POLITIK 7 FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 31. MAI 2015, NR. 22 Dann weiß ich: Mädel, Achtung! Marken aus der historischen Waage im alten Schwimmbad von Petra Sitte Petra Sitte sitzt für die Linke im Bundestag. Das hat ihren Körper verändert. Seine Warnungen nimmt sie ernst. Von Lydia Rosenfelder K otzen kannst du hinter der Ziellinie. Das sagte der Schwimmtrainer immer zu ihr, damals in der DDR. Heute ist Petra Sitte linke Bundestagsabgeordnete, Nummer zwei nach Gregor Gysi. Und der Spruch gilt immer noch. Besonders schlimm wird es in den Sitzungswochen vor der Sommerpause. Dann versucht der Bundestag, schnell noch alles, was herumliegt, aufzusammeln und in Gesetze zu verwandeln. Lumpensammlerwochen nennt Sitte das. Alle sind angespannt, besonders sie, die als Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion die Sitzungen organisieren muss. Da fährt sie auf Verschleiß. Gegen Hektik ist sie nicht resistent, Kollegen hören in ihrem Schnaufen den Stress. Aber sie hält durch bis zur Ziellinie. Im „Bella Italia“ am Marktplatz in Halle an der Saale. Petra Sitte hat Minestrone bestellt und eine Cola light. „Ich bin Schmalspur-Esserin.“ Sie isst am liebsten erst spätabends, wenn sie nach Hause kommt, und liest dabei ein Buch. Von ihr aus könnte man all die feinen Büffets abschaffen auf den politischen Empfängen in Berlin. Sie würde gerne einfach nur zum Termin kommen, das Problem erklärt bekommen, sachbezogen diskutieren und wieder gehen. „Ich eigne mich nicht für Smalltalk, ich bin eine rationale Frau.“ Ihr Modestil: Chucks, Jeans, grauer Lieblingspullover mit schwarz-weißem Kragen, Funktionsjacke, Brille, Igelfrisur. Was macht die Politik mit dem Körper, Frau Sitte? „Wenn es stressig wird, zuckt mein linkes Auge. Dann weiß ich: Mädel, Achtung!“ Ihr bisheriger Rekord im Plenum: dreizehn Stunden sitzen. Dreimal kurz aufstehen, mehr nicht. Gefährlich für Hüfte und Ischias. Der Mensch ist nicht fürs Sitzen gemacht. Zum Ausgleich fährt sie nach dem Aufstehen eine Stunde Rad. Ihr altes Rennrad, nun steht es auf einer Rolle, die Hinterachse arretiert. Glotze davor. „Morgens hau ich mich drauf und gucke dabei fern. Dann bin ich schon mal richtig ausgepowert und aufgeräumt.“ Am Wochenende fährt sie mit dem Rad 75 bis 90 Kilometer um Halle herum. Beim Sport entstehen ihre Reden. Plötzlich kommt ihr die Idee für den Einstieg oder für den roten Faden. Dann setzt sie sich hin und schreibt den Text runter. Beim Reden versucht sie, sich wieder vom Manuskript zu lösen. Es gibt Leute, sagt sie, die dachten, dass sie als Erste Parlamentarische Geschäftsführerin zur Wadenbeißerin würde. „Jemand, der Wissenschafts- und Netzpolitik macht! Da sollte man sich nicht wundern, dass ich nicht den CSU-Generalsekretär abgebe.“ Sie ist nicht der Typ, der zuspitzt. „Das ist nicht mein Stil und nicht mein Politikverständnis.“ Das würde ihr auch nicht helfen, denn die Linken sind für Machtworte taub. Die leben das freie Mandat, und wie. In der Opposition kann man sich das noch leisten. Aber diese Fraktion ist sich nicht mal einig darüber, ob sie eines Tages regieren möchte. Sitte sagt, die Richtung sei die gleiche, das Ziel sei das gleiche. Nur über die Mittel gebe es Streit. Da wundert sie sich manchmal über die Härte. Und dass immer noch welche mit Panzerkreuzer Aurora und roter Fahne losziehen wollen. Petra Sitte ist in einem Wochenheim aufgewachsen, ihre Mutter war Dreherin, ihr Vater Schlosser. Beide arbeiteten im Schichtdienst. Ihre Tochter gaben sie immer montags ab und holten sie freitags wieder nach Hause. Acht Jahre lang, bis zur zweiten Klasse. Sitte lächelt, guckt an sich runter, mit ausgebreiteten Armen: „Mir ist ja nichts passiert.“ Sie habe gute Erinnerungen daran. Am Wochenende unternahm die Familie gemeinsam etwas, Wandern in der Sächsischen Schweiz, Skifahren im Erzgebirge, Federball, Radfahren. Sie machten immer viel Sport. Als Studentin trat Sitte in die SED ein, sie promovierte im Fach Volkswirtschaft. 