Seelsorge in einer Jugendgruppe nach einem plötzlichen Unglück

Seelsorge in einer Jugendgruppe nach einem plötzlichen Unglück
Einleitung:
Unglücke und der plötzliche Tod von uns nahe stehenden Menschen können uns im
Bereich der kirchlichen Jugendarbeit und damit auch in der Ministrantenpastoral in
ganz unterschiedlicher Weise treffen. Dabei muss es gar keine Katastrophe wie das
Eissporthallenunglück in Bad Reichenhall sein. Auch der plötzliche Unfalltod eines
Mit-Ministranten oder die Selbsttötung einer anderen nahe stehenden Person haben
massive Auswirkungen und stellen uns in der Jugendpastoral vor eine nicht einfache
Aufgabe.
Vorüberlegungen
Die Begleitung von Menschen nach einem Todesfall bringt uns mit dem Geheimnis
unseres Glaubens in Berührung:
Seelsorge nach einem Todesfall ist Verkündigung des Todes Jesu auf dem Boden
des Glaubens an seine Auferstehung. Gerade haben wir Ostern, das Fest der
Auferstehung und die Überwindung des Todes, gefeiert. Nur, es gibt kein Ostern
ohne Karfreitag, keine Auferstehung ohne das vorausgehende Sterben.
Und ich denke, gerade Ministranten wissen dies am allerbesten: dem Sterben folgt
nicht unmittelbar die Auferstehung, zwischen Karfreitag und Ostersonntag liegt der
Karsamstag. Es ist er einzige Tag im Jahr, an dem es keinen eucharistischen
Gottesdienst gibt, es ist ein liturgiefreier Tag, ein Tag, an dem alle normalen Formen
aufgelöst sind.
Dieses Wegbrechen jeglicher Normalität beschreibt ganz gut die Situation, in einer
Ministrantengruppe nach einem solchen Ereignis.
Und gerade weil in einer solchen Situation die normalen Strategien einer Gruppe
nicht mehr greifen, ist es notwenig, als Leiter diese Gruppen strukturierend zu
begleiten.
Reaktionen nach dem Tod eines Menschen
Der Tod eines Menschen, besonders natürlich, wenn dieser Mensch uns nahe steht
und wenn er sehr unerwartet und plötzlich kommt, kann bei uns Menschen neben der
Trauerreaktion auch noch andere Symptome hervorrufen; diese werden als „Akute
Belastungsreaktion“ (ABR) bezeichnet.
Ganz wichtig ist dabei festzuhalten, dass eine ABR genauso wie die Trauerreaktion
keine Krankheit, sondern eine normale Reaktion eine normalen Menschen auf ein
nicht normales Ereignis ist.
Solch eine Reaktion kann man sich vielleicht vorstellen, wie das Fassen auf eine
heiße Herdplatte: wenn man diese anfasst, zieht man automatisch die Hand zurück
und auf der Haut entstehen Brandblasen.
Diese Reaktion schützt uns ebenso wie uns die ABR schützt. Normalerweise gehen
die Anzeichen der ABR ganz von alleine im Lauf von vier Wochen, meistens aber
schon innerhalb von wenigen Stunden oder Tagen, wieder von alleine zurück.
Einige Symptome können, müssen aber nicht, unmittelbar nach einem Ereignis oder
nach dem Erfahren vom Tod eines nahe stehenden Menschen auftreten:
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keine Gefühle zeigen können, nicht weinen können, nach außen ganz normal
wirken;
alles wie im Traum erleben;
das Geschehne noch nicht realisieren können;
sich ausgeliefert und hilflos fühlen;
Angst und Panik;
Verlust des Zeitgefühls.
Andere Symptome hingegen treten evtl. erst später auf:
- sich gegen den eigenen Willen aufzwängende Wieder-Erinnerungen
(Gerüche, Bilder, Geräusche); besonders dann, wenn man bei dem
plötzlichem Tod (z.B. bei einem Unfall) dabei war;
- verändertes Essverhalten bis hin zum Erbrechen;
- Schlafstörungen und Alpträume;
- Gereiztheit und Nervosität;
- Konzentrations- und Leistungsreduzierung;
- erhöhte Erregbarkeit.
