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Vernunft in fanatischer Zeit
von
Gert Heidenreich©
Es gibt einen Augenblick in der Geschichte unseres Landes, der es wert
wäre, in die Annalen einzugehen als deutsche Rarität. In jenem Augenblick schien es, als legte diese Nation ihre Maske ab, und darunter käme
nicht die durch die eigene Geschichte erworbene Fratze zum Vorschein,
sondern ein geheiltes menschliches Antlitz, in dessen Zügen sich Vernunft und Wohltat abzeichneten. Es war dies der 30. August 2015, an
dem Angela Merkel in ihrer jährlichen Sommerpressekonferenz den verängstigten, bedrohten und verelendeten Flüchtlingen die deutsche Tür
öffnete und ihren Landsleuten versicherte: Wir schaffen das.
Unvermutet und mit schöner Offenheit hat sie damit nach der Friedenspolitik von Willy Brandt zum ersten Mal wieder ein Deutschland repräsentiert, das lächelnd die weltweit gepflegten Karikatur-Klischees von
Pickelhaube und Knobelbecher löschte; ein Deutschland der Zuwendung und Zuversicht, so, als wären wir eine christliche Nation. Selbstverständlich war dieser Satz, der als Feststellung formuliert ist, eine
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Kondition. Selbstverständlich stand er nicht als Tatsache, sondern als zur
Gewissheit verkleidete Hoffnung im Raum. Selbstverständlich war er
eine vorweg genommene Utopie als Auftrag.
Viele sind ihm gefolgt. Polizisten, freiwillige Helfer, soziale Dienste. Ihretwegen geriet das Wort Willkommenskultur in die Schlagzeilen, mit der
Folge, dass unser Land mit einem Mal als stupor mundi, als Staunen der
Welt, betrachtet wurde. Die Präzeptoren, die eben noch in der Griechenlandkrise als Europas Feldwebel verhässlicht waren – nun plötzlich eine
Albert-Schweitzer-Nation?
Keine Sorge, liebe Nachbarn in Europa, es war nur ein Versuch, und die
politische Klasse, die sich so gerne an die Erfolge der Bundeskanzlerin
gehängt hatte, bog – die einen still und heimlich, die anderen mit Gebrüll – ab auf andere Pfade. Es war, als wäre Goethes Mephisto auf den
Plan getreten und hätte konstatiert: Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage; /
Weh dir, dass du ein Enkel bist!
Die Kanzlerin, mutiger und menschlicher als ihr Kabinett, sah hinter sich
die versammelte Leere, vor sich die Chöre, die skandierten Wir schaffen
das nicht, und ein Verwaltungschaos, mit dem sie nicht gerechnet hatte –
gelten wir doch als Weltmeister für Bürokratie und Organisation. Hat
Frau Merkel den Behörden zu viel zugetraut, hat sie die Verwaltungsorgane überschätzt? Man kann sich des Eindruck nicht erwehren, dass
manche ihrer politischen Konkurrenten bewusst unter dem Niveau der
verfügbaren Ordnungsmöglichkeiten blieben, um bei den Einheimischen
Angst und Unzufriedenheit keimen zu sehen. Prompt plusterten sich dilettierende Sinnstifter als eine Alternative für Deutschland auf, womit
nichts anderes gemeint ist als der ressentimentgeladene Gegensatz zu
der von der Kanzlerin postulierten Humanität. Ein merkwürdiges
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Amalgam von Angstbürger und Wutbürger besiedelt als Spezies Homo
Pegida die Straßen, getrieben von Gerüchten, gefälschten Informationen,
Massenlust und dem Ärger über zu wenig persönliches Lebensglück.
Das offene, lächelnde Gesicht des Landes, das die Kanzlerin in einem
Moment des Vertrauens auf unsere besten Möglichkeiten enthüllt hatte,
verwandelt sich zusehends zurück in seinen maskierten Zustand. Die
Opposition, die dazu da wäre, die Kanzlerin zu kritisieren, verteidigt sie
gegen ihre eigene Partei; der Koalitionspartner steht verdruckst und ratlos daneben; und ihr Scheinfreund, Bayerns Ministerpräsident, der sein
untrügliches Gespür für die Schwächen anderer als eigene Stärke definiert, behandelt sie ohne den mindesten Anstand. Drei Monate genügten, um die kürzeste und beste Rede von Angela Merkel in einen Fluch
zu verwandeln.
