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Wortbildung: Komposition und Derivation
Die Wortbildung beschäftigt sich mit den möglichen systematischen Verfahren zur Bildung neuer
Wörter, genauer gesagt neuer Lexeme (Lexembildung). Ein neues Lexem liegt vor, wenn ein
syntaktisches Wort nicht auf ein bereits existierendes Lexem bezogen werden kann. Verfahren, mit
denen aktuell neue Lexeme gebildet werden können, sind produktiv. Wie die produktiven Mittel genau
aussehen, ist von Sprache zu Sprache unterschiedlich. Prinzipiell können Lexeme durch folgende
Strategien neu gebildet werden:
• völlige Neuschöpfung eines Lexems
• Modifikation eines existierenden Lexems
• Kombination von zwei oder mehr Lexemen
Durch völlige Neubildung (Urschöpfung) wird nur in Ausnahmefällen neues Sprachmaterial geschaffen
(Bsp.: Produktnamen, sitt als Bezeichnung für ‚nicht mehr durstig‘). Außerdem ist sie normalerweise
lediglich phonologisch eingeschränkt, für die Morphologie im engen Sinne also nicht relevant. Unter
die Modifikation von Lexemen lassen sich neben Änderungen an Wortart, Form etc. auch (meist recht
produktive) Entlehnungen aus anderen Sprachen subsumieren. Konkatenative [kombinierende,
verkettende] Verfahren sind im Deutschen meistens hochproduktiv. Sie werden nach der Art der
beteiligten Elemente in Komposition (Wurzel/Stamm + Wurzel/Stamm) und Derivation
(Wurzel/Stamm + Affix) unterschieden.
Lexembildung
Kombination
Komposition
Modifikation
Neubildung
Derivation
Hausboot
schwarzbraun
ungern
Freiheit
fisch(en)
Limo
Garage
sitt
determinativ
kopulativ
Präfigierung
Suffigierung
Konversion
Kürzungen
Entlehnung
Urschöpfung
Wortbildung in der Generativen Grammatik
In der Morphologie der Generativen Grammatik (X-Bar-Morphologie) werden die oben grau
hinterlegten Wortbildungen einheitlich als binär verkettete Strukturen analysiert, in denen das jeweils
rechte (ggf. unhörbare, ‚Nullmorphem‘) Element der Kopf ist.
Die Regel der Rechtsperipherität des Kopfes (engl. Right-Hand-Head-Rule):
In einer morphologisch regulär gebildeten komplexen Einheit steht der Kopf am rechten Rand.
Wurzeln und Stämme werden X-Bar-theoretisch als X0 dargestellt, Affixe als X-1 bzw. XAff
X-Bar-Schema der Wortbildung:
Xn → Yp Xm
mit
n=0
p, m ≤ 0
p oder m = 0
Das Schema erfasst folgende Generalisierungen:
• Morphologisch komplexe Einheiten haben die maximale Komplexität X0 (keine Phrasen etc.)
und enthalten mindestens eine Wurzel bzw. einen Stamm.
• Morphologische Strukturen verzweigen binär und sind rekursiv.
• Morphologisch komplexe Einheiten sind endozentrisch, d. h. sie haben einen Kopf, der die
morphosyntaktischen Eigenschaften (Wortart, Genus und Flexionsklasse) bestimmt.
S. Bank
Einführung in die Sprachwissenschaft des Deutschen
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N0
N0
N0
V0
N0
N-1
Fuge
N0
V0
N-1
Tag
ung
(s)
teil
nehm
er
Produktivität von Wortbildungen
Produktivität, also die Fähigkeit eines Wortbildungsmusters den Wortschatz um neue Lexeme zu
erweitern lässt sich auch graduell auffassen. Entscheidend ist dann, wie häufig Neubildungen
vorgenommen werden können, bzw. in wie vielen Kontexten:
(a) unproduktiv:
-t wie in Fahrt oder Zucht: *Lest (i. S. v. ‚Lesung‘)
(b) schwach produktiv: -nis; -tum wie in Reichtum und Wachstum: nur noch mit Nomen verwendbar
(c) hoch produktiv:
-ung, -er, -bar als substantivische/adjektivische Derivationssuffixe
Kompositionalität vs. Lexikalisierung
Eine Wortbildung gilt als motiviert bzw. transparent, wenn sich ihre Gesamtbedeutung aus der
Summe der Bedeutungen ihrer einzelnen Teile ableiten lässt. Ihre Bedeutung ergibt sich also
kompositionell, vgl. das nach Frege benannte Kompositionalitätsprinzip:
Frege-Prinzip (Kompositionalitätsprinzip) der Semantik: Die Bedeutung eines komplexen
Ausdrucks wird durch die Bedeutungen seiner Teile und der Art ihrer Zusammenfügung determiniert.
