Thema IV Der Irrtum als Unrechts

Thema IV
Der Irrtum
als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
DER IRRTUM ALS SCHULDAUSSCHLIESSUNGSGRUND
IM PORTUGIESISCHEN STRAFRECHT
Jorge de Figueiredo Dias, Coimbra
I.
1. Das frühere portugiesische StGB, das von 1852 stammte und ohne Unterbrechung, wenn auch 1886 und 1954 tiefgreifenden Reformen unterzogen,
bis Ende 1982 in Kraft war, folgte hinsichtlich der Umstände, die als Unrechts- oder Schuldausschließungsgrund für die Befreiung von strafrechtlicher Verantwortlichkeit in Betracht kommen, einem Prinzip der Typizität
oder des numerus clausus (Art. 29 Ziff. 7). Als spezifischer Zusatz war angefügt, daß weder der Irrtum über die Strafbarkeit der Tat, noch der Irrtum
über die Person oder Sache, gegen die sich die Straftat richtet, noch die persönliche Überzeugung von der Rechtmäßigkeit des Zwecks oder der Beweggründe, die für die Tat bestimmend waren, von strafrechtlicher Verantwortlichkeit befreien (Art. 29 Ziff. 1-4).
In scheinbar radikalem Kontrast zu diesem gesetzlichen Stand bestimmt jetzt
Art. 16 des geltenden port.StGB unter der Überschrift "Irrtum über die Umstände der Tat":
1. Der Irrtum über faktische oder normative Elemente eines Straftatbestandes
oder über Verbote, deren Kenntnis nach vernünftigem Urteil unerläßliche
Voraussetzung dafür ist, daß der Täter Bewußtsein von der Rechtswidrigkeit der Tat erlangen kann, schließt den Vorsatz aus.
2. Die Regelung der vorherigen Ziffer erstreckt sich auf den Fall des Irrtums
über einen Sachverhalt, der, wenn er gegeben wäre, die Rechtswidrigkeit
der Tat oder die Schuld des Täters ausschlösse.
3. Unberührt bleibt die Strafbarkeit der Fahrlässigkeit nach den allgemeinen
Bestimmungen.
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Unter der Überschrift "Irrtum über die Rechtswidrigkeit" trifft Art. 17
port.StGB die folgende Regelung:
1. Ohne Schuld handelt, wer die Tat ohne Bewußtsein ihrer Rechtswidrigkeit
begeht, soweit der Irrtum dem Täter nicht vorzuwerfen ist.
2. Ist der Irrtum ihm vorzuwerfen, wird dem Täter die auf die entsprechende
Vorsatztat anwendbare Strafe auferlegt, die jedoch besonders gemildert
werden kann.
2. Auf den ersten Blick würde man sagen, es handele sich bei dieser gesetzlichen Änderung aus dem Jahre 1982 um einen weiteren evidenten Beweis für das bekannte Urteil von v. Kirchmann: "Drei berichtigende Worte
des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur." Und in der
Tat. Es erscheint unanfechtbar, in der Irrtumsregelung vor 1982 untrügliche
Anzeichen für eine bestimmte Konzeption1 zu erblicken, die vom justinianischen Recht über den Codex Legum Visigothorum und die Bekräftigung durch die Glossatoren bis zu einem scheinbar unverrückbaren Grundsatz des modernen Rechts reicht und sich noch in vielen Strafgesetzbüchern,
insbesondere in den romanischen Ländern, berücksichtigt findet: Gemeint ist
die Auffassung, die von der Unterscheidung zwischen Tatirrtum und
Rechtsirrtum ausgeht, um den Tatirrtum im Sinne des Vorsatzausschlusses
als grundsätzlich beachtlich anzusehen, während der Rechtsirrtum, in dem
ohne jegliche Eigenständigkeit das Fehlen des Unrechtsbewußtseins einbezogen ist, als grundsätzlich unbeachtlich angesehen wird, ganz wie schon die
alte paulinische Maxime verlauten läßt: "regula est iuris quidem ignorantiam
cuique nocere, facti vero ignorantiam non nocere" (D. 22, 6, 9 pr.). Was
bei dieser Ausgangslage im Sinne einer gewissen Einschränkung jeglicher
Unbeachtlichkeit des Rechtsirrtums allenfalls noch versucht werden könnte,
bezieht sich allein auf bestimmte Ausgrenzungen nach Art etwa der in einigen romanischen Ländern noch anzutreffenden Lehre, nach der fehlende
Kenntnis bestimmter persönlicher Eigenschaften oder Unkenntnis in bezug
auf ein außerstrafrechtliches Gesetz von der Regel der Unbeachtlichkeit des
Rechtsirrtums ausgenommen ist. Indessen: Wie weit man mit derartigen Einschränkungen auch kommen mag, diese Art der Betrachtung geht zu Lasten
der verweigerten Anerkennung der Autonomie des Problems fehlenden Unrechtsbewußtseins und konsequenterweise auf Kosten des Schuldprinzips
1
Vgl. darüber Martim de Albuquerque, Para uma distinço do erro sobre o facto e do
erro sobre a ilicitude em direito penal, Lissabon 1968.
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immer dann, wenn das Fehlen des Unrechtsbewußtseins als unbeachtlich
angesehen wird, obwohl es dem Täter nicht vorgeworfen werden dürfte.
Allerdings bin ich der Ansicht, daß eine entsprechende Interpretation des
portugiesischen Strafrechts vor 1982 dem bis dahin erreichten Entwicklungsstand der portugiesischen Lehre, ja sogar zum Teil auch der portugiesischen Rechtsprechung dieser Zeit, nicht gerecht würde. Es trifft zwar zu, daß
es in Portugal unter dem Einfluß des seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts
zur Herrschaft gelangten Rechtspositivismus nicht an Autoren und Gerichtsentscheidungen fehlte, die im Namen der Maximen "error iuris nocet" und
"ignorantia legis (poenale) non excusat" fehlendem Unrechtsbewußtsein
prinzipielle Beachtlichkeit verweigerten.2 Es ist aber auch nicht weniger
wahr, daß eine aufmerksame Untersuchung der Quellen seit den ältesten
Zeiten - vielleicht sogar schon in römischer Zeit und sicher zu Zeiten des
gemeinen portugiesischen Rechts, in der Zeit der Aufklärung und sogar in
der Phase des Positivismus - ein durchaus abweichendes Bild ergibt.3 Danach kann zu keiner Zeit davon die Rede sein, daß die Zweiteilung in die Tat
und das Recht (und folglich die Unterscheidung zwischen "Tatirrtum" und
"Rechtsirrtum") die Bewältigung des Problems fehlenden Unrechtsbewußtseins begrifflich und a priori festgelegt hätte. Vielmehr war dieses Problem im Verständnis seines konkreten Zusammenhangs mit der strafrechtlichen Schuld der bestimmende Faktor für die genannte Dichotomie und das
in ihr enthaltene normative Prinzip. Mit anderen Worten: Wenn im Strafrecht eine gültige und gerechtfertigte Unterscheidung zwischen zwei in ihrer
Beachtlichkeit (oder der Form ihrer Beachtlichkeit) unterschiedlichen Irrtumsarten vorhanden war, ergab sich diese Unterscheidung nicht aus der
Feststellung, daß es sich in dem einen Fall um einen "Tatirrtum" und in dem
anderen Fall um einen "Rechtsirrtum" handelte. Die Unterscheidung konnte
vielmehr nur das Ergebnis der unterschiedlichen Bedeutung sein, die der
Irrtum der einen und der anderen Art für die Schuld hatte, so daß es sich
bei dieser, auf die Schuld bezogenen Unterscheidung um den wirklich leitenden normativen Gesichtspunkt handelte. Im Verhältnis zu der materiellen Dimension des Problems fehlenden Unrechtsbewußtseins im Zusam2
3
So unter anderen: Sousa Pinto, Liçoes de Direito Criminal Português, Coimbra 1861,
S. 62; Henriques da Silva, Liçoes de Direito Penal, Coimbra 1898/1899, S. 489;
Cavaleiro de Ferreira, Liçoes de Direito Penal, Lissabon 1940/1941, S. 392; Martim
de Albuquerque (Anm. 1), S. 73 ff., 81.
Zum folgenden Figueiredo Dias, O problema da Consciência da Ilicitude em Direito
Penal, 3. Aufl. Coimbra 1987, S. 28 ff., 53 ff.
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menhang mit der strafrechtlichen Schuld trat die Dichotomie "Tatirrtum"/"Rechtsirrtum" daher nicht als ein prius, sondern erst als ein posterius
auf den Plan. Dem dürfte durchgängig die Wirklichkeit der Rechtsanwendung entsprochen haben, während die Lehre sich dieser Lage meist nicht
bewußt geworden ist.
Nur im Zusammenhang mit der vorgetragenen Konzeption wird auch verständlich, daß ein verdientermaßen so anerkannter Autor wie mein Lehrer
Eduardo Correia die Auffassung vertrat, daß die angeführten Bestimmungen
des Art. 29 des früheren port.StGB einer eventuellen strafrechtlichen Beachtlichkeit des fehlenden Unrechtsbewußtseins nichts in den Weg stellten:4
Der Grundsatz "ignorantia legis (poenale) non excusat" hat ausschließlich
mit der Grundlage der Geltung des Gesetzes, seiner abstrakten Verbindlichkeit und der Unantastbarkeit seiner objektiven Wirkungen zu tun. Er
hat jedoch keinerlei Abstriche zur Folge, soweit es sich um die mögliche
Auswirkung eines konkreten Fehlens des Unrechtsbewußtseins auf die
Schuld handelt. Die Suche der gesetzlichen Grundlage für diesen Standpunkt führte zu Art. 44 Ziff. 7 des damals gültigen StGB. Nach dieser Bestimmung "ist eine Tat im allgemeinen gerechtfertigt bei denen, die ohne
verbrecherische Absicht (intenço criminosa) und ohne Schuld (culpa) gehandelt haben". Nach dieser Auffassung handelt es sich hier um die Berücksichtigung des Schuldprinzips (princípio da culpa), und zwar mit der Berechtigung, alle in ihm enthaltenen materiellen Folgerungen, denen das Gesetz
nicht ausdrücklich widerspricht, zu ziehen, so vor allem auf dem Gebiet des
fehlenden Unrechtsbewußtseins, das damit nicht mehr ein Thema war, das
als ein "vom Gesetzgeber freigelassener Raum" bezeichnet werden könnte.
Im Lichte dieser Auslegung hat die herrschende portugiesische Lehre vor
1982 - wie zu wiederholen ist, gefolgt von einigen Gerichtsentscheidungen den Standpunkt vertreten, daß fehlendes Unrechtsbewußtsein grundsätzlich
den Vorsatz ausschließt, wobei die Möglichkeit der Bestrafung der Tat unter Gesichtspunkten der Fahrlässigkeit nach den allgemeinen Regeln offenblieb. Anders sollte wiederum in Fällen entschieden werden, in denen das
Fehlen des Unrechtsbewußtseins einer unannehmbaren rechtlichen Einstellung des Täters zu den tragenden Grundsätzen der Rechtsordnung in
bezug auf Recht und Unrecht anzulasten war: In derartigen Fällen, deren
Zurechnung durch den Rückgriff auf eine besondere "Schuld in der Bildung
4
Eduardo Correia, Direito criminal, Vol. I (com a colaboraço de Figueiredo Dias),
Coimbra 1963, S. 419 ff.
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der Persönlichkeit" (culpa na formaço da personalidade) charakterisiert war,
sollte ein sogeartetes Fehlen der Unrechtskenntnis als Vorsatz gelten - ein
dogmatischer Standpunkt in nächster Nähe zur eingeschränkten Vorsatztheorie der deutschen Lehre, vor allem in der Formulierung von Mezger,
dieser Standpunkt war jedoch, wie ich hervorheben darf, zuvor im wesentlichen schon von Beleza dos Santos5 vertreten worden - oder wenigstens zu einer Bestrafung nach dem Strafrahmen der entsprechenden Vorsatztat führen.6
3. Die Grundkonzeption und Lösungen für die erörterten Probleme änderten sich mit dem Inkrafttreten des StGB von 1982. Aber dabei handelt es
sich, wie jetzt deutlich geworden ist, keineswegs um Änderungen im Ausmaß einer "Kopernikanischen Wende", sondern um eine gewöhnliche und
verständliche Weiterentwicklung der bereits im alten Recht herrschenden
Lehre. Diese Weiterentwicklung hatte ich selbst schon in meiner Habilitationsschrift von 1969 vorgeschlagen und als Interpretation des damaligen
Rechts verteidigt.7 Im folgenden soll es jetzt aber ausschließlich um das heute in Portugal geltende Recht gehen.
Aus dem Vortrag des Wortlauts der Art. 16 und 17 des port.StGB kann
der Eindruck entstanden sein, daß die in Portugal anzutreffende gesetzliche
Lage im Hinblick auf die strafrechtliche Irrtumsproblematik - und namentlich in bezug auf das Fehlen des Unrechtsbewußtseins als Schuldausschließungsgrund - im wesentlichen der durch die §§ 16, 17 des deutschen StGB
gestalteten Lage entspricht. Indessen: Ohne den tiefen und unbestrittenen
Einfluß des deutschen Strafrechts auf diesem und auf anderen Gebieten in
Abrede zu stellen, ist festzuhalten, daß die erwähnte Beurteilung nicht das
Richtige trifft, ja daß sie letztendlich sehr viel weniger stimmt, als man auf
den ersten Blick annehmen könnte. Es gibt zwischen den angeführten Bestimmungen des portugiesischen und deutschen Rechts notorische redaktionelle Unterschiede, in denen beachtliche dogmatische Unterscheidungen
Ausdruck erlangen. Mein hochgeschätzter Kollege und Freund Claus Roxin
hat sich dazu schon einmal im Sinne der Möglichkeit geäußert, über eine
bestimmte und von ihm selbst vertretene Lehre "auch für das deutsche
Recht zu dem Ergebnis zu gelangen, zu dem - auf eine elegantere Weise -
5
6
7
Revista de Legislaço e de Jurisprudência 67 (1934/35), S. 3.
So Eduardo Correia (Anm. 4), S. 417 f.
Figueiredo Dias (Anm. 3), 1. Aufl. Coimbra 1969.
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das portugiesische StGB führt".8 Ich bin über diese Beurteilung erfreut und
muß mir dazu jedes weitere Wort versagen. In meiner Zuständigkeit liegt es
allein, die in Betracht kommenden deutlichsten Unterschiede zwischen den
beiden Rechten hervortreten zu lassen. Unter Berücksichtigung der von mir
zu beachtenden zeitlichen Begrenzung werde ich mich so paradigmatisch
wie möglich äußern müssen, auch auf Kosten der möglichen Gefahr, häufig
fast apodiktisch zu erscheinen. Vielleicht kann ich trotzdem darauf hoffen,
wenigstens so viele Gesichtspunkte hervortreten zu lassen, daß in der Frage
der Unterscheidungen zwischen dem deutschen und portugiesischen Recht
eine begründete Klärung gelingt, ob gesetzliche und dogmatische Differenzen nur geringen Gewichts oder tieferreichende Differenzen vorhanden
sind, die auf unterschiedliche Grundkonzeptionen des Wesens der Schuld
und der kriminalpolitischen Funktion der Schuld im Strafrechtssystem zurückführen.
II.
1. Im portugiesischen wie im deutschen Recht gibt es zwei Arten des strafrechtlich beachtlichen Irrtums, und jeder der beiden Irrtumsarten entsprechen
Unterschiede in der Form der jeweiligen Beachtlichkeit und der Auswirkungen auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters. Bei der einen Irrtumsart wird der Vorsatz ausgeschlossen bei Wahrung der Strafbarkeit der Fahrlässigkeit nach den allgemeinen Regeln. Im Fall des Irrtums
der anderen Art wird, sofern der Irrtum nicht vorwerfbar ist, die Schuld ausgeschlossen - dogmatisch wird hier zu Recht von einem Schuldausschließungsgrund gesprochen; im Fall der Vorwerfbarkeit des Irrtums bleibt es
dagegen bei der Bestrafung für vorsätzliche Tatbegehung, allerdings kann
die Strafe besonders gemildert werden. Indessen hat die Unterscheidung der
beiden Irrtumsarten nichts zu tun mit den überholten Unterscheidungen zwischen Tatirrtum und Rechtsirrtum oder mit der Möglichkeit, diesen letzteren
Irrtum unter dem Gesichtspunkt des strafrechtlichen oder außerstrafrechtlichen Irrtums zu unterscheiden. Die im portugiesischen StGB getroffene Unterscheidung ist aber auch weit davon entfernt, sich mit der deutschen Unterscheidung zwischen Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum identifizieren zu lassen. Ein vorsatzausschließender Irrtum existiert, wie Roxin9
8
9
Roxin, Boletim da Faculdade de Direito de Coimbra 59 (1983), S. 27.
Roxin (Anm. 8), S. 25.
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exakt bemerkt hat, vielmehr in drei Fällen: 1. wenn es sich um einen Irrtum
über faktische oder rechtliche Merkmale eines Straftatbestandes handelt; 2.
wenn sich der Irrtum auf die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes
oder eines Schuldausschließungsgrundes bezieht; 3. wenn der Irrtum Verbote (oder im Fall des Unterlassens Gebote) betrifft, deren Kenntnis nach
vernünftigem Urteil unerläßliche Voraussetzung dafür ist, daß der Täter Bewußtsein vom Unrecht der Tat erlangen kann.
Diese zuletzt genannte Regelung liefert den Schlüssel für das Verständnis
der eigentlichen Gründe für die portugiesische Unterscheidung der beiden
Irrtumsarten.10 Der Ausgangspunkt für das Verständnis dieser Regelung
liegt m.E. bei dem grundlegenden Argument, daß die strafrechtliche Beachtlichkeit des Irrtums ausschließlich ein Schuldproblem ist. Daher können
allein in Abhängigkeit eines Schuldunterschieds Unterscheidungen der Beachtlichkeit der Irrtumsarten vorgenommen werden. Niemals ist dafür eine
heteronome Betrachtung tauglich, die von Begriffsbildungen und Unterscheidungen ausgeht, die nicht im Wesen der Schuld und in der kriminalpolitischen Funktion der Schuld im Strafrechtssystem gründen. Aus diesem Grunde ist eine Unterscheidung der Irrtumsarten in Abhängigkeit
von der Unterscheidung zwischen dem Bereich des Faktischen und dem Bereich des Rechtlichen methodisch und kriminalpolitisch ebenso verfehlt wie
eine Unterscheidung in Abhängigkeit von Konzeptionen über beispielsweise
den kausalen oder finalen Charakter der Handlung, von der Konstruktion des
Tatbestandes als Indiztatbestand oder eher als Unrechtstatbestand oder Gesamttatbestand. Das gleiche gilt in bezug auf Abhängigkeiten von dem,
was als Wesen und systematische Funktion der Rechtswidrigkeit angesehen
wird, oder auch von der Form der Beziehungen zwischen Tatbestand und
Rechtswidrigkeit. Sämtliche angesprochenen Probleme sind gewiß grundlegende Strafrechtsprobleme mit einem über bloß formalsystematische Fragen hinausgehenden materiellen und kriminalpolitischen Gehalt. Es handelt
sich aber nicht um strafrechtliche Schuldprobleme, auf die es für die Begründung der beiden Irrtumsarten mit unterschiedlichen Konsequenzen für
die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters notwendigerweise ankäme.
Es kann vielleicht hinzugefügt werden: Wo eine derartige Verantwortlichkeit in Abhängigkeit von schuldfremden Gesichtspunkten unterschiedlich
beurteilt würde, läge eine Verletzung des Schuldprinzips vor, die in Portugal
10
Eingehend dazu Figueiredo Dias (Anm. 3), S. 268 ff.
