Prof. Dr. Frank Saliger Grundkurs Strafrecht I AT WS 2015/16 Vorlesungen 13 + 14 Irrtumslehre I + II Hinweis zu Änderung des Terminplans Die Vorlesung am Donnerstag, 07.01.2016 findet doch statt. Die Vorlesung entfällt am Donnerstag, 04.02.2016. Die Änderung finden Sie auch im Terminplan auf der Homepage. Was genau ist unter einem Irrtum zu verstehen? Das Auseinanderfallen von subjektiver Vorstellung und objektiver Realität Systematik denkbarer Irrtümer über Tatsachen über rechtliche Bewertungen zugunsten zuungunsten Täter kennt Tatumstände nicht. Vorsatz gem. § 16 (-)Fahrlässigkeit prüfen. Untauglicher Versuch T stellt sich irrig Tatumstände vor, die einen Tb. erfüllen T stellt sich vor, sein Handeln sei nicht verboten. Rechtsfolge in § 17 geregelt Wahndelikt T stellt sich vor, er begehe eine Straftat, obwohl kein entsprechender Tb. besteht. STRAFLOS ! Inhalte der Vorlesungen 13 und 14 Nur Irrtümer zugunsten des Täters I. Irrtum über Tatsachen; Tatbestandsirrtum gem. § 16 StGB (bereits bei Vorsatz angesprochen) II. Hauptanwendungsfall eines Irrtums über rechtliche Bewertungen ist der sog. Verbotsirrtum gem. § 17 StGB III. Problem: Täter irrt über die sachlichen Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes - sog. Erlaubnistatumstandsirrtum; Behandlung streitig IV. Sonderkonstellationen: Doppelirrtum und § 35 II StGB I. Der Tatbestandsirrtum gem. § 16 I StGB § 16 StGB: Irrtum über Tatumstände (1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt. (2) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche den Tatbestand eines milderen Gesetzes verwirklichen würden, kann wegen vorsätzlicher Begehung nur nach dem milderen Gesetz bestraft werden. Überblick - W i c h t i g e I r r t ü m e r I. Tatbestand 1. Objektiver § 16: 2. Subjektiver Tatumstandsirrtum (Irrtum über die SV-Ebene) „Täter weiß nicht, was er tut“ II. Rechtswidrigkeit 1. Objektive ? 2. Subjektive Erlaubnistatumstandsirrtum (Irrtum über die SV-Ebene) Behandlung sehr streitig „Täter weiß nicht, dass die tatsächlichen Voraussetzungen eines akzeptierten RFgrundes nicht vorliegen“ III. Schuld Unrechtsbewusstsein § 17: Verbotsirrtum (Irrtum bezogen auf die Norm-/ Bewertungsebene) „Täter weiß, was er tut, hält es aber irrig für erlaubt“ Vorsatz Wissen und Wollen der objektiven Tatbestandsverwirklichung Wissen: kognitives Element Wollen: volitives Element Tatbestandsarchitektur und subjektiver Tatbestand Kongruente Tatbestände als Grundform der Vorsatzdelikte Beispiel: § 212 StGB Tatbestand 1. Objektiver Tatbestand: 2. Subjektiver Tatbestand: Handlung Kausalität Vorsatz Erfolg §16 I 1 = Tatumstandsirrtum = Kehrseite des Wissenselementes Voraussetzungen: Unkenntnis (negativer Irrtum) Fehlvorstellung (positiver Irrtum) hinsichtlich der zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden Tatumstände Rechtsfolge: Irrtum unvermeidbar Irrtum vermeidbar keine Bestrafung aus Vorsatzdelikt straflos ggf. Fahrlässigkeitsbestrafung, §16 I 2 SONDERKONSTELLATIONEN 1. Irrtum über den Kausalverlauf: Vorsatzausschluß nur bei Wesentlichkeit der Abweichung; Maßstab: das nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbare und keine andere Bewertung der Tat = tatsächl. Kausalverlauf = vorgestellter Kausalverlauf T O Variationen: a) Abweichung in der Wirkungsweise der Handlung (Brückenpfeilerfall): Abweichung unwesentlich; Vorsatz (+) Tod durch Schädelbruch T O Tod durch Ertrinken Variationen: b) Defekteintritt nach Beginn (Überschreiten der