Wozu dient Österreich heute die Neutralität?

26 DEBATTE
DONNERSTAG, 29. OKTOBER 2015
Wozu dient Österreich heute die Neutralität?
Gastkommentar. Der gerade begangene 60. Geburtstag des Neutralitätsgesetzes gibt Anlass, sich kritisch mit Genese,
Inhalt und nostalgischen Mythen auseinanderzusetzen. Klar ist: Neutralität war nie eine Sicherheitsgarantie für das Land.
Da es Aufgabe des österreichischen
Staates ist, seine Sicherheit so gut
wie möglich zu schützen, stellt die
heutige Doktrin einen Kompromiss
dar: zwischen dem österreichischen Sicherheitsinteresse und der
Anhänglichkeit an die Neutralität.
Manche übersehen ja gern,
dass auch die Neutralität Österreich verpflichtet, alles zu tun, um
das eigene Territorium zu verteidigen beziehungsweise potenzielle
Angreifer abzuschrecken – eine
Verpflichtung, in die Österreich
militärisch stets nur das absolute
Minimum investiert hat.
Neutralität war Mittel zum
Zweck, um 1955 die volle Souveränität zu erlangen. Sie war aber nie
eine Sicherheitsgarantie. Dass
Bündnisverzicht allein keinen
Schutz vor fremden Angriffen darstellt, beweisen etwa die Überfälle
auf das neutrale Belgien 1914 und
1940, die Niederlande 1940 oder
die Ukraine 2014.
VON WOLFGANG MUELLER
A
us freien Stücken“ hat Österreich 1955 seine immerwährende Neutralität erklärt. So steht es im Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober. Tatsächlich hat niemand Österreich
zur Neutralität gezwungen. Und es
gab auch bereits seit dem Ersten
Weltkrieg österreichische Neutralitätsideen. Ziel war, sich nach dem
Muster der Schweiz aus der großen
Politik herauszuhalten, die eigene
Unabhängigkeit und Integrität zu
wahren und sich nur noch der
Mehrung des Friedens und Wohlstands zu widmen.
Gleichzeitig war die Neutralität
bekanntlich der Preis für die sowjetische Zustimmung zum Staatsvertrag. Damit griff der Kreml auf ein
klassisches Instrument des Imperialismus zurück: Wenn keine der
interessierten Großmächte ein Territorium zur Gänze kontrollieren
konnte, man es nicht teilen und
einen Krieg vermeiden wollte, wurde es „neutralisiert“. Das betraf
nach 1945 etwa Österreich und
Finnland.
Warum die Sowjets abzogen
Entscheidend für den Moskauer
Entschluss, nach zehn Jahren Blockade endlich einem Abzug aus
Österreich zuzustimmen, war dreierlei: Erstens reduzierte der neu
gegründete Warschauer Pakt die
strategische Bedeutung Österreichs
für die sowjetische Kontrolle Osteuropas. Zweitens erhöhte der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Nato in Moskau den
Druck, einen ähnlichen Schritt Österreichs zu verhindern. Das ließ
sich am besten durch eine Neutralisierung Österreichs erreichen, die
nicht ohne Staatsvertrag zu haben
war. Drittens wollte Moskau die
Neutralität Österreichs verwenden,
um andere westliche Staaten aus
der Nato zu lösen.
Dennoch einigte man sich klugerweise darauf, dass Österreich
seine Neutralität „aus freien Stücken“ erkläre. Die Westmächte und
Österreich hatten diese Formel gefordert, um äußere Einmischungen
in die Interpretation der Neutralität
auszuschließen. Sie fürchteten
nicht ohne Grund, der Kreml
könnte sonst Wien vorschreiben,
was „neutral“ sei.
Aber auch Moskau war aus
Prestigegründen an einer „freiwilligen“ Neutralität interessiert. Der
„Freiwilligkeit“ verdanken wir auch
den Umstand, dass Österreich die
Neutralität laut heutiger Lehre widerrufen kann, ohne jemanden anderen zu fragen.
Davon war man nicht immer
überzeugt. Namentlich in den
1960er-Jahren erlebte die Neutralitätauslegung eine Aufblähung der
Pflichten zulasten der Handlungsfreiheit Österreichs. Dabei spielten
die sowjetischen Militärinterventionen in Österreichs unmittelbarer Nachbarschaft – 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei –, aber auch das Bekanntwerden der Schweizer Neutralitätsdoktrin eine Rolle.
