Ex-Premier Kan ü ber Füküshima-Katastrophe

"Die Frage war, ob Japan untergeht"
Ex-Premier Kan über Füküshima-Katastrophe
09. Oktober 2015, ein Interview von Wieland Wagner
REUTERS/ Kyodo
Der Atomunfall von Fukushima hätte noch viel schlimmer
ausgehen können, nur Zufälle bewahrten Japan vor einem
Kollaps, sagt der damalige Premier Naoto Kan. Er erwog
sogar, die Mega-Metropole Tokio zu evakuieren.
SPIEGEL ONLINE: Herr Kan, als Regierungschef kämpften Sie am 11. März
2011 und den Tagen danach mit den Folgen des Atomdesasters von
Fukushima. War die Lage damals ernster, als die Welt ahnte?
Kan: Wir sind nur um ein Haar einer noch viel schlimmeren Katastrophe
entgangen. Hätten wir damals auch Tokio und Umgebung mit insgesamt 50
Millionen Menschen evakuieren müssen, hätte das den Kollaps unseres Landes
bedeutet. Die Hauptstadt liegt nur etwa 250 Kilometer von Fukushima entfernt.
Dass es dazu nicht gekommen ist, verdanken wir letztlich zweierlei: Dem
aufopferungsvollen Einsatz des Personals des Stromversorgers Tepco. Zum
anderen kam uns eine Reihe glücklicher Zufälle zu Hilfe. Ich kann das nur als
göttliche Fügung bezeichnen.
SPIEGEL ONLINE: Japans Kernkraftwerke galten bis dahin als absolut sicher.
Tatsächlich aber hing alles nur von Zufällen ab?
Kan: Ja. Dass sich damals beispielsweise im Abklingbecken für die Brennstäbe
des Reaktors Nr. 4 noch Wasser befand, lässt sich nur mit glücklichen
Umständen erklären. Außerdem waren in den Sicherheitsbehältern Nr. 1 bis 3
Löcher entstanden, durch die Druck entweichen konnte. Wären Behälter
geplatzt, hätte es viele Opfer gegeben. Und die Anlage wäre so stark verstrahlt
worden, dass sich Rettungskräfte ihr nicht mehr hätten nähern können.
…schwarze Säcke sind mit radioaktiv verseuchter Erde gefüllt
…und die Entsorgung wird den nächsten Generationen übertragen.
…Menschen arbeiten mit hohem Risiko.
AFP
SPIEGEL ONLINE: Warum haben Sie die Hauptstadt nicht evakuiert?
Kan: Ich dachte schon sehr früh daran, dass Tokio gefährdet sein könne. Doch
hätte ich als Regierungschef öffentlich darüber gesprochen, hätte ich eine Panik
auslösen können. Denn dann hätte ich ja auch einen Evakuierungsplan parat
haben müssen. Stattdessen habe ich den Radius für die Evakuierung um das
Kernkraftwerk nach und nach ausgeweitet: erst von drei auf fünf Kilometer,
dann auf zehn und schließlich auf 20 Kilometer. Hätte ich damals gewusst, was
ich heute weiß, hätte ich den Radius vielleicht schlagartig vergrößert. Doch so
etwas zu entscheiden, ist äußerst schwierig: Verdoppelt man den Radius,
müssen auch gleich viel mehr Menschen in Sicherheit gebracht werden.
SPIEGEL ONLINE: Was wissen Sie heute, was sie damals nicht wussten?
Kan: Zum Beispiel begann die Kernschmelze bereits zweieinhalb Stunden nach
dem Erdbeben und nicht erst am nächsten Tag, wie es zunächst geheißen
hatte. Das ging alles rasend schnell, wir hinkten der Entwicklung hinterher.
Wegen der Arbeit unter hoher Strahlenbelastung gelang es der Betreiberfirma
Tepco erst am Nachmittag des 12. März, zwei Druckklappen zu öffnen, um
Wasserstoff aus dem Sicherheitsbehälter abzulassen. Doch es war bereits zu
viel Wasserstoff entwichen. Kurz darauf explodierte dann die äußere Hülle des
Reaktorgebäudes.