Wichtig:
Wenn ein oder mehrere von den beschriebenen Symptomen länger als vier Wochen
anhalten oder immer wieder auftauchen, sollte dringend ein geeigneter Therapeut
aufgesucht werden.
Nicht zu verwechseln sind die Symptome der ABR mit Trauer; Trauerreaktionen wie
immer wieder mal Weinen oder traurig sein, halten natürlich in der Regel länger als
die vier Wochen an.
4 Ziele einer Intervention in einer (Jugend-)Gruppe
emotionale / gefühlsmäßige Stabilisierung
Vermittlung von Orientierung
soviel Normalität als möglich herstellen
Aktivierung innerer und äußerer Ressourcen
Aufklärung über die Symptome einer Akuten Belastungsreaktion und über die
Symptome von Trauer (Psychoedukation)
Aspekte einer Gruppenintervention
1. Stabilisieren
Stabilisieren kann quasi als Überschrift für die komplette Gruppenintervention stehen.
Alles, was stabilisiert, ist zunächst gut.
Bei Kindern und Jugendlichen ist das Bedürfnis nach Normalität gerade in
schwierigen Situationen besonders groß. Das kann bei uns Erwachsenen durchaus
Unverständnis auslösen, beispielsweise dann, wenn eine Ministrantengruppe
nachdem sie vom Tod eines Freundes erfahren hat, wie immer nach der
Gruppenstunde noch Fußball oder Billard spielen geht.
Die Aufgabe von Leitung hat dann zwei Zielrichtungen:
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zum einen die Kinder und Jugendlichen darin zu unterstützen, ihrem Bedürfnis nach
Normalität nachzugehen und sich zum anderen quasi als Anwalt vor die Gruppe zu
stellen, falls beispielsweise Erwachsene aus der Pfarrei, ein solches Verhalten
unangemessen finden.
Normalität bedeutet aber auch, nicht eine Gruppe von so genannten Experten
übernimmt die Ministrantengruppenstunde, sondern die Gruppenleiter, die das sonst
auch tun, leiten sie, eventuell mit Unterstützung durch einen Notfallseelsorger.
2. Orientierung vermitteln
Sehr wichtig ist dabei zunächst, alle Betroffenen und Beteiligten auf den gleichen
Informationsstand zu bringen. Gerade bei dramatischeren Ereignissen entstehen
ganz schnell viele Mythen und Halbwahrheiten. Als Leiter oder Seelsorger sollten wir
daher großen Wert darauf legen, nach Rücksprache mit den Angehörigen, klare,
wahre und ehrliche Informationen zu geben.
Ganz praktisch kann dies so aussehen, dass wir die Gruppenstunde mit einem
Stuhlkreis beginnen und zunächst als Leiter nochmals selbst in eigenen Worten
erzählen, was passiert ist, ohne das Geschehene herunterzuspielen oder zu
dramatisieren.
Dadurch vermitteln wir den Kindern und Jugendlichen Orientierung und wir nehmen
sie in ihrem Bedürfnis, zu erfahren, was eigentlich passiert, ist ernst, auch wenn die
Wahrheit nicht immer ganz einfach ist.
Einer Gruppe von Jugendlichen zu sagen, dass einer von ihnen nach einem Unfall so
schwer verletzt ist, dass er praktisch keine Überlebenschance hat, fordert von uns als
Leitung viel Mut und Kraft, ist aber für die Verarbeitung des Geschehenen und das
Verhältnis zwischen Gruppe und Leitung der einzig richtige Weg.
3. Aktivierung innerer und äußerer Ressourcen
Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Aktivierung der inneren, der psychischen
Ressourcen.
Dazu eignet sich je nach Alter der Gruppenmitglieder eine offene Runde in der auf
einem Plakat oder auf Zetteln gesammelt wird, was die Kinder und Jugendlichen
normalerweise machen, wenn es ihnen sonst einmal nicht so gut geht. Dabei muss
nicht jeder etwas sagen, es können aber selbstverständlich auch mehrere Dinge
genannt werden. Erfahrungsgemäß infizieren sich die Kinder und Jugendlichen dabei
gegenseitig mit ihren Ideen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, all die unterschiedlichen Ideen wirklich
intensiv wertzuschätzen und zu motivieren, auch und gerade in dieser jetzigen
schwierigen Situation genau die Dinge, die sonst auch gut tun würden, auch zu
machen. Gerade Jugendliche sind schon oft sehr von den Konventionen der
Erwachsenen geprägt und trauen sich eben diese eigenen Ressourcen nicht zu
nutzen, weil „man das doch nicht machen kann“.