Wechselnde Interpretationen
Ferner gab es wiederholt sowjetische Zwischenrufe, die österreichische Neutralitätspolitik an Moskauer Vorstellungen anzupassen.
Dies betraf einen ganzen Katalog
angeblicher Pflichten, etwa den
„Kampf“ gegen die Nato und die
EWG, wirtschaftliche Äquidistanz,
die Anerkennung der DDR oder
das Unterlassen jeglicher Embargos gegen den Ostblock.
Am österreichischen Verständnis ging das nicht spurlos vorüber.
Hatte man die Neutralität 1955 als
PIZZICATO
Polen
H
eute wollen wir uns mit Polen beschäftigen. Schon kleine
Kinder wissen das: Nordpolen – das ist das mit den Eisbären.
Südpolen – das ist das mit den Pinguinen.
Nun wurde in ganz Polen gewählt. Und für viele Menschen
wurde ein Traum wahr: ein Parlament ohne Linke. Die Bürgerlichen machen sich Regierung und Opposition nun selbst. Auf Österreich umgelegt würde das bedeuten: Die ÖVP regiert, die Neos
als stärkste Oppositionspartei sind der Widerpart. Also eh so ähnlich wie das in Wien am unteren Ende der Tabelle, beim Kampf um
die Abstiegsplätze, funktioniert.
Den Namen der neuen polnischen Ministerpräsidentin werden
wir uns nicht unbedingt zu merken brauchen. Es ist schon schwierig genug, sich zu merken, ob der Kaczyński, der an ihren Fäden
zieht, nun Lech oder Jaroslaw heißt. Abgesehen davon, dass wir auf
eine jahrzehntelange Geschichte des Scheiterns, die Namen Walesa und Wojtyla richtig auszusprechen, zurückblicken. Donald
Tusk war hier eine wahre Wohltat.
Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, die Wahlen. In Nordpolen gewann die Tusk-Partei. In Südpolen – und fast überall sonst
auch – die Kaczyński-Partei. Denn wie wusste schon Dieter Polen:
„You can win if you want. If you want it you will win . . .“
(oli)
Reaktionen an: [email protected]
bloße Nichtteilnahme an Verteidigungsbündnissen und Verbot ausländischer Militärbasen definiert,
sprach man nun vermehrt von den
„Vorwirkungen“ der Neutralität
und nahm vom Ziel eines Beitritts
zur Montanunion Abstand. Nach
sowjetischen Protesten gegen die
ORF-Berichterstattung 1968 versuchte die Bundesregierung, den
Medien einen „Maulkorb“ zu verpassen. Das Bundesheer durfte
nicht in Grenznähe aufziehen, obwohl sowjetische Flugzeuge über
Österreich kreisten.
Erst nach dem Kurswechsel
unter Gorbatschow und dem Ende
Der Autor
Doz. Dr. Wolfgang
Mueller (geboren 1970)
ist stv. Direktor des
Instituts für Neuzeit- und
Zeitgeschichtsforschung
der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften (ÖAW) und Privatdozent
an der Universität Wien. Er lehrt und
forscht über die Geschichte der internationalen Beziehungen, Russlands und
Österreichs und arbeitet an einem Buch
über Staatsvertrag und Neutralität. [ Privat ]
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Die Presse, Hainburger Straße 33,
A-1030 Wien oder an
[email protected]
Es besteht Handlungsoder Aufklärungsbedarf
„NÖ: Ärzte wollen Gruppenpraxen“,
von Anna Thalhammer, 27. 10.
Die Gründe für eine Spitalseinweisung, die der ärztliche Direktor
Thomas Gamsjäger vorbringt,
scheinen aus Sicht eines niedergelassenen Facharztes für Orthopädie nicht zutreffend.
In einer orthopädischen Ordination, zumindest in der Steiermark, werden beim Patienten mit
akuten Schulterbeschwerden
sofort eine klinische Untersuchung
und eine Ultraschalluntersuchung
durchgeführt. Als Sofortmaßnahme wird, wenn nötig, eine Injektion in die Schulter verabreicht.
Bei sehr starken Schmerzen –
das kommt oft vor – erhält der
des Kalten Krieges begann Österreich, seine Neutralität wieder „auf
den harten Kern“ zu reduzieren.
Die von Franz Cede so genannte
Avocado-Doktrin war geboren:
Neutralität im Kriegsfall, kein
Bündnis, keine Militärbasen.
