Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Urs Kindhäuser Skript zur Vorlesung Strafrecht AT 6. Abschnitt: Irrtumslehre § 26: Grundlagen 1. Allgemeines Die Kenntnisse des Täters spielen bei der Zurechnung eines Vorsatzdelikts sowohl auf Unrechtsals auch auf der Schuldebene eine Rolle: Jeweils kann zwischen einem objektiven und einem subjektive Delikts-, Rechtfertigungs- oder Entschuldigungstatbestand unterschieden werden, wobei letzterer (zumindest) die Elemente des objektiven Tatbestands subjektiv wiedergeben muss. Auf allen Zurechnungsstufen nun können die erforderlichen Vorstellungen des Täters falsch sein oder fehlen. Die Erscheinungsformen, Bezugspunkte und Rechtsfolgen solcher kognitiven Defizite behandelt die Irrtumslehre. 2. Irrtumsformen Irrtum ist mangelndes Wissen. • Unkenntnis als negativer Irrtum: Der Irrende weiß nicht, dass etwas Bestimmtes der Fall ist. Exemplarisch: A weiß nicht, dass er mit dem Schuss, den er abgibt, einen Menschen tödlich trifft. • Fehlvorstellung als positiver Irrtum: Der Täter nimmt unzutreffend an, dass etwas Bestimmtes der Fall ist. Etwa: A nimmt unzutreffend an, dass er mit dem Schuss, den er abgibt, eine Statue beschädigt. 3. Gegenstand des Irrtums Gegenstand des Irrtums können grds. alle objektiven Elemente einer Straftat sein. Irrtümer über sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen Irrtum grds. nur bei Umständen relevant, die den Schuldvorwurf betreffen, Unbeachtlich daher Irrtum über: Prozessvoraussetzungen (z.B. Verjährung oder Strafantrag) Voraussetzungen objektiver Strafbarkeitsbedingungen Voraussetzungen eines persönlichen Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgrunds (umstr. z.B. § 258 Abs. 6 StGB). 4. Rechtsfolgen des Irrtums Grds. wirken Fehlvorstellungen über belastende Tatumstände belastend, während die Unkenntnis entlastender Tatumstände nicht entlastet. • irrige Vorstellung, einen Deliktstatbestand zu verwirklichen: Versuch (§§ 22 f. StGB) • Unkenntnis privilegierender Umstände: Bestrafung aus dem Grunddelikt; z.B.: A vergiftet B in Unkenntnis des Sterbeverlangens (§ 212 und nicht § 216 StGB). • Aber: Fehlvorstellungen über das Unrecht haben keine belastende Wirkung („Wahndelikt“). Exemplarisch: A begeht Ehebruch in der Annahme, ein solches Verhalten sei bei Strafe verboten. Fehlvorstellungen über entlastende Umstände oder Erlaubnisse sowie die Unkenntnis belastender Umstände oder Verbote haben grds. eine entlastende Wirkung. 1 Aber: Regelmäßig Ausnahmen bei zu vertretendem Irrtum (Fahrlässigkeit, § 17 S. 2 und § 35 Abs. 2 StGB). 5. Gutachten Irrtümer sind keine Deliktsmerkmale. Daher wird nie ein Irrtum als solcher geprüft. Vielmehr ist stets (nur) danach zu fragen, ob das jeweilige subjektive Deliktsmerkmal – Vorsatz, Kenntnis der Rechtfertigungslage usw. – erfüllt ist. 2
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