Darüber hinaus sollen aber auch äußere Ressourcen nicht außer Acht gelassen
werden.
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Damit sind für Kinder und Jugendliche geeignete Anlaufstellen gemeint. Dazu ist es
hilfreich, sich schon im Vorfeld ein wenig kundig zu machen. Gute Unterstützung
leisten dabei in der Regel die Beratungsstellen der Kirche oder der Caritas; aber
auch die Telefonseelsorge als ein Rund-um-die-Uhr-Angebot sollte in Betracht
gezogen werden.
Idealerweise sollten zwei bis maximal drei geeignete Beratungsstellen, den Kindern
mit Telefonnummer und Öffnungszeiten schriftlich mitgegeben werden. Aufgrund der
hohen psychischen Belastungen, werden mündlich gegebene Informationen in der
Regel nicht abgespeichert.
4. Psychoedukation
Sinnvollerweise schließt sich daran das an, was in der Fachsprache als
Psychoedukation bezeichnet wird, also eine Aufklärung über die Symptome einer
Akuten Belastungsreaktion und über die Symptome von Trauer.
Ziel dieser „Erziehung der Seele“ ist, dass die Kinder und Jugendlichen verstehen,
dass es ganz normal ist, dass sie nach so einem Ereignis in irgendeiner Weise
anders reagieren als sonst.
Dabei soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass solche Symptome in der Regel
innerhalb von wenigen Stunden oder Tagen wieder von alleine verschwinden, es
aber auch – wenn auch wirklich sehr selten – vorkommt, dass beispielsweise sich
aufzwängende Wieder-Erinnerungen auch nach vier Wochen noch vollständig
verschwunden sind. In diesen Fällen sollte dann unbedingt ein Psychotherapeut
aufgesucht werden.
Genau wie die Information über die Beratungsstellen, muss diese Psychoedukation
unbedingt auch mündlich und schriftlich erfolgen. So haben zusätzlich auch die
Eltern die Möglichkeit, an diese Informationen zu kommen um zu verstehen, was in
ihren Kindern vor sich geht.
Es kann auch überlegt werden, besonders wenn ein besonders belastendes Ereignis
im Umfeld der Gruppe geschehen ist, einen Elternabend anzubieten.
Unerlässlich ist die Elternarbeit, dann allerdings mit fachlicher Unterstützung, nach
der Selbsttötung eines Gruppenmitglieds.
5. Verabschiedung / Abschiedsrituale
Für einen guten Verlauf der Trauer ist das Abschiednehmen vom Verstorbenen ein
ganz zentraler Punkt.
Allerdings ist ein direktes Verabschieden am offenen Sarg leider nicht immer
möglich, jedoch wünschenswert.
Wenn sowohl die Angehörigen des Verstorben als auch die Eltern der Kinder und
Jugendlichen damit einverstanden sind, ist es durchaus zu begrüßen, noch ein
letztes Mal zu dem verstorbenen Freund zu gehen, „mit ihm zu reden“, ihn
anzufassen, ihm ein letztes Lebewohl zu sagen.
Dies muss allerdings gut vorbereitet werden und sollte auch von einem erfahrenen
Seelsorger begleitet werden.
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Eine solche Verabschiedung kann sehr gut im Rahmen einer kleinen liturgischen
Feier stattfinden, was die Normalität gerade für Ministranten betonen würde.
Falls eine direkte Verabschiedung nicht möglich sein sollte, muss auf jeden Fall,
Idealerweise gemeinsam mit der Gruppe, nach einem passenden Abschiedsritual
gesucht werden. Dies ist wichtig, um auch als Gruppe einen gemeinsamen
vorläufigen Abschluss zu finden.
