Naoto Kan: Premier der Katastrophe

Gesellschaft
I n ter v i ew
Der zerstörte Mythos
der „sicheren“ Atomkraft
Worst-Case Szenario: die Evakuation Tokyos. Naoto Kan, Premierminister
während der Dreifachkatastrophe 2011, sprach mit JAPANMARKT über die
damalige Lage und sein neu erschienenes Buch.
Das Interview führten Kiyo Dörrer und Aki Yamazaki
I
m Oktober 2015 veröffentlichte Naoto Kan, Premierminister zwischen Juni 2010 und September 2011, die deutschsprachige Ausgabe seines Buches „Als Premierminister während der Fukushima-Krise“. In der Autobiografie schildert der
derzeitige Abgeordnete des Unterhauses die Geschehnisse in
den Tagen nach der Dreifachkatastrophe sowie seine politische
Kehrtwende.
JM: Im Oktober 2015 haben Sie die deutschsprachige Ausgabe Ihres Buches auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt.
Wie waren die Reaktionen auf deutscher Seite?
Kan: Ich wurde auf der Messe auf das „blaue Sofa“ zu einem
Interview eingeladen, was ich schon an sich als eine Ehre
empfand. Ich glaube, in Deutschland ist das Interesse für das
Thema Anti-Atomkraft wegen des größeren Bewusstseins und
des geplanten Atomausstiegs größer als in Japan. Die größten
deutschen Wochenmagazine haben anlässlich der Veröffentlichung mehrseitige Artikel abgedruckt – die Aufmerksamkeit
auf deutscher Seite war also hoch, vor allem im Vergleich zu der
Reaktion japanischer Medien.
JM: Was war der Grund für die Veröffentlichung Ihres
Buches?
Kan: Ich wollte den Bürgerinnen und Bürgern Japans meine
eigene Sichtweise der Katastrophe, die Sichtweise als damaliger
Premierminister, darstellen und klar vermitteln. Zum Zeitpunkt
der Krise waren wir so mit den Gegenmaßnahmen beschäftigt,
dass wir der Öffentlichkeit nicht alles klar kommunizieren
konnten. Auf Seiten der Medien war die Berichterstattung chaotisch und nicht immer wahrheitsgemäß, die Kritik an meinen
Handlungen groß. Ich wollte mit dem Buch meine Aktionen
und Beweggründe unmittelbar nach der Katastrophe erklären
sowie ein Bewusstsein für die enorme Gefahr der Atomkraft in
der Bevölkerung schaffen. Den meisten Menschen ist nicht klar,
wie glimpflich die Fukushima-Krise letzten Endes ausgegangen
ist. Natürlich bleibt die Katastrophe der größte Atomunfall seit
Tschernobyl; Zehntausende können auch fast fünf Jahre nach
der Krise nicht in ihre Heimat zurückkehren. Aber es hätte
noch viel schlimmer kommen können. Ich selber war vor der
Katastrophe ein Befürworter der Atomkraft. Aber durch die
Erlebnisse nach dem 11. März habe ich eine 180-Grad Kehrt-
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wende gemacht. In den Tagen nach der Katastrophe war es im
Bereich des Möglichen, dass 50 Millionen Menschen inklusive
Tokyo evakuiert werden müssen. Fast die Hälfte der japanischen
Bevölkerung hätte die Flucht ergreifen müssen, wäre es zur
Kernschmelze im Reaktor 2 gekommen – Japan wäre am Ende
gewesen. Dass der Schaden doch relativ gering gehalten werden
konnte, war – auch wenn das unsachlich klingt – einfach nur
eine Aneinanderreihung von glücklichen Zufällen. Eine Technologie, die so ein Szenario ermöglicht, kann und darf nicht
unterstützt werden. Diese Botschaft wollte ich mit der Veröffentlichung des Buches vermitteln.
JM: Sie schildern in Ihrem Buch die chaotischen Verhältnisse
während der Fukushima-Krise. Was waren Ihrer Meinung
nach die bedeutendsten Maßnahmen in der Zeit und gibt es
Aktionen, die Sie im Nachhinein bereuen?
Kan: Es gibt zwei Entscheidungen, für die ich stark kritisiert
wurde, hinter denen ich aber bis heute definitiv stehe. Die
erste war der Entschluss, am Morgen nach der Katastrophe
zum Unglücksort zu fliegen. Der öffentlichen Meinung nach
hätte ich im Premierministerbüro sitzen und auf Informationen warten sollen. Diese kamen aber nicht, oder wenn, dann
nur unzureichend und verspätet. Die Erkundung vor Ort und
das Gespräch mit Werksleiter Yoshida haben geholfen, weitere
Maßnahmen zu treffen und über die Evakuierungen zu entscheiden. Die zweite war das Errichten eines Katastrophenstabs
in der TEPCO-Zentrale. Es hieß im Nachhinein, dass sich ein
Premierminister nicht in die Angelegenheiten eines privaten
Unternehmens einmischen sollte. Aber zu dem Zeitpunkt war
der Vorfall längst nicht mehr die Angelegenheit einer einzelnen
Privatfirma: Es war zu einer nationalen Angelegenheit geworden. Niemand, weder in der Regierung noch bei TEPCO, waren
auf irgendeine Weise auf die Geschehnisse vorbereitet. Ein Atomunfall wurde quasi ausgeschlossen, es waren keine Mechanismen zur Katastrophenbekämpfung vorhanden. Im Nachhinein
natürlich, mit dem Wissen, dass eine solche Katastrophe passieren kann, hätte man vieles anders machen können. Wenn ich
jedoch noch einmal in die gleiche Situation geraten würde, mit
den gleichen Voraussetzungen wie zu dem Zeitpunkt, würde ich
wohl genauso wie damals handeln.