1988 wurde sie „Zweiter Sekretär“ der FDJ-Kreisleitung an der Uni in Halle. Die Wende war ein Erdbeben. So etwas will sie nicht noch mal erleben, sagt sie. In den folgenden Jahren geriet sie aus der Form. Sie war Fraktionschefin der PDS im Landtag und fuhr spätabends immer von Magdeburg zurück nach Halle. Einen Fahrer hatte sie nicht, weil sie nicht wollte, dass jemand stundenlang im Auto auf sie wartet. Auf dem Beifahrersitz lag eine große Tüte mit Haselnüssen. Damals war Sitte undiszipliniert. Sie war dick. Sitte hatte in jener Zeit Kreislaufprobleme. Sie war früher viel geschwommen, dadurch hatte sie einen zu großen Herzmuskel, und der wurde nun schlaff. Der Arzt riet, Medikamente zu nehmen oder wieder Sport zu machen. Sie begann, im Fitnessstudio zu trainieren. Der Sport gab ihr Halt. Dann geriet sie in die Schlagzeilen. Es war eine stressige Woche im Landtag, sie wollte schnell noch etwas in einer Drogerie kaufen, bevor der Zug abfuhr. Dabei steckte sie einen Kosmetikstift ein, ohne ihn zu bezahlen. Aus Versehen, so als wäre der Stift ihr eigener, wie sie damals erklärte. Sie stellte die Vertrauensfrage, die große Mehrheit der Fraktion stellte sich hinter sie. Wer weiß, wofür es gut war, sagt sie heute über den Vorfall. So habe sie sich von Grund auf in Frage gestellt. Bis 2004 war sie Fraktionschefin in Sachsen-Anhalt. Als sie das Amt los war, fühlte sie sich befreit. Fraktionschefin möchte sie nicht mehr werden. Nicht mehr so in der Öffentlichkeit stehen. 2005 zog sie in den Bundestag ein. Dort lernte sie eine andere Art der Politik kennen: Kampfabstimmungen, Strömungskompromisse, Gibst-dumir-geb-ich-dir. Sie knüpfte gute Kontakte zu allen Fraktionen, abgesehen von den jungen FDPlern, denn als die noch auf den Fluren des Bundestags unterwegs waren, grüßten die nicht zurück. Als das Parlament über Sterbehilfe stritt, führte sie einen überfraktionellen Gruppenantrag an, für eine liberale Regelung. Sie geht noch weiter und sagt: „Wenn man bei Fragen zu Leben und Tod Gruppenanträge erlaubt, warum dann nicht auch in allen anderen Fragen?“ Diese Parteiendemokratie, sagt sie, hätten die Mütter und Väter des Grundgesetzes damals bestimmt nicht vor Augen gehabt. Petra Sitte steigt auf eine alte Waage, im historischen Stadtbad von Halle. „Prüfen Sie Ihre Gesundheit durch regelmäßiges Wiegen“, steht darauf. Es rumpelt und rattert, dann fliegt eine Pappmarke aus dem Schlitz, mit aufgestempeltem Gewicht. Die Präzisionswaage nimmt es nicht so genau, Sitte ist viereinhalb Kilo schwerer als am Morgen. Um das Schwimmbecken herum stehen Säulen mit smaragdgrünen Porzellanfliesen und kleinen Figürchen. Am Beckenrand kleiden sich Schwimmer in Holzkabinen um. In der feuchtwarmen Chlorluft hat Sitte in ihrer Jugend viel Zeit verbracht, hier trainierte sie als Studentin mehrmals pro Woche. Für eine Profikarriere waren Hände und Füße zu klein, und auch insgesamt war sie zu klein. Aber sie trainierte ehrgeizig und sprang ohne zu zögern von jedem Turm, drei, fünf, zehn Meter. Vom Turm machte sie immer lieber Kopfsprung als Kerze, das konnte sie besser kontrollieren. Einmal im Jahr war Faschingsschwimmen. Die Jungen standen aufgereiht am rechten Beckenrand, die Mädchen am linken. Tuscheln und Kichern. Ein Junge trug eine Plüschjacke, ein anderer ein hautenges Leopardenkleid. Pe- tra Sitte hatte ein weites Baumwollnachthemd über ihren Badeanzug gezogen. Ferkelfarben, mit Blümchenaufdruck und Knopfleiste. „Das war alles andere als ein sexy Kostüm.“ Sie sprang vom Drei-Meter-Turm und schwebte im Wasser wie eine große Blase. Die Kommilitoninnen schnappten sich wie immer die Jungs, für Sitte blieb keiner übrig. Foto Frank Röth Beim Radfahren lernte sie ihren Freund kennen. Das war in den Neunzigern, Sitte besuchte ein Trainingslager in Italien, eine Radsportlegende war ihr Trainer. Es kamen Sportler aus dem Westen, auch ein Mann aus Münster. Sie wurden ein Paar. Sie war 33, fürs Mutterwerden schon etwas alt, nach DDR-Maßstäben. Und er hatte auch schon Kinder. Sie lernte den westdeutschen Alltag kennen und er die Selbständigkeit ostdeutscher Frauen. Sitte mietete eine eigene Wohnung in Münster an, die hat sie noch heute. Er bot an, nach Halle zu ziehen, aber sie wollte ihn nicht aus seinem Umfeld herausreißen und in Halle unter „Rotlichtbestrahlung“ stellen. In Wahlkampfzeiten sehen sie sich manchmal sechs Wochen lang nicht. Die Straßenbahn steht im Stau vor der Burg Giebichenstein, auf dem Weg zu einem Kunstverein, den Sitte unterstützt. Sie spendet monatlich fast tausend Euro von ihrem Gehalt für Kunstprojekte, Gysi hatte seinen Linken das empfohlen, als die große Koalition die Diäten erhöhte. Sitte sagt, sie schaue ihrem Geld gerne hinterher, wie es Gutes tut. Selbst braucht sie nicht viel. Sie hat nur Vier-Jahres-Verträge, das behält sie immer im Kopf. Im Bundestag trägt sie Jeans und Pullover. Immobilien besitzt sie keine, sondern wohnt seit Ewigkeiten in ihrer Wohngemeinschaft in Bahnhofsnähe. Sie hat sich spartanisch eingerichtet, in zwei Tagen könnte sie ausziehen. Sie will sich an nichts fesseln.
© Copyright 2024 ExpyDoc