Ich weiß, dass mein Blick nicht das Ganze erfasst; dass eindrückliche
Demonstrationen für Universalität und vernünftige Empathie stattfinden und sich dem montägliche Dresdener Hordengejohle entgegenstellen; dass die Spendenbereitschaft hoch ist wie nie; dass viele sich fremdschämen für jenes unverhohlen reaktionäre Deutschlandbild, das nun alternativ heißt; dass die Sorge darüber wächst, mit welch unfassbarer
Nachlässigkeit die Exekutive neo-nationalsozialistischen Gruppen und
Straftätern begegnet, während sie den demokratischen Widerstand gegen sie akribisch beobachtet. Wer die Justizstatistiken der niedergehenden Weimarer Republik kennt, der kennt auch die Methode: wachsam
nach links, ein Auge zu nach rechts, nicht selten beide. Schlimmer noch
die Fälle klammheimlich praktizierter Sympathie derer, denen der
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Schutz der Republik anvertraut ist, für die, deren erklärtes Ziel die Zerstörung eben dieser Republik ist.
Man kann solche Vorgänge isoliert betrachten und als periphere Zeiterscheinung abtun, deren Bedeutungslosigkeit sich auf lange Sicht erweisen wird. Das ist die bewährte Argumentation der Selbstberuhigung, mit
der zugleich jede Besorgnis als Alarmismus denunziert wird. In den
Grenzen des eigenen Landes, die derzeit wieder beschworen werden,
mag solcher Trost noch funktionieren und sich hoffentlich nie als unwiderrufliche Verblendung erweisen.
Ein Blick auf Europa und die Krisenherde der Welt aber klärt schnell,
dass die benannten deutschen Phänomene Teil einer sehr viel umfassenderen und darum noch bedrohlicheren Entwicklung sind.
Rechtspopulisten – für die meisten von ihnen ist das ein höchst euphemistischer und verharmlosender Begriff – sitzen von Ungarn bis Frankreich, von Norwegen, Schweden, Dänemark und Holland bis Großbritannien, von Finnland, Litauen und Lettland bis Polen, Tschechien und
Österreich, Italien, Griechenland und die Schweiz zumeist schon mit in
der Regierung, überall in Regionalparlamenten und mit rund 20% im
Europaparlament.
Mögen sie sich nun Morgendämmerung der direkten Demokratie wie in
Tschechien, Ordnung und Gerechtigkeit wie in Litauen, Die Schwedendemokraten oder Wahre Finnen nennen: Sie alle eint die Behauptung, ihre jeweilige nationale Identität sei in Gefahr, ohne dass sie belegen können,
worin genau diese Identität und worin die Gefahr besteht. Sie eint die
mehr oder minder offen praktizierte Disziplinierung der Medien und
der Gerichte, die propagierte und geschürte Antipathie gegen ein vereintes Europa und ein mit der allgemeinen Xenophobie verbundener Ras4
sismus, der keineswegs nur hinter vorgehaltener Hand formuliert und
vom rechten Terror als Auftrag verstanden wird.
Vorbild für die meisten dieser Rückwärtsgewandten ist die USamerikanische Tea Party, die dort die Republikaner so lange erfolgreich
vor sich her trieb, bis sie einen Kandidaten wie Donald Trump gebaren,
dessen auftrumpfend-reaktionäre Selbstbeweihräucherung seinen deutschen Vorfahren, Kallstadter Winzern mit Namen Drumpf, vermutlich
peinlich gewesen wäre.
Hierzulande arbeitet das rechtspopulistische Modell mit der Beschwörung einer angeblich durch die Fremden bedrohten deutschen Identität.
Sie wird bebildert mit Dichtern und Komponisten der deutschen Klassik,
gern auch mit dem irgendwie verbleichenden Abendland, dessen von
Oswald Spengler prognostizierten Untergang ausgerechnet die AfD und
die stets um Bodenständigkeit besorgte CSU verhindern wollen. Dass es
den in ihrer Rhetorik vereinten Kombattanten auf diesem Kreuzzug tatsächlich um das Erbe Schillers und Goethes gehe, darf ebenso bezweifelt
werden wie eine konkrete Vorstellung hinter dem Schlagwort Abendland. Dafür müsste man die Werke der Klassiker und die Geistesgeschichte des Okzidents kennen.
