The Spirit of America www.amerikanische-literatur.de Leseprobe: T. Coraghessan Boyle Wassermusik (Seiten 78 - 79) © 1987 by Rogner und Bernhard GmbH & Co. Verlag KG, Hamburg. Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuchverlag. Morgengrauen. Die Sonne bricht über den Sahel herein wie ein aufgeschlagenes Ei, fängt dort wieder an, wo sie tags zuvor aufgehört hat – bei Verbrennen, Versengen, Einäschern von allem Lebendigen in ihrer Reichweite. Aasschnüffler und nächtens aktive Reptilien kriechen in ihre Höhlen zurück, und die zerzausten großen nubischen Geier kreisen über der Ebene und sichten die Überbleibsel. Felsen dehnen sich langsam aus, verkümmerte Büsche graben sich noch tiefer in die Erde ein, Mimosen falten ihre Blätter zusammen wie Sonnenschirme. Ab acht Uhr morgens flimmert der Horizont. Mungo Park liegt reglos auf dem Rücken und sieht einem Tausendfüßler zu, der eine Serie von blinden Kreisen auf dem Zeltdach zieht. Seit einem „Fluchtversuch“ wird ihm das Leben sauer gemacht. Jetzt dösen jede Nacht sechs Männer vor seinem Zelt, Essens- und Wasserrationen sind ihm halbiert worden. Langsam kommt ihm der Gedanke, dass er es doch nicht schaffen könnte, dass er womöglich einfach hier liegen bleibt und allmählich verreckt als unverzagter Erforscher der Innenwände eines Maurenzelts. Er wird Ledyard, Lucas und Houghton in den Reihen der schmachvoll Gescheiterten Gesellschaft leisten. Weder wird er Allie je wieder zu Gesicht bekommen noch seine Mutter, noch die wirbelnden Wasser des Yarrow. Seine Knochen werden trocknen und bersten und zu Staub zerfallen unter der fremden Sonne und den seltsam verschobenen, kolossalen Konstellationen, die dich hier über den Himmel wälzen. Er beginnt zu verzagen. Auf einmal teilen sich die Eingangsklappen, und Johnson duckt sich ins Zelt. In der Hand hält er einen Wasserbeutel aus Ziegenleder, in diesen Gegenden guerba genannt. Der Entdeckungsreisende liegt flach, vom Fieber geschüttelt, von Würmern zerfressen, mit zusammengeschrumpftem Magen und weit geöffnetem Schließmuskel, und kann kaum die Lider heben. Er ist schwach und stinkt, hinfällig bis an den hintersten Rand der Hoffnung. Johnson kniet nieder und steckt ihm den Ledersauger in den Mund. Mungos Lippen packen zögernd zu, sein Puls beschleunigt sich. Es ist Wasser, kalt und klar, geschöpft aus den sich verschiebenden, porösen Tiefen der Erde, es regt seine Haarwurzeln an, härtet seine Zehennägel, Musik für seine brüchigen Knochen. „Ich bin gerettet!“ stößt er hervor, dann übergibt er sich. „Alles in Ordnung, Mr. Park. Sie haben's geschafft.“ „Wa – ?“ Die Augen des Entdeckungsreisenden sind gelb verkrustet, die Wangen eingefallen, sein Bart eine Spielwiese für Zecken, Flöhe, Läuse und Maden. „Richtig verstanden. Der Oberschakal hier, der meinte eben, ich soll zu Ihnen rein und Ihnen den Wasserbeutel bringen, und nachher einen Tiegel Kuskus und Milch.“ „Kuskus? Milch?“ Ebenso gut hätte Johnson ihm Highland-Hammelklein, geräucherten Schellfisch und Schafskopfbrühe ankündigen können. Mungo fällt in einen peristaltischen Schock, dann schnellt er hoch, umklammert die guerba und durchwühlt das Zelt mit Blicken. „Wo?“ keucht er, indem er mühsam auf die Beine kommt. „Wo? Jetzt sag schon, um Himmels willen!“ In diesem Moment tritt ein Junge mit einer hölzernen Schale ein. Kuskus mit Milch. Er will sie dem Entdeckungsreisenden zu Füßen legen, doch Mungo reißt sie ihm aus der hand; er begräbt das Gesicht tief in die dicke, zähe Paste, mit der ganzen Verzweiflung eines Mannes, der vierzig Tage und vierzig Nächte lang der Wüste ausgesetzt war. Und genau das war er ja auch. Danach streicht er sich über seinen Bauch. „Johnson“, sagt er. „Ohho, Johnson, Johnson, wie ich das gebraucht habe...“ Aber Moment mal! Was hat er getan? Die Schüssel ist völlig leergekratzt, und hier verschmachtet der treue Führer und Dolmetscher vor seinen Augen! „Johnson“, stammelt er und schlägt den Blick zu Boden, „kannst du mir – kannst du mir verzeihen? Ich habe mich da wohl eben ein wenig hinreißen lassen ... Ich – ich hab überhaupt nicht an dich gedacht.“ Johnson winkt ab. „Ach, die haben mich doch durchgefüttert, machen Sie sich da mal keine Sorgen. Mussten sie ja. Sonst hätt ich mir bestimmt nicht so den Arsch für sie aufgerissen. Hol dies, flick das. Scheuer mal den Topf hier, melk die Ziegen da, dann noch Akbars Sandalen einfetten und n bisschen Rahm von der Milch schöpfen für die Pferde. Scheiße. Wie wenn ich wieder auf der Plantage wär. Manchmal wünsch ich mir, einfach nur hier zu liegen und zusammen mit ihnen zu schmachten.“ Mungo streicht sich die klitschigen Klumpen aus dem Bart und leckt sich systematisch die Körner von den Fingern, dann nimmt er einen langen Zug aus dem Wasserbeutel. In seine Wangen sickert ewas Farbe zurück. „Also, was ist eigentlich los?“ fragt er. „Wieso sind diese blöden Kameltreiber plötzlich so barmherzig?“ „Fatima.“ Fatima. Die Silben fließen wie Wind auf dem Wasser. Erst hat sie ihm die Augen gerettet, und jetzt den Rest. Hoffnung schimmert. „Sie will mich sehen?“ Johnson nickt. „Ali sagt, Sie müssen etwas essen und gewaschen werden, damit sie präsentabel sind. Er will ja nicht, dass seine Frau einen ungewaschenen Christen ansehen muss. Und das hier hat er mir auch mitgegeben.“ Er reicht dem Entdeckungsreisenden ein blasses, gefaltetes Gewand. „Was ist das?“ „Eine jubbah. Ali meint, Sie sollen Ihre Beine damit bedecken – Ihre Hosen findet er anstößig, erstklassiger Nankingstoff oder nicht.“ Johnson lacht. „Wenn Sie je nach London zurückkommen, können Sie all die gelackten Beaus und Schönlinge stehen lassen und einen neuen Schrei kreieren: Der Gentleman trägt Röckchen.“ Mungo lacht mit, trunken von Essen und Wasser. Die beiden kichern und prusten, wischen sich die Tränen aus den Augen. Dann blickt Johnson auf, plötzlich sehr ernst. „Sie kommt morgen abend“, sagt er. „Versauen Sie's bloß nicht.“
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