Hannoversche Sprachstudien

Theodor Lessing/Théodore Le Singe
Jäö
Hannoversche Sprachstudien
Neu herausgegeben von Andreas Skrziepietz
Theodor Lessing/Théodore Le Singe
JÄÖ
Hannoversche Sprachstudien
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten abrufbar unter:
http://d-nb.de
Satz: Andreas Skrziepietz
Umschlaggestaltung: Andreas Skrziepietz
Der Text folgt der Ausgabe
„Jäö. Studienblätter“
Friedrich Gernsbach, Hannover 1919
Kontakt: [email protected]
Inhalt
Vorwort zum Vorwort ����������������������������������� 4
Vorwort ��������������������������������������������������������12
Meine Ankunft ���������������������������������������������16
Mahlzeit in Hannover ��������������������������������� 22
Káffe und Besuch �����������������������������������������27
Káffe am Sonntag ���������������������������������������� 33
Meine Privatstunden bei Helene ���������������� 42
Schimpfwörter, gelernt bei Mile ����������������� 50
Extrastunde über Prügel bei Onkel Heinerich �������������������������������������������53
Kleine Bilder ������������������������������������������������55
Aus meiner Sammlung von Familien-Redensarten �������������������������������� 88
Unsere Verlobung ������������������������������������� 117
Vorwort zum Vorwort
Dialekt und Hannover? Das passt irgendwie nicht zusammen,
geht man im allgemeinen doch davon aus, daß in Hannover
das reinste Hochdeutsch gesprochen wird. Das stimmt natürlich auch und ist der Tatsache geschuldet, daß das ost- und das
westfälische Sprachgebiet hier aneinander stoßen, wodurch
sich die jeweiligen Dialekte sozusagen auslöschen. Trotzdem
gibt es einen Hannoveraner Dialekt. Man hört ihn nur noch
selten und wenn, dann von älteren Menschen.
Das „s“ wird vor Konsonanten meist stimmlos gesprochen
(also „ge-ßprochen“, nicht „geschprochen“), das „r“ klingt oft
wie „ch“ in „machen“ („Spochtacht“ statt „Sportart“, „Machtin“ statt „Martin“).
Ganz charakteristisch ist die Aussprache des „a“, von Kurt
Tucholsky das „getrübte a“ genannt: Da die Lautverbindung
„ei“ im Hannoverschen wie [a] gesprochen wird, braucht man
einen Laut, um das „ei“ vom echten „a“ unterscheiden zu können, weil man sonst zwischen „Aale“ (=Eile) und „Aale“ keinen Unterschied hören würde. Dieser Laut ist das „getrübte a“
und wird [äö] ausgesprochen.
Wie das alles ungefähr klingt, kann man sich hier anhören:
http://www.wir-sind-hannoveraner.de
Tucholsky beschreibt den Hannoveraner Dialekt in der kleinen Erzählung „Der Buchstabe G“: „Onkel Erich kam neulich
4
zu Besuch. Er ist aus Hannover, wo sie das reinste Deutsch
sprechen – das allerreinste...“
1
Ob er wirklich einen Onkel in Hannover hatte, weiß ich nicht.
Aber er erwähnt das vorliegende Buch von Theodor Lessing,
die wohl umfangreichste Beschreibung des Hannoveraner
Dialektes, die es gibt.
Kurt Tucholsky ist jedem ein Begriff. Aber wer war Theodor
Lessing? Seine literarischen und wissenschaftlichen Werke2
sind weitgehend vergessen, als Philosoph hat er keinen bleibenden Einfluss ausgeübt geschweige denn ein „System“
begründet. Hirschbergers „Geschichte der Philosophie“
erwähnt ihn nicht als Philosophen, sondern als Freund des
Philosophen Ludwig Klages.
3
Selbst in seiner Heimatstadt Hannover kennt man ihn
kaum noch. Das war nicht immer so. In der Weimarer
Republik gehörte er
angeblich zu den drei bekanntesten
Hannoveranern:
„Schlagzeilen ... machten während der Weimarer Epoche
nur drei Bewohner von Hannover: der Knabenmörder Fritz
Haarmann; der pensionierte Generalfeldmarschall Paul von
Beneckendorf und von Hindenburg; der Privatdozent und
1 Tucholsky K. Sprache ist eine Waffe. Sprachglossen. Reinbek bei
Hamburg 1997, S. 94
2 Ein Verzeichnis seiner Veröffentlichungen findet man hier:
www.uni-potsdam.de/db/lessing/Downloads/Gesamtbibliographie%20Theodor%20Lessing.pdf
3 Hirschberger J. Geschichte der Philosophie. Band II. Freiburg,
o.J., S. 591
5
Titularprofessor Dr. phil. Theodor Lessing.“ 4
Als im Jahre 1982 der Platz vor der Universität nach Lessing benannt werden sollte, war die CDU-Fraktion dagegen.
Begründung: Lessing sei der „meistgehasste Mann in Hannover“ gewesen.
Aber beginnen wir am Anfang 5:
Theodor Lessing wurde am 08.02.1872 in Hannover als Sohn
eines jüdischen Arztes geboren. Die Ehe der Eltern war nicht
glücklich, was möglicherweise dazu beitrug, daß Lessing ein
notorischer Schulversager wurde. Erst auf einem Internat
in Hameln gelang es ihm, im September 1892 das Abitur zu
bestehen. Zuvor hatte ihm ein patriotischer Vortrag anlässlich
des Sedanstages von 1891 die Sympathie des Direktors erworben. Es schloss sich das Studium der Medizin an, zunächst in
Freiburg, dann in Bonn, wo er 1894 das Physikum bestand.