Begriffe wie Identität und deutsche Werte sind für den Populismus lediglich Abstraktionen, um jenen Gemeinsinn zu erzeugen, der aus Bürgern
eine Masse macht. Jedem in dieser Masse wird durch die erwarteten Parolen – zumeist polemisch und pauschal gegen die bestehenden Verhältnisse gerichtet – ein Selbstgefühl suggeriert, das sich aus gemeinschaftlich erfahrener Stärke speist. Darum jubelt er den Worthülsen der
jeweiligen politischen Leitgestalten unverdrossen zu. Stimmung erzeugt
Zustimmung. Nach Ängsten befragt, geben viele die abstrusesten Phan5
tasmagorien von sich. Möchte man die unbedingt zu rettenden Werte erfahren, bleibt kaum mehr als der stets gefährdete Vorgartenzaun.
Manche Werte, deren Verfall beklagt wird, sind allerdings wirklich bedroht – doch weit weniger durch jene, die hier eine Zuflucht suchen und
ihre Kultur und Religion mitbringen, als durch unsere eigene Fahrlässigkeit im Umgang mit den Grundwerten der Demokratie, durch politisches Desinteresse und einen rasanten Bildungsverlust. Damit meine ich:
zunehmende Information bei abnehmender Fähigkeit, sie kritisch zu
bewerten.
Bildung ist die Verwandlung von Wissen in Bewusstsein, und ihr auffälliger Mangel wird längst von Arbeitgebern und Universitätslehrern gleichermaßen beklagt. Inzwischen sind Jahrgänge in Politik und Lehre tätig, die selbst bereits von der Bildungskrise betroffen waren. Wie aber
soll denn eine freie und vernünftige Demokratie bestehen, deren Bürger
nicht in der Lage sind, die Spreu vom Weizen zu scheiden? Die Mitläufer, deren Stammtischparolen wir beklagen, haben wir uns selbst herangezogen. Für sie legen die populistischen Bauernfänger ihre Leimruten
aus. Bestimmen sie dann die Regierung, sind sofort die Meinungsfreiheit
und die unabhängige Justiz in Gefahr, wie das Beispiel Ungarn zeigt.
Mehrheitsentscheidungen können eine Demokratie zerstören, wenn sie
ohne hinreichenden kritischen Sachverstand getroffen werden. Meist
lauten die Schritte: Populismus – Nationalismus – Autokratie. Stets wird
dabei die Nationalkultur beschworen, die sich, wie wir wissen, auch mit
Barbarei verträgt. Denn deren Widerpart ist nicht Kultur, sondern Zivilisation.
Auch der Begriff Abendland lässt sich beliebig instrumentalisieren. Die
Nazipropaganda sprach dabei vom Bollwerk gegen den Osten. Wer das
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Wort heute trotz seiner Missbrauchbarkeit und seiner ideologischen
Vereinnahmung in den Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts noch
ernst nehmen will, müsste zumindest wissen, dass die damit wohl gemeinte Kulturalität nicht von außen, sondern von innen marginalisiert
wird. Nicht zuletzt durch den Verfall so angeblich urdeutscher Eigenschaften wie Geradlinigkeit und Zuverlässigkeit, Lauterkeit und Pflichtbewusstsein. Man kann der Ansicht sein, dies seien Sekundärtugenden,
doch wenn sie vor aller Welt in Nichts zerfallen, wie derzeit bei VW,
dann hat dies eben auch weltweite Folgen – für die Wirtschaft und das
Deutschlandbild. Gravierender werden die Spuren sein, die langfristig
in unserer Gesellschaft entstehen.
Wollen wir ernsthaft annehmen, dass die Offenbarung unsere Landes als
Biotop für privilegierte Gauner keine Wirkung auf die Akzeptanz von
demokratischen Grundwerten habe? Es geht nicht um Autos, Banken,
Geheimdienste, Waffenhandel, Steuerhinterziehung und Fußball – es
geht um einen von uns selbst erzeugten und lethargisch hingenommenen
Verfall sittlicher Grundbedingungen, der den Rechtspopulisten ebenso
in die Hände spielt wie den religiösen Fanatikern. Denn deren Ideologie
verspricht Orientierung, wo die freiheitliche Demokratie ihre Prinzipien
zu pastoralen Sonntagsphrasen verkommen ließ.
Ursächlich für den unerfreulichen Zustand sind aber keineswegs nur jene Gauner, die aus Geldgier lügen und betrügen; mindestens ebenso
verantwortlich sind Repräsentanten der politischen Klasse, die aus
Machtgier die Wahrheit zum Spielball ihrer Interessen machen; und
Spitzenversager in der Wirtschaft, deren Unfähigkeit mit Entlassungssummen vergoldet wird, für die die überwiegende Mehrheit der Deutschen vier bis fünf Arbeitsleben brauchen würde.
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Es gibt einander aufschaukelnde Frustrationseffekte, die bei den einen
zu Resignation, den anderen zu Empörung führen. Für beide halten die
Populisten aller couleur und fanatische Imame ihre Arme auf.
Verwundert fragt man sich, was junge Menschen unseres Kulturkreises
dazu treibt, sich gottlosen und blutgierigen Mörderbanden anzuschließen. Ich wundere mich über die Verwunderung. Mit religiösem Eifer
und Zelotentum hat die Abwendung von der Zivilisation wohl seltener
zu tun als mit dem Wunsch, sich in ein rigides System zu begeben, das
gleichzeitig die Freiheit für zügellose Gewalt verspricht; ein System der
Virilität und der Bemächtigung von Frauen; ein System des primitiven
Heroismus; ist schon ganz vergessen, mit welch verblendeter Kriegsbegeisterung junge Männer jeden Bildungsstands in den Ersten Weltkrieg
zogen, angeblich für Gott und Vaterland, eigentlich aber, um sich jenseits aller bürgerlichen Regeln als Helden fühlen und bewähren zu können und endlich nicht mehr nur mit Zinnsoldaten spielen zu müssen?
Wer sagt, dass nicht viele, die heute in den Dschihad ziehen, es satt hatten, bloß in Computerspielen rumzuballern und nur virtuelle Menschen
zu zerfetzen?
Jeder Krieg ist das Ende der Vernunft, und wenn er für junge Menschen
attraktiv wird, haben wir in der Gesellschaft etwas falsch gemacht. Ich
spreche nicht von sozialer sondern von geistiger Verelendung; ich spreche
davon, dass es nicht gelungen ist, die rationalen und bewährten Grundsätze einer freiheitlichen und friedlichen Gesellschaft als kostbar und lebensnotwendig zu vermitteln. Misslungen ist das offenbar, weil unser
Gemeinwesen den Verdacht nährt, moralisch bigott und ethisch unglaubwürdig zu sein. Das beginnt vielleicht beim Verlust einfachster
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Anstandsregeln und reicht gewiss über den Betrug am Parlament bis
zum Eidbruch eines Bundeskanzlers.
Nun können auch gut begründbare Klagen keine Antwort sein. Zumeist
hilft es aber, präzise Fragen zu stellen und um sich zu blicken: Wo stehen wir? Wie ist der Zustand? Dann erst: Was könnte die Lage bessern?
Fanatismus und Ressentiments sind Zeichen fortschreitender Irrationalität. Die Signatur solcher Phasen ist das Auftreten von Erlösern und
Heilsbringern, deren Botschaften Sicherheit und ewiges Glück verkünden. In Zeiten schwankenden Bodens versprechen sie festen Untergrund
und unfehlbare Methoden der Problemlösung. Beispielsweise Krieg im
Namen des Propheten. Beispielsweise die Beschwörung eines deutschen
Nationalcharakters. Beispielsweise die Bewahrung des Abendlands vor
importierter Zersetzung. Wenn uns das retten sollte, müsste erst einmal
geklärt werden, dass nichts am Abendland ursprünglich deutsch ist. Es
ruht auf drei fremden Säulen: auf der jüdisch-christlichen Religion, der
griechischen Philosophie und dem römischen Recht. Entfernt man eine,
indem man sie leugnet, kippt das ganze Konstrukt.