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nicht nur dem einfachen Recht widerspräche, sondern darüber hinaus einen
Verfassungsverstoß darstellte.11
Worin aber liegt die schuldspezifische Differenz, die einen vorsatzausschließenden Irrtum von dem anderen Irrtum zu unterscheiden gestattet, der
nicht den Vorsatz, aber immer dann die Schuld ausschließt, wenn er nicht
vorwerfbar ist? Meine Überlegung, für die ich hier notgedrungen auf die
Ergebnisse meiner schon erwähnten Untersuchung aus dem Jahre 1969 verweisen muß, ist zusammengefaßt die folgende: Der Irrtum ist immer vorsatzausschließend, wenn es sich um fehlende Kenntnis dessen handelt, was
für eine korrekte Orientierung des Tätergewissens in bezug auf den Unwert
des Unrechts erforderlich ist; dagegen bleibt der Vorsatz stets dann unberührt, wenn der Täter trotz Kenntnis des vernünftigerweise für diese Orientierung Erforderlichen in einem Irrtum über den Unrechtscharakter der Tat
handelt. In diesem Fall liegt der Irrtum nicht auf der Ebene des Bewußtseins,
sondern auf der eigentlichen Gewissensebene und bringt die hier fehlende
Übereinstimmung mit der Ordnung der rechtlichen Werte und Güter zum
Ausdruck, die das Strafrecht zu schützen hat. Mit anderen Worten: Im ersten
Fall haben wir es mit einem Bewußtseinsmangel zu tun, der auf das Konto
unterbliebener Information oder Aufklärung zu schreiben ist und daher,
wenn ein entsprechender Vorwurf zu erheben ist, den spezifischen Typus des
Fahrlässigkeitsvorwurfs nach sich zieht. Im Unterschied dazu haben wir es
in dem zweiten Fall mit einem Gewissensmangel zu tun, der dem Täter die
korrekte Erfassung der strafrechtlichen Werte verschließt und daher im Falle
der Vorwerfbarkeit dem spezifischen Typus des Vorsatzvorwurfs entspricht.12
Diese Auffassung, die sogar die Grundlage der Regelung in den Art. 16 und
17 port.StGB bildet, sehe ich in Verbindung mit dem philosophischen
Standpunkt jener Autoren, für die - von Aristoteles bis Thomas von Aquin,
11
12
In der Tat haben sowohl das Verfassungsgericht als auch dessen Vorläufer, die Verfassungskommission, obwohl bisher noch keine direkte Entscheidung über den strafrechtlichen Schuldgrundsatz als Verfassungsprinzip vorliegt, wiederholt diesen Grundsatz
in der Begründung verschiedener Entscheidungen in Betracht gezogen. In demselben
Sinn haben sich in der Lehre geäußert: Figueiredo Dias, Revista de Direito e Economia 4 (1978), S. 17 und derselbe, in: Jornadas de Direito Criminal, Bd. 1, Lissabon
1983, S. 64 ff.; Sousa Brito, in: Estudos sobre a Constituiço, Bd. II, Lissabon 1978,
S. 199 ff.; Faria Costa, in: Estudos em Homenagem a Teixeira Ribeiro, Bd. III, Coimbra 1983, S. 355 f.; Teresa Serra, Homicidio qualificado. Tipo de culpa e medida da
pena, Coimbra 1990, S. 35.
Figueiredo Dias (Anm. 3), S. 268 und derselbe, ZStW 95 (1983), S. 245 ff.
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von Pascal bis Hegel - gerade die Unwissenheit in bezug auf die "Schlechtigkeit der Handlung" und "die allgemeinen Regeln der Moralität" eher
Grund für einen schärferen Tadel als für eine Entschuldigung des Täters sein
kann. Die vorgetragene Konzeption befindet sich ferner auf der Linie aller
jener Lehrer des Strafrechts, für die - von Kadecka zu Nowakowski und
Gallas, von Beleza dos Santos bis zu Eduardo Correia - der Irrtum über den
Unrechtscharakter der Tat in bestimmten Fällen die Vorsatzschuld begründet. Deshalb müssen die traditionellen Dichotomien Tatirrtum/Rechtsirrtum
oder Tatbestandsirrtum/Verbotsirrtum als in sich selbst heteronome Ansätze
in bezug auf die Schuld zurückgewiesen und durch andere ersetzt werden.
Zu denken ist an Dichotomien wie solche in bezug auf Kenntnisirrtum/Wertungsirrtum, intellektueller Irrtum/moralischer Irrtum, Bewußtseinsirrtum/Gewissensirrtum oder andere entsprechende Gegenüberstellungen, die
ihren Ursprung und ihre Grundlage in der Schuld und der kriminalpolitischen Funktion der Schuld im Strafrechtssystem haben.
2. a) Damit ist m.E. das Entscheidende gesagt. Bei diesem Verständnis ist
zunächst ohne weiteres einleuchtend, daß jeder faktische oder rechtliche
Irrtum über Elemente eines Tatbestandes den Vorsatz ausschließt, nachdem
der Tatbestand Träger der Wertung eines entsprechenden Verhaltens als Unrecht und die Kenntnis aller seiner konstitutiven Elemente (faktische
oder rechtliche, positive oder negative, deskriptive oder normative, bestimmte oder unbestimmte, "geschlossene" oder "offene") für eine korrekte
Orientierung des Tätergewissens unerläßlich ist. Da hier in bezug auf die
Lösungen keine nennenswerten Unterschiede zwischen dem portugiesischen
und deutschen Recht bestehen, werde ich auf dieses Thema nicht weiter eingehen.
b) Aufgrund der erörterten Konzeption gelangt das portugiesische Recht
auch in Fällen des Irrtums über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes oder eines Schuldausschließungsgrundes zu einer eindeutigen Vorsatzverneinung, während die Lehre in Deutschland in dieser Hinsicht z.T.
noch an Zweifeln festhält.13 Für die Beurteilung im portugiesischen Recht
spielen andere Überlegungen keine Rolle. So kommt es auf dem Gebiet der
Rechtfertigungsgründe nicht etwa auf deren Konzeption als negative Tatbestandsmerkmale an, und auf dem Gebiet der Schuldausschließungsgründe
13
Beispielhafte Verdeutlichung dieser Lage zuletzt bei Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 4. Aufl Berlin 1988, S. 415 ff.
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sind Betrachtungen über Analogien zwischen Schuldausschließungsgründen
und Rechtfertigungsgründen in bezug auf ihre Auswirkungen auf die Verantwortlichkeit des Täters ohne Belang.
Entscheidend im Hinblick auf die Rechtfertigungsgründe ist die Überlegung,
daß auch deren Voraussetzungen inhaltlich wie die Tatbestandsmerkmale auf
die Erlangung der Kenntnis der Umstände ausgerichtet sind, bei denen ein
entsprechendes Verhalten konkretes Unrecht begründet: Bei diesem Verständnis kann (und muß) im Verhältnis von Tatbestandselementen und Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes (oder besser Elementen des Inkriminierungstatbestandes und des Rechtfertigungstatbestandes) von einer
eindeutigen Ergänzungsfunktion in bezug auf die Verdeutlichung oder Aufzeigung des konkreten Unrechts gesprochen werden. Auf diese Weise ist
unter Schuldgesichtspunkten die Bedeutung des Tatbestandsirrtums und des
Irrtums über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes dieselbe,
weil im einen wie im anderen Fall der Irrtum verhindert, daß das Gewissen
des Täters sich korrekt im Sinne der Qualifikation eines Verhaltens als konkretes Unrecht betätigen kann. Deshalb ist in beiden Fällen eine Bestrafung
für vorsätzliche Tatbegehung ausgeschlossen. Und wenn im Fall des Irrtums
über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes im Unterschied zum
Tatbestandsirrtum der Tatvorsatz als solcher bejaht werden kann, so wird
hierdurch nur deutlich, daß die Vorsatzbestrafung im portugiesischen Recht
sich nicht mit dem Vorhandensein des Tatvorsatzes begnügt, sondern darüber hinaus das Vorhandensein einer Vorsatzschuld verlangt und sich damit
im übrigen der in Deutschland u.a. von Jescheck und Hünerfeld vertretenen
Lehre von der Doppelstellung des Vorsatzes14 nähert. Es handelt sich dabei,
wie ich meine, um eine notwendige Konsequenz des korrekt verstandenen
Schuldprinzips.
Anders liegt es im Hinblick auf den Irrtum über einen Schuldausschließungsgrund. Eine vollständige Klärung dieser Frage würde hier nicht mögliche
Präzisierungen voraussetzen. Da das Problem in der Lehre bisher wenig behandelt wurde und in der portugiesischen Rechtsprechung praktisch unbekannt ist,15 muß ich mich hier mit einigen persönlichen und apodiktischen
Bemerkungen begnügen. Ein Irrtum der genannten Art ist nur von Bedeu14
15
Jescheck (Anm. 13), S. 218 ff.; Hünerfeld, ZStW 93 (1981), S. 1000. Zu meinem eigenen Standpunkt in dieser Frage Figueiredo Dias, Jornadas (Anm. 11), S. 59 ff.,
69 ff. und derselbe, ZStW 95 (1983), S. 246.
Vgl. im übrigen aber Figueiredo Dias (Anm. 3), S. 457 ff.
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tung, wenn er sich auf die Voraussetzungen eines entschuldigenden Notstandes bezieht. Es schiene hier zwar behauptet werden zu können, daß der Täter
mit Unrechtsbewußtsein gehandelt und sein Gewissen korrekt an dem entsprechenden Unwert orientiert hat, so daß der Irrtum letztlich bedeutungslos
sein muß. Auch hier bringt das Gesetz den Irrtumsvorwurf jedoch in der
Form des Tatvorwurfs zur Geltung. Da ein derartiger Irrtum nach der Art des
Vorwurfs auf ein Fehlen an Sorgfalt und Aufmerksamkeit für die gegebene
Lage (in diesem Sinn auf einen "intellektuellen Irrtum") verweist, ist es gerechtfertigt, ihn als fahrlässig zu qualifizieren und von daher zu einer Bestrafung wegen Fahrlässigkeit zu gelangen.
c) Schließlich führt die hier zugrundegelegte Konzeption zum Vorsatzausschluß auch in den Fällen eines Verbotsirrtums, der sich auf Straftaten bezieht, denen ein axiologisch neutrales Verhalten zugrundeliegt, sich also auf
Straftaten bezieht, bei denen ein Verhalten nicht aufgrund seiner sozialethischen Relevanz, sondern allein durch eine gesetzgeberische Anordnung zum
Unrecht wird. Auch in diesen Fällen - eine solche Lage ergibt sich vor allem16 im Bereich des Nebenstrafrechts, vor allem des Verwaltungsstrafrechts, wie die portugiesische Rechtsprechung zutreffend erkannt hat - liegt
es so, daß die Kenntnis des Verbots vernünftigerweise Voraussetzung für die
korrekte Orientierung des Tätergewissens ist. Deswegen ist der entsprechende Irrtum unter Schuldgesichtspunkten von derselben Art wie der Tatbestandsirrtum oder der Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes. Aus diesem Grunde beseitigt ein derartiger Irrtum den Vorsatz, und die Tat kann gegebenenfalls nurmehr unter Fahrlässigkeitsgesichtspunkten vorwerfbar sein.
3. Im Zusammenhang mit der Unterscheidung der beiden Irrtumsarten
nach ihrer strafrechtlichen Beachtlichkeit möchte ich gerne noch eine Bemerkung hinzufügen. In Portugal - wie vermutlich nach dem weithin vorherrschenden Standpunkt auch in Deutschland - ist stets angenommen worden, daß der Unrechtscharakter der Tat, dessen Kenntnis oder fehlende
Kenntnis für die Schuld von Bedeutung ist, nicht mit ihrer Strafbarkeit verwechselt werden darf. Für die Bejahung des Vorsatzes genügt das Bewußtsein - wenigstens in der abgeschwächten Form des u.a. von Platzgummer und
16
Aber nicht nur! Vgl. hierzu beispielsweise die Entscheidung des Strafgerichts Lissabon vom 21.1.1976, Revista de Legislaço e de Jurisprudência 109 (1976/77), S. 136
mit Anm. von Figueiredo Dias.
212
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Roxin17 geforderten handlungsbegleitenden Mitbewußtseins - des rechtlichen Unwerts, der mit dem konkreten Verhalten verbunden ist.18
Kürzlich hat eine Auseinandersetzung zwischen portugiesischen Gerichten
die Einheitlichkeit dieses Standpunkts in Frage gestellt. Kurz zusammengefaßt handelte es sich um einen wegen illegaler Devisengeschäfte angeklagten
Anwalt, dem jedoch der Beweis gelungen war, in der Überzeugung gehandelt zu haben, sein Verhalten stelle kein Verbrechen bzw. Vergehen, sondern
eine Übertretung dar. Das erstinstanzliche Gericht gelangte in Anwendung
des Art. 16 zu einer Verurteilung wegen Fahrlässigkeit, das zweitinstanzliche Gericht verurteilte unter Anwendung des Art. 17 wegen Vorsatzes. Beide Gerichte stimmten jedoch darin überein, auf einen beachtlichen
Irrtum zu erkennen, und schoben damit den oben als einhellig bezeichneten
Standpunkt beiseite.
Der Versuch der Klärung des Problems würde sicher die ganze mir zur Verfügung stehende Zeit in Anspruch nehmen. Ich begnüge mich daher mit folgendem: Es gibt heute gute Gründe für die Ansicht, daß es für die Bejahung
des Vorsatzes wenigstens in bestimmten Fällen nicht mehr genügt, daß der
Täter Kenntnis von einem Verbot hatte, das das Verhalten dem Bereich eines
vom strafrechtlichen Unrecht qualitativ verschiedenen Unrechts zuordnet.
Positiv ausgedrückt: Es gibt Fälle, in denen allein das strafrechtliche Unrecht
als Gegenstand des nach Art. 17 für die Schuld relevanten Bewußtseins in
Betracht kommt. Dafür spricht in der Tat die materielle Autonomie des
Strafrechts als Grund für das Vorhandensein eines spezifischen Unrechts. In
dieselbe Richtung geht übrigens die in Portugal vorherrschende Meinung,
die stets von Eduardo Correia vertreten und heute sowohl von mir als auch
von Costa Andrade19 geteilt wird und die nunmehr zu ihren Gunsten auf die
eindringliche Forschung zu diesem Thema von Günther20 in Deutschland
verweisen kann.
Zusammengefaßt: Es ist meine Überzeugung, daß das strafrechtliche Unrecht eine qualitative Differenz aufweist, die ihm gegenüber den sonstigen
17
18
19
20
Platzgummer, Die Bewußtseinsform des Vorsatzes, Wien 1964; Roxin, ZStW 78
(1966), S. 257.
Ganz im Rahmen dieser Betrachtungsweise auch Figueiredo Dias (Anm. 3), S. 317.
Eduardo Correia (Anm. 4), Vol. II, Coimbra 1965, S. 3 ff.; Figueiredo Dias (Anm. 3),
S. 261 f.; Costa Andrade, Consentimento e Acordo em Direito Penal, Coimbra 1990,
S. 166 ff.
Strafrechtswidrigkeit und Strafrechtsausschluß, Köln 1983.
Der Irrtum als Schuldausschließungsgrund
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Manifestationen der Rechtswidrigkeit eine Sonderstellung einräumt.21 Zu
dem bloßen Verhaltensverbot kommt hier notwendigerweise noch die Strafwürdigkeit22 hinzu, also eine Qualifikation, die dem grundlegenden Charakter der zu schützenden Rechtsgüter und der besonderen sozialen Unverträglichkeit der zu Straftaten vertypten Formen ihrer Beeinträchtigung entspricht. Auf dieser Linie darf die Überzeugung, daß ein bestimmtes Verhalten ein zivilrechtliches oder disziplinarrechtliches Unrecht oder eine Ordnungswidrigkeit darstellt, nicht als das Unrechtsbewußtsein gelten, dessen
Fehlen für die strafrechtliche Schuld von Bedeutung ist. Dieser Standpunkt
ergibt sich wohl zwingend aus der nicht zu verschleiernden normativen und
axiologisch-materialen Diskontinuität, die diese Formen des Unrechts vom
strafrechtlichen Unrecht trennt. Aber es handelt sich hier nur um die Annäherung an ein noch wenig untersuchtes Problem, für das auf neue und vertieftere dogmatische Entwicklungen zu hoffen ist.
III.
Nach der Beurteilung im portugiesischen Recht ist es also nicht der bloße
Irrtum über ein Verbot, sondern der wirkliche, eine Abweichung zwischen
der Tätergesinnung und der strafgesetzlichen Wertordnung offenlegende
Mangel des Unrechtsbewußtseins, der bei fehlender Vorwerfbarkeit zu einem Schuldausschließungsgrund führt. Wann aber kann von einem nicht
vorwerfbaren Mangel des Unrechtsbewußtseins die Rede sein? Müßte nicht
gesagt werden, daß ein derartiger Mangel stets vorwerfbar ist, weil er eine
ohne weiteres als Schuld geltende Abweichung zwischen der Gesinnung des
Täters und den Wertkriterien der Rechtsordnung zum Ausdruck bringt?
In keiner Weise. Allerdings müssen aus meiner Sicht Formeln beseitegeschoben werden wie die in Deutschland gängige Frage nach der "Unvermeidbarkeit" oder "Unüberwindlichkeit" des Irrtums. Der Grund dafür ist
nicht nur, daß sich derartige Formeln bei einer zunehmend erkannten An21
22
Ich habe diesen Standpunkt vor allem in verschiedenen Veröffentlichungen im Hinblick auf die Unterscheidung von Strafrechtswidrigkeit und Ordnungswidrigkeit entwickelt. Vgl. Figueiredo Dias, Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht. Eine
Betrachtung im Lichte der neuen portugiesischen Rechtsordnung, Festschrift für Jescheck, Berlin 1985, S. 79, 90 ff.
Vgl. dazu in der portugiesischen Literatur Costa Andrade, Jornadas (Anm. 11),
S. 189 ff., 221, 227, und Figueiredo Dias, A propos de Beccaria ..., Actas do Congresso Beccaria 1988 (im Druck).
214
Jorge de Figueiredo Dias
gleichung an das Kriterium der Vorhersehbarkeit beim Fahrlässigkeitsvorwurf zu sehr ausweiten und nicht der Besonderheit unseres Problems entsprechen. Vor allem muß das Kriterium der Vorwerfbarkeit des mangelnden
Unrechtsbewußtseins in den Zusammenhang mit der Schuld und daher in
den Zusammenhang mit der schuldspezifischen Unzulänglichkeit des strafrechtlichen Wertgefühls in der Person des Täters gestellt werden. Ich muß
mich hier ein weiteres Mal auf meine persönliche Ansicht beschränken und
auf Betrachtungen zurückkommen, die ich in Deutschland schon einmal
vortragen konnte.23 Wesentlich für den hier zu verfolgenden Zweck erscheint mir die Unterscheidung zwischen einer conscientia vera, die in
Übereinstimmung mit der Totalität der real-objektiven rechtlichen Anforderungen entscheidet, und einer conscientia recta , die trotz einer nicht vollständigen Übereinstimmung mit diesen Anforderungen im Täter das Fortbestehen einer allgemeinen rechtstreuen Gesinnung offenbart. Aufgrund des
Fortbestandes dieser Gesinnung ist der Mangel des Unrechtsbewußtseins
nicht vorwerfbar und ein entsprechender Schuldausschließungsgrund vorhanden. Diese Lage ergibt sich vorzugsweise in Bereichen, wo die konkrete
Unrechtsfrage diskutabel und umstritten ist. Freilich nicht nur in derartigen
Fällen, denn das hier vertretene Kriterium will keineswegs zu dem alten Gedanken der Angeborenheit und Evidenz rechtlicher Regeln zurückkehren.
Selbst in Bereichen sozialen Konsenses gibt es doch häufig im konkreten Fall nicht übereinstimmende oder sogar in Konflikt stehende rechtliche
Anforderungen, so daß sich hier auch der Fall eines nicht vorwerfbaren
Mangels des Unrechtsbewußtseins ergeben kann. Wichtig ist andererseits,
daß sich die vom Täter gegebene Antwort auf die Unrechtsfrage noch mit
einem rechtlich annehmbaren Wertstandpunkt verbinden läßt und eine derartige Beurteilung in der Tat ihren Ausdruck gefunden hat. Vorausgesetzt ist
daher eine bewußte Haltung des Täters oder doch wenigstens eine Einstellung als Ergebnis ständiger Bemühung um Übereinstimmung mit den Anforderungen des Rechts. In diesem Sinne hat die für die herrschende Ansicht in Portugal seit langem typische und auch von vielen deutschen Autoren24 vertretene Auffassung, nach der die Vorwerfbarkeit des mangelnden
Unrechtsbewußtseins stets ein Stück Lebensführungsschuld in Rechnung
stellt, ihre Berechtigung.
23
24
Vgl. Figueiredo Dias, ZStW 95 (1983), S. 252 ff. und eingehend derselbe (Anm. 3),
S. 328 ff.
Vgl. vor allem Bockelmann, Strafrechtliche Untersuchungen, Göttingen 1957, S. 14.
