17 ENTWICKLUNGSGESCHICHTE Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereiteten die zunehmende Industrialisierung, die damit einhergehenden Anforderungen und Fortschritte in Wissenschaft und Technik und zum anderen die Erfahrungen und Folgen des 1. Weltkrieges den Boden für die spätere Entwicklung der Raketentechnik. Während in Literatur und Film die Grenzen der Natur aufhebbar schienen und den Menschen notwendiges neues Selbstbewusstsein gaben, schufen Theoretiker wie Ziolkowski in Russland, Goddard in den USA und der Siebenbürger Hermann Oberth die Grundlagen für die Schaffung der Flüssigkeitsrakete, deren Leistung die der bisher bekannten pulvergetriebenen Feuerwerks- und Signalraketen übertreffen sollte. Das Interesse und die Phantasie der Wissenschaft, des Militärs und eines breiten Publikums, besonders im deutschsprachigen Raum, wurde dann im Jahre 1923 durch Oberths Schrift „Die Rakete zu den Planetenräumen“ beflügelt. 1927 gründete eine Gruppe von Enthusiasten einen „Verein für Raumschifffahrt“ (VfR) der, zunächst noch mit spektakulären Experimenten mit Pulverraketen Anfang 1928, einen regelrechten Raketenrummel auslöste. Unter Leitung von Dipl. Ing. Rudolf Nebel entstand zwei Jahre später aus dem Kreis des VfR der „Raketenflugplatz Berlin“, in dem auch der junge Wernher von Braun mitarbeitete. Auf der anderen Seite standen die Bestrebungen der deutschen Reichswehr, die drastischen Beschränkungen des Versailler Friedensvertrages von 1919 zu umgehen. So initiierte man ab 1923 ein geheimes Kooperationsprogramm mit der Roten Armee und begann 1928 in Deutschland ein verdecktes Wiederaufrüstungsprogramm. Der Leiter der Ballistischen und Munitionsabteilung des HWA, Oberst Dr. Ing. Karl E. Becker hatte die Verwendung von Raketen in seinem Aufgabenbereich untersucht, der kühnen Idee einer flüssigkeitsgetriebenen Fernrakete zugestimmt und aufgrund dessen bereits im Frühjahr 1930 Geld in die Experimente von Oberth und Nebel auf dem „Raketenflugplatz“ investiert, sich aber wegen Nebels Drang nach öffentlicher Wahrnehmung wieder zurückgezogen. Allerdings waren Becker und seinem Mitarbeiter für Raketenwesen, Hauptmann Dipl.-Ing. Walter Dornberger, die Fähigkeiten von Brauns aufgefallen, so dass sie ihm die Möglichkeit einer Dissertation über Flüssigkeitsraketen bei den Physikern der Universität Berlin und die Nutzung der Einrichtungen des Schießplatzes Kummersdorf anboten. Damit nahm Wernher von Braun am 1. Dezember 1932 offiziell seine Tätigkeit als Zivilangestellter bei der Reichswehr auf, promovierte im Juli 1934 und machte währenddessen rasche Fortschritte auf dem Gebiet des Flüssigkeitsantriebs für Raketen. Der erfolgreiche Start von zwei Aggregaten 2 auf Borkum sicherte ihm eine stärkere Förderung der neuen Technologie durch das Reichswehr- und (nach Aufkündigung der militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrages 1935) spätere Kriegsministerium. Zum Ende 1935 führte die Allianz zwischen dem Heereswaffenamt und Görings Reichsluftfahrtministerium, das inzwischen Interesse bekundet hatte, zur Sicherung der Finanzierung und späteren Einrichtung der Erprobungsstelle der Luftwaffe Peenemünde-West und der Heeresversuchsstelle Peenemünde (HVP, später Heeresanstalt Peenemünde - HAP), deren Technischer Direktor Dr. phil. Wernher von Braun unter einem insgesamt verantwortlichen militärischen Kommandanten wurde. Während bei der Gründung von Peenemünde die Raketenentwicklung in Deutschland, der Sowjetunion und den USA auf dem etwa gleichen Niveau (Flüssigkeitsantriebe mit wenigen hundert Kilo Schub und primitiven Steuerungs- und Kontrollsystemen) standen, besaß Deutschland nach dem ersten erfolgreichen Flug eines Aggregates 4 am 3. Oktober 1942 eine Rakete, die bei einer Masse von 14 Tonnen einen Schub von 25 Tonnen leistete und mit mehr als dreifacher Schallgeschwindigkeit eine Distanz von 200 Kilometern überwand. Für dieses Ziel arbeiteten Mitte 1943 im Entwicklungswerk 6.000 und im Versuchsserienwerk 2.000 Mitarbeiter. Schließlich wurden insgesamt noch etwa 3.000, durch Anregung aus Speers Rüstungsministerium und mit