Damit war seine medizinische Laufbahn aber auch bereits
beendet, das medizinische Staatsexamen hat er nie abgelegt.
Der Eintrag „Dr. med.“ in seinem Militärpass scheint auf
einem Irrtum beruht zu haben.
20 Jahre später, während des Ersten Weltkriegs, war es Lessing aufgrund dieses Eintrags möglich, eine Stelle als Hilfsarzt
4 Mayer H. Der Repräsentant und der Märtyrer. Konstellationen
der Literatur, Frankfurt a.M. 1971, S. 98f.
5 Ich stütze mich für das folgende auf:
Hartwig J. „Sei was immer du bist“. Theodor Lessings wendungsvolle Identitätsbildung als Deutscher und Jude. Oldenburg 1999
6
in einem Lazarett bei Hannover anzunehmen. Er tat das nach
eigener Aussage, um dem Dienst an der Front zu entgehen.
Das ist insofern eigenartig, als Lessing zu Beginn des Krieges
bereits 42 Jahre alt war. Bertolt Brecht arbeitete ebenfalls in
einem Lazarett, um nicht an die Front zu müssen, aber er war
26 Jahre jünger als Lessing und sicher viel eher von der Einberufung bedroht als letzterer.
Lessing scheint zunächst wirklich geplant zu haben, den Arztberuf zu ergreifen und in München mit einer Arbeit über die
Schilddrüse zu promovieren, aber die Panizza-Affäre durchkreuzte diesen Plan: Oskar Panizza, ein heute vergessener
Schriftsteller, hatte im Jahre 1895 in seinem Theaterstück
„Das Liebeskonzil“6 Kritik an der katholischen Kirche geübt.
Heute ist das einzig bemerkenswerte an diesem Stück, daß es
mehr Regieanweisungen als Text enthält, aber 1895 brachte
es dem Autor ein Jahr Haft wegen Gotteslästerung ein. Lessing verfasste eine Verteidigungsschrift, die Panizza zwar
nichts nützte, aber immerhin dazu führte, daß die Münchner
Literaturszene auf Lessing aufmerksam wurde. Fortan lebte
er als Buch- und Theaterkritiker – ohne davon leben zu können, denn der Lebensunterhalt wurde vom Großvater, einem
Bankier, finanziert.
Im Jahre 1899 starb der Großvater unerwartet und hinterließ
ihm statt des erhofften Vermögens – nichts. Ein Job musste
6 Panizza O. Das Liebeskonzil. FfM, 1976
7
her. Die Universität Erlangen hatte Lessings medizinische
Studien als philosophische anerkannt - damals waren die
Grenzen zwischen den Fakultäten offenbar noch fließend und ihn mit einer Arbeit über den russischen Philosophen
Afrikan Spir zum Dr. phil promoviert. Nachdem in Gießen ein
weiterer Versuch, das medizinische Staatsexamen zu erlangen, gescheitert war, nahm er eine Stelle als Lehrer in Sachsen an. Um sein Gehalt aufzubessern, begann er, im Dresdener Hauptbahnhof philosophische Vorträge über Nietzsche,
Schopenhauer und Wagner zu halten. In diese Zeit fallen
Lessings Anschluss an die Sozialdemokratie und der Plan,
sich in Göttingen bei Edmund Husserl, dem Begründer der
Phänomenologie, zu habilitieren. Husserl verwies ihn an die
TU Hannover, wo er im Jahre 1908 eine Probevorlesung mit
dem Titel „Über das Prinzip des kleinsten Kraftaufwandes in
der Philosophie“ hielt. Noch am gleichen Tag wurde er als Privatdozent für Philosophie und Pädagogik habilitiert, als Habilitationsschrift wurde seine Schrift „Der Bruch in der Ethik
Kants“ angenommen. Eine außerplanmäßige Professur und
einen Lehrauftrag über die „Philosophie der Naturwissenschaften“ erhielt er allerdings erst Anfang der 20er Jahre. Die
schlechte Bezahlung als Privatdozent zwang Lessing zu publizistischer Tätigkeit. Er veröffentlichte etwa 2000 Artikel in
Zeitungen und Zeitschriften, andererseits fehlte ihm dadurch
die Zeit, ein philosophisches Hauptwerk zu verfassen.
8
Es war auch ein Zeitungsartikel, der Lessing bei nationalen
Kreisen in Ungnade fallen ließ. Im Februar 1925 war Reichspräsident Ebert gestorben. Keiner der sieben Kandidaten
für die Nachfolge erreichte im ersten Wahlgang die absolute
Mehrheit. Für den zweiten Wahlgang einigten sich die republikanischen Parteien auf den ehemaligen Reichskanzler Wilhelm Marx von der Zentrumspartei. Die Deutschnationalen
stellten den 78jährigen Paul v. Hindenburg auf, der am ersten
Wahlgang noch gar nicht teilgenommen hatte. Er wurde am
26. April 1925 mit knapper Mehrheit gewählt. 7
Einen Tag vor der Wahl hatte das „Prager Tagblatt“ ein von
Lessing verfasstes psychologisches Portrait Hindenburgs
veröffentlicht, das im Mai vom national gesinnten „Hannoverschen Kurier“ nachgedruckt wurde. Lessings Beurteilung
Hindenburgs war nicht so negativ, wie man es vielleicht
erwartet hätte. Er beschrieb Hindenburg als einfachen und
beschränkten, aber treuen, gradlinigen und durchaus wohlwollend-dienstbaren Mann, der allerdings äußerst lenkbar
und deshalb für das Amt des Reichspräsidenten ungeeignet
sei. „Ein Bernhardiner, doch nur gerade so lange, als ein kluger Mensch da ist, der ihn in seine Dienste spannt und apportieren lehrt; in Freiheit würde aus ihm ein führungsloser Wolf
[...] Nach Plato sollen die Philosophen Führer der Völker sein.