Möglich ist beispielsweise das Schreiben von Abschiedsbriefen an den
Verstorbenen, einzeln oder in kleinen Gruppen, die dem Toten dann mit ins Grab
gegeben werden. Mit kleineren Kindern wird man eher Bilder malen oder gestalten.
Es kann aber selbstverständlich ein eigener Gruppengottesdienst mit verschieden
Elementen der Verabschiedung und der Erinnerung sein.
Sehr bewährt hat sich auch die Gestaltung eines „Trauer-Ortes“ beispielsweise in der
Kirche. An diesem Ort kann jeder hingehen, Photos aufstellen oder Gebete
hinterlassen, aber dann auch wieder weggehen. Damit bekommt Trauer ihren Ort
und ist nicht immer im Vordergrund, sondern nur manchmal.
Keinesfalls sollte dieser Ort in einer Ecke des Gruppenraum sein oder direkt davor,
sodass man immer daran vorbeilaufen muss.
Allerdings sollte dieser Ort nicht zu lange bestehen bleiben, sondern relativ bald,
spätestens aber nach drei bis vier Woche wieder abgebaut werden.
Es können aber auch ganz andere Abschiedsrituale sein, die sich eine Gruppe
ausdenkt. Je kreativer, desto besser, weil jedes gemeinsame Handeln, die Gruppe
auch aus ihrer Lähmung herausführt.
Auf jeden Fall sollen Kinder und Jugendliche, Ministranten auch in ihrer Funktion,
zur Beerdigung mitgehen dürfen.
Besondere Situation: Suizid
Eine ganz besondere Situation stellt die Selbsttötung eines Gruppenmitglieds oder
einer nahe stehenden Person dar.
Die Frage nach dem Warum steht häufig im Mittelpunkt, oft auch begleitet von
massiven Schuldgefühlen.
Das wichtigste beim Arbeiten mit einer Gruppe nach einem Suizid ist der präventive
Charakter.
Man weiß, dass die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Selbsttötung in der gleichen
Peer-Gruppe nach einem Suizid ungleich höher ist (Nachahmungssuizid). Das soll
aber keinesfalls dazu verleiten, nicht ehrlich die Todesursache, den Suizid, zu
benennen. Ganz im Gegenteil: mit Todschweigen erreicht man genau das falsche
Ziel.
Hilfreich kann sein, sich für sich selbst die Haltung der Bremer Stadtmusikanten zu
Eigen zu machen, die lautet „etwas besseres als den Tod findest du allemal.“
Nach einem Suizid in der Gruppe ist auf jeden Fall angezeigt, sich Hilfe und
Unterstützung von außen beispielsweise bei einer Beratungsstelle zu holen.
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Abschluss
Natürlich kann ein solcher Artikel nur einen kleinen Einblick in die Arbeit mit Gruppen
nach einem Unglück oder einem plötzlichem Todesfall geben, Situationen, die ja Gott
sei Dank auch nicht jeden Tag vorkommen.
Das Verkehrteste, was man in einer solchen Situation allerdings machen kann, ist,
einfach so zu tun, als sei nichts geschehen oder einfach gar nichts zu machen.
Jedes aktive Angehen wirkt sich positiv auf jeden Einzelnen und die Gruppe aus.
Alexander Fischhold,
Diplomtheologe, Systemischer Familien-, Paar- und Einzeltherapeut
[email protected]
Literaturtipps:
–
Bronisch, Thomas, Der Suizid. Ursachen, Warnsignale, Prävention, München
1999
–
Krüsmann, Marion, Müller-Cyran, Andreas, Trauma und frühe Interventionen,
Klett-Cotta, 2005
–
Probst, Manfred, Richter, Klemens, Zeichen der Hoffnung in Tod und Trauer,
Ein Werkbuch zur Sterbe- und Totenliturgie, Freiburg i. Breisgau 1996
–
„Was tun, wenn der Notfall eintritt?“, Katholisches Schulkommissariat in
Bayern, zu beziehen über die Religionspädagogische Materialstelle,
Schrammerstrasse 3, 80333 München, [email protected]
–
http://www.notfallseelsorge.de/
–
Krisenseelsorge
im
http://www.erzbistum-muenchen.de/emf129/emf012801.asp
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Schulbereich: