Prägungen aus der Kindheit - AHG Allgemeine Hospitalgesellschaft

Sucht
und
Bindungsstörungen
im
Alter
Referentin: Diplom-Psychologin Ulrike Dißelbrede
20.05.2015
Gliederung
Sucht im Alter allgemein
Exkurs zur Bindungstheorie
Grundlagen
Bindungsstile
Bindungsstörungen im Alter
Sucht und Bindungsstörungen im Alter
Prägungen aus der Kindheit
Kriegseinflüsse
Fallbeispiel Herr M.
Besonderheiten in der Therapie
Fragen und Diskussion
Sucht im Alter allgemein
Hohe Dunkelziffer für Alkoholabhängigkeit bei Älteren
Deutliche Unterschiede der Verlaufsbilder
Wesentliche Unterschiede:
Unauffällige und unspezifische Symptomausprägung
Überdeckung charakteristischer Abhängigkeitszeichen
durch altersbedingte komorbide Erkrankungen:
können leicht „typischen Alterskrankheiten“
zugeordnet werden
Sucht im Alter allgemein
Therapienihilismus führt oft zu „Laissez-faire“-Haltung
Jedoch durch bereits erfolgreiche primäre und sekundäre
Sozialisation ist Optimismus angebracht
Aspekte der psychosozialen, somatischen und
psychotherapeutischen Probleme sollten berücksichtigt werden
Erfahrung zeigt, dass auch im hohen Alter Veränderungen durch
psychotherapeutische Interventionen bewirkt werden können
Mögliche Hinweise auf
Alkoholabhängigkeit im Alter
Sozialer Rückzug
Verlust von Antrieb und Interesse
Depressivität
Schlafstörungen
Nachlassen der kognitiven Funktionen wie Merkfähigkeit,
Denk- und Urteilsfähigkeit
Vernachlässigung der (Körper-)Hygiene
Gangunsicherheit/Stürze
Verletzungen/Blutergüsse
Mögliche Hinweise auf
Alkoholabhängigkeit im Alter
Wiederholte Verwirrtheitszustände
Persönlichkeitsfremde Verhaltensweisen wie
vermehrte Reizbarkeit
Wiederholtes Klagen über Angst
Postoperative Verwirrtheitszustände als
Alkoholentzugssymptome
Besonderheiten bei der
Alkoholabhängigkeit im Alter
Meist einen weniger auffälligen Trinkstil
Grund: veränderte Toleranzverhältnisse
Akute Alkoholintoxikation oder Toleranzentwicklung
häufig schon bei geringen Trinkmengen
Bei der Zufuhr gleicher Alkoholmengen
höhere Blutalkoholspiegel
Besonderheiten bei der
Alkoholabhängigkeit im Alter
Sensitivität des Gehirns gegenüber Alkohol steigt
Klassische Anzeichen bei Altersalkoholismus
deutlich diskreter
Entzugssymptome schwerwiegender und länger
andauernd
vermehrt kognitive Defizite, Schlafstörungen
und ein Anstieg des RR
Alkoholkonsum älterer Menschen
Alkoholabhängigkeit bei
ab 65-Jährigen
Riskanter Konsum bei
ab 60-Jährigen
30
3
2-3%
2,5
25
2
20
1,5
15
1
10
0,5-1%
0,5
0
5
mänlich
weiblich
(DHS 2006)
0
26,9%
7,7%
mänlich
weiblich
(Bühringer et al. 2000)
Exkurs Bindungstheorie
Exkurs Bindungstheorie
Begründer: John Bowlby und Mary Ainsworth
Bindung: enge, stabile emotionale Beziehung
zu vertrauten Personen, die dem Individuum
Sicherheit und Unterstützung bieten
Bildung von internalen Arbeitsmodellen durch
Erfahrungen mit zentralen Bindungspersonen
Hauptthese: Für eine gesunde emotionale
Entwicklung muss ein Kind Urvertrauen zu einer
wichtigen Bezugsperson entwickeln
Exkurs Bindungstheorie
Wenn auf eine sichere Basis zurückgegriffen
werden kann, ist ein Kind in der Lage,
fremde Situationen und Umgebungen zu
explorieren
Verflechtung des Angstsystems mit dem
Bindungsverhaltenssystem
Qualität der Bindungsorganisation ist wichtiger
Einflussfaktor für gesunde und stabile
Persönlichkeitsentwicklung
Exkurs Bindungstheorie
Fremde-Situation: Standardisierte
Beobachtungsmethode nach Ainsworth & Wittig
(1969),welches Beziehung zwischen Bindungsund Explorationssystem erforscht
Drei unterschiedliche Arten der
Bindungsrepräsentation:
A) Unsicher-vermeidend
B) Sicher
C) Unsicher-ambivalent
Bindungsstile bei Erwachsenen
Unsicher-distanziert
Sicher
Unsicher-verwickelt
Bindungsstile bei Erwachsenen
