Der ganze Bericht als pdf

Teilnahme an einer klinischen Studie oder «Reisen der Hoffnung»
Hoffnung»
Seit Juni 2013 nimmt unser Sohn an einer klinischen Studie am Institut de Myologie in Paris
teil. Inzwischen reisten wir über 140 Mal über die Grenze, meistens mit dem Zug nach Paris,
oder mit dem Auto nach Mulhouse.
Die Behandlung wird jede Woche durchgeführt.
durchgeführt Die Studie kennt keine Ferien und sollte
unser Sohn krank sein muss er dennoch reisen. Eine Ausnahme gibt es nur, falls er nicht
transportfähig ist. Warum nehmen wir den Aufwand auf uns? Weil es Reisen der Hoffnung
sind. Es ist die Hoffnung, die uns trägt, dass ein «Bremsmedikament» für Duchenne
Muskeldystrophie gefunden wird.
6. Juni 2007, Kinderspital Luzern,
Luzern Sprechstunde beim Arzt: «Ihr Sohn hat Duchenne
Muskeldystrophie. Es gibt keine Heilung oder ein wirksames Medikament. Er wird im
Kindergartenalter im Rollstuhl sitzen und die Lebenserwartung liegt bei knapp 20 Jahren.
Hier ist eine Broschüre der Schweizerischen Muskelgesellschaft. Googeln Sie nicht zu viel im
Internet.»
Selbstverständlich habe ich im Internet gegoogelt.
gegoogelt Viel zu viel. Und – zum Glück habe ich
gegoogelt, denn wenige Monate später fand ich einen Bericht über einen Versuch, den Verlauf
zu bremsen. Ein paar Duchenne-Buben war erfolgreich ein Medikament in den Oberschenkel
gespritzt worden. Exon Skipping 51 wurde es genannt. Obwohl unser Sohn eine andere
Mutation hat, sandte ich voller Hoffnung den Bericht an den Arzt im Kinderspital und schrieb,
dass wenn die Mutation unseres Sohnes in einer Studie getestet würde, müsste er unbedingt
dabei sein. Die Antwort war niederschmetternd. Damals gab es noch nicht das
Patientenregister und u.a. schrieb er, wir Eltern müssten uns selber um Studien kümmern.
Das habe ich dann auch getan.
Seit anfangs 2008 informiere ich mich über den Stand der Forschung,
Forschung lese Berichte,
abonniere Newsletter und besuche Konferenzen im Ausland. Ich habe hartnäckig unser Ziel
verfolgt: eine Teilnahme in einer klinischen Studie. Wir waren bereit, nach Schweden
umzuziehen, sollte die Studie dort durchgeführt werden. Wir hofften, dass die Studie in
Freiburg in Deutschland starten würde.
Am 7. Geburtstag unseres Sohnes im Jahr 2011 hiess es, die klinische Studie der Firma
Prosensa für Exon Skipping-45 würde im 1. Quartal 2012 starten. Doppelter Grund zum
Feiern! Der Start verzögerte sich aber und das Warten wurde schwierig. Im November 2012
besuchte ich den «Action Duchenne Congress» in London und bekam die Möglichkeit mit
einer Vertreterin der Firma Prosensa zu sprechen. Sie riet mir, mit Prof. Thomas Voit in Paris
Kontakt aufzunehmen.
Das Telefongespräch mit ihm war sehr positiv. Aber Paris? Das liegt nicht gerade um die
Ecke, wenn man in der Innerschweiz wohnt! Die Studie sollte anfangs 2013 starten, hiess es.
Wiederum verzögerte sich der Start
Start und erst Ende Mai erhielten wir den ersehnten Anruf aus
Paris, es gehe nun los. Ob wir uns nächste Woche in Paris einfinden könnten? Wir haben alles
liegengelassen und sind gereist!
Der Aufwand für die Studienteilnahme war am Anfang immens und ist immer noch gross.
Die ersten 10 Monate reisten wir jede Woche nach Paris. Montag um 14 Uhr geht es von zu
Hause los. Zuerst mit dem Auto, dann mit dem Zug und in Basel steigen wir in den TGV ein.
Um 19.30 Uhr sind wir in Paris. Nach einer Nacht im Hotel findet am nächsten Vormittag die
Behandlung statt. Bevor es nach Hause geht essen wir zu Mittag. Um 19.30 Uhr sind wir zu
Hause.
Unser Sohn fehlt dadurch 1 ½ Tage in der Schule und muss den verpassten Lehrstoff
aufholen. Mittlerweile geht er in die 5. Klasse der Regelschule und die Anforderungen an den
Schüler steigen. Die Schulleitung unterstützt uns sehr und unser Sohn ist hervorragend
betreut. Ansonsten wäre es nicht machbar. Unsere Tochter muss den Mittagstisch besuchen
und mein Mann arbeitet an diesen Tagen weniger, da er sie nach der Schule betreuen muss.