…viel Platz für Spinnen.
AP
…wo keine Menschen sind, nimmt die Natur den Platz ein.
SPIEGEL ONLINE: Die äußeren Hüllen von einem Reaktorgebäude nach dem
anderen flogen in die Luft. Kamen Sie sich da nicht entsetzlich hilflos vor?
Kan: Von der Explosion des Reaktorgebäudes Nr. 1 erfuhr ich erst aus dem
Fernsehen. Da waren bereits fast zwei Stunden vergangen. Ich erhielt keine
Informationen, weder durch den Beamtenapparat noch von Tepco.
SPIEGEL ONLINE: Gleichwohl wurden Sie in den japanischen Medien kritisiert,
weil sie am 15. März frühmorgens ins Auto stiegen, zu Tepco fuhren und die
Manager zusammenstauchten. Es hieß, Sie hätten Ihre Kompetenzen als
Premier überschritten.
Kan: Damals hatte der Chef von Tepco dem Wirtschaftsminister gesagt, er
wolle sein Personal aus Fukushima abziehen. Damit stellte sich für mich die
Frage, ob Japan untergeht. Ich sah keine andere Möglichkeit, als persönlich zu
Tepco zu fahren und die Manager zum Durchhalten aufzufordern. Wer hätte
später die Verantwortung übernommen, wenn wir 50 Millionen Menschen
hätten evakuieren müssen? Tepco?
SPIEGEL ONLINE: Es fällt schwer zu glauben, dass ein Industrieland wie
Japan praktisch nicht auf einen Atomunfall vorbereitet war.
Kan: In meinen früheren Ämtern als Gesundheitsminister und Finanzminister
konnte ich mich stets auf den Rat von Fachleuten verlassen. Doch als ich
unmittelbar nach dem Unfall den Chef der Atomaufsichtsbehörde zur Lage
befragte, kapierte ich nicht, was er sagte. Da habe ich ihn gefragt: Sind Sie
Nuklear-Experte? Seine Antwort: Nein, ich habe Wirtschaft studiert. Schon bei
der personellen Besetzung der Behörde war man davon ausgegangen, dass ein
Atomunfall prinzipiell ausgeschlossen sei.
SPIEGEL ONLINE: Auch Sie selbst hatten als Premier ja zunächst an den
Mythos der sicheren Atomkraft geglaubt.
Kan: Nach meinen Erfahrungen mit Fukushima habe ich meine Einstellung um
180 Grad geändert: Jetzt setze ich mich dafür ein, dass wir die Kernkraft in
Japan und möglichst in der ganzen Welt aufgeben.
SPIEGEL ONLINE: Immer wieder fließt in Fukushima radioaktiv verseuchtes
Wasser in den Pazifik. Gleichwohl betreibt der jetzige Premier Shinzo Abe den
Neustart heimischer Kernkraftwerke, die nach dem Fukushima-Unfall
abgeschaltet wurden.
Kan: Ich halte das für völlig falsch. Jetzt, da wir wissen, welch hohe Risiken
Kernkraftwerke bergen, sollten wir sie abschaffen und alternative
Energiequellen entwickeln, wie es Deutschland bereits beschlossen hat.
SPIEGEL ONLINE: Warum hält die japanische Regierung hartnäckig an der
Kernkraft fest - gegen die Mehrheit der Bevölkerung?
Kan: Das lässt sich vor allem mit den Interessen der Stromversorger,
Bürokratie und der Industrie erklären.
Zur Person

DPA
Naoto Kan, 69, war Japans Premier zur Zeit des Super-GAUs in Fukushima im
März 2011. Nach einem Seebeben hatte es in dem AKW mehrere
Kernschmelzen gegeben. Im September 2011 trat er nach Kritik an seinem
Krisenmanagement zurück - nach nur 15 Monaten im Amt. Auf der Frankfurter
Buchmesse will Kan die deutsche Übersetzung seines Buches vorstellen, in dem
er seine Erlebnisse während des Atomunglücks schildert.