Der Irrtum als Schuldausschließungsgrund
215
Daß auf diese Weise ein im Vergleich mit der Fahrlässigkeit engeres und
höhere Anforderungen stellendes Kriterium für die Nichtvorwerfbarkeit des
mangelnden Unrechtsbewußtseins zur Geltung gelangt, ist unbestreitbar.
Aber diese Folgerung muß keine Besorgnis erwecken. Zum einen ist sie, wie
ich hoffe dargelegt zu haben, ein Ergebnis der "Schulddifferenz", die in der
Tat zwischen dem Mangel des Unrechtsbewußtseins und der Fahrlässigkeit
besteht. Auf der anderen Seite ist diese höhere Anforderung gut mit der besonderen Vorsicht zu vereinbaren, die sich die portugiesische Rechtsprechung im Hinblick auf die Anerkennung eines zur Ausschließung der Schuld
führenden Mangels des Unrechtsbewußtseins stets zu eigen gemacht hat.
IV.
In der Beurteilung der hier anstehenden Fragen nimmt das portugiesische
Recht, wie Roxin festgestellt hat, "eine zwischen der Vorsatztheorie und der
Schuldtheorie vermittelnde Position ein",25 die meines Erachtens für den
deutschen Juristen von Interesse sein könnte. Auf die an den Anfang gestellte Frage, ob die entsprechenden Unterscheidungen des portugiesischen
und deutschen Rechts auf periphäre oder mehr auf tieferliegende Unterschiede verweisen, wollte ich nicht antworten. Meine Absicht richtete sich
auf das Zusammentragen von Elementen für die Ermöglichung oder Erleichterung Ihrer eigenen Beurteilung. Ich würde mich selbst auf die Erwägung
beschränken, daß diese Unterscheidungen vielleicht auf einer dogmatischen
und kriminalpolitischen Konzeption beruhen, die für das portugiesische
Recht von grundlegender Bedeutung ist. Ich meine die Konzeption, daß sich
die strafrechtliche Schuld als Voraussetzung und Begrenzung, wenn auch
nicht als Grund jeder Bestrafung, nicht auf irgendeine Befähigung zur Motivation durch die Norm, auf irgendein Anders-Handeln-Können zurückführen
läßt; sie ist immer eine Gesinnungsschuld und hat darin ihren Grund, daß der
Täter für die in der Tat manifestierte Gesinnung einzustehen hat. Es ist diese
Grundkonzeption, die dem Irrtum als Schuldausschließungsgrund besonderen Sinn verleiht. Aber wie auch immer, dessen bin ich mir gewiß: Wenn wir
in gegenseitigem Verständnis unserer Strafrechtsordnungen und auf dem
Weg ihrer Annäherung vorankommen können, so wird dies vor allem Kolloquien zu verdanken sein wie diesem, an dem ich die Ehre und Freude hatte
teilzunehmen.
25
Roxin (Anm. 8), S. 25.
DER IRRTUM ALS UNRECHTS- UND/ODER SCHULDAUSSCHLUSS
IM DEUTSCHEN STRAFRECHT
Wolfgang Frisch, Mannheim
Übersicht
I. Die Behandlung des Irrtums auf der Basis der älteren - objektiven Unrechtslehre
1. Die systematische Einordnung im Schuldbereich
2. Der beschränkte Kreis anerkannter Fälle des Schuldausschlusses
3. Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit
4. Die Abgrenzung relevanter Tatumstands- von irrelevanten Rechtsirrtümern
5. Der Irrtum im Bereich der Rechtfertigung
6. Zusammenfassung
II. Subjektivierungen des Unrechts und ihre Bedeutung für die Irrtumsdiskussion
1. Die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs
2. Die Lehre von den subjektiven Unrechtselementen
3. Allgemeinere subjektive Entwürfe des Unrechts
a)
Vorsätzliches Verhalten als Unrechtsform - Die finale
Handlungslehre
b)
Der Irrtum als möglicher Unrechtsausschluß
c)
Abgrenzungsprobleme
218
III.
Wolfgang Frisch
Das heutige - heterogene - Bild der Irrtumslehre in Deutschland
1. Erledigung alter Streitfragen und Eröffnung neuer Streitfronten
a)
Wandlungen der Rechtsprechung und gesetzliche
Entscheidungen
b)
Die beschränkte Entlastungsfunktion
c)
Neue Streitfronten
2. Der Irrtum im Bereich von Schuldmerkmalen und
Entschuldigungsgründen
3. Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Tat
4. Der Irrtum über Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand
gehören
5. Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe, insbesondere der
sogenannte Erlaubnistatbestandsirrtum
a)
Der Streit über die systematische Bedeutung
b)
Der Streit über die rechtspraktischen Konsequenzen
6. Irrtümer in bezug auf normative Tatbestandsmerkmale und
Blankette
IV.
a)
Normative Tatbestandsmerkmale
b)
Blankette
Die eigene Sicht
1. Bedeutung, Kriterien und Vorgaben systematischer Einordnungen
a)
Vorfindbare Auffassungen
b)
Zur wahren Bedeutung systematischer Qualifikationen
c)
Voraussetzungen und Vorgaben solcher Qualifikationen
2. Das Bekenntnis zu subjektivem Unrecht (Entscheidungsunrecht)
und seine grundsätzliche Bedeutung für die Irrtumsfrage
a)
Das Bekenntnis: Strafbarkeit des untauglichen Versuchs
b)
Bedeutung für die Irrtumsproblematik
c)
Prämissen der Argumentation
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
219
3. Folgerungen für den Irrtum über Rechtfertigungssachverhalte
a)
Zur vollständigen Umschreibung sogenannten
Entscheidungsunrechts
b)
Bedeutung für die Lehre vom Erlaubnistatbestandsirrtum
c)
Nicht überzeugende Einwände
4. Folgerungen für den (reinen) Irrtum über das Verbotensein des
Verhaltens und über Entschuldigungsgründe
a)
Bedeutung allein für die Schuld
b)
Form der Bestrafung bei schuldmindernden Irrtümern
5. Folgerungen für Irrtümer in bezug auf normative Merkmale und
Blankette
a)
Umschreibung des Vorsatzinhalts unter dem Aspekt von
Entscheidungsunrecht
b)
Kritik herkömmlicher Abgrenzungsversuche vor diesem
Hintergrund (Parallelwertung; Tat- und Rechtsirrtum; außerstrafrechtlicher und strafrechtlicher Irrtum)
c)
Insbesondere: Vermengung von Irrtumsfragen und
Normkonkretisierung
d)
Verdeutlichung für normative Merkmale
e)
Verdeutlichung für Blankette
220
Wolfgang Frisch
Die Frage nach der systematischen Relevanz bestimmter Phänomene, insbesondere der vielfältigen strafbarkeitsausschließenden Sachverhalte, für die
Kategorien Unrecht und Schuld gehört zum Kanon straftatsystematischer Streitfragen, seit wir die auf Ihering zurückgehende Teilung in Unrecht und Schuld kennen.1 Ein bekannter Schauplatz dieses Streits war im
Bereich der Vorsatzdelikte schon frühzeitig die Behandlung bestimmter
Notrechte, vor allem des Notstands; die Diskussion über diese Frage hat in
Deutschland schließlich zur Differenzierung zwischen dem rechtfertigenden
und dem entschuldigenden Notstand geführt. Im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte hat man besonders über die systematische Relevanz des verkehrsrichtigen oder sorgfältigen Verhaltens gestritten. Hier wie in der Dogmatik der Unterlassungsdelikte ist die Relevanz und die systematische
Bedeutung der Unzumutbarkeit bis heute ein kontrovers behandelter Punkt.
Zu diesem Kreis von Streitfragen über die systematische Bedeutung bestimmter Ausschlußsachverhalte gehört seit langem auch die Frage nach der
Behandlung verschiedener Irrtumskonstellationen. Wie die Kontroversen
über eine Reihe anderer Ausschlußsachverhalte belegt die Diskussion über
sie gewissermaßen aus der Gegenperspektive der Ausschlußsachverhalte offene Fragen in bezug auf die Inhalte der Straftatkategorien. Der Kreis kontrovers diskutierter Fragen im Irrtumsbereich hat sich dabei zwar im Laufe
der letzten hundert Jahre verschoben: Manche Punkte, über die früher mit
Vehemenz gestritten wurde, sind heute - nicht zuletzt durch den berühmten
Federstrich des Gesetzgebers - in den Hintergrund getreten. Die Zahl der
Streitfragen in diesem Bereich ist dadurch jedoch nicht kleiner geworden im Gegenteil: Wandlungen in der grundsätzlichen Sicht von Unrecht und
Schuld haben hier neue Kontroversen entstehen lassen und in der Konkurrenz von neuer und alter systematischer Sicht und deren Kombination mit
divergierenden sachlichen Lösungen für ein überaus komplexes Meinungsbild gesorgt. Wer sich einen Gesamteindruck verschaffen will, tut gut daran,
zunächst einen Blick auf die ältere Diskussion zu werfen, die zumindest in
systematischer Hinsicht keine großen Probleme aufwarf, in einem zweiten
Schritt dann die Auswirkungen grundlegender Sichtveränderungen im Verhältnis von Unrecht und Schuld einzubringen und sich auf dieser Basis dann
schließlich dem heutigen Meinungsspektrum zu nähern.
1
Näher zur historischen Entwicklung und Diskussion H. A. Fischer, Die Rechtswidrigkeit, 1911, S. 120 ff.; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff,
1973, S. 17 ff.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
221
I.
Die Behandlung des Irrtums auf der Basis der älteren - objektiven
- Unrechtslehre
1.
Die systematische Einordnung im Schuldbereich
Für die ältere deutsche Lehre und Rechtsprechung war der Irrtum im Strafrecht in systematischer Hinsicht kaum ein Thema - zumindest kein für Diskussionen ergiebiges. Das liegt im klassischen Verständnis der Inhalte von
Unrecht und Schuld begründet.2 Das Unrecht war nach dieser lange Zeit
nicht in Frage gestellten Konzeption objektiv, genauer: durch objektive Gegebenheiten bestimmt - gleich, ob diese nun in der Beeinträchtigung oder der
Gefährdung bestimmter Güter, also einem objektiv unwertigen Erfolg, oder
einem gütergefährdenden Verhalten gesehen wurden. Als Essentiale der
Schuld wurde demgegenüber das Subjektive, die psychische Beziehung des
Täters zu dieser seiner objektiven Tat, benannt - der auf das Objektive bezogene Vorsatz war, wie die Fahrlässigkeit, eine spezifische Form so verstandener Schuld. Solange man an dieser Sichtweise, zumindest im grundsätzlichen Kern,3 festhielt, konnte die systematische Einordnung der Irrtümer
im Grunde überhaupt keine Frage sein. Es verstand sich von selbst, daß Irrtümer nicht das Unrecht, sondern nur den Bereich der Schuld betreffen
konnten. Wenn überhaupt, so konnte der Irrtum - jedenfalls im Bereich der
Vorsatzschuld - nur schuldausschließend oder entschuldigend sowie ggf.
schuldmindernd wirken.4 Die zentrale Frage war nicht die systematische
Einordnung im Bereich von Unrecht und Schuld, sondern die Abgrenzung
der Irrtümer, die die Vorsatzschuld ausschließen bzw. sich auf sie auswirken,
von den Fehlvorstellungen, denen diese Bedeutung nicht zukommt. Insoweit
herrschte trotz des gemeinsamen systematischen Fundaments lebhafter
Streit, wobei sich Rechtsprechung und Literatur, zumindest in den theoretischen Grundaussagen, unversöhnlich gegenüberstanden.
2
3
4
Siehe dazu etwa Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht, 1878, S. 40 ff., 50 ff.,
76 ff., 92 ff.; Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 145 ff., 178 ff.; Goldschmidt, Der Notstand - ein Schuldproblem, 1913, S. 18, 34; aus der Lehrbuchliteratur
z.B. v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 8. Aufl. 1897, S. 134 ff., 153 ff.
Die Entwicklung des normativen Schuldbegriffs (vgl. dazu Frank, Über den Aufbau
des Schuldbegriffs, 1907) allein hat insoweit noch zu keiner grundsätzlichen Änderung
geführt; sie hat nur die Gleichsetzung von Schuld und subjektiver Beziehung kritisiert,
im übrigen aber die subjektive Beziehung systematisch in der Schuld belassen (vgl.
etwa Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Aufl. 1931, § 51
Anm. II).
In diesem Sinne denn auch die Charakterisierung des "Problems der Irrtumslehre" bei
M. E. Mayer, Der Allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 1915, S. 316.
222
2.
Wolfgang Frisch
Der beschränkte Kreis anerkannter Fälle des Schuldausschlusses
Freilich bestand auch eine gemeinsame Basis. Sie war insbesondere durch
die gesetzliche Bestimmung des § 59 StGB a.F. vorgezeichnet, der seinerseits auf § 44 des preußischen StGB von 1851 zurückging, aber auch jenseits
dieser gesetzlichen Fixierung allgemein konsentierter Auffassung entsprach.
Danach waren dem Täter solche zum gesetzlichen Tatbestand gehörende
Tatumstände, die er bei Begehung einer strafbaren Handlung nicht kannte,
"nicht zuzurechnen" - eine Aussage, die im Sinne der eben angedeuteten systematischen Sicht allgemein als Ausschluß des Vorsatzverschuldens verstanden wurde. Auch über die grundsätzliche Extension des Kreises von
Umständen, deren Unkenntnis danach die Vorsatzschuld ausschloß, bestand
Konsens. Von der Vorschrift unbestrittenermaßen betroffen waren all jene
Umstände, die nach der gesetzlichen Umschreibung der einzelnen Tatbestände das Unrecht der einzelnen Delikte kennzeichnen - also die dieses Unrecht begründenden (oder erhöhenden) Umstände. Indessen wurde nicht nur
die Vorsatzschuld dessen verneint, der beispielsweise das angeschossene
Tatobjekt nicht als Mensch erkannt oder die Gefährlichkeit seines Handelns
nicht erfaßt hatte. Als ein die Vorsatzschuld ausschließender Irrtum wurde
fast einhellig auch der Irrtum über das Gegebensein einer Rechtfertigungslage - der Täter wähnt sich irrig angegriffen - qualifiziert,5 obwohl doch die
Merkmale eines Rechtfertigungsgrundes zumindest ausdrücklich (etwa als
negative Tatbestandsmerkmale) nicht in den das Unrecht umschreibenden
Einzeltatbeständen erwähnt sind. Eine Ausnahme machten hier nur v. Liszt,
der diesem Irrtum überhaupt keinen Einfluß einräumen,6 und M. E. Mayer,
der bei Vermeidbarkeit des Irrtums wegen vorsätzlicher Tat strafen wollte7 (eine Vorläuferthese der heutigen strengen Schuldtheorie). Ganz ähnlich wie
der Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes wurde - soweit man sich mit der Frage überhaupt näher beschäftigte - endlich auch die irrige Annahme der tatsächlichen Voraussetzungen eines Entschuldigungsgrundes (z.B. der Täter nimmt irrig an, ein
Dritter wolle ihn zu einer Straftat nötigen) behandelt: Auch er sollte die
5
6
7
Vgl. etwa RGSt 6, 405; 19, 298; 21, 189; 33, 32; 54, 196; 61, 191, 194; weitere Nachweise bei Arthur Kaufmann, Das Unrechtsbewußtsein in der Schuldlehre des Strafrechts, 1949 (Neudruck 1985), S. 56 ff.; eingehende Übersicht über die Literatur bei
Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Aufl. 1931, § 59 Anm. III
(S. 188); v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 25. Aufl. 1927,
S. 249 f.
v. Liszt (Anm. 2), S. 178 f.
M. E. Mayer (Anm. 4), S. 322.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
223
Vorsatzschuld ausschließen - wobei freilich die Begründung dieses Ergebnisses regelmäßig nicht bei § 59 StGB, sondern in dem Gesichtspunkt gesucht wurde, daß der Motivationsdruck in einem solchen Fall nicht anders
sei als dann, wenn die entsprechende Annahme der Wirklichkeit entsprochen
hätte.8
Eine weitere gemeinsame Basis der älteren Lehre und Rechtsprechung bildete ferner die Einsicht, daß es neben diesen vorsatzschuldrelevanten Irrtümern eine Reihe von Irrtümern gibt, die die Vorsatzschuld eindeutig nicht
ausschließen und damit ohne jeden Einfluß auf die Strafbarkeit sind. Hierher
wurden vor allem der Irrtum über sogenannte objektive Bedingungen der
Strafbarkeit und über Prozeßvoraussetzungen, wie z.B. das Erfordernis eines
Strafantrags oder über die ein solches Erfordernis etwa begründenden Umstände (z.B. der Sohn nimmt an, der gestohlene Gegenstand gehöre seinem
Vater), gezählt.9 Bei den objektiven Bedingungen der Strafbarkeit war das
im Grunde nur die zwangsläufige Konsequenz der Vorsatzgelöstheit dieser
Merkmale; daß Irrtümer im Bereich der Prozeßvoraussetzungen nichts an der
Schuld gegenüber dem Gut zu ändern vermögen, war ebenso selbstverständlich.
Jenseits der eben angedeuteten - freilich nicht zu unterschätzenden - gemeinsamen Basis erweist sich die Irrtumslehre trotz des gemeinsamen systematischen Ausgangspunkts von Rechtsprechung und Lehre als ein überaus umstrittenes Teilfeld der strafrechtlichen Dogmatik. Sieht man von Randproblemen ab, so waren es vor allem drei Fragenkreise, in deren Beurteilung die
Auffassungen weit auseinandergingen.
3.
Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit
Der erste streitige Fragenkreis betraf die Bedeutung des Irrtums über die
Rechtswidrigkeit, das Verbotensein, der Tat. Die Rechtsprechung des
Reichsgerichts vertrat hier von Anfang an - in Übereinstimmung mit einer
zunächst auch in der Literatur stark verbreiteten Lehre10 - die Auffassung,
8
9
10
Vgl. etwa RGSt 57, 268, sowie Frank (Anm. 5), § 54 Anm. II (S. 166), und v. Liszt/
Schmidt (Anm. 5), S. 271 f., je mit weiteren Nachweisen.
Vgl. dazu im einzelnen Frank (Anm. 5), § 59 Anm. III vor 1 und 2 mit weiteren Nachweisen.
Vgl. etwa v. Liszt (Anm. 2), S. 175 ff., und die dortige eindrucksvolle Zusammenstellung älterer, auf der Linie des RG liegender Literaturaussagen.
224
Wolfgang Frisch
daß nicht nur der Irrtum über die Strafbarkeit, sondern auch der über die bloße Verbotenheit, die Rechtswidrigkeit oder Strafwürdigkeit des Verhaltens
gänzlich bedeutungslos sei.11 Es argumentierte dabei weitgehend positivistisch: Das Gesetz kenne als Strafausschließungsgrund im Irrtumsbereich
nur den Irrtum über Tatumstände, bestimmte weitergehende Vorschriften,
wie sie noch das preußische Landrecht enthalten hatte, seien weder in das
preußische Strafgesetzbuch als Vorläufer des Reichsstrafgesetzbuchs noch in
dieses selbst aufgenommen worden; daraus könne nur geschlossen werden,
daß dem Irrtum des Handelnden über die Verbotenheit und Strafbarkeit seines Handelns keine Bedeutung zukomme.12
In der Literatur wurde demgegenüber zunehmend die Auffassung vertreten,
daß eine solche Lösung grob ungerecht sei, weil nach ihr auch derjenige bestraft werde, der für seinen Irrtum über die Rechtswidrigkeit nichts könne.13
Zumindest der unverschuldete Irrtum über die Verbotenheit des Verhaltens
müsse aber zum Ausschluß der Bestrafung führen. Im übrigen waren die Ansichten in der Literatur freilich vielfältig gespalten.14 Die eine große Gruppe
forderte unter Berufung auf das Wesen der Vorsatzschuld, daß der Täter das
Bewußtsein gehabt haben müsse, Unrecht zu tun oder doch - so andere Vertreter dieser Gruppe - zumindest pflichtwidrig, sozialschädlich oder unsittlich zu handeln; der Vorsatz hatte sich danach also auch auf die Rechtswidrigkeit (oder die an ihre Stelle gesetzten Substrate) zu erstrecken. Diese
sogenannte Vorsatztheorie gelangte nicht nur in den Fällen des unvermeidbaren, sondern auch in denen des vermeidbaren Rechtsirrtums zum
Ausschluß der Vorsatzbestrafung; möglich war danach in Irrtumsfällen - bei
11
12
13
14
Vgl. etwa RGSt 15, 158, 159 mit Nachweisen älterer Entscheidungen. Eine eingehende Darstellung und kritische Analyse der reichsgerichtlichen Judikatur bis etwa zur
Jahrhundertwende enthält die Monographie von Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff, 1903, insbesondere S. 77 ff., 118 ff.; Überblicke auch über die spätere Judikatur
finden sich bei Frank (Anm. 5), § 59 Anm. III 2 (S. 186); Ebermayer/Lobe, Das
Reichsstrafgesetzbuch, 1920, § 59 Anm. 2; M. E. Mayer (Anm. 4), S. 325 ff., und Arthur Kaufmann (Anm. 5), S. 54 ff.
