barbara_haering_rettung_durch_technik_chancen_der_raumplanung_swissbau focus_16_01_15.docx / 19. Januar 2016 Themenanlass Swissbau Focus Rettung durch Technik – Chancen der Raumplanung ? 15. Januar 2016 Beitrag Dr. Dr. h.c. Barbara Haering Themensetzung der Veranstalter Die Zehn Millionen Schweiz. Die Bewältigung des Bevölkerungswachstums und der Ansprüche, die damit einhergehen, sind eine der grossen Herausforderungen für die Schweiz. Daneben gibt es aber sicherlich weitere Veränderungen, die einen grossen Einfluss auf die Entwicklung, den Ressourcenverbrauch und die Mobilität haben. Der technische Fortschritt wird uns helfen, sie zu bewältigen. Dies alleine wird aber nicht ausreichen. Auch die Raumplanung muss ihren Beitrag leisten. Der Umgang und die Verteilung knapper Ressourcen wird eine der zentralen Fragestellungen sein, so wie auch die Gestaltung des Lebensraums, damit die hohe Lebensqualität in der Schweiz erhalten bleibt. Aber haben wir akzeptierte Vorstellungen und zukunftsfähige Konzepte um den Raum zukunftsfähig zu gestalten? Ausführungen Barbara Haering (1) Der Begründungszusammenhang des Bevölkerungswachstums greift zu kurz. Das Bevölkerungswachstum der Schweiz nahm in den letzten Jahren markant zu – wir sprechen heute von einer Bevölkerungsperspektive von 10 Mio Einwohner/innen in der Schweiz. Dennoch greift eine Argumentation, welche die Zunahme des Flächen -, Mobilitäts- und Ressourcenverbrauch in der Schweiz nur mit dem Bevölkerungswachstum verknüpft zu kurz. Der zunehmende Flächen- und Ressourcenverbrauch hat primär mit dem zunehmenden Wohlstand in der Schweiz zu tun – er findet auf der Ebene des Individuums statt. Betrug der Flächenverbrauch pro Person in den 80er -Jahren rund 385 2 m so betrug er Mitte der 00er Jahre bereits 409 m2 . Das Gleiche gilt für die zunehmen- /2 de Mobilität in der Schweiz, die sowohl mit gesteigerten Ansprüchen an Arbeits- und Wohn- und Freizeitqualitäten als auch mit den verbesserten Infrastrukturangeboten (Intercity- und S-Bahn-Netze mit Halbstundentakt) im zu tun hat. (2) Das bisherige Versagen der Raumplanung war politisch gewollt. In den 80er Jahren wurde mit der Reduktion der Bauzonen in der ganzen Schweiz ein e grosse Anstrengung zur Konzentration der Siedlungsentwicklung unternommen. Mangelhaft war jedoch die Umsetzung dieser Ansätze im Verlauf der anschliessenden Jahrzehnte. Dabei wurde der Raumplanung die primär lokal und damit kleinräumige Betrachtungsweise zum Verhängnis. Waren in einer Gemeinde Industrie- oder Bauzonen ausgeschöpft, so wurden Interessenten/innen nicht an andere Gemeinden der Region verwiesen. Die lokalen Bauzonen wurden vielmehr der lokalen Nachfrage entsprechend erweitert. Damit wurde die ursprünglich geplante Steuerung der Siedlungsentwicklung unterlaufen – zum Preis der erneuten Zersiedlung und der zunehmenden Mobilität. Dabei zeigte sich, was die empirischen Politikwissenschaften in ihren Studien belegen: Im Wettkampf miteinander konkurrierender Partial-Eliten haben langfristige Allgemeininteressen sowie die Interessen der «have-nots» weniger Durchsetzungschancen als kurzfristige Anliegen sowie die Interessen der «haves». Und gerade auf lokaler Ebene setzen sich Partialinteressen von Grundeigentümer/innen in der Regel gut durch. Aufgabe der Raumplanung ist es aber, raumordnungspolitische Lösungen zu erarbe iten, die im langfristigen Interesse der Allgemeinheit sind. Ihre Perspektive muss über die Moderation der Partialinteressen der «haves» und der «not yet haves» hinausreichen. Dies ist ihr in den letzten 40 Jahren nicht gelungen. Die Gründe dafür