NATHAN DER WEISE (1779) von Gotthold Ephraim Lessing

DRAMATURGEN DES STAATSTHEATERS MAINZ ERLÄUTERN
NATHAN DER WEISE (1779) von Gotthold Ephraim Lessing
BESETZUNG
Inszenierung: K.D. Schmidt
Bühne: K.D. Schmidt / Christoph Hill
Kostüme: Lucia Vonrhein
Licht: Peter Meier
Video: Christoph Schödel
Dramaturgie: Malin Nagel
Nathan: Murat Yeginer
Saladin: Martin Herrmann
Sittah: Leoni Schulz
Tempelherr: Rüdiger Hauffe
Recha: Lilith Häßle
Klosterbruder: Clemens Dönicke
Alhafi: Johannes Schmidt
Daja: Anna Steffens
Patriarch: Armin Dillenberger
EINFÜHRUNG
Für die eklatante Frage des 21. Jahrhunderts, die Beschäftigung mit der kosmopolitischen Kultur,
gibt es vielleicht kein Stück, das dafür besser geeignet wäre, als Nathan der Weise. Es gilt als DAS
Stück für Toleranz und Glaubensfragen überhaupt, und in dem das, was die Erziehung zu
aufgeklärtem Denken ausmacht, in paradigmatischer Weise vorgeführt wird. Es sind so vor allem
zwei Haupt-Tendenzen der deutschen Aufklärung, die in diesem Stück deutlich werden:
1. der Versuch durch vernünftiges Denken Vorurteile überwinden zu können und an ihnen
Kritik zu üben.
2. Das, was wir allgemein unter dem Begriff der Toleranz fassen. Mit der ist es allerdings
nicht ganz so einfach. Darauf werde ich gleich noch eingehen.
DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE
1774 veröffentlichte Lessing, der zu dieser Zeit Vorsitzender der Wolfenbütteler Bibliothek des
Herzogs von Braunschweig ist, eine Edition von bibelkritischen Schriften. Diese Veröffentlichungen
lösen den „Fragmentenstreit“ aus - eine scharfe, polemische Auseinandersetzung mit dem
Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze.
Im Zuge der Veröffentlichung und dem dadurch ausgelösten Disput präsentiert Lessing deutlich
sein Konzept von Religiosität:
Lessing lehnt in diesem Zusammenhang "Heilige Bücher" ab, also Offenbarungen, die irgendwie
göttlich inspiriert sein könnten, und an denen Menschen dann nichts mehr kritisieren dürfen. Für
ihn gilt: Jedes Buch ist ein menschliches Buch. Jedes Buch ist Text, und an Text kann man kritisch
herangehen. Daraus ergibt sich für ihn, dass die Bibel eigentlich textlich unsauber gearbeitet ist
und sich Widersprüche einstellen, an denen man sich als selbstständig denkender, religiöser
Mensch abarbeiten muss. Lessing plädiert in diesem Zusammenhang für die unbedingte Freiheit
des Selber Denkens. Also auf das Recht eigenständig zu denken und Kritik zu üben, weil jeder die
Fähigkeiten dazu hat, selbstständig und unabhängig von staatlichen und kirchlichen Autoritäten zu
urteilen.
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Lessing - ganz wichtig - unterscheidet dabei einen Kern von Religiosität von dem, was drum herum
ist. Heilige Schriften, religiöse Symbole, Rituelle Formen und Kultur, das sind Äußerlichkeiten einer
Religion, auf die es Lessing nicht ankommt, der Kern, auf den es ankommt, besteht für ihn in der
moralischen Praxis.
Nur diejenige Religion, die dem Individuum dabei hilft eine moralische Praxis zu entwickeln, ist in
Lessings Sinn eine akzeptable Religion. Moralische Praxis, Sittlichkeit ist demnach das, was
Religion ausmacht. Alles andere sind Äußerlichkeiten, die für Lessing nicht wichtig sind. Wenn
man nun, wie Lessing, das Vertrauen immer wieder aufs Neue schöpft, das Menschen von der
Grundstruktur gleich sind und selbstständig denken können, dann setzt das voraus, das man einen
Beleg, ein persönliches Vertrauen in diese menschliche Vernunft hat. Hinter dieser positiven
Haltung steht, nicht etwa Naivität oder blinder Idealismus, sondern das Vertrauen darauf, also
auch ein Glaube, dass es irgendwo so etwas wie einen Schöpfer geben muss, irgendeine göttliche
Instanz. Dadurch kann Selbstdenken als eine Art Grundvertrauen vorausgesetzt werden.
Selbstverständlich wird dieses Grundvertrauen im Leben immer wieder erschüttert. Lessing verlor
z.B. Frau und sein einziges Kind im Wochenbett…, als er damit begann NATHAN zu schreiben…
Diese Konzeption von Religion ist um 1779, als Lessing Nathan der Weise schrieb, ganz
ungeheuerlich und er bekam schließlich Publikationsverbot in theologischen Angelegenheiten vom
Großherzog in Braunschweig. Im Verlauf dieser Streitigkeiten hat Goetze Lessing immer wieder
vorgeworfen, er sei doch kein richtiger Theologe sondern Dichter, und deswegen immer
unzuverlässig und nicht sauber in der Argumentation.
