1 Genial einfach ... Portalroboter für die Automatisierung im Lager und Materialfluß Dr. Hans Gerd Severin RO-BER Industrieroboter GmbH, Kamen In der langen Tradition der Materialflußautomatisierung und Lagertechnik haben sich verschiedene Basisfunktionen und Grundaufgaben herauskristallisiert, für die gängige Lösungsvarianten entwickelt wurden. In grober Einteilung sind das die Funktionen Transport und Verkettung als Domäne der Fördertechnik, Lagern und Puffern mit Hochregallagerlösungen und Verteilen und Sortieren, wofür unterschiedlichste Sortertechniken zur Verfügung stehen. Natürlich sind das alles auch Tätigkeiten, die von Menschen übernommen werden können: Aufnehmen, Wegbringen, am vorgesehenen Ort Absetzen. Wer will das seinen Mitarbeitern aber zumuten, zumal da viel für vergleichsweise wenig Leistung zu bezahlen ist, obwohl die hohe Flexibilität dieser Vorgehensweise natürlich verlockend ist. Hier springt der Portalroboter ein. Wie ein Mensch nimmt er Produkte auf, fährt sie zu ihrer Zielposition und setzt sie dort ab. Der Vergleich „Mensch-Roboter“ gibt den Charakter der Portalroboterlösung erstaunlich treffend wieder: der Roboter findet Verwendung eher bei kleineren Leistungen, vereint aber bei maximaler Flexibilität die wesentlichen Funktionen der Materialfluß- und Lagerautomatisierung in einer Komponente. Hierfür seien im folgenden einige aktuelle Beispiele gegeben. 1. Die Basis-Komponente: Der Roboter Im Vergleich der Roboterkinematiken erweisen sich Portalroboter als nützliche und universelle „Genies“ für die Materialflußautomatisierung. Sie seien daher etwas näher vorgestellt. 1 C:\Dokumente und Einstellungen\hgs\Eigene Dateien\3marketing\ÖffentlArbeit\Veröffentlichungen\Logistik_Heute_Garching_2006\Beitrag für LogistikHeute 6205.doc Seite 1 von 1 Abb. 1: Portalroboter als Linien- und Flächenportal mit 100 und 300 kg Traglast Kerngrößen des Roboters sind Abmessung, Tragkraft und Leistung. Erstere strebt mit den Arbeitsbereichs-Abmessungen 30 m x 7 m x 3 m ihren Grenzen entgegen. Das entspricht immerhin einem Volumen von 630 m³. Standardtraglasten sind 100 kg bzw. 300 kg. Die Angabe der Tragfähigkeit in der Dimension „Masse“ folgt einer schlechten Gewohnheit. Korrekterweise müssen hier natürlich maximale Kräfte bzw. Momente angegeben werden, z.B. in dN (decaNewton). Die maximale, handhabbare Masse ist also eine Funktion der Beschleunigung und Achsenstellung. Die angegebenen Werte sollten daher der jeweils ungünstigsten Konfiguration entsprechen, können also in der Praxis überschritten werden. Zwangsläufig fällt das Stichwort „Leistung“, resultierend aus Maximalgeschwindigkeit und Beschleunigung. Die Endgeschwindigkeiten linearer Achsen werden durch die maximale Antriebsdrehzahl und die Getriebeuntersetzung bestimmt. Letztere wird möglichst hoch gewählt, um dynamische Rampen in der Beschleunigungsphase zu realisieren. Man muß sich vor Augen führen, dass bei einer Maximalgeschwindigkeit von 4 m/sec und einer Beschleunigung von 5 m/sec² die Endgeschwindigkeit erst nach 1,6 m erreicht wird. D.h. bis zu einer Arbeitsdistanz von 3,2 m befindet sich der Roboter lediglich in einer Beschleunigungs- / Verzögerungsphase. Bei der dynamischen Auslegung des Roboters gilt es hier das Optimum zu finden, auf jeden Fall erlaubt weder die maximale Geschwindigkeit noch die Grenzbeschleunigung eine zuverlässige Bewertung der Systemleistung. 2. Hilfsfunktionen Der Roboter allein ist als Automatisierungskomponente natürlich wertlos. Verschiedene Unterfunktionen und Hilfskomponenten machen aus ihm erst ein nutzbares System. Seite 2 von 2 Die Greiftechnik sei an dieser Stelle ausgeklammert - die wurde schon ganzen Hundertschaften von Lesern beschrieben. Es soll allerdings nicht behauptet werden, daß es inzwischen allgemein breite Kenntnisse über Robotergreifer gibt. Immerhin aber sind die Anwender sensibilisiert und haben verstanden, dass es sich beim Greifer um eine neuralgische Prozeßkomponente handelt. Exemplarisch seien hier Hilfsprozesse betrachtet, die zum Teil in kombinierter Form Einsatz finden: Gemeint ist das Stapeln und Entstapeln bzw. das Heben und Senken. Abb. 2 Hochleistungsstapler und Lift: links