36. 500 Jahre Über-Leben in der Dauerkrise. Indigener Widerstand

36.
500 Jahre Über-Leben in der Dauerkrise. Indigener Widerstand in den
Amerikas heute
RG Indigenes Nordamerika (Markus Lindner und Susanne Jauernig)
RG Mesoamerika (Antje Gunsenheimer)
RG Südamerika (Michael Kraus und Anne Goletz)
Zahlreiche indigene Gesellschaften Amerikas verstehen sich heute als „Kulturen im Widerstand“, weil sie gegenüber verschiedenen Akteuren (staatlich, privat, international) ihre
Rechte auf Land, die eigene kulturelle Identität, eigenständige politische Repräsentationsund Wirtschaftsformen verteidigen müssen. Zunächst erzwangen die europäische Eroberung und die anschließende Kolonialisierung Veränderungen in nahezu allen Lebensbereichen (sozio-politische Organisationsformen, Siedlungsräume, angestammte Formen des Zusammenlebens und des Wirtschaftens) und führten zu einer beständigen, wenn auch in ihren
Politiken wechselnden Bevormundung der indigenen Bevölkerung. Während die Kolonial(isierungs)phase indigenen Gesellschaften noch Rückzugsräume – im geographischen wie im
sozio-politischen Sinn – ermöglichte, verursachten die jeweiligen liberalen Nationalprojekte
der Unabhängigkeitsphase in Lateinamerika und die Zwangsamerikanisierung in Nordamerika ab dem 19. Jahrhundert einen bis heute anhaltenden wirtschaftlichen und kulturpolitischen Anpassungsdruck. Demgegenüber ergaben sich im 20. Jahrhundert mit den ILO-Konventionen 107 (1957) und 169 (1989), der Einführung der Interamerikanischen Indigenistischen Kongresse (ab 1940) sowie nationalen Bewegungen (z.B. Bürgerrechtsbewegung in
den USA und Kanada) neue Foren der Repräsentation indigener Gesellschaften, die zu einer
Aufwertung ethnischer Zugehörigkeiten beitrugen.
Angesichts dieser Entwicklungen widmet sich der Workshop heutigen Formen des Widerstands indigener Gesellschaften. Vorgestellt werden sollen Konfliktfelder (Ressourcennutzung, Erziehungssysteme, Politik, Gerichtsbarkeiten, Entwicklungsprojekte, etc.) und die
Strategien indigener Gruppen wie etwa ziviler (Straßenblockaden), militärischer (z.B. EZLN
in Chiapas) oder juristischer Widerstand vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Erfahrungen und ihrem Selbstverständnis, um ihre Position gegenüber nationalen, inter-nationalen privaten und/oder institutionellen Akteuren zu verhandeln. Interne Konflikte um Repräsentationsformen und -hoheiten, (Ver-)Handlungsmacht und gesellschaftliche Mo-delle sollen dabei ebenso Berücksichtigung finden
Vorträge:
Peter Schröder, Universidade Federal de Pernambuco, Brasilien
Leben und Überleben unter Einengung und Zwang. Kultureller Widerstand bei den
Fulni-ô, Pernambuco, Nordost-Brasilien
Gegenwart und Vergangenheit der indigenen Völker Nordost-Brasiliens stellen hervorragende Beispiele für kulturellen Widerstand in den Amerikas dar. Die Mehrheit der heutigen
Indigenen in der Region galt für lange Zeit als „ausgelöscht“, doch das Bild hat sich in den
letzten drei Jahrzehnten radikal verändert. Während in Amazonien häufig kulturelle Andersartigkeit als Vorwand für die Notwendigkeit von Eingriffen in indigene Gesellschaften zitiert
wird, ist im Nordosten die äußerliche Ähnlichkeit mit Nicht-Indigenen der wichtigste Aufhä-
Seite 1 von 5
nger für die Hinterfragung indigener Identitäten und Rechte. Die Fulni-ô wurden im 20. Jahrhundert als erstes Indianervolk im Nordosten offiziell seitens des brasilianischen Staates anerkannt. Dies änderte aber wenig an ihrer prekären wirtschaftlichen und sozialen Situation,
die sich als Dauerkrise bezeichnen lässt. Die Fulni-ô haben über mehrere Jahrhunderte hinweg recht erfolgreiche kulturelle Widerstandsformen entwickelt, durch die sie sich unter den
indigenen Völkern der Region herausheben. Ihre vielfältigen Anpassungs- und Widerstandsstrategien blieben jedoch keineswegs folgenlos für die internen Spannungen ihrer Gesellschaft.