Goeze: "Dass er in der Kunst mit seiner Theaterlogik und Bildersprache die richtigsten Sachen zu
verwirren und die hellesten in Nebel und Dunkelheit einzuhüllen, das will ich ihm gern zugestehn."
[Goeze, dieser Typus, den Lessing attackiert hat, den finden sie auch im NATHAN wieder: der
Patriarch.]
Lessing: " Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater
wenigstens, dem Theater, noch ungestört will predigen lassen."
Nathan der Weise muss man also verstehen als Fortsetzung des Fragmentenstreits mit anderen
Mitteln - mit Mitteln des Theaters. Das, was sich bei Lessing in seinen theologischen
Streitschriften finden lässt, findet sich nun in dramatisierter Form im Nathan wieder.
FORM UND INHALT
Es geht in NATHAN um die gleichen Themen, um die es schon im Fragementenstreit ging. Um die
Grundfrage: Gibt es EINE wahre Religion? Diese Frage bezieht sich hier nun nicht auf alle
Religionen sondern auf das Judentum, das Christentum und den Islam. Die prominenten,
MONOTHEISTISCHEN Religionen, also. Antwort auf die Frage: Nein, natürlich nicht. Es kommt
darauf an, wie man sie zueinander ins Verhältnis setzt, und was an ihnen jeweils gut geht.
Das Entscheidende Kriterium ist dabei immer die ethische Praxis, die aus einer Religion
hervorgeht - das kann man am Nathan sehr schön verfolgen. Wahrheit einer Religion hängt also
nur von ihrem sittlichen Wert ab und sonst von gar nichts, das zeigt Nathan nicht nur in der
Ringparabel. Und diese Wertigkeit eines „guten, humanen Handelns“ - ist eine Wahrheit - die vom
Menschen hervorgebracht werden muss, und dies nicht durch Theorie, sondern durch praktisches
Handeln. Dabei ist es völlig normal und erwartbar, dass dort, wo Menschen im praktischen
Handeln „das Gute“ versuchen hervorzubringen, Missverständnisse aufkommen und Fehler
passieren. Das passiert auch einer Figur wie Nathan ständig, entscheidend ist dabei aber immer,
ob man nach bestem Gewissen und Verstand agiert oder eben nicht.
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Kurz ein paar Fakten zur FORM und Entstehung
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Es ist ein sehr spätes Werk Lessing und es fällt weitgehend aus den Konzeptionen heraus,
mit denen Lessing vorher Dramen geschrieben hat.
Zwischen EMILIA GALOTTI und NATHAN DER WEISE sind inwzischen einige Jahre
vergangen.
Erstdruck 1779
UA 1783 in Berlin, zwei Jahre nach Lessings Tod.
formal fällt auf: jetzt ist das Stück wieder, und das ist für Lessing wirklich ungewöhnlich zu
diesem Zeitpunkt, in Versform geschrieben. Allerdings nicht, wie in frühen Stücken im
Alexandriner, sondern im Blankvers. Also im fünfhebigen Jambus ohne Reim. Das ist
insofern interessant, als dass das Versmaß ist, mit dem dann später die klassischen
Dramen geschrieben werden (IPHIGENIE AUF TAURIS, MARIA STUART usw.). Er
orientiert sich hier formal am Vorbild Shakespeare und es ist das erste prominente Drama
im Blankvers.
Stoff des Nathan ist fiktiv, ein ganz dünnes Fundament der Realgeschichte gibt es.
Schauplatz: Jerusalem zu Zeit der Kreuzzüge, 12. Jhd. Zwischen dem 2. Und 3. Kreuzzug.
Sultan Saladin herrscht über die Stadt, der christliche Patriarch stellt ebenfalls
Besitzansprüche. Dazwischen die Juden. Zeit, in der Tempelritter Muslime köpfen und
umgekehrt…
INHALT
Mit Mittelpunkt steht Nathan, ein Jude. Schauplatz der Handlungen ist Jerusalem zur Zeit der
Kreuzzüge: 18 Jahre zuvor verlor Nathan Frau und Kinder bei einem Brand. Christen haben das
Haus angezündet. Dem Unbegreiflichen, der Trauer und der Wut begegnet der Kaufmann nicht mit
Vergeltung, sondern mit einer guten Tat. Er nimmt die Waise Recha bei sich auf, ist ihr ein
liebender Vater.