l agen in der hohen Flächennachfrage und Grundrentenerwartung 1 im Schweizer Mittelland – verbunden mit der primär lokal organisierten Raumplanung. (3) Wandel findet erst statt, wenn auch die Interessen der «haves» at stake sind. Nach Jahrzehnten der Dominanz privater ökonomischer Erwartungen erwachte in den letzten Jahren ein breites Bewusstsein für die Begrenztheit des Bodens und die No twendigkeit raumplanerischer Qualität für das Wohlbefinden der Menschen – aber auch für einen nachhaltigen Wohlstand in der Schweiz. Mit der Annahme der «Zweitwohnungsinitiative» sprach sich die Schweiz 2012 für eine strenge Beschränkung des Zweitwohnungsbaus aus. Und auch die glücklicherweise vom Volk abgelehnte «ecopop-Initiative» brachte die Sorge über den schier grenzenlosen Verbrauch von Kultu rland2 und Landschaftsqualitäten in der Schweiz zum Ausdruck. Mit dem teilrevidierten 1 Einkommen aus der Nutzung nicht-produzierbarer natürlicher Ressourcen. In der engeren Bedeutung als Entlohnung für die Nutzung des reinen Bodens Bestandteil des Bodenpreises. In der neoklassischen Theorie ist Grundrente (meist nur Rente genannt) der Preis für den Produktionsfaktor Boden, wobei der Preis auf natürliche und wirtschaftliche Knappheitsrelationen zurückgeführt wird. (Zitiert nach Wirtschaftslexikon24.com, aufgerufen am 3. Januar 2015 ) 2 Mit dem unscharfen und uneinheitlich definierten Begriff Kulturlandschaft wird grundsätzlich die dauerhaft vom Menschen geprägte Landschaft bezeichnet. (Wikipedia, aufgerufen am 26. Januar 2015) /3 eidgenössischen Raumplanungsgesetz (RPG), das der Bundesrat per 1. Mai 2014 in Kraft setzte, will der Bund die Siedlungsentwicklung nach innen lenken und damit einen haushälterischen Umgang mit dem Boden stärken. Das Ziel einer Verdichtung nach innen entspricht auch den Grundrentenerwartungen von Grundstück- und Liegenschaftsbesitzern/innen in Städten – und findet deshalb auch politisch Akzeptanz. Da Siedlungsentwicklung, Mobilität, Wohn- und Arbeitsformen weiter im Wandel sind, erachtete der Bundesrat zudem eine zweite Etappe der Teilrevision des RPG für notwendig. Dabei sollte darum gehen, das Kulturland besser zu schützen, Verkehrs- und Energieinfrastrukturen frühzeitiger auf die Raumentwicklung abzustimmen und die grenzüberschreitende Raumplanung zu fördern. Aufgrund der Ergebnisse der Vernehmlassung, soll die zweite Etappe der Revision des Raumplanungsgesetzes nun aber gemäss Bundesratsentscheid von Mitte Dezember 2015 auf wenige, dafür zentrale Themen der Raumplanung beschränkt werden. Es handelt sich um die Bereiche Bauen ausserhalb der Bauzonen, Raumplanung im Untergrund und Raumplanung in funktionalen Räumen. Ein Kernthema der ursprünglichen zweiten Revisionsetappe, der Schutz der Fruchtfolgeflächen (FFF), das heisst des ackerfähigen Kulturlandes, wird aus der Revisionsvorlage herausgelöst. FFF sollen besser geschützt werden, indem der Sachplan Fruchtfolgeflächen von 1992 überarbeitet wird. Erst in einer späteren Phase werde zu prüfen sein, ob auch Änderungen auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe nötig seien. Der Bund wird die Vorlage mit den Kantonen und Gemeinden ausarbeiten und dabei phasenweise weitere Kreise miteinbeziehen. Der Botschaftsentwurf soll dem Bundesrat Mitte 2017 zum Entscheid vorliegen. Mit anderen Worten: Verdichten ja – aber reduzieren ausserhalb der Siedlungen eher nein! (4) Die Welt verändert sich immer schneller – sogar in der Schweiz. Internationale Projekte der Zukunftsforschung skizzieren die Treiber künftiger Entwicklungen wie folgt: Vierte Industrialisierung: Die Zukunft