Aus dieser Dreiheit ist die westliche Geistes- und Gesellschaftsgeschichte mit all ihren strahlenden Gipfeln und blutigen Abgründen entstanden. Und wenn es eine weltweit wirkende geistige Leistung gibt, die dem
Abendland nicht abgesprochen werden kann, dann ist es die Aufklärung
inklusive ihrer Selbstkritik. Sie wäre freilich das erste Opfer, wenn man
den selbsternannten Rettern des Abendlandes seine Definition überließe.
Denn sie war und ist die wirksamste Immunisierung gegen alle religiösen, pseudoreligiösen und hermetischen Erlösungstheorien. Darum ist
sie derzeit auch weit mehr gefährdet als die sogenannte deutsche Identi9
tät, die von den Schwenkern schwarzrotgoldener Flaggen als Hülse für
Wut und Vorurteil benutzt wird – ganz gemäß dem russischen Sprichwort: Wenn die Fahne flattert, steckt der Verstand in der Trompete.
Ich bin sicher und sage das mit Trauer, dass wir uns in Europa und global unverkennbar in einer Phase der Gegenaufklärung befinden. Vermutlich steht sie erst am Anfang ihrer Erfolge.
Das ist nicht der von Samuel Huntington angekündigte Clash of Civilisations. Das ist auch nicht die von Spengler prognostizierte Renaissance
mystischer Religionen. Das ist ein Kampf der geistig Vermummten gegen die Kritiker mit offenem Visier. Das ist der Versuch, die Welt hinter
Kant, Diderot, Moses Mendelsohn und Lessing zurückzudrehen. Mit
dem wahrhaft entsetzlichen Unterschied, dass die technischen Mittel der
Zerstörung und Selbstzerstörung, die heutigen Usurpatoren der Macht
zur Verfügung stehen, in ungeheuren Potenzen wirksamer sind als jene
im Achtzehnten Jahrhundert. Entsprechend sind die Methoden zur Unterdrückung und Verfolgung kritischen Bewusstseins effektiver, und ihre unbedenkliche Anwendung rechtfertigt sich nun via Massenmedien
durch demagogische Formeln aus den Katalogen der Religion, der Sicherheitsmaßnahmen, der strategischen Interessen.
Vor über vier Jahrzehnten hat der Schriftsteller und Philosoph George
Steiner in seinem Essay Une saison en enfer (Eine Zeit in der Hölle – den Titel hat er sich bei Rimbaud entliehen)1 konstatiert: Heute finden wir uns in
einer Welt, in der die methodische Folterung zu politischen Zwecken weithin
etabliert ist. (...) Die in so großem Maße vollzogene Rückkehr zu Folter und
Massenmord, zur allgemeinen Anwendung von Hunger und Einkerkerung als
Mittel des politischen Kampfes, zeigt nicht nur eine Krise unserer Kultur an,
sondern in aller Deutlichkeit auch ein Aufgeben aller rationalen, menschlichen
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Ordnung. (...) Für Voltaire und Diderot wäre das bestialische Klima unserer
nationalen und sozialen Konfliktsituation nichts als ein aberwitziger Rückfall in
ärgste Barbarei. Steiner folgert daraus bereits 1971, es sei das vieldeutige
Weiterwirken religiöser Gefühle innerhalb der Kultur des Westens, dem wir unser Augenmerk zuwenden müssen: all den bösartigen Energien, die durch den
Zerfall der natürlichen Religionsformen freigeworden sind.
Mit dem Begriff der natürlichen Religion, deren Zerfall bösartige Energien
freigesetzt habe, bezieht sich Steiner auf Gotthold Ephraim Lessing und
seine Unterscheidung von natürlicher und positiver Religion.2 Nach ihm
hat jeder Mensch Bedürfnis und Talent, sich einen würdigen Begriff von
Gott zu machen und darauf in seinen Handlungen Rücksicht zu nehmen. Doch in gesellschaftlicher Vereinbarung entsteht daraus die positive
Religion, die gemeinsame Bilder und Texte, Propheten, Heilsverkünder
und Versprechungen braucht, also geoffenbarte Religion wird. Beweisbar
an Offenbarung und Jenseitsaussicht kann nichts sein, woraus sich laut
Lessing ergibt: Alle positiven und geoffenbarten Religionen sind folglich gleich
wahr und gleich falsch.
