Beate Wischer (Universität Osnabrück) Heterogenität als Chancen? (Über programmatische Fallen im aktuellen Reformdiskurs) Ausgangspunkt Breiter Diskurs zum Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht Große Übereinstimmung schulpädagogischer u. bildungspolitischer „Diagnosen“: gravierende Defizite großer Handlungsbedarf Unterschiede nutzen – Gemeinsamkeiten stärken! Es ist normal verschieden zu sein! Heterogenität als Chance sehen und nutzen! Probleme Reformdiskurs/Klass. Muster reformerischer Rhetorik Anschluss an traditionelle pädagogische Postulate Einseitige & verkürzte Problembeschreibung „programmatische Fallen“ Thesen: 1) Es dominiert ein normativ-reformerischer Reflexionsmodus mit einseitiger Problemsicht 2) Es besteht die Gefahr verkürzter Lösungsstrategien, durch die Probleme eher umgangen, denn bearbeitet werden. Ziele: Kritische Betrachtung des aktuellen Diskurses zum schulischen Umgang Heterogenität Problembewusstsein für „programmatische Fallen“ schärfen Vorgehen: Rekonstruktion des aktuellen Diskurses als Reformdiskurs Exemplarische Beschreibung programmatischer Fallen Umgang mit Heterogenität als Herausforderung f. die Modernisierung des Bildungssystems Der Heterogenitätsdiskurs als Reformdiskurs Spezifischer Modus der Reflexion Rückgriff auf traditionelle pädagogische Postulate Funktion u. Merkmale von Reformdiskursen „Reformreflexionen gehen von einer Kenntnis der Verhältnisse aus und erstreben das Auswechseln von Zuständen mit bekannten Nachteilen gegen Zustände mit unbekannten Nachteilen. Sie nutzen also die Zeitdifferenz zwischen bekannten und unbekannten Nachteilen als Handlungsimpuls“ (N. Luhmann/E. Schorr 1988) Funktion: zum engagierten Handeln anregen „Ablenkungsmanöver“ Merkmale: Defizite als Ausgangspunkt Lösungskonzepte mit Wirkungsversprechen Argumentation mit Werten/“Dogmatik“ Konkretisierung f. den Diskurs Defizite: schlechte Schülerleistungen, Probleme der Negativauslese, Unter- u. Überforderung Ursache: Einstellung: Vielfalt als Problem Umgang: Reduzieren u. Ignorieren Vielfalt als Bereicherung bewerten; „Individuelle Förderung“ Lösung: Methoden u. gute Praxisbeispiele sind vorhanden/“best practice“ Einschränkung: keine Problementfaltung Verkürzte Problembeschreibung u. verkürzte Lösungsstrategien durch einseitige schultheoretische Reflexion Normative Lehrerleitbilder „Diffuse“ Lösungen u. Wirkungserwartungen typische Merkmale (reform-)pädagogischer Reflexion I Schultheoretische Reflexion „Dieses Ministerium befasst sich jedoch keineswegs mit der Wohlfahrt der Kinder und mit ihren Lebensbedürfnissen. Es verlangt lediglich, dass alle gezwungen werden (...) den gleichen Bildungsgang zu nehmen und einem willkürlich festgelegten Lehrplan zu folgen. Schüler werden gezwungen, in die Schule zu gehen und das zu lernen, was dort gelehrt wird, und sie müssen mehr oder weniger alle dasselbe tun. (...). Es gilt als fest stehendes Prinzip, dass alle, die dieselbe Klasse besuchen, mehr oder weniger dasselbe Alter haben und Jahr für Jahr entsprechend ihrem Jahrgang gemeinsam aufrücken müssen, als wären sie Vierzig- oder Fünfziglinge“. (Montessori 1951) Perspektive des einzelnen Kindes Normierungsproblem „Immer wird der Erzieher das Problem aufzulösen haben: Wie bearbeitest Du den rohen Geist der Jugend am besten? (…) Wie machst Du aus einem jeden Kopf und Herzen, was daraus werden kann? (…). Und besonders: Wie hast Du dies alles anzufangen bei einem Haufen Kinder, deren Anlagen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Neigungen, Bestimmungen verschieden sind, die aber doch in einer und eben derselben Stunde von Dir erzogen werden sollen?“ (Trapp, 1780) Perspektive der Organisation/Profession Komplexitätsproblem Widersprüchliche Perspektiven Pädagogisch-normative Reflexion „Pädagogik vom Kinde aus“ Anwalt des einzelnen Kindes Einzigartigkeit als Ausgangspunkt Schul-/ organisationstheoretische Perspektive „Funktions-/Organisationslogik“ Organisation v. Massenlernprozessen Normierung/Komplexitätsreduktion Schule als pädagogische Schule als gesellschaftl. Organisation Fördern, individuelle Entfaltung Kritik an Institutionalisierung Institution Selektion Institutionalisierung des Lernens Erste Konsequenzen/Problembereiche: 1) „Konstruktion“ von Heterogenität Überbetonung von Verschiedenheit(sdimensionen) „Einzigartigkeit“ als Beobachtungs- u. Komplexitätsproblem 2) Ausblendung von konstitutiven Spannungsfeldern Gruppennorm