Ein Philosoph würde mit Hindenburg nun eben nicht den
7 Erdmann KD. Die Weimarer Republik. In: Gebhardt. Handbuch
der deutschen Geschichte Band 19. München 1997. S. 220f.
9
Thronstuhl besteigen. Nur ein repräsentatives Symbol, ein
Fragezeichen, ein Zero.“ 8
Die damals überwiegend national gesinnte Studentenschaft
reagierte empört und versuchte, Lessings Absetzung zu erreichen. Ein „Kampfausschuss gegen Lessing“ wurde gebildet,
seine Vorlesungen wurden blockiert. Auch zahlreiche Kollegen legten Lessing den Verzicht auf die Professur nahe.
Unterstützung kam vom preußischen Kultusminister und
von Carl v. Ossietzky. Im Juni 1925 fand sogar eine Solidaritätskundgebung mit 3000 Teilnehmern für Lessing statt. Da
er sich für das anstehende Wintersemester beurlauben ließ,
flaute die Kampagne gegen ihn ab. Sie setzte sich im Juni
1926 zunächst fort, als Lessing von mit Knüppeln bewaffneten Studenten verfolgt und beschimpft wurde. Letztlich war
der Zenit aber überschritten, ein von den Burschenschaften
organisierter reichsweiter Streik scheiterte und Lessings Vorlesungen konnten wieder nahezu ungestört stattfinden. Es ist
bisher ungeklärt, was dazu führte, daß er sich jetzt plötzlich
bereit erklärte, auf weitere Vorlesungen zu verzichten und
damit einverstanden war, seinen Lehrauftrag in einen Forschungsauftrag umwandeln zu lassen. Lessing zog sich ins
Privatleben zurück und publizierte viel, unter anderem, um
das magere Gehalt aufzubessern. Ab 1927 war er Mitglied
der Redaktion der Zeitschrift „Der Fascismus. Blätter zum
8 Lessing T. Hindenburg. In: Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte. Darmstadt-Neuwied 1986, S. 65-69
10
Studium des Fascismus“.
Daß er im nationalsozialistischen Deutschland keine Zukunft
haben würde, muß Lessing klar gewesen sein. So erklärt sich
wohl die frühzeitige Emigration nach Marienbad im März
1933. Er plante ein Landerziehungsheim für Kinder emigrierter Juden und veröffentlichte NS-kritische Artikel im „Prager
Tagblatt“. Im Mai 1933 wurden in Deutschland seine Bücher
verbrannt, im August wurde er offiziell ausgebürgert. Am
30. August 1933 wurde Theodor Lessing von Mitgliedern der
Sudetendeutschen Partei in seinem Arbeitszimmer erschossen. Sein Grab befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof in
Marienbad.
Die Stadt Hannover benannte im Jahre 1982 den Platz vor
dem Hauptgebäude der Volkshochschule nach Lessing. Er
war im Jahre 1918 an der Gründung der Volkshochschule
Hannover-Linden beteiligt gewesen. Die Vermutung liegt
nahe, daß er in diesem Arbeiterviertel auch oft den Hannoveraner Dialekt gehört hat und so der Plan zur Veröffentlichung
der „Studienblätter“ reifte, die 1919 herauskamen.
Andreas Skrziepietz
Hinweise und Kritik sind zu richten an:
[email protected]
11
Vorwort
„Théodore“, sagte mein seliger Vater zu mir, als ich zwanzig
Jahre alt geworden war, „du hast nun, mein lieber Sohn, alles
empfangen, was die französische Erziehung einem jungen
Manne auf seinen Lebensweg mitzugeben vermag. Der Hauptteil deiner Bildung aber steht noch aus. Der furchtbare Krieg
hat den Völkern Wunden geschlagen. Alle Brücken scheinen
zerstört zu sein. Ich aber möchte wohl gern für mein bescheiden Teil an der Verbrüderung aller guten europäischen Menschen mitarbeiten dürfen. Kein zweites Bündnis aber scheint
mir so wichtig, wie das der Deutschen und Franzosen. Diese
beiden Volksseelen glauben heute einander zu hassen. Welch
ein Gewinn, wenn sie sich lieben lernen. Darum, Théodore,
werde ich dich nach Deutschland schicken. Und damit du das
Wesen deutscher Volkheit und den Träger ihres Geistes, die
deutsche Sprache, quellfrisch aus ihrem Mutterborne schöpfen kannst, schicke ich dich ins Herz Deutschlands, in jene
schöne Stadt, wo der deutsche Laut am reinsten und richtigsten gesprochen wird.