Seiner theoretischen Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts aus
dem Jahr 1780, in der ein Christentum der Vernunft vorausgesehen wird,
lässt er im Druck ein Jahr zuvor, gleichsam als sinnliche Argumentation,
sein Ideendrama Nathan der Weise vorangehen.3 Sein letztes Werk. Der
aufgeklärte Jude Nathan, zu dem Moses Mendelsohn das Vorbild war,
ist zugleich eine Verkörperung der Lessing’schen Idee von den Religionen. In der berühmten Ringparabel, die er aus Vorlagen bei Bocaccio
weitergedacht hat, legt Lessing die Gleichwertigkeit der drei geoffenbarten Glaubensgemeinschaften von Juden, Christen und Muslimen dar;
übersteigt aber diese für seine Zeit nicht ungefährliche Position, indem
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er zusätzlich die religiöse Definition des Volkes bezweifelt: Was heißt denn
Volk?/ Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, / Als Mensch? Ah! Wenn
ich einen mehr in Euch (Saladin) / Gefunden hätte, dem es gnügt (sic!) ein
Mensch zu sein!4
Lessings aufgeklärte Prophetie: ...Sie wird gewiß kommen, die Zeit der
Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern
Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen, nicht nöthig haben wird; da er das Gute thun
wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkührliche Belohnungen darauf gesetzt
sind... 5
An die Stelle von Heilserwartung tritt also die tatkräftige Gestaltung der
diesseitigen Lebenswelt auf der Grundlage der Erkenntnis.
Darauf zielt auch Nathans Frage an seine Ziehtochter Recha: Begreifst du
aber, / Wieviel andächtig schwärmen leichter, als / Gut handeln ist?6 An dieser
Stelle geht es scheinbar um jugendliche Verliebtheit, eigentlich aber bereits um Religion und Charakter.
Lessings und Nathans Ziel – aufgeklärte Moral, vernünftige Autonomie
des Menschen – galt und gilt als Utopie. Und da wir uns abgewöhnt haben, Utopien auch nur zu denken, verfiel sie zu schierer Illusion: In solcher Sicht hat George Tabori 1991 den Nathan inszeniert, nein, neu geschrieben, neu gedeutet, im Lessingtheater Wolfenbüttel und im Residenztheater München. Er hat ein neues Stück daraus gemacht,7 und es
Nathans Tod betitelt. Hier wird Recha nicht vom Tempelherrn gerettet,
hier verbrennt Nathans ganze Familie, hier siegt der scheinchristliche
Patriarch mit seinem Credo Tut nichts, der Jude wird verbrannt. Und Nathan, der bei Lessing noch den muslimischen Saladin und den christlichen Tempelherrn umarmt, stirbt – Saladins Schwester Sitah spricht es
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aus – Auf allen Vieren wie ein Tier. Und statt der vernünftigen Verbrüderung der Religionen wird bei Tabori Nathans Tod ’gefeiert’: Endlich verklingt sein lächerliches Lied.
Kann die Diagnose schlimmer sein? Die Aufklärung nichts als ein lächerliches Lied? George Tabori hat 1991 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung8 seine Sicht damit begründet, dass Lessings Utopie nicht
nur in Frage gestellt sei. Sie ist eigentlich nie eingelöst worden: dieses Prinzip
Hoffnung. (...) Das Stück ist ein schönes Märchen mit sehr viel Wahrheit und
viel humanistischem Anstand. Aber ich glaube nicht daran. (...) Die allgemeine
Tendenz war, den Aufklärern nicht zuzuhören. Wer hat schon Lessing zugehört? Zugehört in dem Sinn, dass er Konsequenzen daraus zieht, sich anders
verhält; egal, ob es um Asylbewerber oder Juden oder Frauen oder Kinder geht.
