„Integrieren heißt erneuern“ Forschung und Hochschulen mögen

„Integrieren heißt erneuern“
Forschung und Hochschulen mögen sich über Inhalte oder Qualität definieren, aber nie
über Herkunft. Diese Vielfalt kann in der Flüchtlingsdebatte Vorbild für die Gesellschaft
sein.
Von Matthias Kleiner (erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 19. Oktober 2015)
Als ich vor einigen Jahren in Edmonton, Kanada, einmal wieder zu Besuch an der University of
Alberta war und mich mit der Präsidentin Indira Samarasekera über Internationalisierung,
Zuwanderung und Integration unterhielt, erzählte sie mir von einem Shopping-Nachmittag mit
ihren Kindern. Ihr war eine junge Frau aufgefallen, und sie fragte ihre Kinder: „Habt ihr die
Asiatin mit dem verrückten Kleid gesehen?“ Daran entzündete sich prompt ein kleines
Wortgefecht, denn die Kinder schworen Stein auf Bein nur eine „besonders gekleidete
Kanadierin“ gesehen zu haben. Wann also ist Integration gelungen? Wenn Vielfalt Alltag wird.
800 000 Flüchtlinge sind binnen kürzester Zeit nach Deutschland gekommen. Vielleicht mehr.
Das entspricht der Größenordnung einer Stadt wie Frankfurt. Niemand mehr ist nicht betroffen,
alle sind gefragt. Behörden, Institutionen, Vereine, Helfer, Bürgerinnen und Bürger. Alle packen
an, Menschen willkommen zu heißen, die geflohen sind vor Krieg, Krisen oder Katastrophen.
Und alle fragen sich: Wie geht es weiter? Während die öffentliche Stimmung zu kippen droht und
die Politik über begrenzte Zuwanderung diskutiert, steht die drängende Frage im Raum: Wie
können aus den Gästen möglichst bald Ankommende werden, Nachbarn, Freunde, Partner,
Kolleginnen und Kollegen?
In Anbetracht des demografischen Wandels weiß die Wirtschaft, dass davon das Fortkommen
des Landes entscheidend abhängen wird. Doch Flüchtlinge sind nicht nur Arbeitskräfte, sie sind
vor allem Botschafter einer anderen Kultur, die unsere bereichern kann. Davon lebt gerade die
Wissenschaft: verschiedene Positionen, Herangehensweisen, Methoden und Sprachen – allein
der Diskurs darüber macht sie innovativ. Lösungen auf komplexe Forschungsfragen werden
eben nur gefunden, wenn komplex gedacht wird. Dazu schließen sich Personen und ihre
Projekte weit über kulturelle Grenzen hinweg zusammen. Das ist die Idee von Wissenschaft, so
entstanden die ersten Universitäten in Bologna und Paris – und dieser Grundgedanke kann nun,
in der Flüchtlingsdebatte, auch ein Vorbild sein.
Als 1989 die Mauer fiel, wurde der deutschen Wissenschaft in beiden Teilen die Isolierung
attestiert. Mit der Wiedervereinigung kam schnell der Ruf nach mehr Internationalität auf.
Zumindest in Europa wünschte man sich Mobilität in der Wissenschaft, aber auch unter
Studierenden. Die Internationalisierung war eine entscheidende Triebfeder der Studienreform.
Die neuen Abschlüsse Bachelor und Master, die Abschaffung von Scheinen und die Einführung
von credit points – all das sollte im Studium helfen, eine Vergleichbarkeit der Leistungen
herzustellen und den Austausch zu erleichtern. Ähnliche Ziele verfolgten etwa auch die Debatten
über die Einführung der Juniorprofessur oder die Etablierung eines Tenure Tracks (ein
Karrieresystem, meist mit Assistenz-Professuren am Anfang). Damit hoffte man nicht zuletzt die
anhaltende Abwanderung zu den Forschungsstätten im Ausland aufzuhalten. Gerade jungen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erschienen die Rahmenbedingungen in den USA
oder England häufig attraktiver.