Unterstützung Arthur Rudolphs, vorwiegend polnische und russische Zwangsarbeiter, von denen viele im KZ-Lager für Hilfsarbeiten in Peenemünde-West (ab Mai 1943, etwa 1.000 Häftlinge) und im Zwangsarbeiterlager Trassenheide (etwa 600 Häftlinge) untergebracht wurden, zu Bauarbeiten verpflichtet. Mit dem im Rahmen der Operation „Hydra“ geflogenen schweren britischen Luftangriff vom 17./18. August 1943 wurden neben vielen Anlagen auch besonders diese Lager getroffen. Eine Neuordnung der A4-Produktion erfolgte mit der Verlagerung in das unterirdische Mittelwerk bei Nordhausen, das später durch das angeschlossene KZ-Lager Dora (Außenlager des KZ Buchenwald) als Mittelbau-Dora bekannt werden sollte. Die Einrichtung des unterirdischen Stollensystems kostete Tausende Häftlinge das Leben (allein im Monat Januar 1944, in dem die ersten 52 nun „Vergeltungswaffe 2“ („V-2“) genannten Raketen das Mittelwerk verlassen, 679 Häftlinge, im Februar/März 1944 wird das lagereigene Krematorium errichtet). 17 18 Am 20. Februar 1945 erfolgt in Peenemünde um 16.55 Uhr vom Prüfstand VII der letzte Versuchsstart einer im Mittelwerk gefertigten A4. Der Befehl zur Evakuierung Peenemündes war schon am 31. Januar 1945 erteilt worden. Von Braun wohnte von März bis Anfang April 1945 nahe dem Mittelwerk in Bleicherode. Ab Anfang April 1945 beginnt auch im Mittelwerk die Evakuierung, die Häftlinge werden auf die sogenannten „Todesmärsche“ geschickt. Am 11. April 1945 betreten die ersten US-Soldaten das Lager und die Stollen. Insgesamt 341 Güterwaggons mit erbeuteten Raketenteilen (für etwa 100 Raketen) schickten die Amerikaner zur weiteren Verschiffung in die USA Richtung Antwerpen. Von Braun ließ sich mit seiner Gruppe am 2. Mai 1945 von den Amerikanern in Reutte, Tirol, festnehmen und wurde zunächst nach El Paso in den Westen von Texas gebracht. Der erste erfolgreiche Start einer A4 in den USA erfolgte am 10. Mai 1946 von White Sands (V-2 Nr. 3). Von Braun schuf später mit seiner Gruppe unter Leitung der US-Army die Redstone für den Start des ersten US-Satelliten und in der Saturn-Rakete das Transportmittel zur Landung von Menschen auf dem Mond. Viele der ehemaligen Peenemünder um von Braun machten in den USA Karriere. Peenemünde wurde am 5. Mai 1945 von der Roten Armee erobert, die die dort von den alliierten Luftangriffen verschont gebliebenen Werkzeuge und Materialien sicherte und die ortsfesten Anlagen zerstören ließ. Im Juli 1945 versuchen die Russen im Zentralwerk Bleicherode die A4 mit Hilfe angeworbener deutscher Spezialisten um Helmut Gröttrup zu rekonstruieren. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden im Oktober 1946 die deutschen Spezialisten dann in die Sowjetunion (Insel Gorodomlja im Seliger See) verschleppt. Am 18. Oktober 1947 gelang von Kapustin Jar der erste Start einer von der A4 abgeleiteten russischen R-1. Die Spezialisten wurden zwischen April 1951 und November 1953 vorwiegend in die DDR entlassen. TECHNISCHE BESCHREIBUNG Gesamtlänge Rumpfdurchmesser Spannweite über die Leitflossen Leermasse Startmasse Nutzlast/Sprengkopf Triebwerk Brennstoff (3.800 kg) Sauerstoffträger (A-Stoff, 4.900 kg) Brennkammer Förderpumpenantrieb Treibmittel (T-Stoff, 175 kg) Katalysator (Z-Stoff, 13 kg) Startschub Schub bei Brennschluss Brennzeit Beschleunigung beim Start Beschleunigung bei Brennschluss Höchstgeschwindigkeit Gipfelhöhe bei Weitschuss Gipfelhöhe bei Vertikalschuss Reichweite Flugzeit Auftreffgeschwindigkeit 14,036 m 1,651 3,564 m 4.000 kg 12.700 - 12.900 kg 750 - 975 kg Flüssigkeits-Raketentriebwerk Äthylalkohol + 25 % Wasser Flüssigsauerstoff Stahl, geschweißt Walter-Dampfturbine (460 PS) Wasserstoffsuperoxid Kaliumpermanganat 245 kN (25.000 kp) 294 kN (30.000 kp) 60 - 63 s + 0,9 g 5 bis 7 g 5.760 - 6.120 km/h 80 - 100 km 190 km 250 bis 350 km ca. 5 min 700 - 1.100 m/s (Technische Daten nach Jürgen Michels / Dr. Olaf Przybilski, Peenemünde und seine Erben in Ost und West, Bernard & Graefe Verlag, Bonn 1997) 18 19 MAIN POST AREA - HAUPTSITZ DES TESTGELÄNDES UND DER STARTKOMPLEX LC-33 Der Hauptsitz des neuen Testzentrums sollte nahe der