wird datengetrieben und digital sein. Aktuell verdoppeln sich die bisher je produzierten Informationen alle zwei Jahre. Gleichzeitig entstehen weltweit kooperative Systeme kollektiver Intelligenz. Desktop, digitale Fabriken mit 3D-Drucker und 3D-Scanner, Laser, Roboter und Online-Sharing über das World Wide Web schaffen globale Innovationsgemeinschaften. Ausschlaggebend für wirtschaftlichen Erfolg ist nicht mehr das Eigentum an Produktionsmitteln, sondern vielmehr der web-basierte Zugang dazu. Dies öffnet die Tür zu einer nächsten industriellen Revolution, in der Skaleneffekte weniger bedeutend und Vielfalt ohne grosse Mehrkosten möglich werden. Globale Lieferketten für alle und ein dezentrales Management der besten Mitarbeiter/innen weltweit sind bereits heute Realität. Die Auswirkungen dieser Trends auf Innovations- und Standortpolitiken in Europa und in der Schweiz sind noch nicht abschätzbar. Gleichzeitig eröffnet die Nahtstelle von Digitalisierung und Gebäudetechnik neue Möglichkeiten der Energieeffizienz sowie der Bauproduktion. Diese Ansätze gilt es auch für die Raumplanung zu nutzen. /4 Global Cities: Der Anteil der städtischen Bevölkerung weltweit stieg von 13% im Jahr 1900 auf 29% im Jahr 1950 und auf 49% im Jahr 2005. Die UNO geht davon aus, dass diese Entwicklung weitergehen wird und dass im Jahre 2030 60% der Weltbevölkerung – und das werden rund 4,9 Mrd. Menschen sein – in urbanen Gebieten leben werden. Megastädte werden auf nachhaltige Infrastrukturen und Waren angewiesen sein. Das öffentliche Beschaffungswesen wird dabei zentral sein. Zudem werden sich Grossstadtregionen zu konkurrierende Wissens- und Innovations-Hubs entwickeln, was intelligente Spezialisierungen basierend auf spezifischen Traditionen und Stärken erfordern wird. In der Schweiz stehen diesbezüglich insbesondere die beiden Pole «Zürich-Basel» sowie «Lausanne-Genf» im Fokus. Hier braucht es raumplanerische Ansätze, die über die einzelne Gemeinde hinausgreifen. In Grossagglomerationen ist die Gemeinde nicht in der Lage zukunftsweisende Entwicklungsperspektiven zu entwickeln. Gleichzeitig wird sich für die ganze Schweiz die Frage stellen, wie wir die in diesen beiden grossen Polen erwirtschafteten Werte für das ganze Land zu valorisieren vermögen. Diese Themen gehen über die Fragen des Finanzausgleichs hinaus – sie müssen auch aus kultureller und raumplanerischer Sicht diskutiert werden. Auflösung von Strukturen: Globalisierung bedeutet nicht nur die weltweite Mobilität und Konnektivität von Menschen, Gütern und Dienstleistungen, sondern ebenso das Auflösen von Grenzen im vielfältigen Sinne des Wortes. Staatliche Grenzen sowie Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Systemen und Institutionen werden bereits in naher Zukunft für viele Wirtschafts- und Gesellschaftsprozesse an Bedeutung verlieren. So wurden die limitierten Möglichkeiten der Schweiz, mit ihrer nur noch relativ autonomen Geld-, Wirtschafts- und Fiskalpolitik, Standort- und Investitionsentscheide von Wirtschaftsunternehmen zu beeinflussen, in den letzten Jahren mehr als deutlich. Gleichzeitig entstehen zwischen öffentlichen und privat organisierten Systemen zunehmend hybride Institutionen. Öffentliche Aufgaben werden mit Leistungsaufträgen an private Unternehmen ausgelagert; public-private Partnerships sollen Finanzierungsengpässe der öffentlichen Hand mindern. Dies stellt gleichzeitig Herausforderungen mit Blick auf verbindliche Prozesse und nachhaltige Entscheidungen der öffentlichen Hand und privater Unternehmungen. Das Arbeiten an den Nahtstellen wird komplexer. Soziale