Transparent neugebildete Wörter gehen nach und nach in den allgemeinen Wortschatz ein
(Usualisierung, Lexikalisierung). Im Laufe dieses Prozesses verringert sich oft ihre Transparenz.
Der Prozess ist abgeschlossen, wenn sich die Bedeutung nicht mehr auf die Bedeutung der Teile
beziehen lässt (Idiomatisierung). Idiomatisierte Wortbildungen sind also semantisch im Sinne des
Frege-Prinzips nicht mehr kompositionell (ihre Bedeutung muss einzeln gelernt werden).
(a) vollmotiviert: Weinkeller
(b) teilmotiviert: Fahrstuhl
(c) idiomatisiert: Holzweg
Potentielle Bildungen sind aufgrund produktiver Wortbildungsmuster möglich, aber zufälligerweise
noch nicht gebildet worden (messern, sternig). Okasionelle Bildungen sind spontan (meist zur
Bezeichnung neuer Sachverhalte) geschaffene Gelegenheitsbildungen, die (noch) kein fester
Bestandteil des Wortschatzes sind (tischgroß, fehlersicher). Usuelle Bildungen sind nach produktiven
Wortbildungsregeln geschaffene feste Bestandteile des allgemeinen Wortschatzes (riesengroß, fehlerfrei).
Zum Vergleich: Unmögliche Bildungen verstoßen gegen Wortbildungsregeln (*unkaputtbar)
und/oder sind durch bedeutungsgleiche Bestandteile des Lexikons blockiert (Stehler blockiert durch
Dieb, unlebendig blockiert durch tot).
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Komposition
Ein Kompositum ist eine morphologisch komplexe Einheit, die mindestens zwei Wurzeln enthält.
Nach der Art der kategorialen Zusammensetzung kann man verschiedene Kompositionstypen
unterscheiden:
N
A
V
P
N
A
V
P
N
A
V
P
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
N
N
N
N
A
A
A
A
V
V
V
V
→
→
→
→
→
→
→
→
→
→
→
→
N
N
N
N
A
A
A
A
V
V
V
V
Holzhaus, Motorradfahrer
Dunkelkammer, Rotlicht
Malbuch, Wartehalle
Mitmensch, Hinterhaus
nachtblind, honigsüß
dunkelblau, halbstark
schreibfaul, tragfähig
vorschnell, überklug
kopfstehen, staubsaugen
fremdgehen, (sich) kranklachen
schweißbrennen, walzfräsen
vorlesen, mitschreiben
Außerdem können Kompositionstypen über ihre semantische Interpretation (auch: Lesart) eingeteilt
werden:
Determinativkomposita
Rektionskomposita vs. Nicht-Rektionskomposita
Exozentrische Komposita
Kopulativkomposita
Zusammenrückungen
idiomatisierte Lesarten
Rektionslesart
Holzhaus, himmelblau, Kindergartenfest
Viehschlachter, Autofahrer vs. Kettenraucher, Kugelschreiber
Rotschopf, Bleichgesicht, Rotkehlchen
Nordost, Elsass-Lothringen, süßsauer
trotzdem, barfuß, Vergissmeinnicht
Bullauge, Zeitlupe, Eselsbrücke
Kompositionslesarten
determinativ
Nicht-Rektionslesart
exozentrisch nicht-exozentisch
kopulativ
Zusammenrückungen
idiomatisierte Lesarten
Determinativkomposita
Determinativkomposita sind immer binär verzweigend (zweigliedrig), wobei die erste (syntaktisch
abhängige) Konstituente (Erstglied, Bestimmungswort, Determinans) die zweite (Zweitglied,
Grundwort, Determinatum) semantisch näher bestimmt. D. h. das Kompositum denotiert eine
Untermenge des Denotats der zweiten Konstituente (vgl. [Kindergarten[fest]]).
N0mask
N0neut
N0mask
N0mask
Sommer
tag
N0mask
N0neut
Kind
‚eine bestimmte Art von Tag‘
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N0mask
(er)
garten
(=Fuge)
‚eine bestimmte Art von Fest‘
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N0neut
fest
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Beachte: Die Bedeutung von neugebildeten (transparenten) Komposita wie z. B. Fischfrau ist relativ
offen (‚Frau, die irgendetwas mit Fisch zu tun hat‘). Es sind also viele verschiedene Lesarten möglich.