Ausläufer der Organ Mountains und entlang der Westflanke des Tularosa Basins, etwa 10,5 km westlich der Grenze zwischen dem Dona Ana und dem Otero County, entstehen. Da man noch nicht wusste, ob diese Einrichtung eine ständige werden würde, stellte man 19 20 ein paar Baracken als Wohnunterkünfte auf, die man von der Sandia Base nahe Albuquerque herübergeholt hatte. Mit Army-Rundschreiben 268 wird am 13. Juli 1945 das Hauptquartier des White Sands Proving Ground (WSPG) in Fort Bliss gegründet, rückwirkend zum 9. Juli. Gleichzeitig wird die 9393. Einheit des Technischen Dienstes für die Arbeiten auf dem WSPG zusammengestellt. Insgesamt arbeiten zu Beginn 136 Offiziere und Wehrpflichtige unter dem Befehl von Oberstleutnant Harold R. Turner, dem ersten Kommandanten des WSPG. Als Erstes suchte Turner die Wasserversorgung zu organisieren. In der Nähe gab es lediglich einen vorhandenen Brunnen, der früher den Ranchern als Viehtränke gedient hatte. Da dies für die geplante Basis nicht ausreichend war, bohrte man zunächst sechs weitere Brunnen südlich und östlich des künftigen Geländes. Stillgelegte Minen in den Organ Mountains hatte man geflutet vorgefunden und brachte mit Tankwagen dieses Wasser als Brauchwasser zur Verwendung auf den Baustellen. Die Bauarbeiten für die ersten Raketenstartanlagen (Army Launch Area 1, später auch LC-33) begannen am 10. Juli 1945 etwa 10,5 km nordöstlich der Basis. Auf einer L-förmigen Betonfläche für die Aufstellung portabler Starttische wurde ein 31,09 m hoher Startturm für die WAC Corporal-Rakete errichtet. Er bestand aus einer Tripod-Basis mit 7,92 m Kantenlänge und 7,61 m Höhe, worüber sich ein 23,48 m hoher Dreikantmast erhob. In diesem Mast waren im Winkel von 120° zueinander drei 25 m lange Führungsschienen für den Start der Raketen eingesetzt. Die Consolidated Steel Corporation aus Maywood, Kalifornien, hatte den Turm gebaut und errichtet. Etwa 183 m südlich wurde derweil am Blockhouse (Gebäude 20814) gearbeitet. Von hier aus sollten die Startkommandos gegeben und der Flug beobachtet werden. Es ist ein gedrungener Bau mit pyramidenförmigem Dach. Seine Wände aus Stahlbeton sind drei Meter dick. Das Dach ist an seiner Spitze durch eine 8,23 m starke Betondecke geschützt, die, so hoffte man, dem Aufprall einer aus 160 km Höhe abstürzenden V-2-Rakete widerstehen könnte. Der Fußboden war 2,44 m stark, falls sich eine Rakete durch den Untergrund wühlen sollte. Der 87 m2 große Kontrollraum beherbergte die Instrumente für die Startkontrolle und Beobachtungs- und Kommunikationssysteme für das Testpersonal. Er hatte drei Beobachtungsluken mit starkem Sicherheitsglas und eine explosionssichere Tür. Der Raum war mechanisch klimatisiert und elektrisch beheizbar. Durch die Wände führten 7,6 cm weite Öffnungen für Kabelverbindungen zu den Startanlagen. Auf dem Dach war eine "Waschanlage" angebracht, die es nach einer Raketen-Explosion dekontaminieren konnte. Das Blockhouse kostete 36.000 Dollar und war im September 1945 fertig gestellt. 20 21 Einer Prüfung seiner Widerstandskraft musste sich das Blockhouse zum Glück nie unterziehen. Allerdings schützte es die Bedienmannschaft, als am 14. Juni 1951 die V-2 Nummer 55 über dem Starttisch explodierte. Trotz seiner Massivität wurde das Blockhouse aber kräftig durchgeschüttelt. Niemand wurde verletzt. 1947 wurde das Blockhouse um einen weiteren Kommunikations- und einen zusätzlichen Kompressor-Raum mit einem 20,68 MPa-Kompressor und Tanks für die erzeugte Druckluft ergänzt. Diese wurde über Leitungen an die zu startende V-2-Rakete weitergeleitet. Hier wurde sie benötigt, um das Natriumpermanganat und das Wasserstoffperoxid in die Brennkammer zu drücken, wo sie den Dampf für die Turbinen zu erzeugen hatten. Heute wird das Blockhouse nicht mehr genutzt. Für eine Säuberung der Innenräume fehlte das Geld und so haben Ratten und Mäuse den Besuch zu einer gesundheitsgefährdenden Herausforderung gemacht. Das Blockhouse ist heute Teil des im Oktober 1985 zum Nationalen Historischen Denkmal erklärten Startkomplexes LC-33. 21
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