Nach Hannover schicke ich dich! Dort wirst du dich zum
Kerne der Volksseele durcharbeiten. Denn es ist allbekannt,
daß die lernbegierige Jugend aller Länder, wenn sie das
reinste Deutsch erlernen will, in dieser wohlgeordneten und
geistig regen Stadt zusammenströmt. Als eine besondere
Gunst deines Schicksals begrüße ich, daß mir dort ein alter
12
Jugendgenosse lebt, Herr George Pannemeier, ein wackerer
umsichtiger Mann, der mir soeben schreibt, daß er bereit ist,
dich auf ein Jahr in seine Familie aufzunehmen. Er wohnt
in Niedersachsen, in Hannover, in der Straße Am Bokemahl. Ich verstehe das Wort nicht; aber ich weiß, du wirst
in seinem Hause wohlversorgt sein. Und wenn mein Junge“
- hier lächelte mein Vater in der ihm eigenen schelmischen
Weise - „in der ersten Zeit, trotz deiner gediegenen Kenntnis des Deutschen, dir noch manches fremd erscheinen sollte,
wenn dich Heimweh anwandeln sollte nach unsrer schönen
Lichtstadt Paris, dann ist zu deinem Trost ein blonder freundlicher Engel da, just in deinem Alter. Ich glaube, diese junge
Dame wird der beste Lehrer der edlen deutschen Sprache für
dich werden. Und nun reise mit Gott“.
Ich gab meinem lieben Vater Kuß und Handschlag, und unter
heißen Tränen fuhr ich gen Hannover. Alte tüchtige treue
Stadt! Welche Überraschung schenktest du mir. Ich kam, um
die Normalschule der deutschen Sprache durchzumachen.
Und fand eine Sprache, wesensecht, lebensfrisch, volkhaft,
wie keine zweite in Europa. Wir kennen in den südlichen Ländern dreierlei Volksart.
Wir unterscheiden alle Menschen mit romanischer Zunge
nach ihrer Aussprache des Ja. Das Italienische nennen wir
langue de si. Das Französische nennen wir langue d‘oui. Das
Spanische nennen wir langue d‘oc, Nun habe ich auch in
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Deutschland einen Volksstamm entdeckt, der anders ,Ja‘ sagt
als alle anderen. Es ist ein noch unerforschtes Land. Aber es
ist schwierig, seine Sprachgewohnheiten zu verstehen. Für
andere deutsche Mundarten gibt es festgelegte Schreibweisen und Überlieferungen. Für die stadthannöversche aber
müssen wir die Überlieferung erst schaffen, und oftmals ist
es schwer, ja vielleicht unmöglich, die Klänge des gehörten
Wortes auch im Schriftbilde richtig wiederzugeben. Damit
aber auch der nichthannöversche Leser alles richtig verstehe,
schicke ich einige Regeln voraus.
Das a spricht der Hannoveraner meistens wie äö (Jäö). Nur
kurzes a wird nahezu rein gesprochen (z. B. Gu‘n Tach = guten
Tag; machste ässen=magst du essen?).
Das aa schwebt in der Mitte zwischen äö und öö. Ich schreibe
daher z. B. aan päör Häöre = ein paar Haare, Aöle = Aale. Das
ei klingt wie aa (Ba ’er Laane liecht ’er Laanekanäöl = bei der
Leine liegt der Leinekanal). Das e ist wie ä; wird aber oft sehr
gedehnt (Schwäärt, Pfäärd). Schwierig ist die Wiedergabe
von ei bei nachfolgendem eh und sch. Man benötigte dazu
eines Schriftzeichens ähnlich dem untergeschriebenen Jota
der alten Griechen. Ich deute die Sprechweise an, indem ich
schreibe statt leicht laaicht, statt Eiche Aaiche, statt kreischen,
kraaischen. Das s vor Konsonanten wird scharf gesprochen.
Und nun laßt uns reisen in das Land Jäö. Aber eine Bitte
zuvor: Haltet Übertreibung nicht für Mangel an Ehrfurcht
14
und verkennt hinter dem Scherz nicht die Liebe.
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Meine Ankunft
Die Eltern hatten mir gesagt, daß Hélène Pannemeier am
Bahnhof in Hannover mich abholen solle. Darum hatte ihr
Vater an den meinen ihr Bildnis geschickt, daß wir einander
nicht verfehlten. Wie viele Male hatte Papa mit mir von seinem Jugendfreunde in Hannover gesprochen ...
Ich konnte den Augenblick meiner Ankunft kaum erwarten.
Und da war ich schon! Auf dem Bahnsteig stand sie: Hélène!
An ihrer Seite ein jüngeres Mädchen, in weißer Musseline,
ihre Schwester Emilie. Ich erkannte die beiden sofort. Hélène
reichte mir lachend und zwanglos ihre zarte und tüchtige
Hand. Dabei sagte sie ,Patschhand geben‘ und die meine
nannte sie ,Bruderflosse‘, was ich mir sofort merkte für meine
Sprachstudien. Als wir aus der Bahnhofshalle traten, ereignete sich der erste einer Reihe von Auftritten, die mir bewiesen, daß ich dem feineren Geiste der deutschen Bildung noch
völlig fern stand. Es fiel ein belebender Frühlingsregen. Der
Bürgersteig war naß. Vor dem Bahnhofe stand ein eisernes
Roß; darauf saß ein Mann mit Zipfelmütze.