Im Laufe der Verwendung wird dann normalerweise eine der möglichen Interpretationen als lexikalisch
als Standard festgelegt (Usualisierung). Vgl. Straßenbahn
Akzentuierungsregel für Determinativkomposita: In einer Konfiguration [X Y] ist Y akzentuell
prominenter, wenn es verzweigt; ansonsten ist X prominenter.
Beispiele für die Akzentuierungsregel:
[Welt[spártag]], [[Atomwaffen][spérrvertrag]], [Bundes[gártenschau]]
[[Fúßball]feld], [[Stráßenbahn]depot]
Ausnahmen bilden Wörter wie Spórtflugzeug, Kínderfahrrad, Rangíerbahnhof etc. Diese werden auf dem
ersten Bestandteil akzentuiert, obwohl der zweite Teil verzweigt. Aufgrund der starken
Lexikalisierung des zweiten Bestandteils wird dieser hier offensichtlich nicht mehr als Kompositum
behandelt.
Rektions- und Nicht-Rektionskomposita
Rektionskomposita sind eine besondere Klasse von Determinativkomposita,bei denen die erste
Konstituente eine offene Stelle in der Argumentstruktur des Kopfes besetzt (Argumentsättigung)
und entsprechend semantisch interpretiert wird. In der Regel ist dieser Kopf ein Verb oder eine
deverbale Ableitung (ggf. auch ein relationales Nomen wie Fan, Sohn, Rücken etc.).
Anders formuliert: Die wortinterne Zuweisung der thematischen Rolle (Theta-Rolle) wird zur
Interpretation des Kompositums verwendet. Aus diesem Grund spricht man auch besser von
„Rektionslesart“, denn oft steht eine weitere Lesart zur Wahl, der keine Rektion zugrunde liegt.
Bei Nicht-Rektionskomposita ist die semantische Relation zwischen Erst- und Zweitkonstituente
nicht eingeschränkt.
Anders formuliert: Die wortinterne Zuweisung der thematischen Rolle wird nicht zur Interpretation
des Kompositums verwendet. Die Lesartenbestimmung hängt daher stark vom Weltwissen ab.
Rektions- und Nicht-Rektionslesarten von Determinativkomposita:
Rektions-Lesart ist usuell:
Viehschlachter (Vieh schlachten), Weintrinker (Wein trinken)
Nicht-Rektionslesart ist usuell: Geisterfahrer, Kettenraucher
beide Lesarten (Ambiguität): Alkoholfahrer – Rektionslesart: Alkohol fahren / transportieren
Alkoholfahrer – Nicht-Rektionslesart: unter Alkoholeinfluss fahren
N0 [ ]
N0 [Θ2]
N0
V0
N-1
Vieh
schlacht
[Θ1,Θ2]
er
Erklärung: Das Verb schlachten (hier genauer der Verbstamm schlacht-) hat zwei offene
Argumentstellen (SCHLACHT(x,y)), die hier durch die beiden zu vergebenden Theta-Rollen Agens
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(Θ1) und Patiens (Θ2) dargestellt werden. Das Suffix -er bewirkt, dass das resultierende Nomen Schlachter
als Agens des Verbs interpretiert wird (Nomen-agentis-Lesart: ‚jemand, der schlachtet‘). Die AgensRolle (Θ1) wurde also durch -er gesättigt (s. unterer gestr. Pfeil). Die Patiens-Rolle (Θ2) hingegen wird
zunächst an Schlachter weitergegeben (s. durchgez. Pfeil: Argumentvererbung) und dann von Vieh
besetzt (s. oberer gestr. Pfeil: Argumentsättigung). Dies erklärt, warum *Viehschlachter der Schweine (in
der intendierten Patiens-Lesart) inakzeptabel ist (Grund: die Patiensrolle ist bereits innerhalb des
Kompositums gesättigt), während Schlachter der Schweine durchaus akzeptabel ist (Grund: die Patiensrolle
wird nicht innerhalb des Worts gesättigt und kann deshalb außerhalb des Worts gesättigt werden).
N0 [Θ2]
N0 [Θ2]
N0
V0
N-1
Hobby
schlacht
[Θ1,Θ2]
er
Erklärung: Das Suffix -er bewirkt, dass das resultierende Nomen Schlachter als Agens interpretiert wird;
die offene Patiens-Rolle (Θ2) wird weitervererbt, aber nicht durch Hobby gesättigt.