Stapelschlitten und Stapel auf Rollenförderer, rechts die beiden servo-getriebenen Hubachsen Zur Realisierung dieser Hilfsfunktionen steht eine große Vielfalt an unterschiedlichen Lösungen bereit. Eine Variante aus der Praxis sei vorgestellt, weil sie nicht nur Stapeln und Senken beinhaltet, sondern auch „anders herum“ arbeiten kann. Die Aufgabe bestand darin, unterschiedlich hohe Kunststoff-(Getränke) Kästen zu unterschiedlich hohen Türmen zu stapeln und den entstandenen Turm dann auf das Aufnahmeniveau des Roboters zu bringen. Dies hatte bei einer hohen Leistung zu erfolgen, insbesondere weil auch nicht zu stapelnde Einzelkisten innerhalb der vorgegeben Zykluszeit den Höhensprung schaffen sollten. Die Lösung sind zwei im Tandembetrieb arbeitende, frei programmierbare Linearachsen, die als Hubeinheiten dienen und angetriebene Rollenförderer auf das benötigte Höhenniveau bringen. Am oberen Einlauf der Kästen werden diese mit einem Schlitten geklemmt und auf den ersten Förderer übergesetzt. Dann senkt der erste Lift ab, so dass die nächste Kiste aufgesetzt werden kann. Seite 3 von 3 Wenn der Stapel fertig ist, wird er auf den zweiten Lift übergeben, der seinen Förderer auf Übergabehöhe gebracht hat. Dadurch kann der gebildete Stapel sofort auslaufen und der erste Lift ist nahezu umgehend wieder aufnahmebereit. Der zweite Lift mit seiner Ware führt jetzt den stets unterschiedlichen Höhensprung aus und fördert die Ware ab, was also parallel zum bereits neu begonnenen Stapelvorgang geschieht. Man wird gern zugeben, daß hier eine elegante und leistungsfähige Lösung gefunden wurde, die aber leider nicht ganz billig ist! 3. Sortieren und Kommissionieren mit Portalrobotern Kommissionieren ist im Grunde nichts anderes als eine spezialisierte Sortiertätigkeit. Allerdings wird in der Praxis darunter häufig mehr verstanden als die auftragsbezogene Zusammenstellung einer Sendung, sondern man deutet „Sendung“ weitergehend als „sendungsfähig“, was heißen kann: verpackt, eingepackt oder auf Ladungsträger gestellt. Hier bringt der Portalroboter einige nützliche Fertigkeiten mit sich. Grundsätzlich kann ein Roboter natürlich gezielt aus einer Warenmenge greifen, ebenso gut kann er gemischt zugeführte Ware an einem Zielort ablegen. Die Abbildungen zeigen zwei Beispiele: Im ersten Fall sucht sich der Roboter aus bereitstehenden Artikeln – in diesem Fall Getränkekästen – die heraus, die zu einem Auftrag gehören. Im zweiten Beispiel legt er willkürlich zugeführte Artikel auf ihren Zielort, indem er Kunststoffbehälter auftragsbezogen vorstapelt. Zumindest im letzten Fall erspart man sich einen Sorter, indem der Roboter dessen Aufgabe übernimmt. Zugegebener Weise sind die Leistungen des Roboters, die im Beispiel bei 600 - 800 Behältern/h liegen, gering, verglichen mit den per Sorter erreichbaren Leistungen. Aber wenn die Anwendung keine höheren Leistungen verlangt, hat man mit der Roboterlösung einige Funktionselemente und damit viel Geld gespart. Nicht nur die Leistung ist eine Begrenzung für den Einsatz eines Roboters als Sorter. Auch die Zahl der Ziele ist begrenzt, und überdies sinkt die Leistung bei steigender Zahl der Ziele auf Grund der sich zwangsläufig verlängernden Wege. Als Faustformel mag gelten, dass die Grenzen einer Sortierlösung mit Robotern bei ca. 100 Zielen und 1000 Packstücken/h liegt, wobei man in diesem Fall bereits mehrere Roboter einsetzen muß. Im vorliegenden Beispiel für eine Anwendung in Frankreich werden insgesamt 100 Aufträge gleichzeitig bearbeitet. Hierzu findet die beschriebene Vorstapelung statt, bis eine geeignete Höhe erreicht wird. Daraufhin lagert der Roboter den Turm über eine Förderstrecke aus, um ihn mittels eines zweiten Robotersystems auf Rollgestellen weiter zu kundenbezogenen Sendungen zu verdichten. Seite 4 von 4 Abb. 3 Abb. 4 Pickbereich für die Kommissionierung von Getränken Anlage für die Vorsortierung und auftragsbezogene Stapelung von Kunststoffbehältern Seite 5 von 5 4. Lagern und Verteilen Wir haben festgestellt, daß der Arbeitsbereich eines Portalroboter ein beachtliches Volumen bzw. erhebliche Fläche aufweisen kann. Dieses Areal kann man trefflich nutzen, um einzulagern und