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Die Pest in Ostpreußen
Mitteleuropa wurde letztmals zu Beginn des 18. Jahrhunderts von dem großen Übel heimgesucht.
Im äußersten Nordosten Deutschlands begann eine Epidemie im Jahr 1707. (...) Da in diesem
Zeitraum wieder einmal Krieg herrschte, der zweite oder Große Nordische Krieg (1702-1721),
gab es im Osten Europas viele Flüchtlinge, die in Ostpreußen Aufnahme suchten. Man gab
Gesundheitspässe aus, die an den Landesgrenzen kontrolliert wurden, doch wurde mit solchen
amtlichen Zeugnissen auch ein schwunghafter illegaler Handel getrieben.
Die Seuche breitete sich infolge der Kriegswirren aus und gelangte bis in den nördlichen
Ostseeraum. Bald war auch Königsberg schwer betroffen. (...) Die städtischen Quartiermeister
hatten die Aufgabe, einzelne Häuserblocks zu überwachen, das waren jeweils zehn bis zwölf
Häuser. Sie sollten ein waches Auge darauf haben, dass keine Pest übertragenden Tiere wie etwa
Katzen von Haus zu Haus wechselten. In den Vorstädten war bald jegliches Leben erloschen.
Häuser, in denen Pestfälle aufgetreten waren, wurden mit Kreuzen markiert und isoliert. Die
Pestkranken, ja selbst die Pestverdächtigen durften ihre Wohnstätten nicht verlassen, bei
Zuwiderhandeln drohte die Todesstrafe. (...) Ab 22 Uhr bestand für die Königsberger
Bevölkerung Ausgehverbot. Danach begann die Stunde der Ärzte und Totengräber, die die
Pestleichen auf ihren mit Glocken behängten Karren zum Kirchhof fuhren.
Königsberg hatte in normalen Zeiten 30 bis 40 Todesfälle pro Woche. Mitte Oktober 1708, als
die Pest auf ihrem Höhepunkt stand, starben im selben Zeitraum 650 Menschen.
Aber es traten in diesem Herbst auch noch andere Übel in Ostpreußen auf, die Pocken und das
Fleckfieber, beides hochinfektiöse Krankheiten. Die Opfer der einen wie der anderen Krankheit
wurden gesondert gezählt. In der letzten Woche des Jahres 1708 standen auf den Königsberger
Totenlisten 426 Namen, davon waren 230 ein Opfer der Pest geworden, weitere 106 waren dem
Fleckfieber oder den Pocken erlegen, 111 waren an anderen Krankheiten gestorben. Im folgenden
Jahr, im Sommer, flackerte die Pest noch einmal auf. Diese gesamte Epidemie, die hier von 1708
bis 1710 dauerte, kostete Königsberg 9000 bis 10.000 Menschen, das ist fast ein Viertel seiner
Einwohner.
In der Hafenstadt Danzig begann die Pest im Frühsommer 1708 zu wüten. Dort starben
gewöhnlich etwa 50 Menschen pro Woche. Mitte Juni stieg die Sterblichkeit an, bis Mitte August
mussten die Totengräber wöchentlich schon mehrere hundert Leichen bestatten. Anfang
September schnellte die Sterblichkeit auf über 2000 in einer Woche hinauf. Erst im Laufe des
Oktober sank sie langsam ab, an dessen Ende stand sie dann bei knapp 1000 die Woche. Die Pest
zeigte ganz deutlich ihr saisonales Wirken: Im Juni 1708 lag die Sterblichkeit in Danzig bei 319,
im Juli bei 1313, im August bei 6139, im September bei 8303, im Oktober bei 4923, im
November bei 1961, im Dezember bei 584. Danzig verlor in diesem Pesthalbjahr mehr als 23.000
Menschen.
(...)
Diese Seuche des frühen 18. Jahrhunderts berührte auch die ländlichen Gemeinden – allein, die
Zeugnisse, die sie hinterließ, sind längst nicht so dicht, und Historiker haben diese ländlichen
Seuchen viel weniger gründlich erforscht.
Die letzte Pest wütete in den Dörfern und Weilern des ländlichen Ostpreußen nicht weniger
grausam als in den Städten. In Rhein, am Rheiner See in Masuren, starben so viele Dörfler, dass
der Ort hinterher fast menschenleer war. „Im Bauerndorfe Lawken sind 153 Personen gestorben
und kaum noch 30 am Leben“, berichtet der Pfarrer von Rhein, Grabovius, im September 1710
dem zuständigen Oberburggrafen. Selbst auf der Kurischen Nehrung (...) herrschte die Pest.
Einzelne Fischerdörfer auf der Nehrung, wie Pillkoppen und Kunzen, starben fast aus. Der
Reiseführer von Carl Baedeker pries noch am Ende des 19. Jhs. den Pestfriedhof von Pillkoppen
als eine gruselige Sehenswürdigkeit an. Die Stadt Lörzen am Spirdingsee hatte nach der
schweren Pest der Jahre 1708 bis 1710 rund 800 Einwohner verloren, nur 130 Menschen waren
ihr noch verblieben. In Heiligenbeil starben, den Kirchenbüchern zufolge, 1113 Personen, was
auch von amtlichen Aufzeichnungen des Königsberger Stadtarchivs bestätigt wird.
Ostpreußen verlor im Verlauf dieser letzten Pest einen guten Anteil seiner Bewohner. Vor dem
Ausbruch der großen Seuche zählte Ostpreußen 600.000 Seelen. Gewöhnlich starben hier im
Laufe eines Jahres 15.000 Menschen; aber in den zwei Jahren nach 1708 waren es 230.000. (...)
Von Ostpreußen zog die Pest nordostwärts nach Litauen und südwestwärts in die Mark
Brandenburg, nach Süden über Prag nach Wien. In diesen Ländern und Städten brach die Pest in
den Jahren nach 1711 aus, meist zum letzten Mal. (...)
Quelle: Manfred Vasold, Die Pest, 2003