Das Auge des Grossen Bruders Ich war Direktor bei der UBS. Plötzlich sass ich mit Schwerverbrechern in einem hoffnungslos überfüllten italienischen Gefängnis. Ein Jahr später wurde ich in den USA einstimmig freigesprochen. Ein Erfahrungsbericht von Raoul Weil Wie hatte der in die infermeria strafversetzte Marco beim Abschied doch gesagt? Ich sei ein Glückspilz, auf die permanente Abteilung zu kommen. Nun, meine Gefühle waren gemischt, wusste ich inzwischen doch, dass die Verwaltung in der permanenten Abteilung nur die Vergewaltiger und die Araber separierte und der ganze Rest der Untersuchungshäftlinge, a lso auch die Mörder, erst nach e iner gerichtlichen Verurteilung in den Langzeit-Strafvollzug kam. [. . .] Kein Wunder, überlegt sich die italienische Politik für ihre Gefangenen immer wieder Amnestien. Als eine solche während meiner Zeit in der galera in den Nachrichten angekündigt wurde, ging erst ein Raunen, dann ein riesiger Applaus durch die Gänge. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Strafanstalt in Bologna, Italien, November 2013: Vor Zelle 14, der hintersten auf dem Korridor, gleich rechts neben der Gemeinschaftsdusche, machten die beiden Aufseher, die mich «begleiteten», halt. Nachdem sie mich in die Zelle geschoben und die Gittertür hinter mir verschlossen hatten, stand ich Francesco, einem professionellen Drogendealer, und seinem Halbbruder Filippo gegenüber. Die beiden begrüssten mich nett und – mit Namen. Offensichtlich hatte man ihnen bereits gesagt, dass der Schweizer, dessen Gesicht zur besten Sendezeit immer wieder über die Mattscheibe flimmerte, ihrer Zelle zugeteilt werden würde. Francesco war Anfang dreissig und etwas über eins siebzig gross. Er hatte stattliche Muskeln, kurzgeschorene braune Haare und eine Lücke im Gebiss; der rechte Schneidezahn fehlte ihm. Seine Augen zuckten nervös. Filippo, Anfang zwanzig, war etwas grösser als sein Halbbruder. Sein Haupt war kahl geschoren, und er hatte schöne graue Augen und einen leichten Bauchansatz. Sicht auf den Innenhof «Ich wollte endlich meine verfluchte Fussfessel loswerden»: ehemaliger UBS-Banker Weil. 56 Der Ältere hatte ganz offensichtlich das Sagen hier. Er wies mir mit dem Zeigfinger die untere Matratze im Etagenbett zu. Mit Grund: Vom Bett im «Untergeschoss», das wusste ich ja bereits von der infermeria her, hatte man keinen direkten Blick auf den Fernseher über der Zellentür. Zum Fernsehen musste ich also immer die beiden Hocker neben mein Bett stellen und die Schaumgummimatratze darüberlegen. Weltwoche Nr. 49.15 Bild: Salvatore Vinci (13 Photo); Bild, Seite 58: Andrew Innerarity (Reuters, Corbis) «Filippo, hilf ihm, sein Bett richtig zu beziehen!», befahl nun Francesco und wandte sich mir zu: «Du kannst fürs Erste Bettbezüge von mir ausleihen. Die wurden von meiner Frau gewaschen. Richtig mit der Maschine und so. Diejenigen vom Gefängnis kannst du rauchen!» Ich bedankte mich. Filippo spannte das Laken und band es mit einem Knoten auf der Unterseite der Matratze fest. «Es ist zu lang.» «Dann schieb gefälligst einen Papierknäuel in den Knoten und spanne nach, porca miseria!» Ein schmales Knastbett mit einem Fixleintuch von 200 mal 200 Zentimetern optimal zu beziehen, ist gar nicht so einfach. «Raoul, ich leihe dir eine meiner weichen Decken, bis du dir von draussen eine eigene organisieren kannst. Die miefende Gefängnisdecke, die sie dir gegeben haben, muss weg, die verstaubt uns bloss unser gemütliches appartamento!» Für einen Verbrecher kam er überraschend freundlich rüber, der Francesco. Das mit der Gemütlichkeit sah ich allerdings etwas anders als er. Unsere Dreierzelle war für mich ziemlich exakt dieselbe wie auf der infermeria. 