Plötzlich hörte ich den Ausruf Hélènes: „Gitte ne! So‘n
Matsch“. Indem ich mich nach ihr umwenden will, gerate ich
mit einem Fuß in eine Wasserlache und höre hinter mir rufen:
„Mile häbe dich auf. Du bekömmst aanen Hammel! Daan
Rock päötscht gräöde ins dickste Wasser!“
Ich verstand kein Wort. Ich staunte, als Emiliens Stimme
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erwiderte: „Das ßtippert man 'en büschen“, worauf die ältere
Schwester die Rückantwort hauchte: „Es dröppelt sachtemang. Richtiggähendes Schlabberwetter!“ „Och was!“ sagte
Mile, „es rägent nüch mähr“. Aber Hélène rief: „Flötjepipen!
Es pladdert mit Mulden; wie nüch doll. Kucke mäöl däö!“
Nicht ein Wort begriff ich. Mir ahnte nur dunkel, daß vom
Regenwetter und Unterkleidern die Rede war. Ich sprang
sofort diensteifrig hinzu und bot den Damen meinen Regenschirm; aber zu meinem Erstaunen erwiderte Mademoiselle
Hélène: „Häöben Se sich nüch so. Mit Ihrem zwaaschläfrichem Pareplü!“ Und darauf winkte sie mit einer wahrhaft
königlichen Gebärde nach einem der Fiaker, deren eine große
Schar vor den Pforten stand, zu meiner Verwunderung alle
mit herabgelassenem Oberdach. Indessen schien zwischen
den beiden Mädchen ein liebenswürdiger kleiner Streit sich
zu entwikkeln, ob der Weg bis zum ,Bokemäöhl‘ zu Fuß oder
im Wagen zurückgelegt werden solle. Wenigstens hörte ich,
wie die jüngere, Emilie, das Wort gebrauchte: „Es miselt
bloß. Nu geher man zu. Ich maane, wir machen uns auf die
Strümpfe und nähmen den Wäch zwischen die Baane“ .
Bei diesen Wendungen errötete ich unwillkürlich. Ich fürchtete (da ich die Sprache Hannovers im Gegensatz zum übrigen Deutsch nicht verstand), daß bei dem jugendlichen Alter
Emiliens hinter den Wendungen von Strümpfen und Beinen
ein unziemlicher Scherz stehen könne. Aber Hélène erwiderte
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ernsthaft mit dem wunderbar seelenvollem Klange ihrer hellen Stimme: „Quatsch mit Soße! Wir nähmen ne Karete!“
Der Fiaker fuhr vor. Das Gepäck wurde aufgeladen. Die
Damen baten mich, ich solle, während sie meinen Koffer von
einem Träger besorgen ließen, anordnen, daß der Kutscher
den Wagen schließe. Aber auch bei dieser Gelegenheit erlitt
ich mit meiner Kenntnis des Deutschen wieder Schiffbruch.
„Schließen Sie die Droschke, Monsieur“, sagte ich, worauf der
Kutscher, ein etwas begriffsstutziges Individuum, die Wagentüre ins Schloß warf. „Ich meine geschlossen! fermé! fermé!“
suchte ich mich begreiflich zu machen. Aber der Kutscher
erwiderte, indem er mit dem Finger gegen die Stirne tippte:
„Sie sind woll nüch von hieer?“ „Non, monsieur“, sagte ich,
„aus Paris. Aber das Dach bitte!“ „N‘ Dötz?“ erwiderte der
Mann. „Ach sochen! Se häöben nen lüttjen Fimmel im Timpen“. Verzweifelt stand ich da. Er begriff mich nicht! Erlöst
atmete ich auf, als endlich Mademoiselle Hélène erschien;
in ihrem goldblonden, leuchtenden Schimmer mein rettender Engel. „Ich kann es ihm nicht sagen“, sagte ich kleinlaut.
„Ich kann nicht genug Deutsch“. „Na äöbersten doch“, sagte
Hélène erstaunt, und zum Kutscher „ßtellen Sie sich man nur
nich dösig, der Herr will doch ne zuhe Droschke!“ „Ach so,
ne zuhe“; sagte der und schob das Dach hoch. Kein Wort verstand ich.
Die Damen stiegen ein. „Man immer rin in die Bude“, sagte
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die liebliche kleine Emilie beim Einsteigen. „Egitte ne, is das
glitschig“. „Mache doch!“ horte ich die ältere Schwester erwidern. Mir schwindelte. In meinem Gefühl hilflosen Verlassenseins mocht‘ ich wohl auf die jungen Mädchen einen bemitleidenswürdigen Eindruck machen, denn so muß ich mir
erklären, daß Mademoiselle Hélène die Reisedecke, die ich
zart über ihr Knie gelegt hatte, ergriff und zu Mademoiselle
Emilie sagte: „Mile, wir müssen en nen büschen aanmummeln baa er Täbenkälte. Der kann jäö kaan Deutsch!“
Ich wollte versichern, daß ich sehr gut Deutsch spräche und
jedes Wort verstünde, als ich Emilie wieder neue unverständliche Worte sagten hörte: „Futikäön! Gib mir auch en Enne
vom Plünnen! Laß mich anbucken! Man kriejter jäö ganze
aasekalte Baane“. „Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein“,
faßt‘ ich mir ein Herz. „Sie sagen, eisekalte; heißt es nicht
richtiger: eiskalt? Und dann, warum sagen Sie zu Ihrem Bein,
verzeihen Sie, ganzer Bein? Handelt es sich nicht um das
bekannte Adverbium ,ganz‘?“
Die Damen lachten laut auf über meine Unkenntnis. „Da
muß man sich vor Lachen schiebeln“, sagte Emilie, wobei ich
wiederum den Ausdruck ,schiebeln‘ nicht kannte. Mademoiselle Hélène mochte mir das nachfühlen, denn sie verbesserte die Schwester und sagte: „Ich kugele mich vor Lachen“.