So im einzelnen RGSt 2, 269; kritisch zu dieser Argumentation Ebermayer/Lobe
(Anm. 11).
Vgl. statt vieler Beling, Grundzüge des Deutschen Strafrechts, 11. Aufl. 1930, S. 43 f.;
Binding, Grundriß des Deutschen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 1902, S. 97;
ebenso BayObLG HRR I (1925), S. 200.
Ein eingehender Überblick über die Stellungnahmen der Literatur findet sich - für die
damalige Zeit selbst - bei Frank (Anm. 5), § 59 Anm. III 2; v. Liszt/Schmidt (Anm. 5),
S. 242 f., und Mezger, Strafrecht, Ein Lehrbuch, 1931, S. 333 ff. Aus heutiger Sicht vgl.
insbesondere die eingehend referierende dogmengeschichtliche Arbeit von Tischler,
Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, 1984, S. 40 ff., 45 ff.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
225
Vermeidbarkeit des Irrtums und einem etwa verfügbaren Fahrlässigkeitsdelikt - allein eine Fahrlässigkeitsbestrafung.15 Die andere Gruppe kam zwar
gleichfalls in den Fällen des unvermeidbaren Irrtums zur Straflosigkeit; bei
vermeidbarem Irrtum wollte sie jedoch wegen vorsätzlicher Tat strafen,
wenn auch - im Blick auf den Irrtum - milder.16 Hintergrund dieser auf das
Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als Vorsatzbestandteil verzichtenden, zugleich aber auf die Ausfilterung der Fälle fehlender Schuld zielenden sogenannten Schuldtheorie war nicht zuletzt das Streben nach einer befriedigenden Ahndung in den Fällen der Rechtsfahrlässigkeit: Hier boten die wenigen
im StGB vorhandenen Fahrlässigkeitstatbestände bei einem Verzicht auf die
Vorsatzbestrafung in Fällen des vermeidbaren Irrtums keine befriedigende
Basis. Doch wurde - mit ähnlichem Anspruch wie von seiten der Vorsatztheorie,17 nur in anderer Richtung - auch mit dem "Wesen des überkommenen Vorsatzes" argumentiert.18
4.
Die Abgrenzung relevanter Tatumstands- von irrelevanten Rechtsirrtümern
Aber nicht nur die Behandlung des vom Reichsgericht dem Irrtum über Tatumstände entgegengesetzten Irrtums über das Unrechtliche der Tat war
lebhaft umstritten. Auch die genauere Abgrenzung des relevanten Tatumstandsirrtums vom irrelevanten (Rechts-)Irrtum bereitete Schwierigkeiten und war Gegenstand heftiger Kontroversen. Zwar war der Irrtum über
Tatumstände leicht faßbar, wenn er sich in Gestalt der Unkenntnis gewisser
Fakten zeigte, wenn also dem Täter schon gar nicht bewußt war, daß das
Objekt seines Handelns ein Mensch ist, er nicht wußte, daß sein Verhalten
zur Zerstörung der Sache eines anderen führen würde, usw. Erhebliche
Schwierigkeiten bereiteten jedoch - vor allem dem Reichsgericht - jene
Fälle, in denen nicht schon Faktenunkenntnis dem Täter die Dimension
oder den Sinngehalt seines Verhaltens verschleiert, sondern er das Geschehen falsch bewertet und deshalb geglaubt hatte, nichts Verbotenes zu tun.
15
16
17
18
In diesem Sinne z.B. Beling (Anm. 13), S. 45; Binding, GS 87 (1920), S. 113 ff.;
Mezger (Anm. 14), S. 331 ff. (dort auch weitere Nachweise).
So z.B. Frank (Anm. 5), § 59 Anm. III 2 (S. 186 f.); v. Hippel, Deutsches Strafrecht,
Bd. II, 1930, S. 342, 346 ff.; M. E. Mayer (Anm. 4), S. 319 ff.; im selben Sinne auch
eine Reihe der Entwürfe, z.B. § 20 Abs. 2 E 1930.
Vgl. etwa die Argumentation bei Beling (Anm. 13), S. 44 ff., und Mezger (Anm. 14),
S. 335, 338.
Siehe etwa Frank (Anm. 5), § 59 Anm. III 2 (S. 187).
226
Wolfgang Frisch
Denkbar sind Fehlwertungen dieser Art insbesondere im weiten Bereich der
sogenannten normativen Tatbestandsmerkmale, die vielfach auf andere Teile
der Rechtsordnung Bezug nehmen oder vor dem Hintergrund bestimmter
Wertmaßstäbe des Soziallebens zu sehen und anhand deren zu konkretisieren
sind. Wie also beispielsweise, wenn der Täter wegen Verkennung der zivilrechtlichen Rechtslage die Fremdheit der weggenommenen Sache oder wegen der Verkennung steuerrechtlicher Normen eine in concreto bestehende
Steuerschuld nicht erfaßt hat, wenn er die Zuständigkeit einer Stelle zur Abnahme von Eiden nicht kennt oder die Striche auf dem Bierfilz nach eigenem
Bekunden niemals für eine Urkunde gehalten hat?
Das Reichsgericht versuchte eine Beantwortung dieser Frage dadurch zu erreichen, daß es zwar einerseits an seiner These von der Irrelevanz des Irrtums über das Unrechtliche der Tat festhielt, andererseits aber doch die
dem Rechtsgefühl widersprechende Anerkennung nur des reinen Tatsachenirrtums als eines vorsatzausschließenden Irrtums vermeiden konnte. Es
sah eine gangbare Lösung zur Verwirklichung dieser Ziele in der Distinktion von strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Irrtum: Nur der Irrtum
über die strafrechtliche Norm selbst, also insbesondere der die Existenz und
Weite bestimmter strafrechtlicher Tatbestände betreffende Irrtum, sollte irrelevant sein; Irrtümer, die sich auf außerstrafrechtliche, etwa zivilrechtliche oder verwaltungsrechtliche Vorschriften bezogen, sollten den Vorsatz
dagegen genauso ausschließen wie echte Tatsachenirrtümer.19 Auf dieser
Basis wurde z.B. der Irrtum über die Fremdheit der weggenommenen Sache
aufgrund einer Verkennung der zivilrechtlichen Rechtslage als vorsatzausschließender Irrtum angesehen,20 ebenso der Irrtum über das Bestehen einer steuerrechtlichen Abgabepflicht bei bestimmten Vorgängen.21 Freilich
geriet das Reichsgericht bei der Durchführung dieses Grundsatzes in
erhebliche Schwierigkeiten und verstrickte sich auch in offensichtliche
Widersprüche - so wenn es den Irrtum über eine öffentlich-rechtliche
Abgabepflicht als außerstrafrechtlichen, den Irrtum über das Bestehen einer
19
20
21
In diesem Sinne z.B. RGSt 42, 26, 142, 357; 46, 6, 9 f.; 54, 4; eingehende weitere
Nachweise bei Kohlrausch (Anm. 11), S. 118 ff.; v. Liszt/Schmidt (Anm. 5), S. 239
Anm. 5; Mezger (Anm. 14), S. 335 ff.; Arthur Kaufmann (Anm. 5), S. 50 ff., 52 ff.
(dort - S. 51 - auch zu älteren Wurzeln dieser Distinktion), und Schlüchter, Irrtum über
normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, 1983, S. 40 f.
Zum Irrtum über die Eigentumsverhältnisse siehe z.B. RG GA 22 (1874), S. 495; zum
Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Zueignung RGSt 49, 143.
Vgl. etwa RG GA 23 (1875), S. 492.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
227
Buchführungspflicht aber als strafrechtlichen Irrtum qualifizierte,22 oder
wenn es Irrtümer über Regeln im Bereich des zivilrechtlichen Eigentums im
allgemeinen als außerstrafrechtliche Irrtümer, in manchen Fällen aber als auf
strafrechtlichem Gebiet liegende Fehlvorstellungen einstufte.23
Im Schrifttum wurde dieser Lösungsansatz dementsprechend praktisch einhellig mit dem Argument der Undurchführbarkeit, aber auch der fehlenden
sachlichen Fundiertheit abgelehnt.24 Man konzedierte dem Reichsgericht
allenfalls, meist ein sachgerechtes Ergebnis gefunden zu haben, was aber
nicht der Leitfähigkeit des Ansatzes, sondern im Gegenteil dem Umstand zu
verdanken sei, daß man je nach für richtig gehaltenem Ergebnis den Irrtum
leicht als strafrechtlichen oder außerstrafrechtlichen Irrtum aufmachen
konnte.25 Statt der als unbrauchbar apostrophierten Qualifikation des Irrtums als strafrechtlich oder außerstrafrechtlich wurde hier danach gefragt,
ob der Täter jene Tatsachen und rechtlichen Beziehungen erfaßt habe, "welche das Interesse-Verletzende oder Interesse-Gefährdende der Handlung begründen",26 also die den jeweiligen Tatbeständen zugrundeliegenden
"Lebenskonkreta".27 Dafür sei nicht die Subsumtion der erfaßten Fälle unter
die Gesetzesbegriffe erforderlich - denn sonst könnte nur der Jurist ein Delikt begehen. Wohl aber müsse der Täter die im Blick auf die jeweiligen
Tatbestände maßgebliche Bedeutung der Tatumstände und seines Verhaltens erfaßt haben. Er müsse, mit anderen Worten, in seiner persönlichen Gedankenwelt diese Tatumstände so eingeschätzt haben, wie es der maßgebenden gesetzlich-richterlichen Würdigung in den wesentlichen Punkten
22
23
24
25
26
27
Siehe etwa RGRspr. 8, 127.
So RG GA 40 (1892), S. 149 (im Falle eines Irrtums über eine Dereliktion). - Weitere
Nachweise zu nur schwer miteinander verträglichen Entscheidungen bei M. E. Mayer
(Anm. 4), S. 326; Mezger (Anm. 14), S. 329 f., und Schlüchter (Anm. 19), S. 40 f.
Grundlegend insoweit die eingehende Kritik von Kohlrausch (Anm. 11), S. 119 ff.,
dem das Schrifttum sachlich weitgehend folgte; vgl. etwa Beling (Anm. 13), S. 44 f.;
Frank (Anm. 5), § 59 Anm. II; Mezger (Anm. 14), S. 336 ff.; Ebermayer/Lobe
(Anm. 11), § 59 Anm. 7 b; v. Liszt/Schmidt (Anm. 5), S. 239 f. Einen umfassenden
Überblick über die Stellungnahmen der Literatur der damaligen Zeit - insbesondere
zur Judikatur des Reichsgerichts - bietet die dogmengeschichtliche Arbeit von Tischler
(Anm. 14), S. 43 f., 45 ff.
In diesem Sinne etwa Köhler, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1917, S. 299;
ähnlich schon Kohlrausch (Anm. 11), S. 181. Siehe im übrigen die Zusammenstellung
bei Tischler (Anm. 14), S. 44.
So etwa Frank (Anm. 5), § 59 Anm. II 1; ähnlich Köhler (Anm. 25), S. 295, 305,
310 ff.
In diesem Sinne etwa v. Liszt/Schmidt (Anm. 5), S. 240.
228
Wolfgang Frisch
entspricht.28 Wo eine solche - oft als Parallelwertung in der Laiensphäre bezeichnete29 - Beurteilung stattgefunden habe, sei der Vorsatz gegeben; ein
Irrtum sei hier regelmäßig ein unbeachtlicher Subsumtionsirrtum (es sei
denn, der Täter irrt sich zusätzlich über das Verbotensein des Verhaltens).
Fehlt dagegen diese spezifische Bedeutungskenntnis, so entfalle notwendigerweise auch der Vorsatz und damit die Vorsatzschuld.
5.
Der Irrtum im Bereich der Rechtfertigung
Die eben geschilderten Kontroversen zum Irrtum über das Verbotensein des
Verhaltens überhaupt und zu den Irrtümern im Bereich der wertausfüllungsbedürftigen Tatbestandsmerkmale setzten sich im Bereich der
Rechtfertigungsgründe fort. Zwar wurde der Irrtum über deren tatsächliche
Voraussetzungen - z.B. die irrtümliche Annahme eines Angriffs -, wie schon
erwähnt, fast einhellig als die Vorsatzschuld ausschließender Tatumstandsirrtum angesehen. Die irrige Annahme bestimmter Rechtfertigungssätze oder
die Überdehnung von Erlaubnisnormen wurde dagegen ähnlich unterschiedlich behandelt wie der Irrtum über die Verbotenheit des Verhaltens
und der Irrtum im Wertungsbereich normativer Tatbestandsmerkmale: Für
das Reichsgericht war entscheidend, ob der den Erlaubnissatz betreffende
Irrtum ein strafrechtlicher oder ein außerstrafrechtlicher war. Dabei sollte
die Annahme eines überhaupt nicht existierenden Rechtfertigungsgrundes
einen strafrechtlichen Irrtum darstellen;30 bei einer Überdehnung existierender Rechtfertigungsgründe sollte es darauf ankommen, ob diese im
Strafrecht geregelt waren (dann ein unbeachtlicher strafrechtlicher Irrtum;31
Beispiel: der Glaube an die Zulässigkeit von Notwehr gegen zukünftige An-
28
29
30
31
So später Mezger, Deutsches Strafrecht, Ein Grundriß, 2. Aufl. 1941, S. 106; ganz
ähnlich zuvor schon Kohlrausch (Anm. 11), S. 23, 185, 187: Kenntnis der Eigenschaften der Handlung (bzw. der Bewertung der Tat), derentwegen der Gesetzgeber sie
mit Strafe bedroht hat.
Zurückgehend auf Mezger, JW 1927, 2006 (Nr. 19); siehe auch derselbe, Festschrift
für Träger, 1926, S. 225 ff. Eine eingehende, auch die viel älteren Wurzeln aufdeckende Untersuchung des Erfordernisses der Parallelbeurteilung findet sich in Arthur Kaufmanns Monographie "Die Parallelwertung in der Laiensphäre", 1982. Siehe ferner die
literarischen Nachweise bei Tischler (Anm. 14), S. 92 Fn. 35.
In diesem Sinne RGSt 4, 98; 61, 242, 258.
So RGSt 4, 98; siehe ergänzend Arthur Kaufmann (Anm. 5), S. 58.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
229
griffe) oder außerhalb desselben, wie z.B. das Recht zum Waffengebrauch hier sollte es sich um einen vorsatzausschließenden Irrtum handeln.32
Wie schon die Grundlagen dieser Konkretisierung für den Irrtum über Rechtfertigungssätze wurden in der Literatur auch diese Konkretisierungen abgelehnt. Unvermeidbare und damit zu entschuldigende Irrtümer wurden hier
genauso als die Vorsatzschuld ausschließend angesehen wie unvermeidbare
Irrtümer über die Verbotenheit des Verhaltens überhaupt.33 Im übrigen findet sich eine Fortsetzung der schon im Normalfall des Irrtums über die
Rechtswidrigkeit begegnenden Positionen zur Relevanz des Rechtsirrtums:
Für die eine Auffassung - sogenannte Vorsatztheorie - war der Vorsatz bei
irriger Annahme von Erlaubnissätzen oder deren Überdehnung generell ausgeschlossen; mangels Vorsatzschuld kam hier allenfalls (d.h. bei Existenz
eines Fahrlässigkeitstatbestands und Vermeidbarkeit des Irrtums in concreto)
Fahrlässigkeitsbestrafung in Betracht - womit der Fall des Irrtums über
Rechtfertigungssätze ebenso behandelt wurde wie der Irrtum über Rechtfertigungssachverhalte (und damit auch Tatumstände).34 Die andere Auffassung
- sogenannte Schuldtheorie - schloß die Bestrafung wegen eines Vorsatzdelikts hier nur bei unvermeidbarem Irrtum aus; bei Vermeidbarkeit des Irrtums sollte entsprechend dem (geminderten) Maß der Schuld aus dem Vorsatzdelikt bestraft werden können35 - der Irrtum über Rechtfertigungssätze
wurde insoweit also anders als der Irrtum über Tatumstände und (darin eingeschlossen) rechtfertigende Sachverhalte behandelt.
6.
Zusammenfassung
Im Sinne einer kurzen Zwischenbilanz läßt sich damit die Einschätzung des
Irrtums seitens der älteren Lehre und Rechtsprechung wie folgt charakterisieren: Der Irrtum war als möglicher Grund für den Ausschluß der Vorsatzschuld anerkannt. Dabei bestand - vorgezeichnet vor allem durch § 59 StGB
a.F. - Einigkeit über die Behandlung des Tatsachenirrtums; er wurde als
vorsatzausschließend qualifiziert - und zwar nicht nur hinsichtlich tatbe32
33
34
35
So RGSt 33, 71, 74; 42, 142, 144; 59, 404, 408; weitere Differenzierungen verwendete
das Reichsgericht im Zusammenhang mit dem Züchtigungsrecht, vgl. die Übersicht
bei Arthur Kaufmann (Anm. 5), S. 57.
Vgl. etwa Frank (Anm. 5), § 59 Anm. III 2 (S. 187).
In diesem Sinne z.B. Beling (Anm. 13), S. 47; v. Liszt/Schmidt (Anm. 5), S. 250 f. mit
weiteren Nachweisen (auch zur Linie der Entwürfe in dieser Frage).
So z.B. Frank (Anm. 5), § 59 Anm. III 2 (S. 187); M. E. Mayer (Anm. 4), S. 319 ff.
230
Wolfgang Frisch
standsrelevanter, sondern (fast einhellig) auch hinsichtlich rechtfertigungsund entschuldigungsrelevanter Tatsachen. Kontrovers war dagegen die Behandlung von Irrtümern, wenn der Täter die an sich richtig erfaßten Fakten
falsch bewertete - sei es, daß ihm im Bereich einzelner Tatbestandsmerkmale
eine Fehlbewertung unterlief, sei es, daß er über die Verbotenheit der Tat
überhaupt oder deren Gedecktheit durch Erlaubnissätze irrte. Die Rechtsprechung - vor allem - des Reichsgerichts versuchte hier eine Lösung, indem sie
zwischen irrelevanten strafrechtlichen und die Vorsatzschuld ausschließenden außerstrafrechtlichen Irrtümern unterschied. Im Schrifttum wurde dagegen die Vorsatzschuld zunehmend als ausgeschlossen angesehen, wenn der
Täter infolge eines Wertungsfehlers das Interesse-Verletzende seiner Handlung, deren in diese Richtung weisende Bedeutung, nicht erfaßt hatte, darüber hinaus - auch bei Erfassung dessen -, wenn er unvermeidbar über die
Verbotenheit (bzw. Erlaubtheit) seines Verhaltens irrte; bei vermeidbaren
Irrtümern dieser Art bestand Streit über die Adäquität der Bestrafung der
reduzierten Schuld im Rahmen der Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsdelikte. Unbestritten war dagegen in den ersten Jahrzehnten der Geltung des Reichsstrafgesetzbuchs, daß sich Irrtümer des Täters nicht unrechtsausschließend
auswirken. Sie konnten es nicht, weil das Unrecht in subjektiver Hinsicht
nichts forderte, rein objektiv konstituiert war. Eine Änderung in dieser systematischen Einschätzung der Irrtümer konnte erst eintreten, als das Unrecht selbst dem Subjektiven geöffnet, subjektive Inhalte als unrechtsbegründende Elemente anerkannt wurden.
II.
1.
Subjektivierungen des Unrechts und ihre Bedeutung für die
Irrtumsdiskussion
Die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs
Der Sache nach findet sich eine solche Anerkennung subjektiver Inhalte als
unrechtsbedeutsam vor allem in der Rechtsprechung im Grunde schon früh.