Den größten Schub brachte dem Wissenschaftssystem zweifellos die Exzellenzinitiative von
Bund und Ländern. Sie verhalf der Spitzenforschung hierzulande zu großer Aufmerksamkeit und
ließ Universitäten wie außeruniversitäre Forschungseinrichtungen zu einem Magneten für
Studierende, Postdoktoranden, Professorinnen und Professoren werden. Während der
Ausländeranteil im Land insgesamt von 8,9 Prozent 1998 auf 9,3 Prozent 2014 stieg, nahm die
Zahl ausländischer Mitarbeiter an Hochschulen seit 2006 um 74 Prozent zu. Sie umfasst heute
laut Deutschem Akademischen Austauschdienst zehn Prozent des Personals. Ähnliches bei den
ausländischen Studierenden: Zurzeit sind es knapp zwölf Prozent der Eingeschriebenen, absolut
gesehen 300 000 – was, so das Bundesforschungsministerium, einer Verdoppelung seit 1996
entspricht.
Noch besser sieht die Entwicklung in den Forschungsorganisationen aus. Die LeibnizGemeinschaft etwa zählt heute knapp 20 Prozent ausländische Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler, die Max-Planck-Gesellschaft sogar 31 Prozent. Mit Integrationserfolgen: Aus
„Gästen“ werden häufig Bleibende. Und fast 70 Prozent der promovierten ausländischen Kräfte
wollen hier langfristig Fuß fassen; nicht zuletzt: 64 Prozent der Promovierenden empfehlen
ihren Freunden und Kollegen eine Promotion in Deutschland.
Die Wissenschaft und ihre Institutionen sind heute darin geübt, internationales Publikum
aufzunehmen; und sie ist daran dezidiert interessiert. Wir tun vieles, um junge Menschen und
fortgeschrittene Forscherinnen und Forscher für ein Gespräch, einen Austausch, einen
Aufenthalt, eine Gastprofessur oder am besten gleich für eine Dauerstelle zu gewinnen. So ist es
bei Leibniz heute selbstverständlich, dass ein Wirtschaftsinstitut von einem US-Amerikaner
angeführt wird, die Geschäftsführung eines Instituts mit in den Händen einer Spanierin liegt,
eine Gruppenleiterin für Neurobiologie aus der Türkei kommt oder eine Inderin als
Postdoktorandin in einer Abteilung für Bioverfahrenstechnik arbeitet. Wir tun jetzt auch vieles,
um Flüchtlinge willkommen zu heißen. So werden in den Forschungseinrichtungen
Sprachtandems etabliert und etwa Praktikumsplätze geschaffen. Es wird geforscht über
Migration vor dem Hintergrund verschiedener Kontexte – Bildung, Arbeitsmarkt, Ökonomie,
historisch und politisch. Es wird geforscht, um Zusammenhänge zu verstehen und daraus
bestmöglich zu erkennen, was jetzt wichtig ist zu tun. Damit die Gesellschaft offen ist für die
Vielfalt, die sie braucht, um innovativ, vor allem aber um selbst entwicklungsfähig zu bleiben.
Das deutsche Wissenschaftssystem ist heute international wieder attraktiver. Wir sind auf
gutem Weg, aber noch lange nicht an dessen Ende angekommen. Die Minister von Bund und
Ländern haben daher 2013 eine Strategie zur Internationalisierung einschließlich neuer
Zielvorgaben beschlossen. Denn Hürden gibt es weiterhin, ob bei der Aufenthaltsgenehmigung,
Behördengängen, der Wohnungs- und Jobsuche oder beim Erlernen der Sprache. Integration
braucht Ziele, aber auch Zeit, um sie zu erreichen. Integrieren heißt erneuern, heißt, sich zu
verändern. Ohne Veränderung gibt es keinen Diskurs, keine Entwicklung. Mit diesem
Selbstverständnis kann die Idee von Wissenschaft durchaus ein Beispiel sein. Das Wir in der
Wissenschaft mag sich über Inhalte und Qualität konstituieren, aber es definiert sich niemals
anhand von Herkunft. Warum sollte nicht auch die ganze Gesellschaft in Europa und
Deutschland auf ein vielfältiges, herkunftsfreies Wir setzen?