In den Tagen nach der Katastrophe
war es im Bereich des Möglichen,
dass 50 Millionen Menschen inklusive
Tokyo evakuiert werden müssen.
AHK Japan
3 Naoto Kan in seinem
Abgeordnetenbüro im
japanischen Unterhaus.
nissen wider. Die LDP, die den Pro-Atom-Kurs fährt, hat derzeit eine Unterstützung von fast 50%. Wie ist das zu erklären?
Kan: Die Stimmung der Bürger ist gegen die Atomkraft, nur
wird diesem Thema nicht genügend Platz im öffentlichen
Diskurs eingeräumt. Zusätzlich versuchen Stromkonzerne wie
TEPCO durch das Schalten von Werbung in den großen Medienkanälen ihr Image in der Bevölkerung aufzuwerten. Der
Fokus während der Wahlen, zum Beispiel in diesem Jahr, wird
bewusst auf anderen Themen gelegt, etwa auf Abenomics. Was
nun mit den Atomkraftwerken Japans geschieht, wird unter den
Tisch fallen gelassen. Das ist der Grund, warum die anti-atomare Stimmungslage den Wahlausgang nicht direkt beeinflusst.
Aber auf lange Sicht, da bin ich sehr positiv gestimmt, wird
man nicht mehr an der alten Institution der Atomkraft festhalten können. Die Kernkraft wird aus ökonomischer Sicht nicht
mehr tragbar sein, die Politik wird dieser Realität in die Augen
schauen müssen, und schließlich auch der Meinung der Bürger
ins Gesicht schauen müssen. Meiner Meinung nach wird die
Atomkraft am Ende dieses Jahrhunderts eine veraltete Technologie sein, ein Relikt aus vergangenen Zeiten, das niemand mehr
verwendet. n
IUDICIUM Verlag
JM: Die Regierung Abe hat 2015 zwei Reaktoren hochfahren
lassen. Der Atomausstieg bis 2030, den die DPJ nach der Katastrophe beschlossen hat, wurde von der LDP verworfen. Gibt
es noch Hoffnung für Ihre Vision eines atomfreien Japan?
Kan: Auf jeden Fall. Als ich mit der DPJ im Sommer 2011 den
Atomausstieg für 2030 beschloss, war es kein Wunschtraum
meinerseits. Die Atomkraft ist auch in Japan nicht auf lange
Sicht zu rechtfertigen. Früher – und teilweise noch heute –
wurde sie als billige und sichere Energiequelle angepriesen.
Dabei ist sie keines von beiden. Sie ist, wie Fukushima gezeigt
hat, definitiv nicht sicher. Die strengeren Auflagen, die zu der
zukünftigen Sicherheit beitragen sollen, sowie die Endlagerungskosten machen die Atomkraft zusätzlich teuer. Es rechnet sich ökonomisch einfach nicht, endlos auf Atomstrom zu
setzen. Der weltweite Kurs geht hin zu erneuerbaren Energien,
und weg von nuklearer Energiegewinnung. Auch die USA und
China, die Atomstrom produzieren, investieren immer mehr in
erneuerbare Energien. Japan wird auch bald einsehen müssen,
dass der Mythos der sicheren Kernkraft nicht mehr haltbar ist.
Japan kann ohne Atomkraft, das haben wir in den Jahren nach
der Katastrophe gelernt. Das Land hat zwei Jahre ohne Atomstrom funktioniert, und es wird auch in Zukunft funktionieren.
Zwar hat die Regierung Abe zwei Reaktoren hochgefahren,
aber es sind anders gesagt bloß zwei. Die Liberaldemokratische
Partei Japans hat 2015 einen Energieplan vorgelegt, in dem für
2030 ein Atomkraftanteil von 20-22% angedacht ist. Das ist der
Anteil von vor dem Unfall, mit 54 Reaktoren im Betrieb. Ich
glaube aber nicht, dass das so einfach sein wird, vor allem nicht
mit dem Gegenwind aus der Bevölkerung.
JM: In Umfragen sind 60% der Japaner gegen die Atomkraft.
Doch diese Einstellung spiegelt sich nicht in den Wahlergeb
Naoto Kan, übersetzt von Frank Rövekamp:
Als Premierminister während der FukushimaKrise, Iudicium Verlag, 2015, broschiert,
14.80 EUR.
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