Joseph Haydn (1732-1809) Sinfonie Nr. 60 C-Dur „Il Distratto“ Hob I:60 „Il Distratto“/„Der Zerstreute“ – wer ist hier eigentlich zerstreut? Nun, ganz offensichtlich der Komponist selbst! Mitten im zweiten Thema des 1. Satzes bleiben die Geigen plötzlich „stecken“, wiederholen 12 Takte lang einen einzigen Ton, bis das Orchester sie ruppig ins Gleis zurückdrängt. Haben sie die Melodie vergessen? Und was passiert gleich danach, in der Durchführung? Da zitiert Haydn sich plötzlich selbst, nämlich die Anfangstakte der berühmten „Abschiedssinfonie“. Hat er sich im Werk geirrt? Solche Details kommen, ebenso wie der Titel, natürlich nicht von ungefähr. Bei „Il Distratto“ handelt es sich um keine gewöhnliche Sinfonie, sondern um die Bühnenmusik zur gleichnamigen Komödie, die 1774 vor Haydns Dienstherrn in Esterházy gegeben wurde. Die einzelnen Sätze erklangen vor, zwischen und nach den Akten – daher ihre auf sechs erweiterte Zahl. Wie Haydn es allerdings gelingt, die Aspekte der Verwechslungskomödie in Töne zu bannen, fasziniert bis heute. Das Kaleidoskop der Themen und Tonlagen ist so bunt wie das Personal auf der Bühne; Verträumtes und Plumpes, Liebesschwüre und Kraftmeiereien lösen einander nahtlos ab. Die Mittelsätze präsentieren slawische Melodik und Pompöses aus Frankreich, es wird getanzt, marschiert, geträllert. Auch vor banalen, nur um sich selbst kreisenden Passagen schreckt Haydn nicht zurück. Zum grotesken Höhepunkt wird jene Stelle im Finale, an der die Geigen von F auf G hochstimmen lässt – mitten im Stück! Zerstreuter geht es kaum.
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