
2015). Dies sei besonders negativ zu beurteilen, da diese in den übrigen Schwellenländern in den
zurückliegenden Jahren nur bei 3- 4% gelegen habe. Die hohe Inflationsrate in der Türkei sei trotz
eines sinkenden Staatsdefizits und reduzierter öffentlicher Verschuldung nicht gesenkt worden. Die
Verantwortung für das Scheitern der Inflationsbekämpfung lastet TÜSIAD der Türkischen Zentralbank
an, die nicht in der Lage gewesen sei, die erforderlichen Maßnahmen [man muss hinzufügen: gegen
den politischen Druck des Präsidenten Erdoğan, d. Red.] durchzusetzen. Allerdings konzediert man
auch strukturelle Probleme im türkischen Agrarsektor, die zu den stark gestiegenen Lebensmittelpreisen beigetragen hätten. Zusätzliche inflationäre Tendenzen sieht man von der zu Jahresbeginn verfügten 30%igen Erhöhung des Mindestlohns ausgehen. Die Wachstumsrate für die Jahre 2016 und
2017 sieht TÜSIAD – gerade mit Blick auf geopolitische Risiken und Belastungen für die Tourismusbranche – rückläufig: auf 3,8 bzw. 3,6%. Die Arbeitslosenquote werde auf 10,6% ansteigen. Gleichzeitig werde das Zahlungsbilanzdefizit auf 5% des Nationaleinkommens anwachsen.
Demographie der Türkei: Verstädterung schreitet voran
Das Türkische Amt für Statistik (türk.: Türk İstatistik Kurumu/TÜİK) hat einen offiziellen Bericht zur
demographischen Entwicklung des Landes im Jahre 2015 vorgelegt. Danach hat sich die Bevölkerungszahl seit 2014 um mehr als 1 Mill. auf 78.741 Mill. Menschen erhöht. Das Wachstum von gut
1% liegt damit unter dem der Vorjahre (2013: 1,4%, 2014. 1,33%) und bestätigt den Trend rückläufiger Wachstumsraten. Rein statistisch gesehen hat sich die Einwohnerzahl allerdings schon heute auf
deutlich über 80 Mill. Menschen erhöht, schließt man die registrierten 2,503 Mill. syrischen Flüchtlinge mit ein.
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Die höchste Geburtenrate je 1.000 Einwohner weisen Provinzen Südost- bzw. Ost-Anatoliens auf, so
Şanlıurfa mit 4,52, gefolgt von Şırnak mit 4,23, Siirt mit 3,98 und Ağri mit 3,86. Die niedrigste Geburtenrate hat hingegen die thrakische Grenzprovinz Edirne mit 1,47.
Istanbul bleibt mit offiziell 14,6 Mill. Einwohnern die deutlich größte Stadt des Landes; es weist auch mit 2.821 Menschen je Quadratkilometer - die größte Bevölkerungsdichte im Lande auf, gefolgt von
der benachbarten Industrieregion Kocaeli/Izmit. Zweitgrößte Stadt des Landes bleibt Ankara mit 5.27
Mill. Bewohnern, gefolgt von Izmir (4,17 Mill.), Bursa (2,85 Mill.) und Antalya (2,3 Mill.).
Der seit Jahrzehnten anhaltende Urbanisierungsprozess hat sich auch 2015 fortgesetzt: Nach den
Angaben des TÜİK leben 92,1% der Bewohner des Landes in städtischen Räumen (2014: 91,8%);
hier ist allerdings der durch administrative Maßnahmen (Stichwort: Metropolitanstädte) verursachte
Urbanisierungsprozess in Rechnung zu stellen. Die Konsequenzen der anhaltenden landesinternen
Migration zeigen sich auch an folgenden Zahlen: Die an Georgien und Armenien angrenzende
ostanatolische Provinz Ardahan hat mit 99.000 Bewohnern eine sinkende Bevölkerungszahl; allerdings leben allein in Istanbul ca. 245.000 Menschen, die eigentlich Bürger der Provinz Ardahan
sind. Ähnlich hohe Abwanderungsraten, verbunden zumeist mit einem Bevölkerungsrückgang vor
Ort, weisen die Provinzen Erzincan, Giresun, Kastamonu, Sinop, Sivas, Tunceli und Bayburt aus,
also Gebiete sowohl im östlichen Anatolien als auch im Hinterland der Schwarzmeerküste
Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Projektbüro Türkei
Redaktion: Dr. Hans-Georg Fleck – Aret Demirci
Cumhuriyet Cad. No 107 D 2 Elmadağ-Istanbul 34473, Türkei
www.fnst-turkey.org
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