„Sie kugeln sich, Fräulein?“ fragte ich erstaunt. „Das ist zum
Schießen“, rief Emilie. „Da lach ich mir en Ast!“ Die ältere
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Schwester aber belehrte mich. „Ganz“, sagte sie, „ist ein
Adjektiv im Deutschen. Zum Baaßpiel: die ganzen Kinder
kommen aus ‘er Schule“.
Ich errötete im Gefühle meiner Sprachunkenntnis. Aber Emilie rief in jugendlicher Taktlosigkeit: „Kucker mäöl, Läne,
getz kriejt er nen ganzen dicken roten Kopf“. (Also wieder das
Adjektiv ganzer, wo ich doch das Adverb erwartet hätte.)
Ich schämte mich, aber Mademoiselle Hélène sagte mit glockenreiner, himmlischer Engelsstimme: „Schnauz oben,
Mosjöh. Sie werden schon das Deutsche intus krijen, wenn
Ihnen nur ärst ne Latüchte aufgäht. Und nu fäöhren wir
direktement (dieses Wort sprach sie französisch) zu Hause“.
„Fräulein“, sagte ich beinahe verzweifelt, „ich habe in der
Schule ,nach Hause‘ lernen müssen; ich weiß es genau, denn
ich bekam mal Prügel, weil ich ,zu Hause‘ schrieb“. Aber da
kam ich schön an.
„Prijamelung“, rief Hélène, „wir sagen zu Hause! ,Nach‘ sagt
man nur, wenn aan Personennäöme dahinterkömmt. Zum
Baaßpiel: Ich gähe nach ’em Holze, oder ich gähe nach Kröpcke; dagegen ich gähe zu Hause“. Ich war vollkommen, was
wir in Frankreich stupéfait nennen, oder wozu man in Hannover sagt: ,ßtarr und ßtumm vor Sstaunen‘. (Später bemerkte
ich, daß ,Holz‘ so viel bedeutet wie Forst oder Stadtwäldchen.)
Ich war froh, als der Wagen in einer Straße voller roten Backsteinhäuser hielt, die Mademoiselle Hélène als Boulevard ,Am
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Bokemäöhle‘ bezeichnete. Aber auch noch im letzten Augenblicke, als ich den Kutscher zahlen wollte, hatte ich Gelegenheit, meine Unkenntnis der deutschen Sprachpflege drückend
zu empfinden. „Was schulde ich?“ fragte ich den Kutscher.
Der fingerte an seinen Fingern und sagte dann: „Das gübt
zusammen ’nen Emmchen und fünf Silbergroschen“.
„Wie?“ fragte ich verdutzt, „das gibt? Ich muß doch geben!“
Darauf tippte der Mann sich wieder mit gutmütigem Schmunzeln an seine Stirne und gebrauchte die Wendung: ,lüttjer Tittiti‘, was ich wieder nicht verstand. Hélènens goldumflossenes
Himmelsangesicht aber kam mir zu Hilfe. „Nu man immer rin
in die gute Sstube“, sagte sie, und Emilie setzte zu meinem
Staunen die Worte hinzu: „An ’er Frau, an ’er Masch, an ’er
Bank vorbaa“. Wie gebrochen wankte ich nach oben.
Aber da scholl ein sehr lebhafter Ausruf die Treppe herab.
Monsieur Pannéneier empfing mich auf der Schwelle seines
Hauses, und die ersten Worte, dich ich hörte, waren: „Nu wollen wir glaaich en orntlichen Happen-Pappen benähmigen“.
21
Mahlzeit in Hannover
Wir setzten uns allesamt an den Familientisch. Monsieur Pannemeier, Madame Pannemeier, eine geborene Bunnemann;
Mademoiselle Helene und Emilie, sowie die drei Knaben, von
denen der ältere George heißt - was man hier Schorse nennt
- und der jüngere Henry - was man hier Henneri auszusprechen pflegt. Der kleinste, kaum fünfjährige, heißt Krischan.
Lene, Mile, Schorse und Henneri schienen sich unausgesetzt
zu zanken. Außerdem hat Madame Pannemeier ihrem Gatten noch ein kleineres Kind geschenkt; dies Nesthäkchen
heißt Sophie Luise, wird aber Fieken, Zufichen, Zofi, Wischen
und Wische genannt. Es schreit sehr viel! Darum benennt
es Madame mit dem Worte ,Krauler‘. Monsieur Pannemeier
dagegen sagt, ,maane Panzen‘ oder ,maane Blagen‘ (wohl von
Plage = Pein); die kleinste aber nennt er ,unser lüttjer Pöks‘.