Philipp Naucke, Philipps-Universität Marburg
„Somos los mismos pero distintos.“ Die Widerstandsgemeinden Guatemalas im Wandel der Krisen
Während des guatemaltekischen Bürgerkrieges gründeten sich 1982 in der Region Ixcán die
sogenannten Comunidades de Poblacíon en Resistencia del Ixcán (CPR-Ixcán), die der genozidalen Gewalt der öffentlichen Streitkräfte für 12 Jahre widerstanden, indem sie eine nomadische Lebensweise (hohe Mobilität, geringer Besitz) in einem wenig zugänglichen Regenwald annahmen. Der Widerstand der CPR-Ixcán hält auch nach dem Ende des Bürgerkrieges (1996) an. Geändert hat sich das Objekt des Widerstandes, das heute nicht mehr die
Armee ist, gegen deren Verfolgung man sich schützen muss. Die soziale und kulturelle Kohäsion der CPR-Ixcán wird heute u.a. bedroht durch eine marginalisierende Wirtschaftspolitik, eine Geschichtsschreibung, die die CPR-Ixcán nicht als Opfer des Konfliktes anerkennt,
sowie den regionalen Drogenhandel und die Migration in den Norden.
Der Beitrag behandelt den Wandel der Objekte des Widerstandes der CPR-Ixcán. Es wird
gefragt, inwiefern sich der Wandel dieser Objekte auch in den Strategien des Widerstandes
widerspiegelt, worin die Kontinuität des Widerstandes der CPR-Ixcán besteht und, wie diese
Kontinuität theoretisch fassbar ist.
Carolina Tamayo Rojas, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Alternativen zur Entwicklung. Selbstbestimmung und indigener Widerstand. Kontinuität des Austausches zwischen den Nord-Quechua sprechenden Gemeinschaften im
Grenzgebiet Kolumbien–Ecuador
Seit der Konsolidierung des Neoliberalismus in Lateinamerika in den 1980-er Jahren ist in
Zentral- und Südamerika eine Stärkung der indigenen Bewegungen zu verzeichnen. Diese
suchen Alternativen zum dominanten Konzept der „Entwicklung“ und experimentieren mit
Autonomie und basisdemokratischen Modellen. Auch suchen sie ihre Position als politische
Subjekte und soziale Akteur_innen innerhalb der lateinamerikanischen sozialen Bewegung.
Der Beitrag betrachtet beispielhaft die grenzübergreifende indigene Anden-Gemeinschaft der
Inga. Das Augenmerk gilt der Kontinuität des Austausches zwischen den Nord-Quechua
sprechenden Gemeinschaften in der Grenzzone zwischen Südwest-Kolumbien und Nordwest-Ecuador. Die Aufrechterhaltung einer Austausch-Praxis über Jahrhunderte hinweg ermöglichte die Bildung supralokaler und regionaler Räume, in denen sich politische und soziale Forderungen konkretisieren, wie sie sich in alternativen sozialen und politischen Vorschläge indigener Gemeinschaften und Organisationen über „Entwicklung“ zeigen am Beispiel des Ayni-Gesetzes (Reziprozitätsprinzip), der Minka (gemeinschaftliche kollektive Arbeit) und dem Suma Qamaña („gutes Leben“/buen vivir).
Seite 2 von 5
Viola König, Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin
Die Sonderreihe „Native – A Journey into Indigenous Cinema – von Zacatecas bis
Patagonien“ und andere indigene Filme auf dem Filmfestival Berlinale als neue Strategie der öffentlichen Diskussion indigener Konflikte
Die diesjährige Sonderreihe der Berlinale zum indigenen Kino hatte Lateinamerika im Fokus
(18 Filme ab 1986). Maryanne Redpath kuratierte ein Programm, das auf dem drittgrößten
Filmfestival weltweit große internationale Aufmerksamkeit zu erreichen vermochte. Die mit
englischen Untertiteln versehenen Originalfassungen in indigenen Sprachen wurden nicht
synchronisiert. Weitere indigene Filme wurden in ausverkauften Kinosälen gezeigt. „Ixcanul“
– der erste Film aus Guatemala überhaupt im Berlinale-Wettbewerb gewann einen Bären für
„seine besondere Perspektive“. Alle Filme thematisierten historisch bedingte und aktuelle
Konflikte in ihren indigenen Gesellschaften. Der Beitrag versucht eine Evaluation und kritische Kommentierung der ansteigenden Zahl indigener Filme auf der Berlinale. Was blieb unkommentiert? Was können Ethnologen dazu beitragen, um die bisherige Diskussion und das
Potential der Filme über individuelle oder filmtechnische Aspekte hinaus zu erweitern?