Exozentrische Komposita (Possessivkomposita)
Bei exozentrischen Komposita bestimmt das Erstglied wie bei allen Determinativkomposita den Kopf
semantisch näher. Allerdings liegt der eigentliche Bedeutungskern des gesamten Kompositums
außerhalb des Denotatsbereichs des Kopfes; sie sind also semantisch exozentrisch.
Possessivkomposita drücken vielmehr ein Besitzverhältnis aus. Bezeichnet wird eine Entität (Größe,
Einheit), die in einem Besitzverhältnis zu dem durch das Kompositum Bezeichneten steht (Rotschopf als
‚jemand, der einen Rotschopf hat‘).
Kopulativkomposita
Kopulativkomposita (Koordinativkomposita) sind Komposita, deren Bestandteile dieselbe
Kategorie (Wortart) haben und die miteinander koordiniert werden.
Anders als bei Determinativkomposita sind die einzelnen Glieder semantisch gleichberechtigt und
bezeichnen zusammengesetzt etwas Neues. Außerdem können sie aus mehr als zwei Elementen
bestehen (nicht notwendigerweise binär verzweigend), z. B. Dichter-Maler-Komponist oder schwarz-rot-gold.
Vor einer Lexikalisierung ist die Reihenfolge der Elemente prinzipiell austauschbar. Das zweite
Element des Kompositums bestimmt die Flexion, ist also der morphologische, nicht aber der
semantische Kopf. Kopulativkomposita haben oft keine Fugenelemente.
Zusammenrückungen
Bei Zusammenrückungen (phraseologische / uneigentliche Komposita) wie barfuß oder trotzdem
bestimmt das zweite Element nicht die Wortart des ganzen „Kompositums“. Es gibt also keinen Kopf.
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Derivation (Präfigierung, Suffigierung)
Eine (explizite) Derivation ist eine morphologisch komplexe Einheit, die aus mindestens einem
Wurzelmorphem und einem Affix besteht.
Präfigierung:
Vorgang der Wortbildung durch Anfügung eines Derivationsaffixes vor dem Stamm. Präfixe haben im
Deutschen meist keine wortartbestimmende Funktion (da nie in Kopfposition), vgl. die Regel der
Rechtsperipherität des Kopfes. Da man ihre Wortart (anders als bei zu Suffixen) nicht erkennen kann,
werden sie in der X-Bar-Morphologie meist als X-1 dargestellt. Einige Präfixe verbinden sich bevorzugt
mit Stämmen ganz bestimmter Wortarten, andere sind offener (be- und zer- mit verbalen, un- mit
nominalen und adjektivischen, miss- mit allen drei).
• mit Verb:
be-stehen, ver-brauchen, zer-reißen
• mit Nomen: Miss-brauch, Un-glück, Ur-wald
• mit Adjektiv: ge-heim, un-gesund, über-glücklich
• Problemfälle: durch-fahren, mit-nehmen, los-fahren, unter-gehen (Komposition vs. Derivation)
Suffigierung:
Vorgang der Wortbildung durch Anfügung eines Derivationsaffixes hinter den Stamm. Suffixe haben
im Deutschen wortartbestimmende Funktion (da immer in Kopfposition). Daher spricht man auch von
Nominal-Suffixen (N-1 z. B. –ling, -heit) und Adjektiv-Suffixen (A-1 z. B. -bar).
• zu Verb:
läch-el-n, folg-er-n, ras-ier-en
• zu Nomen:
Ausbild-ung, Bücher-ei, Tor-heit, Wag-nis, Fäust-ling
• zu Adjektiv: grün-lich, farb-ig, arbeits-mäßig
• zu Adverb:
morgen-s, dummer-weise, durch-weg
Beispielhafte Bedeutungsdifferenzierung von Suffixen:
Abstrakta:
-heit, -keit, -igkeit
(Abstraktabildung)
Personenbezug:
-er
(Nomen agentis / Nomen instrumenti)
Diminutiva:
-chen, -lein
(Verkleinerung)
A0
N0
A0
N0
X-1
N0
A-1
V0
A0
N-1
un
glück
lich
Schreib
faul
heit
Gemeinsamkeit von Komposition und Derivation in der X-Bar-Morphologie:
(a) Right-Hand-Head-Rule: das rechts stehende Element ist der Kopf.
(b) Wurzel und Affix unterscheiden sich nur ihre Komplexitätsstufe bzw. (Un-)Gebundenheit.
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