Doch ich will zuerst vom Essen erzählen. Denn bald zeigte
sich, daß das Thema Essen für die feinere Kunde der deutschen Sprache in ihrer hannöverschen Eigenart ungemein
ergiebig ist. Zuerst bei der Suppe beginnt Herr Pannemeier
zu schimpfen, indem er sagt, sie sei aane Plöhre. Oder, das sei
plöhrichte Sutje. Man spüre nicht, daß ,ne gute Prise dranne
wäöre‘, (wobei ich mit Entsetzen an Schnupftabak denken
mußte). Madame Pannemeier aber gebraucht in bezug auf
das Essen die Bezeichnung ,quausen‘ und lädt zur Tafel ein
mit der Wendung: „Sodemang, nun wollen wer nen Plocken
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benähmigen“. Darauf bindet sie den Kindern die Serviette vor.
Die heißt hier aber anders. Denn sie sagt: „Nu will ich erstemäöl den Kröten ihre Sabbeljette vormachen“. Dabei ermahnt
sie den jüngeren, Henneri, ,sich nich vollzuschlabbern‘. Zu
Krischan aber sagt sie mahnend, „beim Essen darfste nich
happig saan und nüch so hipprig futtern“.
Ich war auch sogleich erstaunt über die Namen der Gerichte,
die man mir zu Ehren und um mich mit der landesüblichen
Lebensweise vertraut zu machen, zu meinem Empfang hergerichtet hatte. Es waren Speisen, welche die ganze Familie in
eine Stimmung des Rausches verzauberten. Zuerst gab es eine
süße wässerige Suppe, die als ,grüne Erbsensuppe mit Klümpen‘ bezeichnet wurde. Dann ,dicke Bohnen mit Bauchßpeck‘
und ein Gericht, welches ,Puffer‘ heißt, wozu Blaubeeren
von den Kindern genossen wurden, die man hier Bickbeeren nennt. Es tat mir körperlich weh, als ich das Engelsbild
der holdseligen Helene diese Beeren essen sah, die ihre fein
geschwungenen roten Lippen tragisch entstellten.
Zum Schluß der Tafel erklärte Herr Pannemeier, daß er ,dickesatt‘ sei und daher ein Glas Branntewein genießen müsse,
wobei ich mich wunderte, daß man hier die Form Branntewein für Branntwein bevorzugt. Später hörte ich auch Worte
wie Nordlicht und Schnabus.
Schon am ersten Tage bemerkte ich, daß Monsieur Pannemeier, wenn er mit dem Essen, was selten vorkommt,
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zufrieden ist, zu seiner Gemahlin die Wendung gebraucht:
„Das schmeckt mäöl schön“, wobei der Ausdruck ,schön‘ statt
des in Deutschland sonst gewöhnlichen ,gut‘ mir merkwürdig erschien. Bald merkte ich aber, daß das Essen in der Stadt
Hannover Seelen-Sache ist und daher das Beiwort schön, das
man sonst nur für Gegenstände der Kunst verwendet, durchaus am Platze. Madame Pannemeier pflegt bei dem Lobe ihres
Gemahls mit der Wendung zu erwidern: ,Das soll es woll‘!,
wobei sie schmunzelnd hinzufügt, daß sie sich ,jäö auch genügend abgerakkert häöbe‘, indem sie höchst eigenhändig, oder
richtiger eigenfüßig beim Schlächter gewesen sei (Schlächter
sagt man hier, wo man sonst Schlachter oder Metzger sagt),
und daß sie schon am frühen Morgen ,aufs Marcht gähe‘,
womit die Markthalle gemeint ist.
Solche Gerichte, die das Wohlgefallen der Familie in besonderem Maße erregen, pflegen mit bestimmten feststehenden
Wendungen begrüßt zu werden. So z.B. ruft Monsieur Pannemeier beim Erscheinen des ,Puffer‘: ,Däö läuft aanem ’s
Wasser im Munde zusammen‘ und an Emilie, die, wie er sich
ausdrückt, zu sehr ,ßstopft‘, richtet er häufig die Frage: ,No
Mile, das rutscht wohl piel runner‘? Merkwürdig wurde mir
später, daß, so oft eine Gans gegessen wurde, die Familie eine
halbe Stunde zunächst mit der Frage zubringt, ob sie ganz
oder halb oder gar nicht ,kroß‘ und ,knusprich‘ sei, wobei die
gleichfalls unausbleibliche Wendung fällt: ,Ne jute jebräötene
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Jöttinger Jans is ne jute Jäöbe Jottes‘. Sehr mannigfaltig
sind die Wurstnamen wie: Pinkel-, Brägen-, Grütz-, Schlack-,
Leber-, Knapp- und Rotwurst. Dazu merkwürdige Brotsorten wie: Gerster- und Mohnbrot und eigentümliche Obstnamen wie: Prünelljen, Beeregri, Rennekloden, Griesgrenetten,
Sommerbreike und Zipellen.