Versuchsgrenze), aber vor Beendigung des tatbestandlichen Handelns (Blutrauschfall, BGHSt 7, 325): nur unwesentliche Kausalabweichung; Konsequenz § 212 (+) Handlung T Blutrausch Verletzung mit Vorsatz O Handlung im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit Variationen: c) Erfolgsherbeiführung durch vorsatzlose Zweithandlung (Fallgruppe des sog. dolus generalis – Jauchegrubenfall, BGHSt 14, 193): nach BGH unwesentliche Abweichung; Konsequenz: § 212 (+); str., a.M.: §§ 212, 22, 222, 52. Handlung mit Vorsatz T Handlung ohne Vorsatz O bewußtlos (Würgen) Tod des O (Ertränken) 2. Der error in obiecto (oft in Form eines error in persona) Nach h.M.: Unbeachtlich bei tatbestandlicher Gleichwertigkeit von O1 und O2; Konsequenz: Vollendungsvorsatz O2 (+) T O2 O1 3. Die aberratio ictus (lat.: Abirrung des Schlags) Lösung nach h.M. (Konkretisierungstheorie): Versuch zu O2, Fahrlässigkeit zu O1; a.M. (Gleichwertigkeitstheorie): Vollendung zu O1. O1 T O2 II. Der Verbotsirrtum gem. § 17 StGB § 17 StGB: Verbotsirrtum Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden. Aufbau des § 17 StGB Vorauss.: 1. Verbotsirrtum (= fehlende Einsicht, Unrecht zu tun) 2. RFolge: unvermeidbar Schuld (-) vermeidbar Schuld (+), aber Strafmilderungsmöglichkeit gem. § 49 I („fakultativ“) Was folgt aus § 17 StGB ? 1. Umkehrschluss aus § 17 ergibt, dass Schuld die Einsicht voraussetzt, Unrecht zu tun, sog. Unrechtsbewusstsein (URB). 2. Täter, der kein URB hat, handelt ohne Schuld ( ohne Vorsatz !). Daraus wird herrschend gefolgert, dass das URB ein selbständiges Schuldelement ist. 3. Für die Vorsatzbestrafung reicht potentielles URB aus, § 17 Satz 2. Täter muss also nicht immer aktuell wissen, dass er sich verboten verhält. (Veralteter) Streit: Vorsatztheorie vs. Schuldtheorie Die Vorsatztheorie besagt, dass Unrechtsbewusstsein Teil des Vorsatzes ist. Die Schuldtheorie besagt, dass es sich beim Unrechtsbewusstsein um ein vom Vorsatz getrenntes, selbständiges Schuldelement handelt. Arg.: Der Gesetzgeber hat sich in § 17 StGB unmissverständlich für die Schuldtheorie entschieden. Erscheinungsformen des Verbotsirrtums (§ 17 StGB) Alle Verbotsirrtümer stimmen darin überein, dass der Täter über das tatbestandsspezifische Verbot irrt (Irrtum auf der Norm-/Bewertungsebene) direkter Verbotsirrtum (betrifft die Verbotsnorm) = Täter kennt Verbotsnorm nicht (Unkenntnis) indirekter Verbotsirrtum (sog. Erlaubnisirrtum; betrifft die Gegen-/ Erlaubnisnorm) = Täter kennt die Verbotsnorm, denkt aber, sein Handeln sei aufgrund eines Erlaubnissatzes rechtmäßig direkter Verbotsirrtum (betrifft Verbotsnorm) • Täter irrt über die Verbotsnorm als solche, hat sie bei der Durchführung der Tat nicht vor Augen und hält sein Verhalten deshalb für erlaubt (im Kernstrafrecht kaum möglich!). Dies kann im einzelnen auf folgenden Gründen beruhen: - Täter kennt die Verbotsnorm nicht, weil • er – positiv – annimmt, die Tat sei erlaubt, • ihm – negativ – die Vorstellung über die rechtliche Bewertung der Tat fehlt. - Täter kennt die Verbotsnorm, hält sie aber für ungültig (sog. Gültigkeitsirrtum). Bsp.: Täter meint, die Vorschrift verstoße gegen ein Grundrecht oder den Bestimmtheitsgrundsatz. - Täter legt die Verbotsnorm falsch aus und hält sie deswegen für nicht anwendbar (sog. Auslegungsirrtum). Auslegungsirrtum kann entweder ein Irrtum gemäß § 16 StGB oder § 17 StGB bzw. ein unbeachtlicher Strafbarkeitsirrtum sein. indirekter Verbotsirrtum (sog. Erlaubnisirrtum; betrifft die