Sicher:
Offene und zusammenhängende
Auseinandersetzung mit bindungsrelevanten
Kindheitserfahrungen
Internales Arbeitsmodell: Bezugspersonen stehen
unterstützend zur Seite
Bindungsstile bei Erwachsenen
Sicher:
Positives Selbstwertgefühl, erleben sich als
liebenswert und kompetent
Beziehungsstrategien sind offen und es gibt
ein Bedürfnis nach tieferen Beziehungen
Hoher Schutzfaktor
Bindungsstile bei Erwachsenen
Unsicher-verwickelt:
Auftretende ärgerliche, konfuse und hartnäckige
Interaktionen mit den Bindungspersonen
Übertrieben zur Schau gestelltes Bindungsverhalten führt teilweise zur Erfüllung der
Bedürfnisse
Mangelnde Fähigkeit zur Emotionsregulation
Bindungsstile bei Erwachsenen
Unsicher-verwickelt:
Gefühl, Zuwendung und Schutz nicht
verdient zu haben
Konfliktbehaftete Beziehungen mit Tendenzen
zu Klammern und Eifersucht
Negatives Selbstbild und geringes Selbstvertrauen
Bindungsstile bei Erwachsenen
Unsicher-distanziert:
Keine Priorität für Bindungsbeziehungen
Keine bewussten Kindheitserinnerungen und
Tendenz zur Idealisierung der Eltern
Wenige emotionale Beziehungen zu anderen
Personen
Bindungsstile bei Erwachsenen
Unsicher-distanziert:
Selbstkonzept von wahrgenommener Autonomie
und Stärke geprägt
Internales Arbeitsmodell: In stress- und
kummerbesetzten Situationen ist nicht mit
Unterstützung zu rechnen
Vermeidungsstrategie hilft dem Selbst,
sich vor weiterer Zurückweisung zu schützen
Bindungsstile bei Erwachsenen
Unsicher-distanziert:
Defizitäre Emotionsregulation durch Verdrängung
und Ignoranz negativer Gefühle
Inadäquate Bewertungs- und Copingprozesse
Verstärkte Aufmerksamkeit zu bindungs- und
emotionsrelevanten Stimuli in einem frühen
Wahrnehmungsstadium (Maier et al., 2005)
Bindungsstörungen im Alter
• Kaum Studien zu Bindungsstörungen im Alter
• Übereinstimmung (75%) zwischen der
Bindungsrepräsentation der Eltern und Kinder (van
IJzendoorn et al. 1995)
• Weitergabe von Bindungsqualitäten über drei
Generationen nachgewiesen (Benoit & Parker, 1994)
Bindungsstörungen im Alter
• Kriegskindergeneration sowie Nachkriegskinder häufig
von Bindungsstörungen betroffen
• Krieg bewirkte Traumatisierungen und mitbedingte
Bindungsbelastungen
• Klinisch beobachtbar bei älteren PatientInnen ist v.a
ein unsicher-distanzierter Vermeidungsstil
Prägungen in der Kindheit
Kriegstraumatisierungen wirken
transgenerational auf die nächste Generation
„Nicht zu fühlen“ bedeutet im Krieg
wichtigster Überlebensmechanismus
Folge: Kein Zugang zum „Selbst“
Prägungen in der Kindheit
Emotionen der Kriegskinder werden
durch die eigenen traumatischen
Erfahrungen von den Eltern oftmals
als Bedrohung erlebt
Selbstverleugnung
Einsamkeit
Lebensangst
Prägungen in der Kindheit
Beispiele für Traumaabwehrstrategien
Suchtverhalten
Mangelnde Impulskontrolle mit der Folge
von aggressiven Aufladungen
Überbewertetes Konsumverhalten
Übermäßiges Funktionieren bis zur Zwanghaftigkeit
Prägungen in der Kindheit
Durch diese Strategien in
Verbindung mit der noch
wirkenden Haltung der
preußischen Lebensprinzipien
und des Nationalsozialismus
Unterdrückung der
seelisch-geistigen
Lebendigkeit
Prägungen in der Kindheit
Mögliche Folgen der seelischen
Verschlossenheit von Bezugspersonen
Innerliche Leere und Einsamkeit
Diffuse Angstgefühle
Depressive Verstimmungen
Emotionale Betäubung
Entfremdung von sich selbst
Unsicherheit ob der eigenen Person
Frage nach dem Selbstwert
Angst vor Gefühlen
Prägungen in der Kindheit
Folge:
Bindungsstörungen
Prägungen in der Kindheit
Bindungsstörungen
Maladaptive Schemata mit
primären Emotionen
Defizitäre Emotionsregulation
Defizitäres Selbstbild
Kompensation durch
Alkohol
Prägungen in der Kindheit
Fallbeispiel Herr M.