4 ,5 auf 2,5 Meter klein, mit einem zweistöckigen Etagenbett, einer Einzelpritsche, drei Wandschränken, einem Tischchen mit zwei Hockern. Eine mit einer dünnen Sperrholztür abgetrennte Toilette. Ein Lavabo mit fliessend kaltem Wasser. Ein vergittertes Fenster mit Sicht auf einen kargen Innenhof, das zusätzlich mit einem feinmaschigen Netz aus Stahldraht gesichert wurde. Und über der Zellentür – hinter einer Plexiglasscheibe – befand sich das Herzstück, der Fernseher. Zwischen den Betten und all den Möbeln blieb kaum Luft – die besten Voraussetzungen, um klaustrophobisch zu werden. Ich weiss, ich wiederhole mich. «Dann schieb gefälligst einen Papierknäuel in den Knoten und spanne nach, porca miseria!» Einen Unterschied zur infermeria sah ich dann aber doch: Auf dem Tischchen standen, neben einem grossen, verbeulten eisernen Kochtopf und einer dieser typischen italienischen Mokkakannen aus Aluminium, zwei kleine Campingkocher. Offenbar konnten die Häftlinge hier tatsächlich selber kochen. Ein weiterer grosser Unterschied zur Aufnahmestation war die sogenannte piazza. Zwischen 16 und 17.30 Uhr blieben die Zellentüren offen, und so konnten sich die Häftlinge auf dem sechzig Meter langen Korridor frei bewegen, in typisch italienischer Kleinstadtmanier auf und ab schlendern, mit den «Kollegen» einen Schwatz halten oder sich in ihren Zellen gegenseitig besuchen. Die beiden Hofgänge fanden auch hier von 9.00 bis 11.25 Uhr und von 13.30 bis 15.25 Uhr statt. Weltwoche Nr. 49.15 Bei meiner ersten piazza war schnell klar, dass mich nicht nur Francesco und Filippo kannten. Ganz offensichtlich wussten auch alle anderen Gefangenen unserer Sektion, wer ich war und warum ich mich hier befand: «Cazzo! Der svizzero hat eine Bank geplündert.» Prozess in Fort Lauderdale, USA, 3. November 2014: Nun begann das lange Warten. Aaron erklärte mir, es sei äusserst unwahrscheinlich, dass die Geschworenen bereits heute einen Entscheid fällen würden. Als Faustregel gelte, dass die Geschworenen pro Woche Gerichtsverhandlung einen Tag Beratung benötigten, um die verlangte Einstimmigkeit in der Jury zu erzielen. Das heisst, dass bei einem so komplexen Fall wie dem meinen eine Beratungszeit von mindestens drei Tagen zu erwarten war. Die überwältigende Erleichterung Der Gerichtsdiener räumte den Saal, und wir begaben uns in den Innenhof des Gerichts gebäudes, wo wir in der warmen Herbstsonne der Dinge harrten, die da kommen sollten. Wir, das waren Matt, Aaron, Kim, Susanne, Brenda und John – der sich jedoch schon bald absetzte, um bei der nächsten Imbissbude einen Hotdog zu erstehen, da er plötzlich eine seiner berühmten nachmittäglichen Hunger attacken verspürte. Um 16.15 Uhr, John war noch nicht einmal von seinem Fastfood-Ausflug zurück, tauchte der Gerichtsdiener völlig unerwartet im Hof auf und bat uns, sofort in den Gerichtssaal zurückzukehren. «Aaron, was hat das zu bedeuten?» «Keine Ahnung, Raoul, ich weiss es auch nicht.» Wieder im Saal, war ich erstaunlich ruhig. Bevor Richter Cohn sprach, schenkte er mir einen kurzen Blick. «Erheben Sie sich bitte für die Geschwo renen!» In diesem Moment begann mein Puls zu rasen, und meine Handflächen wurden feucht. Als die Geschworenen den Gerichtssaal betraten, traute ich mich nicht, in