Mittel zum Zweck
Darauf baut auch die österreichische Selbstdefinition nach dem
EU-Beitritt auf, „solidarisch in Europa, neutral außerhalb Europas“
zu sein. Ähnlich verhielten sich
auch Schweden und Finnland. Die
neue Positionierung ermöglicht
Beistand gegenüber anderen EUStaaten, Teilnahme in der NatoPartnerschaft für den Frieden und
an der Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik. Da die
EU zu immer mehr außenpolitischen Fragen eine gemeinsame
Politik anstrebt, nimmt das Anwendungsfeld von Neutralität ab.
Die Avocado wird zur Artischocke.
Solidarität ist ein Grundprinzip
der Staatengemeinschaft; ohne sie
gäbe es keine EU, aber auch keine
UNO. Sie steht in einem Spannungsfeld zur Neutralität. Eine unsolidarische Haltung gegenüber
anderen EU-Staaten würde die Sicherheit Österreichs reduzieren.
Patient am selben Tag eine Infusion verabreicht. Weiterführende
Untersuchungen erfolgen je nach
Beschwerdebild und Notwendigkeit. Sollte diese Vorgangsweise in
NÖ anders sein, besteht Handlungs- oder Aufklärungsbedarf.
Dr. Gerhard Hauke, FA für Orthopädie und
orthopädische Chirurgie, 8940 Liezen
Mit der Kritik weit übers
Ziel hinausgeschossen
„Einwanderer aufgepasst: So geht
Gleichberechtigung!“, „Quergeschrieben“ von S. Hamann, 27. 10.
Frau Hamann hat für die Männerriege in der oö. Landesregierung
nur Hohn und Spott übrig und
schießt im Kommentar, den sie in
ihrem unermüdlichen Einsatz für
die Rechte der Frauen möglicherweise für eine satirische Glanzleistung hält, weit übers Ziel hinaus. In ihren Augen scheint Oberösterreich ohne Landesrätin ein
rückständiges Land zu sein, in dem
es um die Rechte, die Wertschätzung und berufliche Karriere der
Frauen schlecht bestellt ist. Finste-
Neutralität bot keinen Schutz
Auch Österreich wäre, wie Warschauer-Pakt-Planungen aus dem
Kalten Krieg zeigen, von einem
Atomangriff nicht verschont worden. Das Land wurde somit nicht
durch seine Neutralität geschützt,
sondern durch die gegenseitige Abschreckung der Militärbündnisse.
Mit Ende des Kalten Krieges
hat die Neutralität in Europa ihre
außen- und sicherheitspolitische
Bedeutung verloren. Die Politik hat
dem durch die Änderung der Neutralitätsinterpretation Rechnung
getragen – nicht aber jene Teile der
Bevölkerung, die nostalgisch Mythen anhängen und Neutralität mit
Wohlstand und Sicherheit assoziieren. Dabei war der Wohlstand eine
Folge des wirtschaftlichen Wiederaufbaus, des Marshallplans, der
westeuropäischen Integration und
des eigenen Fleißes.
Die Uminterpretation der Neutralität von einer außenpolitischen
Strategie in ein Identitätsmerkmal
betrifft nicht nur Österreich, sondern viele neutrale Staaten. Sie
mag im Zeitalter der Globalisierung und Desorientierung nicht
unwichtig für die Identitätspflege
sein. Sie birgt aber die Gefahr, die
eigene Sicherheit und Handlungsfähigkeit der Affirmation nationaler
Symbole zu opfern.
Hier wären ungeschminkte
Worte dringend erforderlich.
E-Mails an: [email protected]
res Mittelalter droht, das Land
scheint Kurs auf türkische oder
arabische Standards zu nehmen.
In die Landesregierung keine
Frau aufzunehmen, war sicherlich
kein Akt politischer Klugheit und
Feinfühligkeit. Kritik ist berechtigt.
Diesen Vorfall aber zum Anlass zu
nehmen, eine derartige Invektive
zu verfassen und ein Bundesland
pauschal zu verunglimpfen (die
Häme für katholische Grundhaltung, Herrgottswinkel, Burschenschafter etc. darf nicht fehlen), geht bei allem Verständnis für
ironische Überzeichnung zu weit
und erweist der Sache einen
schlechten Dienst.
Mag. Gerald Gruber, 3353 Seitenstetten
Was wäre eine Regierung
ohne Heinisch-Hosek?
„Wenn ÖVP, FPÖ und SPÖ in die
Mottenkiste greifen“, Leitartikel von
Hanna Kordik, 27. 10.
Und wieder eine Dame, die das
Los der (fehlenden) Frauen in der
neuen oö. Landesregierung beklagt. Frau Kordik hält weniger