1950 geboren (64Jahre alt)
Seit 40 Jahren bestehende Alkoholabhängigkeit
Zweite Langzeitbehandlung
Sehr strenges Elternhaus, Familienklima durch
Gefühlskälte und Härte des Vaters geprägt
Schläge bei „Versagen“ an der Tagesordnung
Es habe „Pflicht und Ordnung“ geherrscht,
„wie es sich gehört“
Prägungen in der Kindheit
Fallbeispiel Herr M.
Pflicht- und Leistungserfüllung selbstverständlich, Lob
und Anerkennung Seltenheit
Sehr unsicher und angepasst als Kind
Vater bestand auf Ausbildung zum
Vermessungstechniker, er habe eigentlich Schreiner
werden wollen
Mit 23 Jahren geheiratet, zu dieser Zeit schon hoher
Alkoholkonsum
Nach 6 Jahren Scheidung aufgrund des Alkoholkonsums und Unselbständigkeit
Prägungen in der Kindheit
Fallbeispiel Herr M.
1986 zweite Heirat, Austausch von Gefühlen und
Zärtlichkeiten wie bereits in der ersten Ehe schwierig
1988 erste LZ-Behandlung durch Schwierigkeiten im
Job
14 Jahre Abstinenz; „Ich habe nur aufgehört zu trinken“
2012 Ruhestand, schleichender Rückfall bis zum
Kontrollverlust
Hohes Pflichtgefühl zur heute 95jährigen Mutter „Ich
muss sie täglich anrufen“
Prägungen in der Kindheit
Fallbeispiel Herr M.
Verhaltensanalyse
Keine emotionale Zuwendung und Unterstützung durch
kriegsgeprägten Eltern: Entwicklung eines vermeidenddistanzierten Bindungsstils
Entwickelte Grundannahmen: „Ich bin defizitär“, „Ich
bin unakzeptabel“
Primäre maladaptive Emotionen: Minderwertigkeit,
Schuld, Scham, Unzulänglichkeit etc.
Defizitär entwickelte Emotionsregulation und kaum
positive Selbstrepräsentationen
Prägungen in der Kindheit
Fallbeispiel Herr M.
Verhaltensanalyse
Bewältigungsstrategien: Pflichterfüllung, Funktionieren,
Anpassung, Leistung, Negieren eigener Bedürfnisse
Vermeidend-distanzierter Beschützermodus: Distanz
von eigenen Gefühlen und Bedürfnissen: wird von
Umwelt als Gefühlskälte wahrgenommen
Bewältigungsstrategien kompensierten nicht
ausreichend die belasteten Emotionen: Alkohol
Nach erster LZ-Behandlung Rückgriff auf in der
Kindheit erworbene Coping-Strategien bis zur erneuten
Dekompensation durch Ruhestand
Besonderheiten in der Therapie
Fallbeispiel Herr M.
Therapie:
Vertrauensvolle therapeutische Beziehung:
„Das Selbst einer Person
ist solange aktiviert, wie ein
Mensch sich als Person
ernst genommen und verstanden fühlt“
(Kuhl, 2005)
Therapeutische Beziehung als „Sichere
Basis“
Besonderheiten in der Therapie
Fallbeispiel Herr M.
Therapie:
Erlernen von Selbstberuhigungsstrategien
Steigerung des Selbstwertes
Identifikation der maladaptiven Schemata
Gesunde Bedürfniswahrnehmung und -befriedigung
Schrittweise Reduzierung der Emotionsvermeidung
und damit Integration in das „Selbst“
Fragen??
Diskussion
Literaturverzeichnis
Dirk K. Wolter, Sucht im Alter – Altern und Sucht,
2011, Stuttgart: Kohlhammer
Brisch, K.H., Bindungsstörungen, 2010, Stuttgart: Klett-Cotta
Alberti, Bettina; Seelische Trümmer, Geboren in den 50er- und
60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des
Kriegstraumas, 2011, München: Kösel
Maier, M., Bernier, A., Pekrun, R., Zimmermann, P.,
Strasser, K. & Grossmann, K.E. (2005). Attachment
state of mind and perceptual processing of emotional
stimuli. Attachment & human development, 7(1), S.67-81.
van IJzendoorn, M.H., Juffer, F. & Duyvesteyn, M.G.C. (1995).
Breaking the intergenerational cycle of insecure attachment:
A review of the effects of attachment-based interventions on
maternal sensitivity and infant security.
Journal of child Psychology and Psychiatry and Allied Disciplines,
36, 225-248
Benoit, D. & Parker, K.H.C. (1994). Stability and transmission
of attachment across three generations. Child Development,
65, 1444 - 1456