Zu Anfang unterliefen mir wunderliche Verwechslungen. Da
höre ich etwa Herrn Pannemeier rufen: ,Henneri, hole dir
deine Backbehren‘. Ich denke zunächst natürlich an gebackene Birnen. Schließlich aber stellt sich heraus: Backbehren
kommt von böhren = tragen. Die Wendung also besagt: Heinrich, hole dir deinen Krempel! Ein andermal sagt Herr Pannemeier: ,Tulpen ohne Feldwäbel kömmt nich vor‘. Notwendigerweise denke ich an die Tulpenzucht, aber nach langem
Fragen ging mir der Sinn auf. ,Tulpe‘ nennen sie ein Stengelglas (er meinte das dünne Weißbier, was man Klampütt
nennt). ,Feldwebel‘ aber ist der weiße Schaumkragen des Bieres (so genannt nach den Uniformkragen der alten hannoverschen Armee). Wer aber errät wohl eine Wendung wie diese
hier: ,Krischan Fettköter is Guschen Bumke saan Engel‘. Nur
nach jahrelanger Verwurzelung kann man so etwas verstehen!
,Engel‘ heißt bei katholischen Konfirmanden das Kind, welches das Licht vorträgt. Der Satz also besagt: Christian hat bei
der ,Konfermatschon‘ dem Gustav sein Licht vorangetragen.
Schon in den ersten Tagen fiel mir auf, daß die Schale der
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Kartoffeln ,Pelle‘ genannt wird. Dagegen ist ,kalte Schale‘ eine
Biersuppe. Das Abschälen (was hélas bei Tische geschieht)
nennt man abpellen. Im Volke nennt man die Pellkartoffeln auch ,Kartoffeln mit de Bücks‘. Nach dem Mahl hebt die
Hausfrau die Tafel auf mit dem Zuruf ,Allepalle!‘ oder ,Alles
ist verputzt‘. Danach zieht sich Monsieur Pannemeier in die
,gute Stube‘ zurück. Er tut es mit der ebenfalls feststehenden
Wendung: ,Mir wird schummerig. Ich will nen Viertelßtündchen bucken‘. Dann ,dusselt er aan‘ mit dem Wort: ,Nun
ruhen alle Wälder‘.
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Káffe und Besuch
Wir saßen im Wohnzimmer neben der ,guten Sstube‘. In der
,guten Sstube‘ buckte Herr Pannemeier immer noch sein Viertelstündchen. Mile ,mopste sich‘ (wie sie es nannte). Schorse
beschäftigte sich damit, auf dem Teppiche mit einem ,Knicker‘ zu ,baxen‘, Frau Pannemeier, geborene Bunnemann,
machte, wie sie es nannte, ein Nickerchen. (Mile sagt: ,Mutter
besieht sich von inwendig‘). Und ich? Ach ... ich saß da und ...
betrachtete Helene.
Wie schön ist Helene! Wie deutsch! Wie fröhlich! Wie zuverlässig, heil und blond! Ich starrte sie an, ganz in ihren Anblick
versunken. Selbst das Blau der Bickbeeren störte mich nicht
mehr. Und plötzlich höre ich, wie Mile leise Helenen zuflüstert: „Kucke doch, wie er dich immer anglupscht. Du bist
sicher saane Flamme“. Und ich höre, wie Helene gekränkt
und mit stolzer Entrüstung zurückesagt: „Gitte so‘n Äkel!“
Aber mich berührte dieses alles nicht. Ich war nach der gesegneten Mittagsmahlzeit glückselig, still dasitzen und Helene
anstarren zu dürfen.
„Mile!“ rief plötzlich Frau Pannemeier aus ihrem ,Schlummerzustand‘. „Mile! Wollt‘er nich Mosjöh Thedor die Sähenswürdigkaaten der Sstadt zaagen oder zum Holze gähn?“
„Ochotte, Mämäö, heute am Sonntach ! Heute is im Holze sone
furchtbäöre Menschhaat. Es kann aanem fis davor wärden“.
Näöle nich“, erwiderte die Mutter. Aber Schorse fiel ein und
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sagte: „Ährenwort! Im Holze is es bannig voll. Heute ßtrömt
allens in hellen Schäören zum Holze“.
„Na item“, sagte Frau Pannemeier, „dann trinken wir Káffe
hier (wobei sie das Wort Kaffée wie Kaffe aussprach). Wir
holen was Schönes vom Konditer; zum Aanßtippen.“
Inzwischen schritt Helene vorsichtig an die Stubentür und
lauschte, ob der Papa noch schlafe. Man hörte seine Atemzüge. Es klang wie ein mächtiges Sägewerk.
„Laß Papi man en büschen dusen“, sagte Frau Pannemeier.
„Nach Puffer wird man jäöpig“, setzte sie zu mir gewendet
hinzu. Ich verstand nicht, aber begriff, daß sie ihres Gatten
langen Schlaf entschuldigen wolle. Schließlich sprang Helene
auf und pochte kräftig gegen die ,gute Stube‘ .
„Iser wär?“ hörte ich Monsieur Pannemeier aus dem Schlafe
rufen.
„Káffe trinken“, rief Frau Minnäö. (Minnäö ist nämlich der
Vorname von Frau Pannemeier). Darauf hörte man nebenan
kräftiges ,Ramenten und Räkeln‘. Ich vernahm, wie Herr Pannemeier sich selbst ermunterte mit den Worten ,Erhäbe dich
du schwacher Gaast und ßtell dich up de Baane‘.
„Mutter haste was zum Aanßtippen“, klang es fröhlich aus der
guten Stube. Indem er dieses sagte, läutete die Glocke an der
Haustür.
„Es hat geklungen“, rief Schorse.
„Geklungen?“ fragte ich erstaunt.
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Ende der Leseprobe von:
JÄÖ - Hannoversche Sprachstudien
Andreas Skrziepietz, Andreas Skrziepietz
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