Sie begegnet insbesondere in den Stellungnahmen des Reichsgerichts zur
Strafbarkeit des untauglichen Versuchs. Das Reichsgericht hatte sich bekanntlich seit der Entscheidung der Vereinigten Senate im ersten Band36
zur Strafbarkeit auch des Versuchs bekannt, der mit untauglichen Mitteln
unternommen oder am untauglichen Objekt ausgeführt wird - man denke
36
RGSt 1, 439 ff.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
231
etwa an den Abtreibungsversuch der Nichtschwangeren oder den Schuß auf
den in Wahrheit schon Verstorbenen.37 Es ist evident, daß sich diese - vom
Reichsgericht u.a. historisch begründete - Auffassung auf der Basis eines Systems, das als Wesen des Unrechts die Güterbeeinträchtigung oder die reale
Gütergefährdung bzw. ein hierzu geeignetes Verhalten ansieht, nicht halten
läßt; denn wenn das Objekt dem Angriff nicht zugänglich ist, kann es ebensowenig gefährdet werden wie bei einem Einsatz untauglicher Mittel. Haltbar ist die Judikatur des Reichsgerichts, jedenfalls wenn man als Grund für
eine Bestrafung Unrecht fordert, von vornherein nur, wenn man anerkennt,
daß Unrecht auch rein subjektiv begründet sein kann: weil bestimmte, an
sich harmlose Handlungen auf der Basis bestimmter Vorstellungen oder mit
bestimmten Zielen begangen werden. Die Annahme der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs ist daher der Sache nach Anerkennung eines vom Subjektiven her begründeten Unrechts. Hätte das Reichsgericht seine Sachannahme, daß die Betätigung des deliktischen Vorsatzes strafbares Unrecht
ist, auf das vollendete Vorsatzdelikt übertragen, so hätte es annehmen müssen, daß der Irrtum, der den Vorsatz ausschließt, sich auch schon im Bereich
des Unrechts auswirkt - nämlich diesen Teil des Vorsatzunrechts entfallen
läßt.
Freilich zog das Reichsgericht diesen Schluß noch nicht einmal selbst: In der
Grundentscheidung RGSt 1, 439 heißt es vielmehr ausdrücklich, daß bei der
vollendeten Tat "diejenige Erscheinung", "gegen welche das Strafgesetz sich
richtet", der "in der Vollendung zutage tretende ... rechtswidrige Erfolg"
sei.38 Und in der Lehre sah man einen Anlaß, aus der Judikatur des Reichsgerichts zur Strafbarkeit des untauglichen Versuchs Konsequenzen im Sinne
einer Umgestaltung der Unrechtslehre und eines Verständnisses gewisser
Irrtümer als unrechtsausschließend zu ziehen, schon deshalb nicht, weil man
gerade umgekehrt die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs selbst mit
Vehemenz wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem objektiven Charakter des
Unrechts bekämpfte.39 Die ersten, nicht systematisch aufgearbeiteten bzw.
37
38
39
So RGSt 1, 451. - Eine instruktive Darstellung der Rspr. des RG findet sich bei Mezger (Anm. 14), S. 389 f., dort auch - S. 388 (mit weiteren Nachweisen) - zur Entwicklung der subjektiven Versuchstheorie. Zur Diskussion um die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs siehe ferner Baumgarten, Die Lehre vom Versuche des Verbrechens,
1888; P. Albrecht, Der untaugliche Versuch, 1973, und Schönwandt, Grundlagen der
Strafbarkeit des untauglichen Versuchs, 1975.
RGSt 1, 441.
Vgl. etwa Beling (Anm. 13), S. 58 f.; Frank (Anm. 5), § 43 Anm. I (S. 84 f.); v. Liszt/
Schmidt (Anm. 5), S. 302 ff.; M. E. Mayer (Anm. 4), S. 354 ff.; Mezger (Anm. 14),
232
Wolfgang Frisch
entschieden bekämpften Niederschläge einer Subjektivierung des Unrechts
in Gestalt des reichsgerichtlichen Bekenntnisses zur Strafbarkeit des untauglichen Versuchs blieben daher auf die Irrtumslehre ohne Einfluß.
2.
Die Lehre von den subjektiven Unrechtselementen
Aber auch die in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts aufkommende
Lehre von der Existenz sogenannter subjektiver Unrechtselemente blieb für
die Irrtumslehre - zumindest direkt - so gut wie bedeutungslos. Zwar wurde
die Entdeckung derartiger spezieller subjektiver Unrechtselemente als Charakteristika einer Reihe von Einzeltatbeständen durch Fischer, Hegler und
Mezger40 in der Lehre der zwanziger und dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts trotz einer Reihe kritischer Stellungnahmen insgesamt doch weit positiver aufgenommen als das reichsgerichtliche Bekenntnis zur Strafbarkeit
des untauglichen Versuchs seitens der älteren Lehre.41 Es lag also hier nicht
an der mangelnden Durchsetzungskraft der neuen These, daß sie ohne Einfluß auf die systematische Behandlung von Irrtümern blieb. Eher schon
könnte man geneigt sein, dafür den Umstand verantwortlich zu machen, daß
die subjektiven Unrechtselemente auch dort, wo sie anerkannt wurden,
doch eher den Stempel der Ausnahmeerscheinung trugen und deshalb nicht
geeignet waren, ein Umdenken in der großflächigeren Irrtumslehre zu bewirken. Doch ist auch das noch nicht der eigentliche Grund dafür, daß mit
der allmählichen Rezeption der Lehre von den subjektiven Unrechtselementen keine direkten Änderungen in der Irrtumslehre, insbesondere in der
systematischen Einschätzung von Irrtümern als Schuldausschließungsgründe, verbunden waren. Der tiefere Grund liegt im spezifischen Zuschnitt
der sogenannten subjektiven Unrechtselemente. Als typische Ausprägungsformen solcher subjektiven Unrechtselemente wurden in der Regel bestimmte Zielsetzungen, also Absichten - wie z.B. die Zueignungsabsicht
beim Diebstahl -, oder bestimmte Tendenzen - wie z.B. die sexuelle Tendenz bei geschlechtsbezogenen Handlungen - genannt.42 Bei Merkmalen
40
41
42
S. 387 ff., 395 ff. - Jenseits der Ablehnung der subjektiven Theorie bestanden dabei
freilich in der Lehre selbst wiederum erhebliche Divergenzen, über die hier nicht im
einzelnen berichtet werden kann (siehe dazu etwa Mezger, a.a.O., S. 392 ff.).
Vgl. H. A. Fischer (Anm. 1), S. 138 ff., 142 ff.; Hegler, ZStW 36 (1914), S. 19 ff.;
Mezger, GS 89 (1924), S. 207 ff.; derselbe, Festschrift für Träger, S. 187 ff.
Eine Zusammenfassung der Anschlußdiskussion findet sich bei Sieverts, Beiträge zur
Lehre von den subjektiven Unrechtselementen im Strafrecht, 1934; aus neuerer Zeit
insbesondere Zielinski (Anm. 1), S. 27 ff. mit weiteren Nachweisen.
Vgl. etwa Mezger, GS 89 (1924), S. 260; derselbe, Festschrift für Träger, S. 206.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
233
dieser Art pflegt sich aber das Irrtumsproblem nicht unmittelbar zu stellen,
weil sie ihrem Wesen nach als subjektive Setzungen erscheinen. Auswirkungen sind allenfalls in mittelbarer Weise denkbar - etwa wenn der, der eine
fremde Sache wegnimmt, irrig von seinem Eigentum ausgeht und sich nun in
bezug auf ihn die Frage der Zueignungsabsicht stellt. Indessen ist man in
solchen Fällen wohl geneigt, ohne große Vertiefung der Auswirkungen auf
die allgemeine Irrtumslehre kurzerhand die Zueignungsabsicht zu verneinen.
Daß diese Verneinung eines subjektiven Unrechtselements infolge einer
Fehlvorstellung erfolgt, die systematisch lediglich ein Schulddefizit bezeichnen soll, blieb daher weitgehend unbemerkt - und damit auch die Friktion,
die in der Verneinung eines sachlogisch vorrangigen Verbrechenselements
(des subjektiven Unrechtselements) mit Hilfe des Defizits im Bereich eines
(angeblich) nachrangigen Elements (der Schuld) liegt. Sie konnte im Grunde
erst dem auffallen, der die Zugehörigkeit des Vorsatzes zur Schuld selbst
schon in Zweifel zog und gewissermaßen im inzwischen Anerkannten (der
Lehre von den subjektiven Unrechtselementen) nur noch nach Belegen
suchte, um die in Zweifel gezogene These falsifizieren zu können.
3.
Allgemeinere subjektive Entwürfe des Unrechts
a) Stimmen dieser Art begegnen erstmals dezidiert gegen Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts. In seinem 1929
erschienenen "Grundriß des tschechoslowakischen Strafrechts" sowie in
mehreren Aufsätzen und der Schrift "Zum Aufbau des Strafrechtssystems"
stellte zunächst vor allem Hellmuth v. Weber dem objektiven ein subjektives
Unrecht zur Seite: Unrecht - so die Kernthese - könne nicht nur in der ursächlichen Herbeiführung der Güterverletzung, also in ursächlichem Verhalten, sondern ebenso in vorsätzlichem Verhalten liegen.43 Die Unrechtsform des vorsätzlichen Verhaltens zeige sich in reiner Form vor allem im
Versuch (während das vollendete Erfolgsdelikt eine Zusammensetzung der
verschiedenen Formen sei). Die fast zwangsläufige Ablehnung der subjektiven Versuchstheorie des Reichsgerichts durch eine sich an die Objektivität
des Unrechts klammernde Lehre war damit konstruktiv überwunden; das
als irregulär Empfundene war nunmehr auch systematisch fundiert.44 Ähnliche Aussagen finden sich bei einer Reihe anderer Autoren, insbesondere
43
44
Vgl. insbesondere H. v. Weber, Zum Aufbau des Strafrechtssystems, 1935, S. 10 ff.
(S. 11 Fn. 6 auch Hinweise auf weitere Arbeiten).
Wovon bei gleichzeitigem Festhalten an einem rein objektiven Unrechtsbegriff keine
Rede hätte sein können.
234
Wolfgang Frisch
bei Graf zu Dohna.45 Eine Weiterführung und Vertiefung durch die Einbettung in eine philosophisch und psychologisch fundierte Handlungstheorie
erfuhren diese zunächst unabhängig von solchen theoretischen Abstützungen
entwickelten Gedanken dann vor allem durch die Forschungen Welzels und
die finale Handlungslehre.46 In ihnen wurde als Wesenselement menschlichen Handelns die Finalität, die Ausrichtung des menschlichen Willens auf
bestimmte Ziele, herausgestrichen. Diese Einsicht wurde für das Verständnis
der strafrechtlichen Tatbestände fruchtbar gemacht: Auch das in diesen gefaßte unrechte Verhalten sei finales Verhalten. Dabei werde das von den
Vorsatzdelikten erfaßte unrechte Verhalten gerade durch diese Finalität charakterisiert: "Die Tathandlungen vorsätzlicher Tatbestände sind finale Akte;
sie können gar nicht in bloß kausale Verursachungen aufgelöst werden, ohne
ihren spezifischen Tatsinn einzubüßen."47 In extensionaler Hinsicht wurde
diese Finalität dabei mit den tradierten Vorsatzformen verkoppelt, indem der
Vorsatz als Moment der finalen Tatherrschaft begriffen wurde. In den Vorsatztatbeständen kennzeichnete und verbot die Rechtsordnung danach
Handlungen, "bei denen der Verwirklichungswille ('Vorsatz') auf die Verwirklichung eines sozial unerwünschten Zustands oder Vorgangs ('= Erfolg')
gerichtet ist, gleichgültig, ob dieser Erfolg das Ziel, das Mittel oder die Nebenfolge der Handlung ist".48
b) Die Konsequenzen dieser in der Folgezeit als sogenannte personale Unrechtslehre mehr und mehr Anhänger gewinnenden Auffassungen für die systematische Einschätzung gewisser Irrtümer sind offensichtlich. Da der Vorsatz nunmehr das tatbestandlich gefaßte unrechte Verhalten selbst kennzeichnete, berührten vorsatzausschließende Irrtümer nicht erst die Schuld,
sondern schlossen bereits das spezifische Unrecht der Vorsatzdelikte aus;49
der Ausschluß der Vorsatzschuld war nur die selbstverständliche Konse45
46
47
48
49
Vgl. Graf zu Dohna, ZStW 52 (1932), S. 96 ff., 105; derselbe, MschrKrimPsych 25
(1934), S. 177 ff., und insbesondere derselbe, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 1936,
S. 22 ff., wo der Vorsatz aus der Schuld gelöst und in die Lehre vom Tatbestand eingestellt wird.
Vgl. schon Welzel, ZStW 51 (1931), S. 703 ff., sowie insbesondere derselbe, ZStW 58
(1938), S. 491 ff., 505 ff.; derselbe, Der Allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts,
1940, S. 21 ff., 26 ff., 39 ff. - Zu Unterschieden in den Systemkonzeptionen Graf zu
Dohnas und Welzels jüngst Spendel, Festschrift für Tröndle, 1989, S. 100 f.
Welzel, Der Allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 1940, S. 28.
So etwa Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 37 (der Sache nach auch
schon früher).
Vgl. nur H. v. Weber (Anm. 43), S. 16, 23; Welzel (Anm. 47), S. 40, 44; derselbe,
ZStW 58 (1939), S. 524 f.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
235
quenz des Fortfalls des in den Vorsatzdelikten vorausgesetzten spezifischen
Gegenstands des (Vorsatz-)Schuldvorwurfs. Damit wurde, von den Vertretern der neuen Lehre ausdrücklich vermerkt,50 auch der Bruch hinfällig, der
sich ergibt, wenn man zwar subjektive Unrechtselemente, wie z.B. die Zueignungsabsicht, anerkennt, das für solche Elemente unverzichtbare Wissen
(um die Fremdheit der Sache, die Wegnahme) aber der Schuld zuweist.
Freilich warf die neue Sicht auch neue Fragen und Probleme auf. Solange
man Irrtümern Auswirkungen allein im Bereich der Vorsatzschuld zugestanden hatte, konnte man sich darauf beschränken zu fragen, welche Irrtümer vorsatzausschließend wirken sowie unter welchen Voraussetzungen
ihnen diese Wirkung zukommt. Die neue Sicht zwang zur Beantwortung einer weiteren Frage: Klärungsbedürftig war nunmehr auch, welche Irrtümer
sich "bereits" unrechtsausschließend auswirken und welche "erst" Einfluß
auf die Schuld gewinnnen. Diese Frage wurde auch von den Vertretern der
neuen Sicht nicht völlig einheitlich beantwortet.
c) Zwar war man sich über manches einig: Unrechtsausschließend wirkten
jene Irrtümer, die gewissermaßen den Kernbereich des bisherigen vorsatzschuldausschließenden Tatumstandsirrtums ausmachen - nämlich die Irrtümer über Tatumstände, die in den Bereich der unrechtsbegründenden Tatbestandsmerkmale gehören. Wer solche Umstände nicht kennt, verwirkliche
von vornherein nicht das spezifische Unrecht des jeweiligen Vorsatzdelikts.
Wer diese Umstände andererseits kennt und nur meint, sein Verhalten sei
nicht verboten, habe das jeweilige subjektive Unrecht verwirklicht; sein Irrtum, nichts Verbotenes (oder etwas Erlaubtes) zu tun, könne allenfalls die
Schuld berühren, nämlich bei Unvermeidbarkeit dem Schuldvorwurf die
Grundlage entziehen.51 Desgleichen könne sich die irrtümliche Annahme eines entschuldigenden Sachverhalts niemals auf das Vorhandensein des Vorsatzunrechts auswirken, sondern wiederum allenfalls die Möglichkeit eines
Schuldvorwurfs entfallen lassen oder zur Annahme geminderter Schuld führen.52
50
51
52
Vgl. Welzel (Anm. 47), S. 30.
Graf zu Dohna, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 1936, S. 49 ff.; H. v. Weber
(Anm. 43), S. 22 ff.; Welzel (Anm. 47), S. 64 f.
Vgl. etwa - nach Aufgabe seiner früheren Annahme von der prinzipiell rechtfertigenden Wirkung des Notstands - Welzel, ZStW 67 (1955), S. 222; siehe auch schon Grünhut, ZStW 52 (1932), S. 130.
236
Wolfgang Frisch
In systematischer Hinsicht wie im rechtspraktischen Ergebnis kontrovers
wurde dagegen von Anfang an der Fall behandelt, in dem der Täter deswegen über die Verbotenheit seines Verhaltens irrt, weil er irrig vom Gegebensein einer rechtfertigenden Sachlage ausgeht. Die eine Auffassung ging
hier - wie die zuvor ganz herrschende Meinung - dahin, daß es sich um einen
Irrtum über rechtfertigende Tatumstände handle, der den Vorsatz ebenso
ausschließe wie die Unkenntnis unrechtsbegründender Tatumstände; freilich
wurde dem Irrtum im Gegensatz zur bisherigen Sicht bereits unrechtsausschließende Bedeutung beigemessen: es fehle hier am sogenannten subjektiven Unrecht.53 Die Gegenansicht warf dieser Betrachtung eine verfehlte
Orientierung an dem Gegensatz "Tatirrtum - Rechtsirrtum" vor; sie sah das
Vorsatzunrecht deshalb als gegeben an, weil der Täter ja vorsätzlich, final,
den Tatbestand verwirklicht habe. Da der Irrtum nicht den Tatbestand, sondern - wenn auch aus tatsächlichen Gründen - die Rechtswidrigkeit betreffe,
handele es sich um einen (Verbots-)Irrtum, der sich allenfalls auf die Schuld
auswirken könne, nämlich bei Unvermeidbarkeit schuldausschließend, ansonsten aber nur schuldmindernd wirke, also Raum für die Bestrafung wegen
einer vorsätzlichen Tat lasse.54
Die vorstehenden Bemerkungen zeigen, daß die durch die neue Sicht bewirkten Änderungen in der Bewertung von Irrtümern allein den systematischen Aspekt betreffen. Die rechtspraktischen Ergebnisse halten sich im
Rahmen schon bisher vertretener Auffassungen. Das gilt sogar für die Qualifikation des Irrtums über rechtfertigende Sachlagen als nur und auch nur
im Falle der Unvermeidbarkeit schuldausschließend und die Bestrafung wegen einer Vorsatztat im Falle eines vermeidbaren Irrtums dieser Art; sie
war im Rahmen der älteren Straftatsystematik schon von M. E. Mayer vertreten worden.55 Der damit vielleicht naheliegende Schluß, das neue Bild
würde in der Irrtumslehre ein Randthema bleiben, wird durch die Entwicklung der Folgezeit eindrucksvoll widerlegt. Unter dem Eindruck grundsätzlicher strafrechtstheoretischer Diskussionen, aber auch im Blick auf gewisse
Fernwirkungen der Qualifikation bestimmter Irrtümer als "schon" (vor-
53
54
55
In diesem Sinne H. v. Weber (Anm. 43), S. 17, 24.
Graf zu Dohna (Anm. 51), S. 51 f.; Welzel (Anm. 47), S. 65. - Zur "vertikalen" (straftatsystematisch orientierten) Irrtumslehre Graf zu Dohnas und Welzels näher auch
Kuhlen, Die Unterscheidung zwischen vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum, 1987, S. 133 ff., 139 ff.
Siehe die Nachweise oben Anm. 35.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
237
satz-)unrechtsausschließend oder "erst" schuldausschließend56 wurde die systematische Einordnung des Irrtums hier vielmehr zu einem Zentralthema
der strafrechtsdogmatischen Diskussion. Das führt weiter zum heutigen Bild
der Irrtumslehre.
III.
Das heutige - heterogene - Bild der Irrtumslehre in Deutschland
1.
Erledigung alter Streitfragen und Eröffnung neuer Streitfronten
a) Das gegenwärtige Bild der Irrtumslehre in Deutschland ist im Grundsätzlichen zunächst dadurch gekennzeichnet, daß einige der in der älteren
Rechtsprechung und Lehre umstrittenen Fragen sich heute erledigt oder einen Teil ihrer Bedeutung eingebüßt haben.