18 Jahre später – und hier setzt Lessings Drama ein – brennt sein Haus wieder. Diesmal wird
Recha von einem Tempelherrn aus den Flammen gerettet. Die Jüdin und der Christ verlieben sich
später ineinander. Daja, die christliche Haushälterin von Nathan ist mit dieser Liebe sehr
einverstanden und verrät dem Tempelherren, dass Recha ein christliches Waisenkind ist. Dass
sich Nathan ihr einst annahm, könnte ihn jetzt nach geltendem Recht auf den Scheiterhaufen
bringen.
Nathans Freund der Derwisch Al-Hafi ist während Nathans Abwesenheit Schatzmeister beim
Sultan geworden. Dieser benötigt dringend Geld von Nathan, um seinen Krieg zu finanzieren und
bestellt ihn zu sich den Palast. Da er gehört hat, dass Nathan von der Bevölkerung als „weiser“
Nathan bezeichnet wird, nutzt er die Gelegenheit eine Frage zu stellen, die ihn umtreibt: Welcher
Glaube ist der einzig wahre und richtige? Als Antwort gibt Nathan, der in diesem Moment
tatsächlich um sein Leben fürchtet, die Geschichte von den drei gleichen Ringen, die berühmte
Ringparabel…die Antwort stellt den Sultan schließlich zufrieden, unmittelbar danach wird sich
dann wieder dem Geschäftlichen zugewandt. Soweit –
…Improvisation…
Im Laufe der Fünf Akte enthüllt sich nach und nach das Schauspiel, so dass die religiösen
Identifikationen, die die Figuren trennen, sich schließlich als zufällig geworden und deshalb
relativierbar erweisen angesichts des familiären Bandes, das sie verknüpft.
Interesse Kade Schmidt…
-Für ihn ist Lessing der hochdramatische und ambitionierte Versuch den Diskurs mit der
Herausbildung einer besseren, normativen Ordnung zu verbinden.
 Für ihn liegt die spannungsreiche Handlung in den hochgradig reflexiven Monologen und
Dialogen, in denen die Figuren über ihr Denken, Fühlen und Verhalten Rechenschaft
ablegen.
 Alle haben eine Vorgschichte, komplexe, vielschichtige Charaktere.
 Kade Schmidt hat einen liebenden, realistischen verständnisvollen Blick auf die Figuren.
 Geht sezierend mit dem Ensemble an das Stück heran
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Nathan ist dabei selbst eine fehlbare Figur, die trotz tiefer Enttäuschungen und
Schicksalsschläge nicht aufhört, nach Versöhnung und dem Guten zu streben.
Er vermag bei sämtlichen Dialogpartnern Mitleidsfähigkeit zu wecken und Selbstreflexion
anzuregen, die das wechselseitige Verständnis befördern.
Die Toleranz
Die Dimension der kritischen Selbstbefragung und der unvoreingenommenen Anerkennung des
Fremden schwingt mit, wenn wir den Begriff der Toleranz verwenden, der sich in der
Rezeptionsgeschichte des Nathan untrennbar an das Stück geheftet hat. Toleranz im
Lessingschen Sinne bleibt jedoch nicht, wie so häufig, bei der Duldung der anderen Position
stehen – zu einfach wäre es so die ebenbürtige Auseinandersetzung mit dem Fremden über die
stillschweigende Duldung zu vermeiden. Lessing geht darüber hinaus und fragt, ob es gelingen
kann, die eigenen Werte zu behaupten, ohne die der Anderen abzuqualifizieren und ohne in
ethischen oder religiösen Relativismus zu verfallen. Nathan der Weise lässt sich so auch als den
ambitionierten Versuch lesen, den Diskurs mit der Herausbildung normativer Ordnung zu
verbinden.
Das Stück endet mit dem Nebentext: „unter stummer Wiederholungen allseitiger Umarmungen fällt
der Vorhang“. –
Wie man mit diesem modellhaften, ja utopischen Schluss umgeht, ist wohl für jede NathanAufführung eine Herausforderung. Da sollen sich plötzlich Menschen, die sich vorher ein
Liebespaar waren und nun erfahren, dass sie Geschwister sind und ihre Onkel und Tante der
Sultan Saladin und die Prinzessin Sittah, sich glücklich in die Arme fallen. Doch diese Familie ist
vielmehr ein Modell allgemeinmenschlicher Versöhnung, und steht in ihrer Modellhaftigkeit über
den spontanen Emotionen, Trieben und kulturellen Konzepten der Menschen. Religionen gehen in
der biologischen Familie auf und Nathan wird mit in diese Familie aufgenommen. Hier also die
Erweiterung des Familienideals auf ein Menschheitsideal.
--> und hier wird die Idee, die Lessing mit Nathan ausdrückt noch mal symbolisch auf den Punkt
gebracht: Religionen sollten letztlich nicht mehr thematisiert werden müssen, sondern für jeden
einzelnen als ein höchst persönliches Instrument fungieren, mit denen der einzelne Mensch zu
einer ethischen Praxis gelangen kann und der Humanitätsgedanke Gestalt annimmt.
Januar 2016
Malin Nagel
Staatstheater Mainz