Dr Macor-Lessing and the German Enlightenment-MT

The University of Oxford
Faculty of Medieval and Modern Languages
MT 2015
Undergraduate Lectures:
Lessing and the German Enlightenment/2
Dr Laura Anna Macor
[email protected]
1.
«Der bessere Teil meines Lebens ist – glücklicher oder unglücklicherweise? – in eine Zeit gefallen,
in welcher Schriften für die Wahrheit der christlichen Religion gewissermaßen Modeschriften
waren. Nun werden Modeschriften [...], eben weil es Modeschriften sind, sie mögen sein von
welchem Inhalte sie wollen, so fleißig und allgemein gelesen, daß jeder Mensch, der sich nur in
etwas mit Lesen abgiebt, sich schämen muß, sie nicht auch gelesen zu haben. Was Wunder also,
daß meine Lektüre ebenfalls darauf verfiel, und ich gar bald nicht eher ruhen konnte, bis ich jedes
neue Produkt in diesem Fache habhaft werden und verschlingen konnte. Ob ich daran gut getan;
auch wenn es möglich gewesen wäre, daß bei dieser Unersättlichkeit, die nemliche wichtige Sache
nur immer von einer Seite plädieren zu hören, die Neugierde nie entstanden wäre, endlich doch
auch einmal zu erfahren, was von der andern Seite gesagt werde: will ich hier nicht entscheiden.
Genug, was unmöglich ausbleiben konnte, blieb bei mir auch nicht einmal lange aus. Nicht lange;
und ich suchte jede neue Schrift wider die Religion nun eben so begierig auf, und schenkte ihr eben
das geduldige unparteiische Gehör, das ich sonst nur den Schriften für die Religion schuldig zu sein
glaubte. So blieb es auch eine geraume Zeit. Ich ward von einer Seite zur andern gerissen; keine
befriedigte mich ganz. Die eine sowohl als die andere ließ mich nur mit dem festen Vorsatze von
sich, die Sache nicht eher abzuurteln, quam utrinque plenius fuerit peroratum. Bis hieher, glaub’
ich, ist es manchem andern gerade eben so gegangen. Aber auch in dem, was nun kömmt?
Je zusetzender die Schriftsteller von beiden Teilen wurden – und das wurden sie so ziemlich in
der nemlichen Progression: der neueste war immer der entscheidendste, der hohnsprechendste –
desto mehr glaubte ich zu empfinden, daß die Wirkung, die ein jeder auf mich machte, diejenige gar
nicht sei, die er eigentlich nach seiner Art hätte machen müssen. [...] Je bündiger mir der eine das
Christentum erweisen wollte, desto zweifelhafter ward ich. Je mutwilliger und triumphierender mir
es der andere ganz zu Boden treten wollte: desto geneigter fühlte ich mich, es wenigstens in
meinem Herzen aufrecht zu erhalten» (G. E. Lessing, Bibliolatrie, 1779, in G. E. Lessing, Werke
1778–1781, hrsg. v. A. Schilson u. A. Schmitt, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main
2001 [G. E. Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 10], 171–172).
2.
«Es wäre ein Wunder, wenn ein so seltner Geist dem Verdachte der Atheisterei entgangen wäre.
Hat man oft mehr gebraucht, ihn auf sich zu laden, als selbst zu denken und gebilligten Vorurteilen
die Stirne zu bieten?» (G. E. Lessing, Rettung des Hier. Cardanus, in G. E. Lessing, Werke 1754–
1757, hrsg. v. C. Wiedemann unter Mitwirkung v. W. Barner u. J. Stenzel, Deutscher Klassiker
Verlag, Frankfurt am Main 2003 [G. E. Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3], 198).
3.
«…in bürgerlichen Händeln [...] [ist] sein Verlust notwendig mit des andern Gewinne verbunden
[...]. Dieses aber findet sich, bei den Streitigkeiten, welche die Wahrheit zum Vorwurfe haben,
nicht. Man streitet zwar um sie; allein es mag sie der eine oder der andre Teil gewinnen, so gewinnt
1 er sie doch nie für sich selbst. Die Partei welche verlieret, verlieret nichts als Irrtümer; und kann alle
Augenblicke an dem Siege der andern, Teil nehmen. Die Aufrichtigkeit ist daher das erste, was ich
an einem Weltweisen verlange. Er muß mir keinen Satz deswegen verschweigen, weil er mit seinem
System weniger überein kömmt, als mit dem System eines andern; und keinen Einwurf deswegen,
weil er nicht mit aller Stärke darauf antworten kann. Tut er es aber, so ist es klar, daß er aus der
Wahrheit ein eigennütziges Geschäfte macht, und sie in die engen Grenzen seiner Untrüglichkeit
einschließen will. – Diese Anmerkung also voraus gesetzt, möchte ich doch wissen, wie man eine
ernsthafte Beschuldigung daraus machen könne, wenn ein Philosoph auch die falschen Religionen,
und die aller gefährlichsten Sophistereien, in das aller vorteilhafteste Licht setzt, um sich die
Widerlegung, nicht sowohl leicht, als gewiß zu machen? [...] Würden sie deswegen weniger falsch
bleiben, oder würde unser Glaube deswegen weniger wahr werden? [...] Man braucht nur ohne
Vorurteile zu sein, um hierinne mit mir überein zu kommen» (G. E. Lessing, Rettung des Hier.
Cardanus, 211–212).
4.
«Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur
Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten
kommen, muß natürlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen
Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr
Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin
mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfordert einen einzeln
Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen» (G. E.
Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 16.6.1767, in G. E. Lessing, Werke 1767–1769, hrsg. v. K.
Bohnen, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1985 [G. E. Lessing, Werke und Briefe in
zwölf Bänden, Bd. 6], 251).
5.
«[…] so sage ich nunmehr, die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid
zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid
zu fühlen, sondern sie soll uns weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und
unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß [...]. Der mitleidigste Mensch ist der beste
Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut aufgelegteste» (Lessing
an Nicolai, November 1756, in G. E. Lessing, Werke 1754–1757, hrsg. v. C. Wiedemann unter
Mitwirkung v. W. Barner u. J. Stenzel, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2003 [G. E.
Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3], 671).
6.
«Aber das erkenne ich für wahr, daß kein Grundsatz, wenn man sich ihn recht geläufig gemacht hat,
bessere Trauerspiele kann hervorbringen helfen, als der: Die Tragödie soll Leidenschaften erregen.
[...].
Das meiste wird darauf ankommen: was das Trauerspiel für Leidenschaften erregt. In seinen
Personen kann es alle möglichen Leidenschaften wirken lassen, die sich zu der Würde des Stoffes
schicken. Aber werden auch zugleich alle diese Leidenschaften in den Zuschauern rege? Wird er
freudig? wird er verliebt? wird er zornig? wird er rachsüchtig? [...]
Kurz, ich finde keine einzige Leidenschaft, die das Trauerspiel in dem Zuschauer rege macht,
als das Mitleiden. Sie werden sagen: erweckt es nicht auch Schrecken? erweckt es nicht auch
Bewunderung? Schrecken und Bewunderung sind keine Leidenschaften, nach meinem Verstande.
Was denn? [...]
Setzen sie sich hier auf Ihre Richterstühle, meine Herren, Nikolai und Moses. Ich will es sagen,
was ich mir unter beiden vorstelle.
Das Schrecken in der Tragödie ist weiter nichts als die plötzliche Überraschung des Mitleides,
2 ich mag den Gegenstand meines Mitleids kennen oder nicht. Z. E. endlich bricht der Priester damit
heraus: Du Oedip bist der Mörder des Lajus! Ich erschrecke, denn auf einmal sehe ich den
rechtschaffnen Oedip unglücklich; mein Mitleid wird auf einmal rege. Ein ander Exempel: es
erscheinet ein Geist; ich erschrecke: der Gedanke, daß er nicht erscheinen würde, wenn er nicht zu
des einen oder zu des andern Unglück erschiene, die dunkle Vorstellung dieses Unglücks, ob ich
den gleich noch nicht kenne, den es treffen soll, überraschen mein Mitleid, und dieses üebrraschte
Mitleid heißt Schrecken. Belehren Sie mich eines Bessern, wenn ich Unrecht habe.
Nun zur Bewunderung! Die Bewunderung? O in der Tragödie, um mich ein wenig orakelmäßig
auszudrucken, ist das entbehrlich gewordene Mitleiden. Der Held ist unglücklich, aber er ist über
sein Unglück so weit erhaben, er ist selbst so stolz darauf, daß es auch in meinen Gedanken die
schreckliche Seite zu verlieren anfängt, daß ich ihn mehr beneiden, als bedauern möchte.
Die Staffeln sind also diese: Schrecken, Mitleid, Bewunderung. Die Leiter aber heißt: Mitleid;
und Schrecken und Bewunderung sind nichts als die ersten Sprossen, der Anfang und das Ende des
Mitleids [...]. Das Schrecken braucht der Dichter zur Ankündigung des Mitleids, und Bewunderung
gleichsam zum Ruhepunkt desselben. Der Weg zum Mitleid wird dem Zuhörer zu lang, wenn ihn
nicht gleich der erste Schreck aufmerksam macht, und das Mitleiden nützt sich ab, wenn es sich
nicht in der Bewunderung erholen kann. [...] Das Schrecken, habe ich gesagt, ist das überraschte
Mitleiden; ich will hier noch ein Wort hinzusetzen: das überraschte und unentwickelte Mitleiden;
folglich wozu die Überraschung, wenn es nicht entwickelt wird? Ein Trauerspiel voller Schrecken,
ohne Mitleid, ist ein Wetterleuchten ohne Donner. [...] Die Bewunderung, habe ich mich
ausgedrückt, ist das entbehrlich gewordene Mitleid. Da aber das Mitleid das Hauptwerk ist, so muß
es folglich so selten als möglich entbehrlich werden; der Dichter muß seinen Held nicht zu sehr,
nicht zu anhaltend der bloßen Bewunderung aussetzen...» (Lessing an Nicolai, November 1756, in
G. E. Lessing, Werke 1754–1757, 669–673).
7.
«“Niemand, sagen die Verfasser der Bibliothek, wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen
großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe“.
Ich bin dieser Niemand; ich leugne es gerade zu. Es wäre zu wünschen, daß sich Herr Gottsched
niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreffen entweder
entbehrliche Kleinigkeiten, oder sind wahre Verschlimmerungen.
Als die Neuberin blühte, und so mancher den Beruf fühlte, sich um sie und die Bühne verdient
zu machen, sahe es freylich mit unserer dramatischen Poesie sehr elend aus. Man kannte keine
Regeln; man bekümmerte sich um keine Muster. Unsre Staats- und Helden-Actionen waren voller
Unsinn, Bombast, Schmutz und Pöbelwitz. Unsre Lustspiele bestanden in Verkleidungen und
Zaubereien; und Prügel waren die witzigsten Einfälle derselben. Dieses Verderbnis einzusehen,
brauchte man eben nicht der feinste und größte Geist zu sein. [...] Und wie ging er zu Werke? Er
verstand ein wenig Französisch und fing an zu übersetzen [...] er wollte nicht sowohl unser altes
Theater verbessern, als der Schöpfer eines ganz neuen sein. Und was für eines neuen? Eines
Französirenden; ohne zu untersuchen, ob dieses französirende Theater der deutschen Denkungsart
angemessen sei, oder nicht.
Er hätte [...] hinlänglich bemerken können, daß wir mehr in den Geschmack der Engländer, als
der Franzosen einschlagen; daß wir in unsern Trauerspielen mehr sehen und denken wollen, als uns
das furchtsame französische Trauerspiel zu sehen und zu denken gibt; daß das Grosse, das
Schreckliche, das Melancholische, besser auf uns wirkt als das Artige, das Zärtliche, das Verliebte;
daß uns die zu grosse Einfalt mehr ermüde, als die zu grosse Verwickelung etc. Er hätte also auf
dieser Spur bleiben sollen, und sie würde ihn geraden Weges auf das englische Theater geführet
haben. [...]
Wenn man die Meisterstücke des Shakespeare, mit einigen bescheidenen Veränderungen,
unsern Deutschen übersetzt hätte, ich weiß gewiß, es würde von bessern Folgen gewesen sein, als
daß man sie mit dem Corneille und Racine so bekannt gemacht hat. [...] Der Engländer erreicht den
3 Zweck der Tragödie fast immer, so sonderbare und ihm eigene Wege er auch wählet [...] Nach dem
Ödipus des Sophokles muß in der Welt kein Stück mehr Gewalt über unsere Leidenschaften haben,
als Othello, als König Lear, als Hamlet etc.» (G. E. Lessing, Briefe, die neuestes Litteratur
betreffend, 17. Brief, 16.02.1759, 97–101: http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/brieneulit/
brieneulit.htm).
8.
«Ich möchte wohl sagen, daß sich, nach dem Aristoteles, kein philosophischerer Geist mit dem
Theater abgegeben hat, als Er.
Daher sieht er auch die Bühne seiner Nation bei weitem auf der Stufe der Vollkommenheit
nicht, auf welcher sie, unter uns die schalen Köpfe erblicken, an deren Spitze der Prof. Gottsched
ist. Er gestehet, daß ihre Dichter und Schauspieler noch weit von der Natur und Wahrheit entfernet
sind; daß beider ihrer Talente, guten Teils, auf kleine Anständigkeiten, auf handwerksmäßigen
Zwang, auf kalte Etiquette hinauslaufen etc.
Selten genesen wir eher von der verächtlichen Nachahmung gewisser französischen Muster, als
bis der Franzose selbst diese Muster zu verwerfen anfängt. Aber oft auch dann noch nicht.
Es wird also darauf ankommen, ob der Mann, dem nichts angelegener ist, als das Genie in seine
alte Rechte wieder einzusetzen, aus welchen es die missverstandene Kunst verdränget; ob der
Mann, der es zugestehet, daß das Theater weit stärkerer Eindrücke fähig ist, als man von den
berühmtesten Meisterstücke eines Corneille und Racine rühmen kann; ob dieser man bei uns mehr
Gehör findet, als er bei seinen Landsleuten gefunden hat.
Wenigstens muß es geschehen, wenn auch wir einst zu den gesitteten Völkern gehören wollen,
deren jedes seine Bühne hatte.
Und ich will nicht bergen, daß ich mich einzig in solcher Hoffnung der Übersetzung dieses
Werks unterzogen habe» (G. E. Lessing, Das Theater des Herrn Diderot aus dem Französischen,
Vorrede des Übersetzers, in G. E. Lessing, Werke 1760–1766, hrsg. v. W. Barner, Deutscher
Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 1990 [G. E. Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 5/1],
13–14).
4