Lessing hätte Taboris, freilich gut begründbarer Skepsis nicht applaudiert. Ebenso wenig der Sicht von Günter Grass, der in seinem Roman
Die Rättin bereits fünf Jahre vor Tabori eine ähnliche Position zu Lessing
Erziehung des Menschengeschlechts einnahm und folgerte, die Aufklärung
habe letztlich zur Atombombe geführt:
Als schließlich die Gewalt, trotz aller Vernunft,
nicht aus der Welt zu schaffen war, erzog sich
das Menschengeschlecht zur gegenseitigen Abschreckung.
So lernte es Friedenhalten, bis irgendein Zufall
unaufgeklärt dazwischenkam.
Da endlich war die Erziehung des Menschengeschlechts
so gut wie abgeschlossen. Große Helligkeit
leuchtete jeden Winkel aus. Schade, daß es danach
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so duster wurde und niemand mehr
seine Schule fand.9
Verglichen mit der Lage vor über zwei Jahrzehnten, in der Grass und
Tabori ihre Position des Zweifels gegenüber der Aufklärung formulierten, haben wir eine tiefgreifend veränderte Welt. Mit dem 11. September
2001 begann der hochtechnisierte und planvolle Glaubenskrieg islamistischer Sektierer gegen alle, die nicht ihrer Exegese des Koran, ihrer Deutung der Offenbarung folgen. Selbst Ausgeburten der Barbarei, richten
sie sich gegen Kultur und Rationalität, gegen Individualismus und
selbstbestimmtes Leben. Was sie Dschihad nennen, ist lupenreiner Faschismus mit dem Prinzip Endlösung.
Die Rettungsversprechen der selbsternannten Gotteskrieger sind nicht
weniger illusionär als die anderer Heils-Ideologien, freilich noch weniger überprüfbar, weil ins Jenseits verlagert. Jeden Tag ignorieren die
Kämpfer des IS den hundertsten Vers der zehnten Sure des Koran: ER
legt die Unreinheit auf jene, die keinen Verstand haben und darum verstockt
bleiben. In anderer Übersetzung: ER sendet seinen Zorn über jene, die ihre
Vernunft nicht gebrauchen mögen.
Hierin zeigt sich, dass sie perfekte Verbündete jener profanen Gegenaufklärer sind, die in ihren politischen Thesen gern als entschiedene
Feinde des Islamismus auftreten. Dessen wahnhaft-religiöser Anspruch
auf Allmacht über die Menschen korrespondiert mit den Erlösungsrezepten der Rechtspopulisten und ist darum kein Gegner, sondern allenfalls ein Konkurrent um dieselbe mentale Benebelung. Wie immer bei
Feindbildern, stärken sie sich gegenseitig.
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Rational argumentierenden Muslimen ist klar, dass dem Islam eine Zeit
der Aufklärung mit der Trennung von Glaube und Gesetz, von Religion
und Staat bevorsteht, und dass die rückwärtsgewandte Dogmatisierung
von Saudiarabien bis zur Türkei bereits Zeichen eines Verteidigungskampfes sind, dessen hässlichste Fratze derzeit der Terror ist.
Doch zu meinen, man könne die Folgen von Denk- und ErziehungsDefiziten durch Bomben der westlichen Allianz beseitigen, zeugt davon,
dass wir immer noch einem Interventionskonzept verfallen sind, das aus
Kolonialzeiten stammt und der Grund für die vollkommen desaströse
Außen- und Einmischungspolitik der USA seit dem Ende des Koreakrieges ist. Wie kann man nur glauben, dass eine derartige Totschlagreaktion auf die Blutgier des IS die Attraktivität und Vorbildlichkeit des
westlichen Demokratiemodells steigert. Das Gegenteil wird der Fall sein,
denn die militärische Überlegenheit produziert das Bild eines geistig unterlegenen Abendlands, das den islamischen Zeloten nichts anderes entgegenzusetzen hat als Bomben. Ultima ratio irratio ultima.
Auf diese Weise ist es den kriminellen Massenmördern gelungen, uns in
ihre Definition des Glaubenskrieges einzubinden.
Ja, es geht um einen Glaubenskrieg. Doch es ist nicht Krieg gegen einen
anderen Glauben. Sondern der Krieg um den Glauben an uns selbst.