zu sortieren. Unser Beispiel zeigt einen Lagerroboter für E1- und E2-Kisten, wie sie in der Fleischindustrie standardmäßig Einsatz finden. Diese werden abends zurückgebracht, gereinigt, eingelagert und schließlich wieder gefüllt und am folgenden Morgen erneut ausgeliefert. Zwischendrin müssen sie irgendwo hin- und dann bedarfsgerecht bzgl. Menge und Höhe wieder an das Produktionsband zurückgebracht werden. Bild 5 Flexibler Puffer für Kunststoffkästen und Stapel- und Entstapeleinheit Das vorgestellte System erreicht eine Speicherkapazität, die – natürlich – von dem Mix an E1 bzw. E2-Behältern abhängt. Bei den niedrigen E1-Behältern sind es ca. 16.000, bei den höheren E2-Behältern ca. 10.000 Behälter. Die Aus- bzw. Einlagerleistung beträgt (mit zwei Stapeleinheiten) über 4.000 Behälter/h. Das sind enorme Leistungen bzw. Kapazitäten, die mit keiner anderen Technik zu diesen Kosten realisierbar sind. Sieht man von den Staplern und der Fördertechnik ab, besteht das ganze Lagersystem aus drei Antrieben. D.h. auch Wartungsaufwand bzw. Verfügbarkeit erreichen Traumwerte. Seite 6 von 6 5. Verketten und Bereitstellen Im letzten Anwendungsbeispiel werden noch einmal Leistungsfähigkeit moderner Portalrobotertechnik gezogen: alle Register der In einem Werk für Abgasanlagen werden diese in Roboterzellen zunächst aus Einzelteilen, dann aus Unterkomponenten zusammengeschweißt. Nach der Fertigstellung werden sie in einer Meßzelle einer minutiösen Qualitätskontrolle unterzogen. Im Rahmen dieser Produktion wird naturgemäß viel Material bewegt, und es kommt ständig zu zeitlicher Desynchronisation innerhalb der Prozeßschritte und zu Materialüber- und Unterschuß. Die Aufgabenstellung umfaßte daher zunächst die Automatisierung des gesamten Materialflusses zwischen den einzelnen Fertigungszellen inkl. des Handlings zweier unterschiedlicher Ladungsträger. Des weiteren mußten Produktionsspitzen und Stillstände durch chargenbezogene Einlagerung der Materialien und Zwischenstufen abgepuffert werden. In einer weiteren Hilfsfunktion sollte das System auch in der Lage sein, Sonderartikel, wie z.B. Produkte mit Mängeln, für die Nacharbeit aufzunehmen und zu verwalten. Damit die Aufgabe nicht zu einfach erscheint, noch folgende Zusatzinformation: In der Fläche war nicht ein Quadratmeter Platz! Abb. 6 Ansicht des Puffer- und Lagerroboters Seite 7 von 7 Zur Lösung des Problems kamen drei Portalroboter zum Einsatz und zwar 3,50 m oberhalb der Produktion montiert. Zwei von diesen Robotern stellen den Materialpuffer dar und stapeln die Kästen und Werkstückträger Artikel- bzw. Losorientiert. Die Materialzu- und Abführung erfolgt über Lifte bzw. Förderstrecken, die in einen anderen Roboter führen, der als hoch flexible Hubeinheit Material zur Arbeitsebene hinunter läßt bzw. hoch holt. Weil diese Orte letztlich frei programmierbar sind, erlaubt diese Lösung eine beliebige Anpassung an evtl. geänderte Bedingungen in der Produktion. Bei einer anderen Nutzung der Fertigungsfläche müssen lediglich die Schächte verlegt werden, in denen der Roboter das Material bereit stellt. 6. Zusammenfassung Portalroboter lassen sich auf Grund ihres großen, quaderförmigen Arbeitsbereiches und ihrer – per definitionem - freien Programmierbarkeit vielfältig für die verschiedensten Automatisierungsaufgaben nutzen, wenn entweder gezielt aufgenommen oder positioniert, großvolumig gepuffert oder weite Strecken überstrichen werden sollen. Dabei kann ein Roboter keineswegs einem Sorter, einem Hochregallager oder AKL sowie einem Förderer die Existenz gefährden. Seine Stärke liegt in der Flexibilität und Vielseitigkeit, und er spielt diese besonders im unteren bis maximal mittleren Leistungssegment (verglichen mit der klassischen Technik) aus. Trotzdem - oder gerade weil die Roboterlösung so adäquat angepaßt werden kann, ergeben sich mitunter große wirtschaftliche Vorteile. Es würde mich freuen, wenn dieser Beitrag anregen würde, einmal in neue Richtungen zu denken und ungewohnte, neue Lösungen zu ersinnen. Dr. Hans Gerd Severin RO-BER Industrieroboter GmbH Felix-Wankel-Straße 31 D-59174 Kamen www.ro-ber.de Seite 8 von 8
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