Denken vom Ausnahmezustand her – Über die Unzulässigkeit der anormalen Konstruktion und Destruktion des Normativen Steffen Augsberg, Köln I. Die ewige Wiederkehr des Ausnahmezustands 1. Der scheinbar antiquierte „Ausnahmezustand“ erlebt aktuell eine noch vor kurzem kaum für möglich gehaltene Renaissance: Nicht nur als aufmerksamkeitsheischender Topos politischer Rhetorik und als lustvoll skandalisierende Argumentationshilfe militanter Verfassungsinterpretation, sondern namentlich als Legitimationsmuster normativer Regelungsmodelle gewinnt er gegenwärtig an Bedeutung. 2. Funktional zielt dies auf die Abspannung einer anders nicht auszuhaltenden Paradoxie: Die Berufung auf den Ausnahmecharakter soll einerseits die Abweichung von sonst zwingend einzuhaltenden rechtsstaatlichen Standards legitimieren, andererseits aber deren prinzipielle, d.h. dann eben: auf Normalsituationen beschränkte, Gültigkeit unberührt lassen. 3. Beispielhaften Einsatz findet diese Regelungstechnik vorwiegend, aber keineswegs nur, im Bereich des sog. Sicherheits- oder Bekämpfungsrechts. Auch neuere wie schon bekannte Formen der Bio-Politik, insbesondere aber auch das scheinbar so nüchtern-technische Haushaltsverfassungsrecht operieren zunehmend unter Aufgabe des als irrealer Idealtypus stigmatisierten Normalfalls. 4. Eine solche Denkbewegung verfehlt die Bedeutung der inneren Konsistenz der Rechtsordnung mit ihrer Ausrichtung an der Verfassung und deren grundlegenden, unabänderlichen Festlegungen. Die Berufung auf ein präterkonstitutionelles Selbsterhaltungsrecht und vage prozedurale Anforderungen verdeckt die Nichtwiederherstellbarkeit der einmal außer Kraft gesetzten Rechtsordnung. II. Die wechselseitige Verschränkung von Normalität und Normativität 5. Der zur Regel gewordene Ausnahmezustand bedroht deshalb nicht nur im konkreten Einsatzfall die konkreten Rechtsgüter. Er stellt auch das Normensystem selbst grundlegend in Frage. Das lenkt den Blick auf das Verhältnis von Normalität und Normativität. 6. Normalität erscheint in dieser Perspektive zugleich als Voraussetzung wie als Ergebnis des Normativen; FREIHEIT _ SICHERHEIT _ ÖFFENTLICHKEIT 48. ASSISTENTENTAGUNG ÖFFENTLICHES RECHT letzteres schafft damit zugleich stets erst selbst die Voraussetzungen seiner Anwendbarkeit. 7. Das gilt auch für die paradoxen Versuche der „Normierung des nicht Normierbaren“: Die normative Umsetzung der vollkommen außergewöhnlichen, „aus der Norm fallenden“ Extremsituation bedingt eine Standardisierung, die eigenständige Wirkung entfaltet und für die Zukunft auf Beachtung drängt, mithin eine Normalisierung anstrebt. 8. Der echten Ausnahme kommt demgegenüber zwar eine erkenntnistheoretische, nicht aber eine normative Funktion zu. Die Regel lebt zwar nicht etwa „nur von der Ausnahme her“; sie kann sich jedoch gerade gegenüber dieser identitätsstiftend abgrenzen. III. Normalität als dynamischer Prozeß 9. Die somit strukturell erforderliche Normalitätsfixierung des Normativen (und jeder Normwissenschaft) muß nicht zur Selbstparalysierung führen. Die hier eingenommene, früher primär als Normativismus, jetzt vermehrt als Verfassungsautismus gescholtene Sichtweise verbietet keinesfalls, die soziologischen Realitäten zu berücksichtigen. 10. Unter den Bedingungen einer „postmodernen“, immer stärker durch Pluralisierungs- und Fragmentierungsbewegungen charakterisierten Gesellschaft stellt sich deshalb die Frage nach der Anschlußfähigkeit überkommener, auf Langzeitstabilität basierender Normalitätskonzeptionen. 11. Die juristische Aufgabe besteht demnach nicht darin, durch ein „Denken vom Ausnahmezustand her“ letztlich die traditionellen Normalitätskonzeptionen zu konservieren, sondern sich auf jene Dynamisierung der Normalität selbst einzustellen. In diesem Sinne dürften zukünftig Prävention einerseits, die Hinnahme flexibler Normalitäten und der damit verbundenen „normalen“ Lebensrisiken andererseits stärker zu beachten sein. THESENPAPIER www.assistententagung.de
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