Erledigt hat sich der Streit über die Frage, ob auch der unvermeidbare Irrtum über das Verbotensein der Tat irrelevant ist, wie das Reichsgericht dies
bis zum Schluß unter heftiger Kritik der Lehre behauptet hatte. In seiner
grundsätzlichen Entscheidung aus dem Jahre 1952 gab der BGH die Position des Reichsgerichts auf, ersetzte die Unterscheidung von Tat- und
Rechtsirrtum durch die Distinktion von Tatbestands- und Verbotsirrtum
und stellte darauf aufbauend die schuldausschließende Wirkung des unverschuldeten Verbotsirrtums klar57 - ein Bekenntnis zur Schuldtheorie, das inzwischen in § 17 Satz 1 StGB gesetzlich festgeschrieben ist. Da mit dieser
Sicht auch der Unterscheidung zwischen irrelevanten strafrechtlichen und
relevanten außerstrafrechtlichen Irrtümern die Basis entzogen war, verwarf
der BGH zugleich diese Distinktion des Reichsgerichts als Formel zur Abgrenzung irrelevanter von relevanten Irrtümern;58 in späteren Entscheidungen bekannte er sich für die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtümern - zumindest verbal - zu der dem Reichsgericht schon früher von der
Lehre entgegengehaltenen Formel von der (den Vorsatz gewährleistenden)
56
57
58
Gemeint sind insbesondere die Fernwirkungen für die Teilnahmestrafbarkeit; siehe
dazu unten III. 5. - Sie und die Fernwirkungen für die Versuchsstrafbarkeit tauchen bereits 1940 bei Welzel (Anm. 47), S. 65, als Argument für die Schuldtheorie auf.
Vgl. BGHSt 2, 194 ff., insbesondere 197 f., 199 ff. - Über die Anschlußdiskussion der
Literatur gibt die dogmengeschichtliche Arbeit von Tischler (Anm. 14), S. 167 ff., einen umfassenden Überblick.
BGHSt 2, 194, 203 f.; kritisch zur Frage, ob damit wirklich ein Abrücken von der
Judikatur des RG verbunden war, Kuhlen (Anm. 54), S. 147 ff., 157 ff.
238
Wolfgang Frisch
"Parallelwertung in der Laiensphäre des Täters"59 - womit eine weitere
Streitfront aufgehoben schien.
Weitere Streitpunkte der Irrtumslehre haben seit dem Inkrafttreten spezieller gesetzlicher Irrtumsregelungen zumindest einen Teil ihrer Bedeutung
eingebüßt: Durch die - die Entscheidung des Großen Senats aus dem Jahre
195260 kodifizierende - Regelung des § 17 Satz 2 StGB hat sich der Gesetzgeber hinsichtlich der Behandlung des verschuldeten Verbotsirrtums im
Streit zwischen der Vorsatztheorie und der Schuldtheorie im Sinne der
Schuldtheorie, d.h. für die - freilich mit der Möglichkeit einer Milderung
verbundene - Bestrafung wegen vorsätzlicher Tat entschieden. Ebenso wurde
in § 35 Abs. 2 StGB der Streit über die Bedeutung der irrtümlichen Annahme eines Entschuldigungssachverhalts61 im Sinne der Schuldtheorie entschieden - also im Sinne der Bestrafung wegen einer Vorsatztat bei schuldhaftem Irrtum und des Ausschlusses der (Vorsatz-)Strafe nur bei unverschuldetem Irrtum.
b) Die angedeuteten Wandlungen der Rechtsprechung und die gesetzliche
Regelung bestimmter Irrtumskonstellationen mögen auf den ersten Blick den
Eindruck erwecken, die Irrtumsproblematik sei gegenüber früher einfacher
geworden. Tatsächlich ist das schon deshalb zweifelhaft, weil das Gewicht
der angedeuteten "Erledigungen" nicht überschätzt werden sollte, sich in
manchem der Streit nur auf andere Ebenen verlagert hat. So liegt mit dem
gesetzlichen Bekenntnis zur Schuldtheorie in § 17 Satz 2 StGB und der Regelung des Irrtums über Entschuldigungssachverhalte zwar die Lösungsleitlinie für die gesetzesgebundene Rechtspraxis fest; der Streit geht indessen,
zumindest teilweise, insofern weiter, als nunmehr ganz einfach die Adäquität
der gesetzlichen Vorschrift diskutiert wird.62 Zur Aufgabe der Distinktion
zwischen strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Irrtum und dem Bekenntnis der Rechtsprechung zum Erfordernis der (den Vorsatz gewährleistenden) Parallelwertung in der Laiensphäre aber ist zu sagen, daß ihre
Entlastungsfunktion schon deshalb nicht überschätzt werden darf, weil das
59
60
61
62
Vgl. etwa BGHSt 3, 248, 255; 4, 352; zu in diese Linie einordenbaren weiteren Entscheidungen des BGH vgl. Schlüchter (Anm. 19), S. 44 ff. - Über die Diskussion in
der Literatur informiert die in Anm. 29 genannte Monographie Arthur Kaufmanns;
siehe ferner die Zusammenstellung einschlägiger Stellungnahmen bei Tischler
(Anm. 14), S. 92, und Otto, Gedächtnisschrift für K. Meyer, 1990, S. 587, 601.
Vgl. insoweit BGHSt 2, 194, 204 ff., 209 f.
Siehe oben bei Anm. 8 und 52.
Vgl. unten 2. und 3.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
239
Bekenntnis des BGH zur Parallelwertungs-Formel kaum Erkenntnisfunktion
hat,63 mit der Verwendung dieser Formel das Problem nicht gelöst ist und
neuerdings im Schrifttum überdies unverkennbar wieder Sympathie für die
reichsgerichtliche Distinktion entwickelt wird64 - so daß man fast von einer
Umkehrung der Fronten sprechen könnte. Wirklich entlastet ist die Diskussion so im Grunde nur insoweit, als die Straflosigkeit des Täters im Falle des
unverschuldeten Verbotsirrtums außer Frage steht - doch fallen die damit der
Diskussion entzogenen Sachverhalte extensional kaum ins Gewicht.
c) Diesem - vor dem Hintergrund des Fragenspektrums der älteren Diskussion - relativ geringen Entlastungseffekt steht die Belastung durch neueröffnete Streitfronten gegenüber. Da sich die neue Sicht, die einen bestimmten
Bereich der Irrtümer bereits als unrechtsausschließend ansieht, nicht allgemein durchgesetzt hat, sondern sich weiterhin durchaus Bekenntnisse zu Systemkonzepten finden, in denen der Vorsatz außerhalb des Unrechts steht
und der Schuld zugehört,65 ist die Irrtumsdiskussion im Vergleich zur Diskussion der älteren Zeit von vornherein zusätzlich durch den Streit über die
systematische Bedeutung des Irrtums (Unrechts- oder Schuldausschluß?)
belastet. Da weiter unter denen, die sich zur Möglichkeit unrechtsausschließender Irrtümer bekennen, wiederum keineswegs Einigkeit über die
63
64
65
Vgl. nur die Analyse der Rspr. bei Schlüchter (Anm. 19), S. 44 ff., 61 ff., die verschiedene Entscheidungslinien zeichnet und die Rspr. als "widersprüchlich" qualifiziert;
siehe auch Kuhlen (Anm. 54), S. 206 ff., 227 ff., 264.
Vgl. - nach entsprechenden Prognosen H. Mayers, MDR 1952, 392 (siehe auch derselbe,
Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1967, S. 124) und Andeutungen Tischlers (Anm. 14),
S. 349 ff. - nunmehr insbesondere Kuhlen (Anm. 54), der nicht nur die Änderung der
reichsgerichtlichen Rspr. durch den BGH bestreitet (sog. Kontinuitätsthese, vgl. a.a.O.,
S. 84 ff.), sondern auch aufzudecken versucht, daß sich die reichsgerichtliche Distinktion zwischen strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Irrtum weitgehend als Ausdruck der Einsicht in den Geltungsanspruch der strafrechtlichen Norm (S. 339 ff.) und
dessen Nichtinfragestellung bei Tatirrtümern und bestimmten Rechtsirrtümern
(S. 346 ff., 361 ff.) halten läßt, und sich auf dieser Grundlage um eine Präzisierung
dieser Distinktion mit Hilfe des Kriteriums der Zeitstruktur (S. 370 ff.) bemüht. Zum
Vorsatzausschluß kommt es nach dieser Auffassung auch im Falle des Rechtsirrtums
dann, wenn dieser dem Täter im Bereich sog. dynamischer Verweisungsbegriffe unterläuft (S. 381 ff., 398 ff.) - eine Voraussetzung, die nach Kuhlens Ansicht in den
meisten jener Sachverhalte erfüllt ist, die das RG als Fälle eines außerstrafrechtlichen
Irrtums behandelt hat (vgl. S. 421 ff., 520 ff.). Bei Kuhlen, a.a.O., S. 366 ff., auch
weitere Nachweise zu Reformulierungen der reichsgerichtlichen Judikatur in der neueren Rspr. und Lehre (z.B. zur Unterscheidung zwischen der Strafnorm und ihrem
"Vorfeld"). Zu Kuhlens Distinktion zwischen statischer und dynamischer Verweisung
jüngst kritisch Puppe, ZStW 102 (1990), S. 899 f.
So etwa in den Lehrbüchern von Baumann/Weber, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 9.
Aufl. 1985, S. 174 ff., 387 ff.; Schmidhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl.
1975, 10/28 ff.
240
Wolfgang Frisch
richtige Grenzlinie zwischen unrechts- und schuldausschließenden Irrtümern besteht,66 kommt zum grundsätzlich neueröffneten Streit noch eine
sich an verschiedenen Brennpunkten entzündende Diskussion über die richtige Zuordnung bestimmter Irrtumskonstellationen hinzu. Und da zudem
nach einer verbreiteten Auffassung von diesen systematischen Vorentscheidungen auch die richtige Lösung bestimmter außerhalb der Irrtumslehre rangierender rechtspraktischer Folgefragen, wie der Teilnahmestrafbarkeit, abhängen soll, gerät die Irrtumsdiskussion überdies in den Strudel gewisser
auf ganz anderer Ebene liegender Fragen.67 Selbst die allgemeine Anerkennung der Straflosigkeit des Täters bei unverschuldetem Verbotsirrtum hat
eine neue Streitfront in Gestalt der Frage nach den Kriterien und der Extension des unverschuldeten Verbotsirrtums geschaffen.68 Das damit entstandene Gesamtbild ist gemessen am früheren Zustand durchaus nicht klarer geworden.
Wer sich angesichts dieses Dickichts umstrittener Fragen einen verläßlichen
Überblick verschaffen will, kommt nicht darum herum, nach dem historischen Längsschnitt die denkbaren Irrtumskonstellationen und ihre Behandlung nunmehr gezielt auch nochmals im Querschnitt in den Blick zu nehmen.
Dabei empfiehlt es sich, beim einigermaßen Konsentierten zu beginnen und
sich im Sinne einer Abschichtung des Geklärten vom Umstrittenen dann den
kontrovers diskutierten Fragen zuzuwenden.
2.
Der Irrtum im Bereich von Schuldmerkmalen und Entschuldigungsgründen
Der breiteste Konsens ist naheliegenderweise bei der Bewertung jener Irrtümer auszumachen, die von der angedeuteten Verschiebung des Vorsatzes
schon thematisch nicht berührt wurden - nicht berührt wurden deshalb, weil
die vom Irrtum betroffenen objektiven Tatumstände auch von der den Vorsatz in das Unrecht verschiebenden Auffassung niemals als unrechtsrelevant
reklamiert wurden. So liegt es bei den sogenannten objektiv formulierten
Schuldmerkmalen oder den objektiv formulierten Voraussetzungen von
Entschuldigungsgründen. Typische Beispiele bilden die irrtümliche An66
67
68
Siehe schon oben bei Anm. 53, 54 sowie unten 5. und 6.
Vgl. unten 5. sowie - kritisch dazu - IV. 1.
Vgl. dazu insbesondere Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, 1969, S. 193 ff., sowie Horn, Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit, 1969, S. 55 ff.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
241
nahme oder die Unkenntnis der Nichtehelichkeit des Kindes in § 217 StGB
oder die irrtümliche Annahme der Voraussetzungen einer Notstandssituation,
die auch bei ihrem Gegebensein - nach § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB - nur zur
Entschuldigung des Täters führen würde.
Daß Irrtümer in diesem Bereich systematisch nicht das Unrecht berühren und zwar gleich, ob im Sinne eines Ausschlusses oder einer Minderung -, ist
auch von den Auffassungen, die die Unrechtsrelevanz gewisser Irrtümer anerkennen, nie bestritten worden.69 Es wäre auch unhaltbar. Denn wenn schon
das objektive Gegebensein der entsprechenden Umstände das (Vorsatz-)Unrecht unberührt läßt (und zwar unter Einschluß von für die Entschuldigung oder Schuldminderung etwa geforderten subjektiven Momenten), kann ihre irrtümliche Annahme nicht plötzlich Unrechtsrelevanz erlangen. Die entsprechenden Umstände stehen außerhalb des Unrechts; ihre
irrtümliche Annahme kann allenfalls die Schuld des Täters beeinflussen,
nämlich zu einem Fortfall strafrechtlich relevanter Schuld oder - bei § 217
StGB - zu einer Schuldminderung führen (bei ihrer Unkenntnis kann ihr objektives Vorliegen irrelevant sein). Erst recht gilt das, wenn der Irrtum noch
nicht einmal entschuldigende Umstände betrifft, sondern im Wertungsbereich selbst liegt (Annahme, daß man in bestimmten Situationen von der
Rechtsordnung entschuldigt werde).
Fraglich kann in Fällen dieser Art höchstens sein, wie der nicht das Unrecht, sondern allenfalls die Schuld ausschließende Irrtum im übrigen zu behandeln ist. Auch in dieser rechtspraktischen Frage besteht heute breiter
Konsens: Die irrtümliche Annahme, ein Verhalten werde von der Rechtsordnung entschuldigt, ist gänzlich unerheblich, beeinflußt nicht die Schuld denn welche Sachlagen entschuldigend wirken oder geringere Schuld beinhalten, bestimmt allein die Rechtsordnung, und die Schuld wird auch nicht
dadurch verändert, daß man sie selbst anders bewertet, als die Rechtsordnung dies tut.70 Die irrtümliche Annahme der Voraussetzungen eines Ent69
70
Eine andere Frage ist, ob die Sachverhalte, über die geirrrt wird, stets der Schuld zugeordnet worden sind - hier hat es Schwankungen gegeben. So hat etwa Welzel
(Anm. 47), S. 52 ff., früher den Notstand als reinen Rechtfertigungsgrund angesehen.
Auf der Basis einer solchen Auffassung könnte man dem Irrtum über bestimmte (heute
der Entschuldigung zugeordnete) Notstandsfälle dann ggf. (vorsatz-)unrechtsausschließende Bedeutung beimessen.
Unbestritten, vgl. Hirsch, in: Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1985, vor § 32 Rn. 75,
188; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1983, 17/76; Schönke/Schröder/Lenckner,
StGB, 23. Aufl. 1988, § 35 Rn. 45 mit weiteren Nachweisen.
242
Wolfgang Frisch
schuldigungsgrundes aber ist für den entschuldigenden Notstand vom Gesetzgeber in § 35 Abs. 2 StGB ausdrücklich geregelt worden, wobei das Gesetz bei Vermeidbarkeit des Irrtums die Bestrafung wegen einer Vorsatztat
vorsieht (freilich mit der Möglichkeit der Milderung gemäß § 49 Abs. 1
StGB); im Falle der Unvermeidbarkeit des Irrtums ist die Bestrafung ausgeschlossen. Positivrechtlich ist der frühere Streit um die richtige Behandlung
des Irrtums im Bereich der Entschuldigungsgründe (zum Teil wurde der generelle Ausschluß der Vorsatzschuld und unter Umständen Bestrafung wegen Fahrlässigkeitstat, zum Teil wurde bei Vermeidbarkeit des Irrtums
Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Tat angenommen71) damit beendet. Freilich
ist nicht zu übersehen, daß die Lösung des Gesetzgebers durchaus nicht
überall auf Zustimmung gestoßen ist. Man bezeichnet sie zum Teil als verfehlt und plädiert nach wie vor für den Ausschluß der Vorsatzschuld, weil
die Lage des Täters im Zeitpunkt der Handlung bei einem irrenden Täter
nicht anders sei, als wenn die Lage wirklich bestünde; die Schuld hinsichtlich der Prüfung der Sachlage begründe aber allenfalls Fahrlässigkeit.72 Diese Erwägungen haben mehr Gewicht, als ihnen gegenwärtig beigemessen
wird.73 Auch ist nicht zu übersehen, daß die Regelung des § 35 Abs. 2 StGB
in einer gewissen Spannung zur Behandlung der sogenannten objektiven
Schuldminderungsgründe steht. Denn bei diesen soll bereits die irrtümliche
Annahme des privilegierenden Merkmals oder Sachverhalts als solche die
Vorsatzschuld des strengeren Delikts ausschließen; dort denkt man nicht
daran, diesen Ausschluß von der Unvermeidbarkeit des Irrtums abhängig zu
machen.74
3.
Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Tat
Von der systematischen Umschichtung zwischen Unrecht und Schuld wurden freilich nicht nur die Irrtümer über objektive Tatumstände im Schuldbereich nicht berührt - blieb es damit insoweit dabei, daß sich solche Irrtü71
72
73
74
Siehe oben bei Anm. 8 und 52 sowie Hirsch (Anm. 70), Rn. 73; Vogler, GA 1969, 106.
Vgl. etwa Schmidhäuser (Anm. 65), 11/23; noch dezidierter im Sinne der Willkürlichkeit und rechtsstaatlichen Unhaltbarkeit Schmidhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil
(Studienbuch), 2. Aufl. 1984, 8/27 f. - Demgegenüber will Schünemann, GA 1986,
303, die Regelung des § 35 Abs. 2 StGB über § 35 Abs. 1 hinaus auch auf andere entschuldigungsrelevante Situationen, wie z.B. § 258 Abs. 6 StGB, erstrecken.
Siehe ergänzend unten IV. 4. a.E.
Vgl. Schönke/Schröder/Eser, StGB, 23. Aufl. 1988, § 217 Rn. 11 mit weiteren Nachweisen; Warda, Jura 1979, 113 f., 116 f. mit weiteren Nachweisen; eingehend Küper,
GA 1968, 324 ff.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
243
mer nicht unrechts-, sondern allenfalls schuldausschließend auswirken können. Auch ein zweiter, vieldiskutierter Irrtumstyp wurde von den systematischen Änderungen der neuen Sicht nicht betroffen: der Irrtum über das Verbotensein oder die Rechtswidrigkeit der Tat (bzw. des Verhaltens) - und
zwar ganz gleich, ob der Täter irrtümlich das Nichtverbotensein seines Handelns annimmt bzw. das Verbotensein nicht kennt (direkter Verbotsirrtum)
oder ob er deswegen zur Annahme des Nichtverbotenseins gelangt, weil er
sich einen in Wahrheit nicht bestehenden Rechtfertigungsgrund einbildet
(indirekter Verbotsirrtum).
Die systematische Bedeutung dieses Irrtums wird nach wie vor wohl einheitlich beurteilt: Nach der älteren, zum Teil auch heute noch vertretenen Auffassung von der alleinigen Schuldrelevanz des Vorsatzes kann ein derartiger
Irrtum oder Kenntnismangel von vornherein keine Unrechtsrelevanz entfalten, sondern sich allenfalls im Bereich der Schuld (etwa im Sinne des Ausschlusses der Vorsatzschuld - gegebenenfalls unter bestimmten Voraussetzungen75) auswirken. Nicht anders urteilt aber auch die inzwischen herrschende Lehre, die den Vorsatz als unrechtsrelevant ansieht, also als Charakteristikum des Unrechts der Vorsatzdelikte das Handeln mit dem Wissen
(und Wollen) der Tatbestandsverwirklichung qualifiziert.76 Denn gleich, wie
weit oder eng man diesen Tatbestand bestimmt:77 Das Urteil der Rechtswidrigkeit über einen bestimmten, im Tatbestand erfaßten Sachverhalt gehört nach dieser Lehre nicht zum Tatbestand selbst; es kann dementsprechend auch nicht Gegenstand eines auf den Tatbestand bezogenen, das Unrecht mitcharakterisierenden Vorsatzes sein.78 Auch damit hat der Irrtum
über die Rechtswidrigkeit also allenfalls Schuldrelevanz.79
75
76
77
78
79
Etwa Unvermeidbarkeit, vgl. die Nachweise oben Anm. 35; in dieser Version von den
modernen Vertretern der Zugehörigkeit des Vorsatzes zur Schuld nicht mehr vertreten.
Nachweise der Vertreter dieser oft als "personale" Unrechtslehre bezeichneten Auffassung bei Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, 4. Aufl. 1988, S. 217; Schönke/Schröder/
Lenckner (Anm. 70), vor § 13 Rn. 52 f.