ihrem Gesichtsausdruck ein mögliches Urteil abzulesen, und schaute nicht sie, sondern wie gebannt den Richter an. James I. Cohn räusperte sich und sagte dann mit erhabener Stimme: «Meine Damen und Herren, ich wurde vom Vorsitzenden der Geschworenen informiert, dass die Jury zu einem Urteil gekommen ist.» Ich schaute Aaron an und sah, dass wir beide dasselbe dachten – ein Urteil nach nur gerade 45 Minuten Beratungszeit, was hatte das zu bedeuten? Alles oder nichts. Der Richter hob seinen Blick, schaute erst der Delegation der Anklage, dann jener der Verteidigung und schliesslich mir in die Augen. ››› Justiz Jagdfieber Wie der Schweizer Banker Raoul Weil zur Zielscheibe der US-Regierung wurde. Bis zu dreissig Prozent «Erfolgsbeteiligung» verspricht die US-Steuerbehörde IRS im Jahr 2006 für Hinweise, die zur Überführung von Steuerhinterziehern führen. Ein verlockendes Angebot für den ehemaligen UBS-Kundenberater Bradley Birkenfeld: Er erliegt den Sirenengesängen und legt dar, wie er und andere UBS-Banker amerikanischen Staatsbürgern bei der Hinterziehung ihrer Steuern geholfen hätten. Birkenfelds Informationen sind das lose Ende des Wollknäuels, an dem die US-Justiz nun zu ziehen beginnt. Hochrangige Manager der UBS-Vermögensverwaltung geraten ins Visier der Justiz, darunter der ehemalige Amerika-Verantwortliche Martin Liechti und Hansruedi Schumacher, bis 2002 für das Nordamerikageschäft zuständig und später Teilhaber der ins Trudeln geratenen Neuen Zürcher Bank. Doch die US-Staatsanwälte zielen noch höher: Im Herbst 2008 klagt die Staats anwaltschaft Miami die damalige Nummer zwei der UBS-Vermögensverwaltung an, Raoul Weil, den Vorgesetzten Liechtis und Schumachers. Wegen «Verschwörung» zum Nachteil der Steuerbehörde IRS. Weil verliert seine Stelle bei der UBS. Er wird am 20. Oktober 2013 während seiner Ferien in Italien verhaftet und sechs Wochen später an die USA ausgeliefert. Vor einem Gericht in Miami erfolgt zwischen 2013 und 2014 eine epische juristische Schlacht zwischen der US-Regierung, die Weil im Gefängnis sehen will, und den Anwälten von Raoul Weil. Schumacher und Liechti sagen gegen ihren ehemaligen Chef aus, in dem Kalkül, ihr eigenes Strafmass zu reduzieren. Die Prozessakten füllen viereinhalb Millionen bedruckte Seiten. Am Ende heisst es: «Unschuldig.» Der Staatsanwaltschaft gelingt es nicht, zu beweisen, dass Weil Mitwisser oder gar Täter in der angeblichen Verschwörung zulasten der US-Staatskasse war. Einstimmig spricht ein Geschworenengericht den ehemaligen UBS-Top-Mann am 3. November des vergangenen Jahres frei. In einem Interview unmittelbar nach seiner Rückkehr in die Schweiz sagt Weil, er sei «stolz» darauf, «dass ich nicht durchgedreht bin und dass ich mich nicht habe kriminalisieren lassen» (Weltwoche Nr. 46/14: «Ich bin religiöser geworden»). Florian Schwab 57 hätte, die Klage aufgrund der juristisch inkonsistenten Verschwörungssituation abzuweisen. Zum Glück mussten wir auf diesen letzten Rettungsring nicht zurückgreifen. Denn bei einer Ablehnung der Klage hätte im Gegensatz zum Freispruch die Staatsanwaltschaft Gelegenheit für einen Rekurs erhalten. So aber – mit diesem einstimmigen Freispruch in rekordverdächtiger Zeit – war ich endlich voll und ganz rehabilitiert. «Herr Vorsitzender, wie lautet das Urteil der Geschworenen?» Der Vorsitzende stand auf und setzte zum Sprechen an. Mir kam alles wie in Zeitlupe vor. «Das Urteil lautet: Unschuldig!» Im ersten Moment war ich wie