Werden wir, die wir gern in Europa leben, Aufklärung und Vernunft als
unveräußerliche Grundlagen unserer gemeinschaftlichen Existenz behalten, oder werden wir sie mehrheitlich preisgeben? Reicht der Glaube an
unsere Überzeugungskraft? Werden wir den Herren Tusk und Orbán,
der Familie Le Pen, und wie die opportunistischen rechten Blechbläser
alle heißen, Europa überlassen, was unausweichlich in Aggression, Zerfall und vermutlich zumindest in Handelskrieg münden wird; oder be15
sinnen wir uns auf das, was Europa stark gemacht hat? Das war nicht
die überlegene Gewalt, mit der die europäischen Nationen große Teile
der Welt erobert und wieder verloren haben, und für die sie bis heute
heimlich oder offen gehasst werden. Das war – und dafür wird Europa
bewundert – die geistige Befreiung aus den Ketten vererbter Macht und
klerikaler Einschüchterung: die Idee des Citoyen, des gebildeten, entscheidungsfähigen Bürgers. Die Idee weltweit gültiger Menschenrechte.
Wir – wobei dieses Wir eine fragwürdige Hoffnung auf ein ungesichertes
Kollektiv darstellt – wir sind, vielleicht, noch in der Lage, das waltende
Klima der Gegenaufklärung um ein paar Grad abzukühlen, damit uns
nicht seine kommenden Stürme hinwegfegen.
Vor allem die Jugend muss durch Allgemeinbildung, das heißt durch
Chance auf ein kritisches Bewusstsein, sowohl gegen Resignation als
auch gegen Schwärmerei immunisiert werden. Der Anspruch an sie
klingt einfach und ist es nicht: Seht hin! Hört zu! Befragt euch selbst! Erkennt! Und folgert! Denn es geht um nicht weniger als um den Bestand
von zivilisierten Bedingungen, die möglichst für alle ein menschenwürdiges Leben erlauben. Es geht um die Gewissheit, dass das Unglück des
Fremden mein eigenes Glück vermindert. Um das Wissen, dass es keinen sicheren Strand gibt, von dem aus die einen den Untergang der anderen draußen auf See beobachten könnten – sondern nur die See und
das eine gemeinsame schwankende Boot.
Die Gegenaufklärer behaupten, es gäbe sichere Inseln, eingezäunte Ufer.
Gegenaufklärung behauptet, Stacheldraht sei die richtige Antwort auf
die Flucht der fernen Menschen vor ihrer Not. Gegenaufklärung verspricht die feste Burg mit Wall und Graben und verschweigt, dass diese
Idee seit mindestens hundert Jahren eine Ruine ist. Wollen wir diesen Ir16
reführern das Feld überlassen und damit zugleich den Fanatikern in die
Hände spielen?
Wäre es nicht an der Zeit, dass jeder in seinen Möglichkeiten daran arbeitet, das unvollendete Projekt der Moderne, wie es Jürgen Habermas
nennt, fortzuführen? Und all das, was an Lessings Hoffnungen unerfüllt
geblieben ist – um es wieder mit Habermas zu sagen – durch radikalisierte
Aufklärung10 einzulösen?
Angesichts unserer Lage haben wir, glaube ich, keine andere Wahl,
wenn wir nicht... Aber diese Dystopie will ich nicht beschreiben.
Vielmehr will ich Gotthold Ephraim Lessing über fast zweieinhalb Jahrhunderte hinweg zurufen: Wir schaffen das!
1
Enthalten in: In Bluebeard's Castle: Some Notes Towards the Redefinition of Culture; London, Faber&Faber 1971
2
Über die Entstehung der geoffenbarten Religion; in: G.G. Lessings theologischer Nachlass;
Berlin (Voss) 1784
3
Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht, in fünf Aufzügen; Berlin 1779
4
Zweiter Aufzug. Fünfter Auftritt
5
Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts. Berlin 1780
6
Erster Aufzug. Zweiter Auftritt
7
George Tabori: Nathans Tod; Kiepenheuer Bühnenvertrieb 191; auch: Programmheft zur
Münchner Inszenierung; Bayerisches Staatstheater Residenztheater 1991
8
Süddeutsche Zeitung Nr. 269 / 1991, S. 16
9
Günter Grass: Die Rättin; Roman, Darmstadt/Neuwied 1986; S. 189
10
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne; Frankfurt/M 1985
17