Gegen-/ Erlaubnisnorm) • Täter hat volle Kenntnis der Verbotsnorm als solcher, glaubt aber irrtümlich an das Eingreifen eines rechtfertigenden Erlaubnissatzes, weil - er zu seinen Gunsten einen Rechtfertigungsgrund annimmt, der von der Rechtsordnung nicht anerkannt ist (sog. Bestandsirrtum). Bsp.: Züchtigung fremder Kinder - er die rechtlichen Grenzen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes verkennt (sog. Erlaubnisgrenzirrtum). Bsp.: Täter glaubt, § 127 StPO erlaube auch Privatleuten den Schußwaffengebrauch. Rechtsfolgen eines Verbotsirrtums: Zu klären ist hier, ob der Irrtum vermeidbar oder unvermeidbar für den Täter war. Def.: Vermeidbar ist ein Irrtum, wenn dem Täter sein Vorhaben unter Berücksichtigung seiner Fähigkeiten und Kenntnisse hätte Anlass geben müssen, über dessen mögliche Rechtswidrigkeit nachzudenken oder sich in zumutbarer Weise zu erkundigen, und er auf diesem Wege zur Unrechtserkenntnis gekommen wäre (OLG Karlsruhe NJW 2003, 1061; BGH NJW 2006, 522). Erforderlich: Anlaß (a) + Nachdenken („Gewissensanspannung“) oder Erkundigung (b) + hypothetische Kausalität (c) Fall 71 Kaufmann A verdient sein Geld mit dem Verkauf einer bestimmten Ware. Nach einer Gesetzesänderung wird zweifelhaft, ob der Verkauf der Ware weiterhin straflos möglich ist. Die h.M. bejaht das, eine Minderansicht verneint dies. Darf A den Verkauf ohne Weiteres fortsetzen oder muß er Weiteres veranlassen? Variante: A holt bei Rechtsanwalt R die – nach eingehender Prüfung erfolgte – Rechtsauskunft ein, dass der Verkauf der Ware weiterhin zulässig ist. A vertraut darauf. Später wird A angeklagt, weil der zuständige StA den Verkauf für strafbar hält. Strafbarkeit des A? III. Der Erlaubnistatumstandsirrtum Konstellation: • Es handelt sich um einen Irrtum über die sachlichen (!) Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes • Anders ausgedrückt: Täter geht irrig davon aus, dass Tatsachen vorliegen, die einen anerkannten Rechtfertigungsgrund begründen würden Fall 72 (nach BGH NStZ 2012, 272) A hatte als führendes Mitglied der „Hell‘s Angels“ erfahren, dass ihn eine konkurrierende Bande töten wollte. Zeitgleich sollte ein Spezialkommando (SEK) der Polizei einen Durchsuchungsbefehl gegen den als gewaltbereit bekannten A vollstrecken. Am Tattag versuchte das SEK um 6.00 Uhr die Tür des Wohnhauses von A aufzubrechen. A erwachte, bewaffnete sich mit seiner zulässigerweise geführten Pistole und schaltete das Licht im Treppenhaus ein. A hielt die Gestalten hinter der Glastür für Mitglieder der Konkurrenzbande, die ihn töten wollten, und rief „Verpisst Euch“. Nachdem sich die Beamten nicht zu erkennen gaben und die letzte Türsicherung aufzubrechen drohten, schoss A mit bedingtem Tötungsvorsatz auf eine Gestalt und tötete den Beamten B. Strafbarkeit des A? Problem: • Konstellation ist weder von § 16 StGB noch von § 17 StGB erfasst. Insofern ist das Gesetz also lückenhaft. • Behandlung des ETI daher sehr umstritten! Irrtum über rechtfertigende Umstände – Übersicht über die vertretenen Ansichten Der Täter nimmt irrig die tatsächlichen Voraussetzungen eines von der Rechtsordnung anerkannten Rechtfertigungsgrundes an – Beispiel: Irrtümlich vorgestellte Notwehrlage gemäß § 32 StGB (sog. Putativnotwehr). Vorsatztheorien Schuldtheorien Alle Vorsatztheorien sehen das Unrechtsbewußtsein als einen Teil des Vorsatzes an. Der Tatvorsatz enthält damit u.a. das Bewußtsein, sich gegen die Norm aufzulehnen bzw. sich sozialschädigend zu verhalten. Die Schuldtheorien sehen das Unrechtsbewußtsein nicht als Vorsatzbestandteil an. Es handelt sich danach vielmehr um ein selbständiges Schuldelement. Direkte Anwendung des § 16 I StGB Die eingeschränkten Schuldtheorien Diese Theorien behandeln den Irrtum über rechtfertigende Umstände als sog. Erlaubnistatbestandsirrtum. Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen Direkte Anwendung des § 16 I StGB Die Lehre vom Ausschluß des Vorsatzunrechts (h.M.) Analoge Anwendung des § 16 I StGB Die rechtsfolgenverweisende/ -einschränkende Schuldtheorie Der Erlaubnistatbestandsirrtum wird in seiner Rechtsfolge dem § 16 I StGB gleichgestellt. Die strenge Schuldtheorie Sie behandelt den Fall der irrigen Vorstellung rechtfertigender Umstände als Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB. Direkte Anwendung des § 17 StGB Strenge Schuldtheorie Aussage: Jeder Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Tat ist ein Verbotsirrtum mit den in § 17 normierten Rechtsfolgen. Es entfällt das Unrechtsbewusstsein, das Teil der Schuld ist. Terminologie: Strenge Schuldtheorie, weil sie alle zur Annahme rechtmäßigen Verhaltens führenden Irrtümer – soweit sie sich nicht nach § 16 auf Tatumstände beziehen – ausnahmslos („streng“) als Schuldprobleme ansieht und dem § 17 unterordnet. Aufbau: I. Tb 1. Obj. 2. Subj. II. Rw 1. Obj. 2. Subj. III. Schuld Erlaubnistatumstandsirrtum als Unterfall des Verbotsirrtums (§ 17) Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (LnT) (Unterfall der eingeschr. Schuldtheorie) Aussage: Terminologie: Aufbau: Zum Vorsatz gehören neben der Kenntnis aller positiven Umstände des gesetzlich umschriebenen Tatbestandes die Vorstellung vom Fehlen der negativen Tbsmerkmale, zumindest aber das Fehlen der Vorstellung vom Vorliegen der negativen Tatumstände. Nimmt der Täter irrig die Vorauss. eines anerkannten RFgrundes an, dann fehlt ihm gerade nicht die für Bestrafung notwendige Vorstellung der negativen Tatumstände; §16 I findet direkte Anwendung. LnT, weil die Rechtfertigungsgründe als negative Merkmale (die fehlen müssen!) eines Gesamtunrechtstatbestandes eingestuft werden. I. (Gesamt-)Unrechtstatbestand 1. Positive Umstände (müssen vorliegen!) a) Obj. b) Subj.: Tbsvorsatz § 16 2. Negative Umstände (müssen fehlen!) a) Obj. b) Subj.: RFsvorsatz § 16 direkt Analogietheorie (Unterfall der eingeschr. Schuldtheorie) Aussage: Terminologie: Aufbau: Auf die irrige Annahme der tatsächlichen Vorauss. eines RFgrundes ist § 16 I nicht direkt, wohl aber analog anwendbar mit der Folge, dass vorsätzliches Handlungsunrecht fehlt. Analogietheorie, weil der gesamte § 16 I wegen der Strukturähnlichkeit des Problems analog angewendet wird. I. Tb 1. Obj. 2. Subj. : Tbsvorsatz § 16 II. Rw 1. Obj. 2. Subj. : RFvorsatz § 16 analog III. Schuld Hdlgsunwert wird durch Hdlgswert kompensiert ! Rechtsfolgenverweisende / rechtsfolgeneinschränkende Variante der eingeschränkten Schuldtheorie (h.L.) Aussage: Irrige Annahme einer rechtfertigenden Sachlage berührt den Tbsvorsatz nicht, vermindert den Hdlgsunwert (hebt ihn aber nicht auf !) und schließt die vorsätzliche Schuld und damit eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tat aus. Terminologie: Rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie, weil der Erlaubnistatbestandsirrtum nur in seinen Rechtsfolgen dem in § 16 I 1 normierten Tbsirrtum gleichgestellt wird. Rechtsfolgeneinschränkende Schuldtheorie, weil trotz Behandlung des