Fall 20 (nach Leipold, Erbrecht): Als die 77jährige Witwe W schwer erkrankte, errichtete sie ein Testament, in dem sie ihren Neffen A und ihre Nichte B zu gleichberechtigten Erben einsetzte. Neben zwei weiteren Neffen C und D waren A und B die nächsten Verwandten der W. Mit A und B unterhielt W recht enge verwandtschaftliche Beziehungen, während zu C und D seit langem kein Kontakt mehr bestand. In dem Testament führte W aus, dass sie die gemeinsame Zeit mit A, B und den Kindern des A, K1 und K2, stets sehr geschätzt habe und dass sie mit der Erbeinsetzung des A auch einen Beitrag zur Ausbildung seiner Kinder leisten wolle. Während W ihre Krankheit überlebte, kam A in der Folgezeit bei einem Autounfall ums Leben. Er hinterließ eine Frau und zwei Kinder. W verstarb kurz darauf, ohne ihr Testament geändert zu haben. Wer beerbt W? Lösung zu Fall 20 A. Wortlaut des Testaments Nach dem Wortlaut des Testaments sind A und B Erben. Für den Fall, dass A vor dem Erbfall der W wegfällt, trifft das Testament keine Regelung. Es enthält eine Lücke. B. Ergänzende Auslegung des Testaments Hier kommt eine ergänzende Auslegung des Testaments in Betracht (Rechtsgrundlage für die ergänzende Vertragsauslegung sind §§ 133, 2084 BGB). I. Anwendungsbereich Die ergänzende Auslegung ist möglich bei - der Schließung anfänglicher sprachlicher Lücken, - der Schließung von Lücken, die sich daraus ergeben, dass der Erblasser die Verhältnisse zur Zeit der Testamentserrichtung falsch beurteilt hat, z. B. aus einem bekannten tatsächlichen Umstand fehlerhafte rechtliche Schlussfolgerungen gezogen, sich über den Inhalt eines Vertrages geirrt hat, oder sich wie hier nach der Errichtung des Testaments vom Erblasser nicht bedachte Veränderungen ergeben haben. Die ergänzende Testamentsauslegung geht der Anwendung von gesetzlichen Auslegungsregeln vor (siehe etwa Scherer, in: ders., ErbR 2014, § 3 Rn. 36 ff.). Lässt sich also das Testament dahin gehend auslegen, dass K1 und K2 als Ersatzerben (§ 2096 BGB) an die Stelle ihres Vaters treten sollen, so kommt eine Anwachsung i. S. des § 2094 BGB nicht in Frage. (Auf § 2099 BGB kommt es wegen des Vorrangs der Auslegung gar nicht mehr an.) Die Auslegungsregel des § 2069 BGB kommt vorliegend schon deshalb nicht zur Anwendung, weil A kein Abkömmling der W war. Eine analoge Anwendung scheidet aus. II. Maßgeblich: das aus der letztwilligen Verfügung erkennbare Ziel des Erblassers - Die ergänzende Auslegung ist in erster Linie an dem aus der letztwilligen Verfügung erkennbaren Ziel des Erblassers auszurichten; es ist also der Wille des 1 Erblassers zu ermitteln, den er bei zutreffender Kenntnis der Sachlage gehabt hätte. - Aus den Erklärungen der W ist zu entnehmen, dass K1 und K2 über A an dem Nachlass der W partizipieren sollten. W wollte einen Beitrag zur Ausbildung von K1 und K2 leisten. C und D sollten nicht bedacht werden, weil W zu ihnen keinen Kontakt pflegte. - Die h.M. verlangt, gestützt auf § 2247 BGB (Formerfordernis), dass der hypothetische Wille des Erblassers im Testament angedeutet ist (sog. Andeutungsoder Anhaltstheorie). Vorliegend hat W in ihrem Testament schriftlich erwähnt, dass sie die Anwesenheit von K1 und K2 stets schätzte und ihnen bei der Finanzierung ihrer Ausbildung behilflich sein will. C. Ergebnis Die ergänzende Auslegung des Testaments ergibt, dass K1 und K2 als Ersatzerben für den Fall des Vorversterbens des A bedacht sind. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte sind K1 und K2 im Hinblick auf die Erbquote des A zu gleichen Teilen eingesetzt, § 2091 BGB. K1 und K2 sind damit Erben zu je ¼ und B ist Erbin zu ½. 2
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