Streit besteht insbesondere darüber, ob die Rechtfertigungsgründe als sog. negative
Tatbestandsmerkmale dem Tatbestand zu integrieren sind; vgl. etwa Hirsch, Die Lehre
von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960, passim. Eingehende Nachweise der
neueren Diskussion bei Hirsch (Anm. 70), vor § 32 Rn. 5 ff.; Schönke/Schröder/
Lenckner (Anm. 70), vor § 13 Rn. 16.
So schon H. v. Weber (Anm. 43), S. 11, 23 f.; Graf zu Dohna (Anm. 51), S. 49; Welzel
(Anm. 47), S. 64 f.; derselbe (Anm. 48), S. 161 f.
Das konzediert letztlich auch jene Auffassung, die - aufbauend auf dem Gedanken
(schon) der Unrechtsrelevanz des Vorsatzes - für den Vorsatz dezidiert die Kenntnis
der Sozialschädlichkeit verlangt und das so postulierte Wissen als Unrechtsbewußtsein
bezeichnet (in diesem Sinne etwa Arthur Kaufmann, Festschrift für Lackner, 1987,
244
Wolfgang Frisch
Nicht ganz so einheitlich sind die Auffassungen zur sachlich richtigen Behandlung dieses Irrtums. Zwar dürfte dem auch nach der Grundsatzentscheidung BGHSt 2, 194 noch heftig geführten Streit, ob ein solcher Irrtum
generell die Vorsatzschuld ausschließe und allenfalls eine Fahrlässigkeitsbestrafung erlaube (sogenannte Vorsatztheorie) oder ob die Vorsatzschuld nur
dann entfalle, wenn der Irrtum nicht verschuldet ist (sogenannte Schuldtheorie),80 inzwischen für die Diskussion de lege lata durch § 17 StGB der
Boden entzogen sein. Denn wenn das Gesetz hier den unvermeidbaren Irrtum als Grund für den Ausschluß der Vorsatzbestrafung ansieht und bei
vermeidbarem Irrtum Bestrafung aus dem Vorsatzdelikt - wenn auch mit
Milderungsmöglichkeiten - zuläßt, so wird man darin kaum etwas anderes
als ein gesetzliches Bekenntnis zur Schuldtheorie sehen können. Da das
Bundesverfassungsgericht die gesetzliche Lösung inzwischen auch als verfassungskonform bestätigt hat,81 ist die rechtspraktische Lösung dieses Irrtumsfalles damit gegenwärtig wohl als eindeutig zu bezeichnen.82 Indessen
ist nicht zu übersehen, daß im Schrifttum zum Teil nach wie vor die generell
vorsatzschuldausschließende Relevanz des Irrtums über die Rechtswidrigkeit als die sachlich adäquatere Lösung bezeichnet wird83 - bis hin zu dem
Vorwurf, die Lösung des § 17 StGB sei bei Zugrundelegung des üblichen
80
81
82
83
S. 188 ff.; Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 3. Aufl. 1988,
S. 100 f., 237, 251 f.; derselbe, Gedächtnisschrift für K. Meyer, S. 601 f.): Das Vorsatzunrecht ist nach dieser Auffassung nur bei fehlender Erfassung der Sozialschädlichkeit ausgeschlossen; die Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Tat läßt auch danach allenfalls die Schuld entfallen. Auf die Frage, ob die dieser Auffassung zugrundeliegende Distinktion begründet und durchführbar ist (zweifelnd Wessels, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, 20. Aufl. 1990, § 8 I 3, § 11 III 1 a), kann hier begreiflicherweise
nicht eingegangen werden.
Eingehende Nachweise zur Diskussion bis zur Gesetzesreform bei Welzel (Anm. 48),
S. 159 ff., 164 ff.; Jescheck (Anm. 76), S. 407, sowie in der umfassenden dogmengeschichtlichen Untersuchung Tischlers (Anm. 14), insbesondere S. 104 ff., 108 ff.,
167 ff.
BVerfGE 41, 121, 124 ff.
Übereinstimmend in dieser Einschätzung die ganz herrschende Meinung; vgl. z.B.
Arzt, ZStW 91 (1979), S. 857; Jescheck (Anm. 76), S. 407 f.; Lackner, StGB, 18. Aufl.
1989, § 17 Anm. 1; Schönke/Schröder/Cramer, StGB, 23. Aufl. 1988, § 17 Rn. 3, je
mit weiteren Nachweisen; kritisch aber z.B. Arthur Kaufmann, Festschrift für Lackner,
S. 186 f.; Otto, Gedächtnisschrift für K. Meyer, S. 597 f.
Vgl. z.B. Baumann/Weber (Anm. 65), S. 424 f.; Schmidhäuser (Anm. 65), 10/64, und
derselbe (Anm. 72), 7/87 ff., sowie eingehend derselbe, JZ 1979, 361; 1980, 396;
ähnlich Langer, GA 1976, 193 (zu beiden kritisch Kuhlen [Anm. 54], S. 276 ff.), und
H. W. Schünemann, NJW 1980, 735, 738. Siehe ferner Otto, Grundkurs Strafrecht,
Allgemeine Strafrechtslehre, 3. Aufl. 1988, S. 251 f., und derselbe, Gedächtnisschrift
für K. Meyer, S. 598 ff. - Eine umfassende Zusammenstellung neuerer Vertreter der
Vorsatztheorie findet sich bei Tischler (Anm. 14), S. 106 f. Fn. 19.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
245
Verständnisses verfassungswidrig.84 Doch ist das, wie ausdrücklich betont
sei, ein jenseits der systematischen Fragen stehendes Problem - Gründe für
den Ausschluß der Vorsatzbestrafung können systematisch sowohl im Unrechts- als auch im Schuldbereich verortet werden.85
4.
Der Irrtum über Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören
Beide bisher behandelten Fallgruppen zeichneten sich durch eine einheitliche Einschätzung der systematischen Auswirkungen des Irrtums (als allein
schuldrelevant) aus; Divergenzen bestanden - und auch das nur in begrenztem Maße - allein hinsichtlich der Sachbehandlung. Diese Divergenzen waren dabei nicht systematisch motiviert, sondern beruhten auf Überlegungen
zur Adäquität der Behandlung entsprechender Irrtumskonstellationen
(letztlich Gerechtigkeitserwägungen in bezug auf die Adäquität des Vorwurfs einer vorsätzlichen Tat). Gerade umgekehrt liegt es in bezug auf den
eigentlichen Kernbereich der durch die geschilderte systematische Änderung betroffenen Irrtumsfälle: die Fälle des Irrtums über Umstände, die
(eindeutig) zum gesetzlichen Tatbestand einzelner Delikte gehören, also
den Unrechtstypus des jeweiligen Vorsatzdelikts mitbestimmen. Hier ist
man sich, schon wegen der eindeutigen gesetzlichen Regelung,86 darüber einig, daß eine Vorsatzbestrafung auszuscheiden hat, weil es am Vorsatz fehlt.
Streit besteht indessen darüber, ob es in solchen Fällen schon am Unrecht
oder genauer noch: einem Teil des Unrechts fehlt, das in den Vorsatzdelikten vorausgesetzt ist, oder ob dieser Irrtum das Unrecht unberührt läßt und
es nur an der für die Bestrafung wegen eines Vorsatzdelikts notwendigen
Schuld mangelt. In diesen Bereich fallen etwa die Unkenntnis, daß die weg84
85
86
Vgl. etwa Schmidhäuser (Anm. 65), 10/64 a.E.; derselbe (Anm. 72), 7/89. - Von
einem Teil der in Anm. 83 genannten Autoren wird der Anwendungsbereich des § 17
StGB auch beschränkt - wie etwa jüngst erst wieder von Otto, Gedächtnisschrift für K.
Meyer, S. 602, auf das (bei vorhandenem Unrechtsbewußtsein) fehlende Bewußtsein,
"ein bei Straf- oder Geldbuße verbotenes Verhalten zu verwirklichen"; ebenso schon
Arthur Kaufmann, Festschrift für Lackner, S. 188.
Systematisch besonders einsichtig ist dies auf dem Boden der Lehre von der Doppelrelevanz des Vorsatzes (eingehende Nachweise dazu bei Jescheck [Anm. 76], S. 218 f.):
Nach ihr ist zwar bei vorhandenem Wissen um den tatbestandserfüllenden Sachverhalt
der Tatbestandsvorsatz gegeben; in den Fällen fehlender Verbotskenntnis könnte man
aber die - mit dem Tatbestandsvorsatz normalerweise gegebene - Vorsatzschuld verneinen (so wie das von manchen in den Fällen des sog. Erlaubnistatbestandsirrtums
angenommen wird, siehe unten 5.) und deshalb für den Ausschluß der Vorsatzbestrafung streiten.
§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB; § 59 Abs. 1 StGB a.F.; kritisch zu dieser durchgängigen
Privilegierung der Tatsachenblindheit allerdings Jakobs (Anm. 70), 8/5 f.
246
Wolfgang Frisch
genommene Sache "fremd" oder daß das Objekt, auf das man schießt, ein
Mensch ist; wenn man sich nicht auf die Ausschlußfälle beschränkt, sondern
auch Milderungssachverhalte einbezieht, gehört hierher auch die Unkenntnis
erschwerender Umstände, wie z.B. des Mitführens einer Waffe beim Diebstahl.
Den Hintergrund dieses Streits bildet die nur begrenzte Rezeption der These
von der Unrechtsrelevanz des Vorsatzes. Zwar hat die Auffassung, daß
das Unrecht sich nicht in der objektiven Beeinträchtigung oder Gefährdung von Gütern erschöpfe, es vielmehr auch subjektive Unrechtselemente
gebe, inzwischen in Deutschland fast allgemeine Zustimmung gefunden;
man wird sie auch als von der Rechtsprechung, die sich mit systematischen
Aussagen zurückhält, akzeptiert ansehen können. Eine allgemeine, auch das
vollendete Delikt betreffende Anerkennung des Vorsatzes als subjektives
Unrechtselement ist damit indessen nicht verbunden. Neben (freilich sehr
verbreiteten) Auffassungen, die den Vorsatz - unter Berufung auf den finalen Charakter der Handlung oder den spezifischen Handlungsunwert der in
den einzelnen Tatbeständen erfaßten Verhaltensweisen - ganz allgemein als
subjektives Unrechtselement anerkennen87 und damit dem vorsatzausschließenden Irrtum zugleich die Bedeutung des Ausschlusses des Vorsatzunrechts zubilligen,88 stehen vielmehr deutlich restriktivere Konzepte. So werden von manchen die subjektiven Unrechtselemente beim vollendeten Delikt (wenn also objektives Unrecht vorliegt) auf bestimmte subjektive Merkmale einzelner Delikte (z.B. die Zueignungsabsicht) beschränkt;89 der Vorsatz selbst wird lediglich im Rahmen des Versuchsdelikts als subjektives Unrechtselement anerkannt90 (- eine These, der die Gegenauffassung bekanntlich entgegenhält, daß sich an dieser Qualität des Vorsatzes doch durch den
Eintritt der Vollendung schwerlich etwas ändern könne91). Von anderen
87
88
89
90
91
Vgl. die umfassenden Nachweise bei Jescheck (Anm. 76), S. 217 f., und Schönke/
Schröder/Lenckner (Anm. 70), vor § 13 Rn. 52 ff.
Oft - als selbstverständliche Kehrseite - von den Vertretern dieser Auffassung gar
nicht mehr eigens erwähnt; vgl. aber z.B. (im Kontext der Gleichstellung des sog. Erlaubnistatbestandsirrtums) Schönke/Schröder/Lenckner (Anm. 70), vor § 13 Rn. 19 mit
weiteren Nachweisen.
So etwa Baumann/Weber (Anm. 65), S. 281 ff.; dort auch zur abweichenden, subjektive Unrechtselemente prinzipiell verwerfenden Auffassung Spendels, ZStW 65 (1953),
S. 530.
Vgl. Baumann/Weber (Anm. 65), S. 475 f. (siehe auch S. 283).
So schon Welzel (Anm. 48), S. 61; siehe auch Hruschka, Strafrecht nach logischanalytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 192 f.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
247
wird zwar das subjektive Unrechtselement in Einzelausprägungen anerkannt
und darüber hinaus auch von einem allgemeinen - über das Versuchsdelikt
hinausgehenden - subjektiven Handlungsunwert gesprochen. Doch wird dabei das subjektive Handlungsunrecht gerade nicht mit dem Vorsatz gleichgesetzt, sondern auf einen engeren Bereich - den des Anstrebens bestimmter
unwertiger Folgen ("Zielunrecht") - beschränkt. Die Unkenntnis bestimmter
hic et nunc gegebener Umstände kann damit zwar bedeuten, daß es (auch)
am "Zielunrecht" fehlt; in bezug auf das objektive Gefährdungsunrecht wirkt
sich die Unkenntnis nach dieser Auffassung indessen nur im Sinne des Ausschlusses der Vorsatzschuld aus.92
Abgesehen von diesem Streit über die systematische Relevanz des Vorsatzausschlusses in den Fällen, in denen man sich über das Ergebnis "Vorsatzausschluß"
einig ist, besteht natürlich auch Streit darüber, wie weit der Kreis vorsatzausschließender Irrtümer im Bereich der Tatbestandsmerkmale geht. Betroffen hiervon
sind insbesondere normative Tatbestandsmerkmale und gesetzliche Rechtswidrigkeitsmerkmale. Doch ist das weniger eine Konsequenz der unterschiedlichen
grundsätzlichen Sicht des Irrtums als Unrechts- oder Schuldausschließungsgrund.
Es handelt sich hier vielmehr um die Konsequenz eines unterschiedlichen Verständnisses der sinnvollen Fassung bestimmter Einzelnormen bzw. des insoweit je
adäquaten Vorsatzbezugspunkts. Darauf wird zurückzukommen sein.93
5.
Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe, insbesondere der sogenannte
Erlaubnistatbestandsirrtum
In das eigentliche Zentrum der Kontroversen gelangt man, wenn man sich
der verbleibenden grundlegenden Irrtumskonstellation zuwendet: dem Irrtum über Rechtfertigungsgründe. Dabei ist der Fall des Wertungsirrtums,
also die Einbildung so gar nicht existierender Rechtfertigungsgründe und
der Irrtum über die Reichweite von Rechtfertigungsgründen (einschließlich
des Auslegungs- und Subsumtionsirrtums in diesem Bereich), schon behandelt: Dieser Irrtum schließt nach allen Meinungen niemals das Vorsatzunrecht, sondern allenfalls dessen Vorwerfbarkeit aus - wobei in begrenztem
Maße Streit darüber besteht, ob in einem solchen Fall die Vorsatzschuld
und damit auch die Vorsatzbestrafung schon generell oder nur unter be-
92
93
So die Konzeption Schmidhäusers (Anm. 65), 6/9, 7/36-38, 8/26-27, 43 ff., 10/31;
siehe auch derselbe (Anm. 72), 4/18, 5/38 f., 47, 7/36 ff.
Siehe unten 6. und IV. 5.
248
Wolfgang Frisch
stimmten Bedingungen entfallen soll.94 Was nunmehr allein interessiert, ist
der Fall der irrtümlichen Annahme solcher Umstände, bei deren Gegebensein in der Tat ein Rechtfertigungsgrund eingriffe: der sogenannte Erlaubnistatbestandsirrtum. Die Palette der Auffassungen, die zu dieser Irrtumskonstellation vertreten werden, ist außerordentlich schillernd.95 Erhebliche Unterschiede finden sich hier sowohl in der systematischen Einschätzung des Irrtums als auch in den Auffassungen über die adäquate Sachbehandlung. Dabei begegnen durchaus unterschiedliche Kombinationen: Auffassungen, die den Vorsatz systematisch unterschiedlich einordnen, stimmen
zum Teil in der rechtspraktischen Behandlung des Irrtums völlig überein,
während auf der anderen Seite Auffassungen mit dem gleichen systematischen Ausgangspunkt zu ganz unterschiedlichen Sachergebnissen gelangen.
a) Was zunächst die systematische Seite der Auswirkungen des Irrtums anlangt, so ist klar, daß eine Konzeption, die das Unrecht objektiv bestimmt
und die innere Beziehung des Täters zur Tat der Schuld zuweist, auch diesen
Irrtum nur als für die Frage der Schuld relevant, d.h. als etwaigen Grund für
den Ausschluß der Vorsatzschuld ansehen kann. Das war der Standpunkt der
früheren Lehre und Rechtsprechung. Er wird auch heute noch von jenen
Auffassungen vertreten, die zwar gewisse subjektive Unrechtselemente anerkennen, den Vorsatz aber - zumindest beim vollendeten Delikt - nicht als
generelles subjektives Unrechtselement ansehen.96
Die Vertreter eines Unrechtsverständnisses, nach dem der Vorsatz schon das
Unrecht des Vorsatzdelikts entscheidend prägt, sind sich in der systematischen Behandlung des hier interessierenden Irrtums dagegen nicht einig:
Der eine Teil behandelt den Irrtum auch in systematischer Hinsicht wie den
Irrtum über ein Tatbestandsmerkmal - wie bei diesem Irrtum soll also auch
beim Handeln in der irrtümlichen Annahme, daß die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gegeben seien, das spezifische Vorsatzunrecht
ausgeschlossen sein. Begründet wird dies mit der materialen Gleichwertigkeit der Tatbestandsmerkmale und der Rechtfertigungsgründe. Diese materiale Gleichwertigkeit ist die Basis der Lehre von den sogenannten negati94
95
96
Das erste entspricht der Stellungnahme der im Blick auf § 17 StGB de lege lata kaum
mehr vertretbaren Vorsatztheorie (heutige Vertreter Anm. 65 und 83), das zweite der
herrschenden Meinung, die sich hierfür auf § 17 StGB beruft.
Ein instruktiver Überblick findet sich bei Jakobs (Anm. 70), 11/42 ff., sowie jüngst
Herzberg, JA 1989, 294 ff., und Paeffgen, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann,
1989, S. 399 ff., je mit weiteren Nachweisen.
Siehe die Nachweise oben Anm. 89 und 92.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
249
ven Tatbestandsmerkmalen, die die Rechtfertigungsgründe (bzw. deren Einzelvoraussetzungen) als negative Tatbestandsmerkmale ansieht und die irrtümliche Annahme eines solchen negativen Tatbestandsmerkmals als ebenso
vorsatzausschließend qualifiziert wie die Unkenntnis eines Merkmals, dessen
Gegebensein der Tatbestand verlangt.97 Von der Gleichwertigkeit von Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtfertigungsgründen für die Annahme von
Unrecht geht aber auch jene Auffassung aus, die ohne die konstruktivistische
Basis der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen - nicht zuletzt im
Blick auf die konstruktiven Probleme dieser Auffassung - zum Ausschluß
des Vorsatzunrechts gelangt: Für sie ist das vorsätzliche Unrecht durch die
Entscheidung gegen das tatbestandlich geschützte Rechtsgut oder abweichend von den Verhaltensnormen des Rechts gekennzeichnet; und daran
fehle es, wenn der Täter nach seiner Vorstellung in einer Situation handelt,
in der er so handeln darf, weil eine Erlaubnisnorm ihm solches Handeln gestattet und damit Verhalten unter diesen Umständen als nicht rechtswidrig
ausweist. In Fällen dieser Art sei der Wille des Täters ebensowenig auf die
Verwirklichung eines Erfolgsunwerts (im Sinne eines den Gegenstand rechtlicher Mißbilligung darstellenden Sachverhalts) gerichtet wie beim Tatbestandsirrtum.98
Eine zweite Spielart jener Auffassung, die sich prinzipiell zur Unrechtsrelevanz des Vorsatzes bekennt und den Irrtum im Bereich von Tatbestandsmerkmalen als Grund für den Ausschluß des Vorsatzunrechts ansieht, entscheidet in diesem Punkt anders: Nach ihr schließt die irrtümliche Annahme
der Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes allenfalls die Vorsatzschuld, nicht aber das Vorsatzunrecht aus.99 Zur Begründung werden unter97
98
99
In diesem Sinne schon H. v. Weber (Anm. 43), S. 24; derselbe, JZ 1951, 260, und
Festschrift für Mezger, 1954, S. 183; siehe weiter Engisch, ZStW 70 (1958), S. 583 ff.;
Arthur Kaufmann, Das Unrechtsbewußtsein in der Schuldlehre des Strafrechts, 1949,
S. 66 f., 170 f., 178 f.; derselbe, ZStW 76 (1964), S. 564 ff.; eingehende Nachweise
zur Entstehungsgeschichte dieser Lehre und zu deren Vertretern bis Ende der fünfziger
Jahre bei Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960; wegen
der weiteren Entwicklung vgl. Hirsch (Anm. 70), vor § 32 Rn. 7 f.