Lars Frühsorge, Völkerkundesammlung Lübeck
„Dead Indians are safer“ oder 1000 Jahre indigener Widerstand auf Neufundland
Der Beitrag untersucht die Aneignung indigener Geschichte als Mittel der Repression wie
auch als Ressource eines kulturellen Widerstands. Die Beothuk auf Neufundland gelten seit
dem 19. Jh. als ausgestorben. Da sie im Gegensatz zu anderen First Nations weder politisch
unbequeme Schlagzeilen produzieren noch Mitspracherechte an der Repräsentation ihrer
Kultur einfordern können, sind sie eine ideale Projektionsfläche westlicher Imaginationen geworden. In Romanen, Ausstellungen und Monumenten erscheinen sie als tragische Ökoheilige, als selbstverschuldete Opfer des globalen Fortschritts oder als Embleme einer touristisch vermarktbaren Folklore. Eine andere Perspektive vertreten hingegen die Mi’kmaq, die
ebenfalls das Erbe der Beothuk für sich beanspruchen. Prominente Mi’kmaq stellen sich bei
diversen Anlässen als legitime Nachfahren der Ermordeten dar und fordern die Repatriierung
von Beothuk-Schädeln. Auf diesem Weg betonen sie ihren eigenen nicht unumstrittenen Status als letzte indigene Bevölkerungsgruppe der Insel und sie verorten sich zudem in einer
tausendjährigen Tradition des Abwehrkampfes gegen die Europäer, der bis in die Zeit der
Amerikafahrten der Wikinger zurückreicht.
Ernesto Argüelles Méndez und Cornelio Molina Valencia, Equipo Río Yaqui Pueblos,
Sonora, México
„Bis vor kurzem waren wir wie Lämmer“
Vortrag von und Diskussionsrunde mit Mitgliedern der Río-Yaqui-Pueblos über heutige Konflikte und Lösungsstrategien (deutsch/spanisch)
Moderation: Antje Gunsenheimer, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
2002 forderten gewählte Gemeindevertreter der Río Yaqui Pueblos den Bundesstaat Sonora
wie auch den mexikanischen Nationalstaat heraus, indem sie die Bundestrasse no. 15 nahe
des Ortes Bahugo über 16 Monate lang wiederholt blockierten. Die seitdem als movimiento
Seite 3 von 5
del Bahugo benannte Aktion bedeutet für die Río Yaqui Pueblos seitdem den Startpunkt einer neuen Widerstandskultur gegenüber dem mexikanischen Staat und seiner Institutionen.
Sie haben erfahren, dass mit derartigen Aktionen eine mediale Präsenz erzeugt werden
kann, die den Druck auf den Staat erhöht und sie somit von staatlicher Seite mehr Aufmerksamkeit erhalten. Auf diesen Erfahrungen aufbauend, eigneten sich die Río Yaqui Pueblos in
den folgenden Jahren die Nutzung legaler, medialer und auch akademischer Institutionen an,
um ihre Rechte im nationalen wie im internationalen Feld zu vertreten.
Die beiden Vertreter der Río Yaqui Pueblos werden im Rahmen ihres Beitrags die rezente
Vergangenheit sowie die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den Río Yaqui Pueblos
und dem mexikanischen Staat vorstellen. Im Anschluss folgt für die Workshopteilnehmer
eine Diskussionsrunde mit den beiden Vertretern in spanischer Sprache mit deutscher Übersetzung.
Philip Gondecki, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Von wilden Kriegern und edlen Wilden. Widerstand und Medienaktivismus der
Waorani im Konflikt um die Erdölförderung im ecuadorianischen Amazonastiefland
Im Kontext dynamischer Globalisierungsprozesse führen die Auswirkungen der Erdölförderung im ecuadorianischen Amazonastiefland zu komplexen Konflikt- und Wandlungsprozessen. Diese betreffen insbesondere die Lebensräume und Lebensweisen der lokalen indigenen Bevölkerung. Der Beitrag setzt sich insbesondere mit der Vielfalt und dem Wandel der
Widerstandsstrategien der Waorani auseinander, die sowohl gewaltvollen Widerstand und
Meidung als auch Prozesse politischer Organisation, Verhandlungen und die strategische
Nutzung von neuen Kommunikationstechnologien und sozialen Medien umfassen. Es geht
um die Frage, wie sich die indigenen Widerstandsstrategien und Umgangsformen mit Konflikten anpassen bzw. aktiv gestaltet und modifiziert werden. Zentral ist dabei, wie indigene
Konfliktakteure neue Medien und Informationstechnologien nutzen, um sich zu organisieren,
transnational zu vernetzen, um mit medialen Bildern und Imaginationen ihrer indigenen Identität und lokalen Lebensrealität zu (re)präsentieren und als Machtressource strategisch im
Widerstand gegen die Erdölindustrie zur Verteidigung ihrer eignen Interessen, Positionen
und Lebensprojekte einzusetzen.