Erlaubnistatumstandsirrtums gem. § 17 dessen Rechtsfolge eingeschränkt wird. Aufbau: I. Tb 1. Obj. 2. Subj. : Tbsvorsatz § 16 II. Rw sog. Doppelstellung des Vorsatzes 1. Obj. 2. Subj. : RFbewußtsein; beim ETI Hdlgsunwert zwar gemindert, aber nicht aufgehoben ! III. Schuld - Unrechtsbewußtsein - Vorsatzschuld Argumente zur Diskussion der verschiedenen Ansätze: • Kritik an der strengen Schuldtheorie: Sie vernachlässigt die Wertungen des § 16 I StGB, da sie die Ähnlichkeit zu Sachverhaltsirrtümern nicht berücksichtigt • Kritik an der Lehre der negativen Tatbestandsmerkmale: Der Gesetzgeber dürfte mit „gesetzlicher TB“ in § 16 I StGB lediglich die Tatbeschreibung einer Tat im besonderen Teil des StGB gemeint haben. • Kritik an der Analogietheorie: Da Vorsatz entfällt, handelt es sich nicht um eine rechtswidrige Tat; Teilnahme hieran wäre nicht möglich • Vorteil der rechtsfolgenverweisenden Variante der eingeschränkten Schuldtheorie: Tat gilt als rechtswidrig; Teilnehmerstrafbarkeit möglich Grundregeln zum Umgang mit dem ETI 1. ETI ist zu erörtern, wenn der Täter irrig annimmt, die tatsächlichen Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes liegen vor. 2. Aufbau: Der ETI ist am Ende der Rechtfertigungsprüfung im Anschluß an die Feststellung zu erörtern, dass Rechtfertigungsgründe objektiv nicht vorliegen. 3. Auf die streitige Behandlung des ETI ist erst einzugehen, wenn zuvor sauber geprüft worden ist, dass nach der Vorstellung des Täters auch wirklich sämtliche Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes vorliegen. 4. Streitbehandlung: Bei Einzeltäter regelmäßig nur Kontroverse zwischen strenger Schuldtheorie und anderen Theorien. Bei mehreren Beteiligten auch Unterschiede zwischen den eingeschränkten Schuldtheorien. 5. Fahrlässigkeitsprüfung nicht vergessen. IV. Sonderkonstellationen 1. Doppelirrtum • Typischer Fall: Zusammentreffen eines (vermeintlichen) „Erlaubnistatumstandsirrtums“ mit einem Erlaubnisirrtum • Fall 73: A denkt irrtümlich, ihr Ehemann wolle sie töten. Als er aus dem Keller kommt, erschießt sie ihn, ohne dies zuvor anzudrohen. Sie dachte, hierzu berechtigt zu sein. Lösung: Kein ETI, da Handlung – unabhängig von der zweifelhaften Erforderlichkeit – zumindest wegen sozialethischer Einschränkung nicht geboten. Daher Erlaubnisgrenzirrtum gem. § 17. Im Ergebnis: § 212 (+), da Irrtum gem. § 17 S. 2 vermeidbar. • Genau genommen liegt nur Erlaubnis(grenz)irrtum gem. § 17 vor. IV. Sonderkonstellationen 2. Irrtum über die sachlichen Voraussetzungen eines Entschuldigungsgrundes: Entschuldigungstatumstandsirrtum • Geregelt in § 35 II StGB als Irrtum eigener Art: Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche ihn nach § 35 I entschuldigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden konnte. Die Strafe ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern. • Fall 74: Schiffbrüchiger A tötet im Kampf um Planke Schiffbrüchigen B in der Annahme, nur so sein Leben retten zu können. Tatsächlich nähert sich – von ihm unbemerkt – ein Rettungsschiff. Lösung: A befindet sich im Irrtum gem. § 35 II 1. Vermeidbarkeit: Tatfrage. • § 35 II StGB analog anwendbar auf andere Entschuldigungsgründe; insb. übergesetzlicher Notstand • Merke: § 35 II StGB erfasst nicht den Irrtum über das Bestehen / die Existenz eines Entschuldigungsgrundes oder die rechtlichen Grenzen eines Entschuldigungsgrundes. Ein solcher Irrtum ist nach h.M. bedeutungslos.
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