Implikationen: Technologische Entwicklungen werden in den nächsten Jahren die Welt schneller und radikaler verändern, als wir uns dies heute vorstellen. Neue Arbeitsplätze werden durch «grüne» und «smarte» Technologien geschaffen werden. Gleichzeitig wird die zunehmende Automatisierung viel menschliche Arbeit überflüssig werden lassen. Es droht langfristig strukturelle Arbeitslosigkeit in einem Ausmass, das gesellschaftliche Fragen aufwerfen wird. Die Zukunft der Arbeit und ihrer Verteilung sowie die wachsenden Einkommensunterschiede gehören zu den aktuell am stärksten diskutierten Langfristthemen der Zukunftsforschung. Wie können wir Menschen und ihre Verdienste gesellschaftlich valorisieren, wenn dies nicht mehr über ihre Arbeitsleistungen geschehen kann? /5 (5) Wir brauchen mehr als Raumplanung. Es stellt sich die Frage, wie unter diesen sich rasant wandelnden Bedingungen nachhaltige, räumliche Entwicklungen erreicht werden können. Neben einer pessimistischen Grundstimmung in der Schweiz, welche in mehreren Volksinitiativen und Volksabsti mmungen ihren Ausdruck fand, bestehen auch optimistische Ansätze. Jeremy Rifkin beispielsweise erhofft sich von der Verbindung von Internet-Technologien und erneuerbarer Energien, dass Menschen ihre eigenen erneuerbaren Energien in ihren Wohnungen, Büros und Fabriken produzieren und Ökostrom untereinander in einem «Energie Internet» teilen könnten. Diese «dritte industrielle Revolution» werde neue Ansätze zur dezentralen Globalisierung ermöglichen. Und Saskia Sassen geht davon aus, dass möglicherweise gerade diese vielfältigen globalen Herausforderungen dazu führen werden, dass wir – jenseits von Partikularinteressen – gemeinsame Perspektiven wieder verstärkt wahrnehmen und umsetzen könnten. 3 Dies wäre eine Chance auch für die Schweiz. Vor diesem Hintergrund publizierte eine Steuergruppe zusammengesetzt aus Vertr etern/innen von VLP-ASPAN, KPK, ARE, SIA und FUS im März 2014 eine Analyse des Ausbildungsangebots Raumplanung mit Blick auf die Bedürfnisse der Raumplanung in der Praxis. Die Empfehlungen des Berichts beschränken sich auf die Aufgabenfelder der klassischen Raumplanung. Dies wird aber nicht genügen, um Antworten auf die Fragen der Zukunft zu finden. Ich erhoffe ich mir deshalb, dass die Inhalte der Rau mplanungsausbildungen ausgerichtet werden auf mögliche langfristige Entwicklungen der Schweiz in der globalisierten Welt. Dies bedeutet, über Richt- und Nutzungsplanungen sowie gestalterischen Vorstellungen zu Raumentwicklungen in Quartier- und Gestaltungsplänen hinaus, mit interdisziplinärem Interesse Fragen nach globalen ökologischen, technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen zu stellen, die damit verbundenen Interessen zu identifizieren, Konsequenzen zu thematisieren und Lösungsansätze zu entwickeln. Eine Ausweitung des Blickfelds und eine Verlängerung der Perspektive der Raumpl anung stehen also an. Dies wird eine Neudefinition des Selbstverständnisses der Raumplaner/innen in der Schweiz bedeuten – doch erst dann werden sie wieder staats-, wirtschafts- und gesellschaftspolitisch relevant werden. 15. Januar 2016/ Barbara Haering 3 «Ironically, a key condition that can help us move on is the fact that this is also a moment of challenges (asymmetric war, environmental catastrophes and massive inequality) that are larger than our differences. At some point we will all (regardless of religion, income, race) feel these challenges and worry that ‘life as usual’ is becoming unsustainable.»; Politics and Metamorphoses, 2012
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