vs. Individualnorm Fördern vs. Selektion Antinomie des Lehrerhandelns Gleichheit und Differenz II Normatives Lehrerleitbild Individuelle Förderung als pädagogische Norm Lehrereinstellung/“päd. Ethos“ als zentraler Faktor Individuelle Förderung (...) setzt beim einzelnen Lehrer/bei der einzelnen Lehrerin also eine bestimmte Haltung voraus. Individualisierung ist eine Einstellung, Respekt und Vertrauen gegenüber dem Einzelnen, Glauben an seine Stärken und positive Leistungserwartungen sind Fundament für individuelle Förderung“ (Solzbacher 2008, 41) Probleme: Verkürzte Problembeschreibung Individualisierung/Moralisierung LehrerInnen als Reformhemmnis bzw. Reformmotor Ausblendung von Ressourcenfragen u. institutionellen Rahmenbedingungen „Erzieher-Zögling-Konstruktion“ Verkürztes Professionsverständnis: Ausblendung von Wissen u. Können Ausblendung widersprüchl. Handlungsbedingungen Widersprüche im Umgang mit Heterogenität * Professionstheorie Normative Reflexion Handlungsprobleme sind strukturbedingt Handlungsprobleme sind personenbedingt Widersprüche als konstitutives Merkmal Idealwelten ohne Widersprüche Bearbeitung durch Balance & Reflexion Ignorieren/einseitige Auflösung von Widersprüchen Wissensbestände, die Problematisierung erlauben Lösungsversprechen als Handlungsimpuls Förderung von Reflexionskompetenz Legitimation und Überzeugung (vgl. Wischer 2008, auch Kunze 2004) III „Diffuse“ Lösungs- und Wirkungserwartungen Grundsätzlich Weitreichende Reformempfehlungen: Schulsystemebene: „Integration statt Separation“ Einzelschulebene: „Individuelle Förderung“ Unterrichtsebene: „Differenzierung und Individualisierung“ Zugleich: Engführung auf wenige u. diffuse Postulate Strukturelle Überforderung Keine Ziel- u. Machbarkeitsreflexion Unterrichtsebene: Innere Differenzierung Einzelschulebene: „Individuelle Förderung“ Anspruch auf differenzielle u. adaptive Förderung Realisierung durch vielfältige Elemente Universalkonzept: immenses Variationspotenzial Komplexitätsfalle: Unüberschaubares „Wirr-Warr“ „Kontextspezifische Adaption“ Empfehlungen müssen „vage“ bleiben Umsetzung KANN Akteuren überlassen bleiben Gravierende Umsetzungsprobleme Diffuse Ziele u. Ausblendung von Zielkonflikten Unterschiedliche Ziele von Individueller Förderung“ * Freie Entfaltung und gesell. Teilhabe Stärkung der Eigenheiten des Einzelnen/individuelle Profilierung Unterstützung zur Erreichung von Bildungsstandards Verbesserung von Selektionsentscheidungen Reduzierung von Heterogenität Zunahme von Heterogenität Ausgleich vorhandener Bildungsbenachteiligungen (…) Gefahr der Verschärfung von Bildungsbenachteiligung!? vgl. Ingrid Kunze 2008 Fazit Normative Reflexionsformen fungieren eher als „programmatische Nebelbomben“ Individualisierung und Psychologisierungsfalle Pädagogisierungsfalle Schule als Heilsbringer Wertthematische Reflexion schul. Praxis Idealisierungs- und Polarisierungsfalle Perspektiven Umgang mit Heterogenität als komplexe u. spannungsreiche Anforderung Gesellschaftl. Wertentscheidung bzw. Kontroverse Abwägung widersprüchlicher Anforderungen u. Zielen Transformationsleistungen des Gesamtsystems Steuerungsproblem Deshalb: Fokus auf das Gesamtsystem: „Mehrebenenmodell“ Akteurskonstellationen u. Handlungskoordination Übersetzungsleistungen/Rekontextualisierung Eigenlogik u. Eigendynamik Umsetzungsmodi u. „transintentionale“ Effekte Eine Beschreibungsoption: Das Bildungssystem als „institutioneller Akteur“* Gesellschaftliche Rahmenbedingungen & Einbindung des Bildungssystems Funktionen/Aufgaben der Schule: soziale Reproduktion & individuelle Entwicklung MehrebenenModell Makroebene: Schulsystem & Regelvorgaben Rekontextualisierung Mesoebene: Einzelschule als Gestaltungseinheit Mikroebene: Unterricht Fend 2006 Forschungs- u. Entwicklungsperspektiven 1) Stärkere Fokussierung auf die Akteursperspektive („Wissen im System“) 2) Empirische Beschreibung konkreter Rekontextualisierung/Umsetzungsmodi z.B. Vorgabe f. „Individuelle Förderung“ auf Einzelschulebene Wir wird der Auftrag interpretiert u. an vorfindbaren Bedingungen angepasst? Welchen Stellenwert hat der „Abbau herkunftsbedingter Bildungsbenachteiligung“? Heterogenität als Chance für die Modernisierung des Systems? Impulse für: Veränderung der Lernkultur Zielorientierte Entwicklung der Einzelschule Multiprofessionelle Kooperationen Regionale Vernetzungen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
© Copyright 2025 ExpyDoc