gelähmt, dann spürte ich, wie mir der tonnenschwere Stein vom Herzen fiel, der mich in den letzten sechs Ich sprang auf, umarmte und küsste Susanne, die von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Jahren runtergezogen hatte, und wie das Damoklesschwert von fünf Jahren Haft sich in Luft auflöste. Ich sprang auf, umarmte und küsste Susanne, die von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Dann fiel ich meinen Anwälten in die weitgeöffneten Arme. Kim und Matt weinten ebenfalls, und Aaron war schlicht sprachlos. Die überwältigende Erleichterung nach sechs Jahren Anspannung ist unbeschreiblich. Die Kolonne der Staatsanwaltschaft verliess, ihre Aktenwägelchen hinter sich herziehend, wortlos und ohne handshake sofort den Gerichtssaal. «Absolut unprofessionell!», war der Kommentar meiner Anwälte. Nun wandte sich Richter Cohn an Matt und Aaron. Nein, ich öffnete keinen Champagner Nun gab es für mich nur noch eines: Nein, ich öffnete keinen Champagner, ich stürmte in den obersten Stock des Gerichtsgebäudes und meldete mich bei der Pretrial Services Divi sion. Ich wollte endlich meine verfluchte Fussfessel loswerden. Ein Beamter schlug mit einem Schraubenzieher den Bolzen aus dem Gummigurt, die Fessel sprang auf, und ich war – frei! Endlich! Endlich war ich das Auge des Grossen Bruders losgeworden. «Endlich rehabilitiert»: mit Gattin Susanne. «Herr Menchel, das war ein ausgezeichnetes Schlussplädoyer. Herr Marcu, darf ich Sie zur Richterbank bitten.» Richter Cohn sagte Aaron unter vier Augen, dass er im Falle eines Schuldspruchs von seinem richterlichen Recht Gebrauch gemacht Der hier abgedruckte Text ist ein exklusiver Vorabdruck aus: Raoul Weil: Der Fall Weil. Wörterseh. 368 S., Fr. 39.90. Ab 4. Dezember im Handel. Philipp Gut: Champagner mit Churchill I m August und September 1946 besuchte Winston Churchill die Schweiz und hielt in Zürich seine berühmte Europarede. Dabei verfolgte er heimlich auch persönliche Ziele, die seiner grossen Leidenschaft geschuldet waren: dem Malen. Er wollte unbedingt Willy Sax treffen. Dem Unternehmer aus Urdorf sollte es gelingen, Churchills Lieblingsfarbe Königsblau zu mischen. Das Buch von Philipp Gut zeichnet die Geschichte dieser aussergewöhnlichen Freundschaft anschaulich und anekdotenreich nach. «Mit historiografischem Geschick und journalistischer Gewandtheit.» NZZ «Bestens unterhalten.» Basler Zeitung «Man kann sich gut vorstellen, zur Lektüre einen prickelnden Champagner zu geniessen.“ Journal 21 Verschenken Sie Churchills Lieblingschampagner «Pol Roger», Réserve Brut, zusammen mit dem Buch «Champagner mit Churchill». Für Zigarrenliebhaber empfehlen wir das Buch zusammen mit drei handgerollten Zigarren «Villiger San’Doro». Wer beides mag, dem empfehlen wir das « Geniesser » -Set. Spezialangebot Philipp Gut Champagner mit Churchill Der Zürcher Farbenfabrikant Willy Sax und der malende Premierminister. 176 Seiten, illustriert, gebunden, ISBN 978-3-7272-1455-4 Geschenkpakete: • «Champagner» Fr. 79.– (zzgl. Versandkosten) • «Zigarren» Fr. 79.– (zzgl. Versandkosten) • «Geniesser» Fr. 110.– (zzgl. Versandkosten) Bestellungen Bitte senden Sie eine E-Mail mit dem Stichwort Weltwoche und der Bezeichnung des Geschenkpakets sowie Ihrer vollständigen Adresse an: [email protected], oder rufen Sie uns an über Telefon 031 300 66 77. Stämpfli Verlag AG, Wölflistrasse 1 Postfach 5662, 3001 Bern. www.weltwoche.ch/platinclub
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