Wolfgang Gabbert, Leibnitz-Universität Hannover
Indigene Rechtsinstitutionen im südlichen Mexiko. Stärkung von Autonomierechten
oder „Verstaatlichung“ von Gewohnheitsrecht?
Als Reaktion auf den Druck der Indianerbewegung und als Folge der Politikänderungen internationaler Organisationen wie IWF und Weltbank hat Mexiko (wie viele andere Länder Lateinamerikas) 1992 seine Verfassung geändert und die Nation erstmals als „pluri-kulturell“
definiert. Seit der Mitte der 1990er Jahre wurden im Zuge intensiver Debatten um eine Stärkung von Autonomie-Rechten für die indianische Bevölkerung in verschiedenen Bundesstaaten des Landes spezielle Institutionen der Rechtspflege (juzdados indígenas, juzgados de
conciliación) ins Leben gerufen, welche den Bedürfnissen der indigenen Bevölkerung besser
entsprechen sollen als die vorhandenen Gerichte.
Der Vortrag wird zunächst die Struktur dieser neuen Institutionen in vier Bundesstaaten im
Süden Mexikos vergleichen und im Anschluss spezifischer die bisherigen Erfahrungen mit
einigen dieser Institutionen analysieren. Dabei geht es u.a. um die Frage, inwieweit die
Seite 4 von 5
neuen Einrichtungen indigener Rechtspflege eine Stärkung indianischer Autonomie bedeuten oder ob es sich im Wesentlichen um eine Intensivierung der Penetration des Staates in
bislang marginale Regionen handelt?
Michael Fackler, Leibnitz-Universität Hannover
Zur Institutionalisierung indigener Rechtsprechung in Rahmen eines indigenen Autonomieprozesses in Bolivien
Im Jahr 2009 gab sich das „im Herzen Südamerikas“ gelegene Bolivien eine neue Verfassung, welche weltweite Aufmerksamkeit besonders aufgrund der dort erfolgten Anerkennung
indigener Selbstbestimmungsrechte erfahren hat. Ein zentrales Element dieser Rechte ist die
Einrichtung indigener Autonomiegebiete:
Meine Hypothese ist, dass der Anerkennung indigener Normensysteme eine essentielle
Funktion in der Transformation gesellschaftlicher und in den Staat eingeschriebener Machtverhältnisse zwischen indigenen und nicht indigenen Gruppen zukommt. Sie sollte jedoch
nicht als Legalisierung einer ursprünglich-authentischen indigenen „Kultur“ gesehen werden:
Vielmehr verkörpern gerade indigene Autonomieprozesse einen Zwiespalt zwischen Versuchen des Staates, indigene Normensysteme so in die staatliche Ordnung zu integrieren,
dass sie sich deren Konzepten anpassen, und indigener Selbstbestimmung als Recht indigener Gruppen, Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder zu bestimmen.
Ich werde auf dieses Problem am Beispiel der Institutionalisierung indigener Rechtsprechung
in einem indigenen Autonomieprozess in Bolivien eingehen. Der Vortrag basiert u.a. auf meiner Feldforschung vor Ort.
Jochen Kemner, Universität Bielefeld
Von Turtle Island bis Abya Yala. Zur diskursiven Konstruktion einer transnationalen
indigenen Widerstandskultur in der Amerikas
Seit den 1970-er Jahren erleben Länder der Amerikas eine Renaissance des indigenen Widerstands gegen Ressourcenenteignungen, Mega-Entwicklungsprojekte auf indigenen Territorien, Aktivitäten religiöser Missionsgesellschaften und kulturellen Assimilationsdruck. Von
den Mapuche bis zu den Inuit organisieren sich indigene Völker aber nicht nur in lokalen und
nationalen Organisationen und Verbänden, sondern auch auf hemisphärischer Ebene in supranationalen Organisationen, wie dem International Indian Treaty Council oder dem World
Council of Indigenous Peoples. Dieser transnationale indigene Aktivismus basiert auf geteilten historischen Erfahrungen von „500 Jahren Kolonialismus“, aber auch gegenwärtigen ähnlichen Konfrontationen mit staatlichen und privaten Akteuren. Gegenstand dieses Vortrages
sind die sich im Zuge der Herausbildung einer transnationalen Widerstandskultur etablierenden pan-indigenen Identitätskonstruktionen. Im Mittelpunkt steht dabei der diskursive Rahmen seitens indigener Aktivisten und Intellektueller durch die Betonung historischer Verflechtungen indigener Völker, einem geteilten Wertesystem und Spiritualität sowie der Abgrenzung gegenüber nicht-indigenen Akteuren.
Seite 5 von 5