Ich habe den Wiedereinstieg in die Berufswelt nicht geschafft, da nicht nur der Zeitaufwand
gross ist, sondern auch das Organisieren rundherum, und das Ganze braucht viel Energie und
wir müssen wegen den Reisetagen flexibel bleiben.
Am Anfang versuchten wir die Reisen und die Aufenthalte in Paris mit etwas Schönem zu
verbinden und das Positive in der Weltstadt Paris zu sehen. Wer isst z.B. jede Woche
knuspriges Baguette und leckere Croissants im Hotel? Wir haben den Eiffelturm ein paar Mal
besucht, wir fuhren auf der Seine Boot und waren im Disneyland. Mit der Zeit verlor aber die
Stadt ihren Reiz und wir sehen nur noch «Arbeit» und wollen schnellst möglichst nach Hause.
Seit letzten Herbst ist es mühsam geworden. Wir sehen kein Ende der Studie und können
uns auf nichts einstellen. Leider wird seitens der durchführenden Firma nichts kommuniziert
und wir haben das Gefühl, in der Luft zu hängen. Psychologisch wäre es für uns wichtig, das
Ende der Studie zu kennen.
Eine Studienteilnahme ist mit sehr viel Warten verbunden.
verbunden Wir warten auf den Arzt, auf die
Krankenschwester, auf das Taxi, auf den Zug…. Wir mussten auch lernen, dass die Franzosen
anders ticken was Pünktlichkeit anbelangt. Das Protokoll der Studie schreibt vor, wann
welche Untersuchungen gemacht werden. Flexibilität diesbezüglich gibt es keine.
Während den ersten drei Monaten musste unser Sohn 3 Muskeltests à 4 Stunden machen.
Es wurden 2 MRI’s durchgeführt, mit je 2 Mal Röntgen à 45 Minuten. Er musste 2
Muskelbiopsien mit Vollnarkosen machen. Er hat 3 Knochendichtemessungen und
Herzultraschalls gemacht.
Die Sprache erwies sich als eine grosse Herausforderung.
Herausforderung Wir sprechen nicht Französisch
und nur wenige verstehen Englisch. Der Standard in den Spitälern – wir haben drei
Kinderspitäler in Paris kennengelernt – ist zum Teil sehr schlecht, wenn man sich den
Schweizer Standard gewöhnt ist. Es erleichtert sehr, dass unser Sohn tapfer ist und die
Behandlung mit Injektionen und Blutentnahme ohne mit der Wimper zu zuckern über sich
ergehen lässt. Auch die langweiligen Muskeltests macht er toll (wenn er nachher ins
Toys’R‘Us gehen darf!). Er versteht wie wichtig es ist, dass ein wirksames Medikament
gefunden wird.
Wir sind um viele Erfahrungen
Erfahrungen reicher geworden.
geworden Wir haben viele wunderbare Menschen
kennengelernt. Wir fühlen uns in «unserem» Quartier in Paris ein bisschen wie zu Hause. Die
französischen Zöllner im Zug begrüssen uns wie alte Bekannte und die SBB-Mobilhelfer sind
sehr freundlich. In Basel während der kalten Jahreszeit werden wir oft zu einer Tasse warme
Schokolade ins Personalzimmer eingeladen. Und der Chef Mobilhelfer aus Luzern bringt
immer etwas Süsses mit, wenn er den Namen meines Sohnes auf dem Auftrag sieht.
Als ich in einem
einem DuchenneDuchenne-Forum auf Facebook über Studienteilnahme mitdiskutierte,
merkte ich, wie gering die Bereitschaft der Eltern ist, ihre Söhne an einer klinischen Studie
teilnehmen zu lassen. Einwände wie Zeitaufwand, unangenehme Untersuchungen, die
Behandlung selber, die weite Anreise, und es könnte ja Placebo sein, das der Sohn erhält,
usw.
Das sind alles berechtigte Einwände. Ich habe die Einstellung, dass man an einer Studie
teilnimmt, damit ein wirksames Medikament gefunden wird und nicht nur wegen des eigenen
Kindes. Wenn niemand an einer Studie teilnimmt, wird es nie ein Medikament geben! Jedes
Mal, wenn wir uns auf den Weg nach Frankreich machen, reist die Hoffnung mit. Auch wenn
die Teilnahme noch so aufwendig und mühsam geworden ist, müssen wir weitermachen.
Denn die Hoffnung verliert man Zuletzt.
Februar 2016
Maria Fries-Lindgren, Mama von Mattias.