In diesem Sinne mit Unterschieden in der Formulierung z.B. Rudolphi, Festschrift für
Maurach, 1972, S. 58 f.; Schönke/Schröder/Cramer (Anm. 82), § 15 Rn. 26 und § 16
Rn. 18; Schönke/Schröder/Lenckner (Anm. 70), vor § 13 Rn. 19; Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 3. Aufl. 1981, Rn. 496 ff., 504; Frisch, Vorsatz und Risiko,
1983, S. 244 ff., 248 ff.; Herzberg, JA 1989, 295 f.; Hruschka (Anm. 91), S. 207 f.;
Kuhlen (Anm. 54), S. 326 ff.
In diesem Sinne z.B. Hirsch (Anm. 70), vor § 32 Rn. 8; derselbe, ZStW 93 (1981),
S. 257 ff. (mit Nachweisen zum Streitstand); Paeffgen, Gedächtnisschrift für Armin
Kaufmann, S. 405 f.; derselbe, Der Verrat in irriger Annahme eines illegalen Geheim-
250
Wolfgang Frisch
schiedliche Argumente vorgebracht. Von den einen wird vor allem die
Gleichwertigkeit von Tatbestandsmerkmalen und Rechtfertigungsgründen
bestritten; Bezugspunkt des Vorsatzes soll danach allein der Tatbestand sein,
womit bei einem Täter, der diesen Tatbestandsvorsatz habe, das durch diesen
verkörperte Vorsatzunrecht auch dann gegeben sei, wenn er irrtümlich die
Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes annehme.100 Andere argumentieren mehr prüfungs- und aufbautechnisch, indem sie darauf hinweisen,
daß nach der Begründung des Tatbestandsvorsatzes und der Rechtswidrigkeit ja eigentlich gar keine andere Möglichkeit als die Verneinung allein
noch der Schuld verbleibe.101 Nicht ohne Bedeutung für die Zuordnung sind
endlich folgenorientierte Argumente. So schwingt in den Begründungen für
den Ausschluß allein der Vorsatzschuld und nicht schon des Vorsatzunrechts
vielfach mehr oder weniger deutlich der Gedanke mit, daß nur bei einer solchen Sicht die Strafbarkeit eines Teilnehmers gewährleistet sei, der den Irrtum des Haupttäters durchschaut: Würde man den Irrtum des Haupttäters als
vorsatzunrechtsausschließend ansehen, so entfiele damit mangels vorsätzlich-rechtswidriger, also das Vorsatzunrecht aufweisender Haupttat auch die
Teilnehmerstrafbarkeit. Diese bleibe dagegen erhalten, wenn man als beim
Haupttäter ausgeschlossen lediglich die Vorsatzschuld ansehe.102 Im Ergebnis stimmt damit ein Teil der Anhänger der Lehre von der Unrechtsrelevanz
des Vorsatzes hinsichtlich der systematischen Behandlung des Irrtums über
die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes mit den Vertretern einer
weitgehend objektiv konzipierten Unrechtslehre überein.
nisses (§ 97b StGB) und die allgemeine Irrtumslehre, 1979, S. 98 ff. (dazu Kuhlen
[Anm. 54], S. 306 ff.); Schroeder, in: Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1980, § 16 Rn.
47 ff., 52, und Welzel (Anm. 48), S. 169, als Vertreter der sog. strengen Schuldtheorie
(siehe noch unten bei Anm. 109 ff.), aber auch die Anhänger der sog. rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie, etwa Jescheck (Anm. 76), S. 417 f.; Lackner (Anm. 82),
§ 17 Anm. 5 b; Maurach/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 7. Aufl. 1987, § 37 Rn.
43; Wessels (Anm. 79), § 11 III 1 c mit weiteren Nachweisen, und die sog. unselbständige Schuldtheorie Jakobs' (Anm. 70), 11/53, 58 f.
100 Vgl. etwa Hirsch (Anm. 70), vor § 32 Rn. 8; Welzel (Anm. 48), S. 169; derselbe,
ZStW 67 (1955), S. 210 f.; ebenso schon Graf zu Dohna (Anm. 51), S. 51 f.
101 In diesem Sinne etwa Wessels (Anm. 79), § 11 III 1 c.
102 So schon Welzel (Anm. 47), S. 65; ebenso z.B. Blei, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 18.
Aufl. 1983, S. 206; Dreher, Festschrift für Heinitz, 1972, S. 222; Wessels (Anm. 79),
§ 11 III 1 e; siehe auch Hirsch (Anm. 97), S. 326 ff.; gegen diese Argumentation z.B.
Arthur Kaufmann, Festschrift für Lackner, S. 194 f.; Herzberg, JA 1989, 297 f.; Kuhlen (Anm. 54), S. 327 ff., und Schünemann, GA 1985, 349 f.; siehe auch noch unten
IV. 1.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
251
b) Das eben gezeichnete Bild der Auffassungen über die systematischen
Auswirkungen des sogenannten Erlaubnistatbestandsirrtums wird noch verwirrender, wenn man in die Betrachtung auch die Aussagen zur rechtspraktischen Lösung der einschlägigen Fälle einbezieht. Denn auf dieser Ebene
finden Auffassungen, die sich unter systematischem Aspekt deutlich unterscheiden, plötzlich zusammen, während andererseits Auffassungen mit gleichem systematischem Ansatz hier divergieren. Konkret: Die früher herrschende, weitgehend objektiv orientierte Unrechtslehre, die dem Irrtum
über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes - wie dem Tatbestandsirrtum auch - allein Schuldrelevanz zuerkannte, ging fast einmütig davon aus, daß die irrtümliche Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts
ebenso ein Irrtum über Tatumstände im Sinne des § 59 StGB a.F. sei wie
der Irrtum über ein Tatbestandsmerkmal - mithin, wie dieser, prinzipiell
und ohne weitere Voraussetzungen die Vorsatzschuld ausschließe.103 Möglich sei in derartigen Fällen allein - bei fahrlässiger Annahme der rechtfertigenden Situation - eine Fahrlässigkeitsbestrafung. An dieser Auffassung haben die Autoren, die sich diesem systematischen Konzept heute noch verbunden fühlen, auch nach der Ablösung des § 59 StGB a.F. durch § 16
Abs. 1 StGB festgehalten.104 Zum selben Ergebnis gelangen die Anhänger
der Unrechtsrelevanz des Vorsatzes, die der irrtümlichen Annahme einer
Rechtfertigungslage Einfluß auf das Vorsatzunrecht zubilligen: Die Vorsatzbestrafung sei - nunmehr freilich wegen fehlenden Vorsatzunrechts ebenso ausgeschlossen wie bei einem Irrtum über ein "echtes" Tatbestandsmerkmal; allein in Betracht komme - bei Vorhandensein eines Fahrlässigkeitstatbestands und wenn man dem Täter in bezug auf seinen Irrtum einen
Vorwurf machen kann - eine Fahrlässigkeitsbestrafung.105 Und auch die
Rechtsprechung, die sich systematisch nicht festzulegen pflegt,106 vertritt
103 Vgl. die Nachweise oben Anm. 5; zu den wenigen Ausnahmen in der älteren Lehre
und Rspr. oben Anm. 6 und 7.
104 Vgl. etwa Baumann/Weber (Anm. 65), S. 415 f. i.V.m. 277 f.; Engisch, ZStW 70
(1958), S. 583 ff.; Kohlrausch/Lange, StGB, 43. Aufl. 1961, § 59 Anm. V 1
(S. 227 f.); Schmidhäuser (Anm. 65), 10/69.
105 Vgl. die Nachweise oben Anm. 97 und insbesondere 98.
106 Die bisweilen für eine Verneinung nur der Vorsatzschuld (nicht schon des Vorsatzunrechts) ins Feld geführten Entscheidungen (BGH bei Holtz, MDR 1979, 985; BGHSt
31, 264, 286 f.) enthalten sich in Wahrheit einer eindeutigen systematischen Zuordnung;
wer sich auf sie beruft (vgl. etwa Hirsch [Anm. 70], vor § 32 Rn. 8; Wessels [Anm. 79],
§ 11 III 1 c), dürfte wohl doch etwas zu sehr auf Formulierungen setzen, von denen
dunkel ist, ob sie überhaupt als systematische Einordnung auf der Basis eines den Vorsatz an sich zum Unrecht zählenden Systemmodells gedacht sind (so insbesondere die
Entscheidung OLG Hamm NJW 1987, 1034, auf die sich Wessels beruft) - dies um so
252
Wolfgang Frisch
diese Lösung (also Vorsatzausschluß und damit Ausschluß der Vorsatzbestrafung ohne weitere Voraussetzungen sowie allenfalls Fahrlässigkeitsbestrafung107), die man üblicherweise - in der Terminologie freilich nicht einheitlich - unter dem Stichwort der sogenannten eingeschränkten Schuldtheorie zusammenfaßt.108 Schwankungen bestehen insoweit - vom unterschiedlichen systematischen Fundament abgesehen - nur in der Frage, ob dieses
rechtspraktische Sachergebnis rechtstechnisch über eine direkte oder eine
analoge Anwendung des § 16 Abs. 1 StGB zu begründen sei.109
Während die eben skizzierten Auffassungen von unterschiedlichen systematischen Ansatzpunkten her oder ohne systematische Festlegung zum selben
rechtspraktischen Ergebnis finden, verhält es sich bei den Auffassungen, die
dem Vorsatz zwar Unrechtsrelevanz zuerkennen, dem Erlaubnistatbestandsirrtum aber nur Einfluß auf die Vorsatzschuld zubilligen, gerade umgekehrt. Die eine Gruppe der Vertreter dieser systematischen Grundkonzeption - sie wird gemeinhin als sogenannte strenge Schuldtheorie apostrophiert - geht gedanklich davon aus, daß im Falle eines Irrtums des Täters
über das Gegebensein eines rechtfertigenden Sachverhalts angesichts des
Vorhandenseins von Vorsatzunrecht110 die allein adäquate Basis für eine
etwaige Bestrafung das Vorsatzdelikt sei.111 Dementsprechend wird der Irrende dann, wenn ihm wegen seiner irrtümlichen Annahme ein Vorwurf gemacht werden kann, als Täter des jeweiligen Vorsatzdelikts, wenn auch (wegen der im Verhältnis zum insoweit nicht irrenden Täter regelmäßig gemin-
107
108
109
110
111
mehr, als in den in Bezug genommenen Entscheidungen unterschiedslos auch frühere
Judikate zustimmend zitiert sind, die sich eindeutig zum Vorsatzausschluß bekennen
(z.B. BGHSt 3, 105, 107).
Vgl. insbesondere BGHSt 3, 105, 106 f.; 3, 194, 196; 3, 357, 359, 364; 17, 87, 91; 31,
264, 287; BGH bei Holtz, MDR 1979, 985; BGH NStZ 1983, 500.
Zur schwankenden Terminologie Wessels (Anm. 79), § 11 III 1 (vor a), und - kritisch Grünwald, Gedächtnisschrift für Noll, 1984, S. 183; siehe auch Herzberg, JA 1989,
294 f., der nur die das Vorsatzunrecht bejahende Variante fehlender Vorsatzbestrafung
als Schuldtheorie bezeichnet und die das Vorsatzunrecht verneinenden Auffassungen
als "Unrechtstheorie" etikettiert.
Je nachdem, ob man "Tatbestand" im Sinne des § 16 Abs. 1 StGB unter Einschluß sog.
negativer Tatbestandsmerkmale versteht oder auf den unrechtstypischen Tatbestand
beschränkt; vgl. Schönke/Schröder/Cramer (Anm. 82), § 16 Rn. 17 f. i.V.m. § 15
Rn. 18.
Vgl. oben bei Anm. 99.
Zu den älteren Wurzeln dieser Auffassung oben Anm. 54 (und Anm. 35 zu Vorläufern
im Rahmen der objektiven Unrechtslehre); aus der neueren Literatur etwa Hirsch
(Anm. 70), vor § 32 Rn. 8; derselbe, ZStW 93 (1981), S. 257 ff.; Armin Kaufmann, JZ
1955, 37; derselbe, Festschrift für Welzel, 1974, S. 393, 398 ff.; Paeffgen (Anm. 99);
Schroeder (Anm. 99), § 16 Rn. 49; Welzel (Anm. 48), S. 168 ff.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
253
derten Schuld) mit der Möglichkeit einer Milderung,112 bestraft - nur im
Falle insoweit fehlender Schuld soll demnach die Vorsatzbestrafung entfallen. Zur rechtstechnischen Begründung dieser Lösung wird auf § 17 StGB,
die Vorschrift über den Verbotsirrtum, verwiesen - und zwar nicht nur, weil
diese Vorschrift nach ihren Rechtsfolgen die Realisierung des eben skizzierten materialen Programms erlaube, sondern deswegen, weil sie einschlägig
sei. Denn wie der Täter, der ganz allgemein über die Verbotenheit oder
Rechtswidrigkeit seiner Tat irre, befinde sich wesensmäßig in einem Verbotsirrtum auch der, der sein Handeln wegen der irrigen Annahme eines
Rechtfertigungsgrundes für in concreto erlaubt hält.113
Die zweite Gruppe jener Autoren, die dem Irrtum über einen rechtfertigenden Sachverhalt nur Einfluß auf die Vorsatzschuld zubilligen möchten, sieht
die Dinge anders. Obwohl sie selbst das Gegebensein des Grundstokkes eines Vorsatzdelikts, sogenanntes Vorsatzunrecht, bejaht, strebt sie hinsichtlich der weiteren rechtspraktischen Behandlung der Sachverhalte eine Lösung an, die der eingeschränkten Schuldtheorie entspricht: Eine Vorsatzbestrafung soll in derartigen Fällen a limine ausscheiden; auch wenn der Täter
schuldhaft über die Rechtfertigungslage geirrt hat, soll keine (wenn auch gemilderte) Bestrafung wegen eines Vorsatz-, sondern allein eine solche wegen
eines Fahrlässigkeitsdelikts in Betracht kommen.114 Begründet wird dies damit, daß der Täter, der von einem rechtfertigenden Sachverhalt ausgeht, subjektiv an sich rechtstreu handele; denn träfe seine Annahme zu, so würde
sein Handeln mit der Rechtsordnung übereinstimmen. Damit sei es ungerechtfertigt, ihm den Vorwurf zu machen, den man dem Vorsatztäter gegenüber erhebt - daß er nämlich von den Maßstäben der Rechtsordnung abgewichen sei. Allein möglich sei der Vorwurf, zu Unrecht und vermeidbar
von einer rechtfertigenden Sachlage ausgegangen zu sein, also zu wenig
Sorgfalt auf die Erforschung des Sachverhalts verwendet bzw. ohne zureichende Erforschung desselben gehandelt zu haben; dies begründe aber
112 Über deren Ausmaß wird freilich nochmals diskutiert: Die Hauptströmung der strengen Schuldtheorie hält die Milderung gemäß §§ 17 Satz 2, 49 Abs. 1 StGB offenbar
für adäquat (hiergegen Jakobs [Anm. 70], 11/45); Krümpelmann, in: Jescheck (Hrsg.),
Deutsche strafrechtliche Landesreferate zum X. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung Budapest 1978, Beiheft zur ZStW, 1978, S. 6 ff., 47 ff., plädiert demgegenüber für die Möglichkeit einer Milderung auch gemäß § 49 Abs. 2 StGB.
113 Vgl. nur Welzel (Anm. 48), S. 168.
114 In diesem Sinne z.B. Blei (Anm. 102), S. 206; Dreher/Tröndle, StGB, 44. Aufl. 1989,
§ 16 Rn. 26, 27; Jescheck (Anm. 76), S. 418; Lackner (Anm. 82), § 17 Anm. 5 b; Wessels (Anm. 79), § 11 III 1 c; bei Jescheck und Wessels auch weitere Literaturnachweise.
254
Wolfgang Frisch
nicht mehr als den Vorwurf fahrlässigen Handelns. Wegen der rechtstechnischen Absicherung dieses Ergebnisses lehnen sich die Vertreter dieser Auffassung an § 16 Abs. 1 StGB an: Die Vorschrift passe zwar nicht direkt,
denn sie regele allein den echten Tatbestandsirrtum. Sie lasse sich auch nicht
- wie dies die Vertreter der sogenannten eingeschränkten Schuldtheorie annehmen - einfach analog anwenden. Denn nach § 16 Abs. 1 StGB sei im
Falle des Tatbestandsirrtums der Vorsatz und das heißt auch: das Vorsatzunrecht ausgeschlossen - und davon könne hier keine Rede sein, hier
fehle es nur an der Vorsatzschuld. Da auch diese für die Vorsatzbestrafung
unverzichtbar sei und vorhandene Schuld als materielle Fahrlässigkeitsschuld nur im Fahrlässigkeitsrahmen abgegolten werden könne, sei es jedoch
sachgerecht, die Rechtsfolgen des § 16 Abs. 1 StGB zu übernehmen (nach
dem ja Vorsatzbestrafung ausgeschlossen ist und allenfalls - nämlich bei
einem etwa vorhandenen Fahrlässigkeitsdelikt und gegebener Fahrlässigkeitsschuld in concreto - noch eine Fahrlässigkeitsbestrafung in Betracht
kommt): sogenannte "rechtsfolgenverweisende (eingeschränkte) Schuldtheorie".
Gewissermaßen zwischen der strengen und der rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie steht die unselbständige Schuldtheorie Jakobs':115 Sie geht, wie die strenge
Schuldtheorie, davon aus, daß der im Erlaubnistatbestandsirrtum Handelnde nicht
nur Vorsatzunrecht verwirkliche, sondern auch - bei Vermeidbarkeit des Irrtums die Schuld der Vorsatztat auf sich lade. Sie verneint jedoch die Adäquität der von
der strengen Schuldtheorie angenommenen Rechtsfolge: Die bloße Rahmenmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB könne zu (Mindest-)Strafen führen, die dem stufenlos sinkenden Vermeidbarkeitsmaß des Irrtums ebensowenig gerecht werden wie
dem Umstand, daß die Gründe für die Straflosigkeit der Fahrlässigkeit in gewissen
Fällen der irrigen Annahme einer Rechtfertigungslage gleichfalls tragen. Diesen
Bedenken lasse sich nur dadurch Rechnung tragen, daß man die Bestrafung des im
Erlaubnistatbestandsirrtum Handelnden auf die Fahrlässigkeitsstrafe reduziere, also
nur bestrafe, wenn auch fahrlässiges Verhalten strafbar ist, und die Strafe dem
Fahrlässigkeitsrahmen entnehme.
Die Unterschiede in den eben referierten rechtspraktischen Lösungen sollten
nicht bagatellisiert werden. Ohne praktische Auswirkungen sind die Divergenzen nur bei fehlender Vorwerfbarkeit des Irrtums - hier gelangen alle
Auffassungen, wenn auch gestützt auf unterschiedliche gesetzliche Regelungen und mit durchaus verschiedener Begründung hinsichtlich des systematisch je ausgeschlossenen Straftatelements, zu gleichen Ergebnissen. Im
Falle der Vorwerfbarkeit des Irrtums bestehen dagegen jenseits der syste115 Jakobs (Anm. 70), 11/53 a.E., 55 f., 58 f.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
255
matischen Divergenzen und der unterschiedlichen gesetzestechnischen Begründung einer etwaigen Bestrafung auch erhebliche Unterschiede im Ergebnis. Dies nicht nur deshalb, weil das geltende deutsche Strafrecht das
Vorsatzdelikt weit schärfer als das Fahrlässigkeitsdelikt bestraft und daher
im Falle etwa existierender Fahrlässigkeitsdelikte der nach der sogenannten
strengen Schuldtheorie maßgebende Strafrahmen des Vorsatzdelikts auch
unter Berücksichtigung der gesetzlichen Milderungsmöglichkeit nach § 17
Satz 2 StGB oft erheblich über dem Strafrahmen eines korrespondierenden
Fahrlässigkeitsdelikts liegt. Die zur Anwendbarkeit der Vorsatzdelikte gelangende sogenannte strenge Schuldtheorie ist vor allem auch deshalb in ihren Konsequenzen erheblich schärfer als die von der herrschenden Meinung
(einschließlich der Rechtsprechung) präferierte Möglichkeit allein einer
Fahrlässigkeitsbestrafung, weil sie in jedem Fall eines schuldhaften Irrtums
(wegen des verfügbaren Vorsatzdelikts) zu einer Bestrafung kommt, während eine Lösung, die allein eine Bestrafung nach Fahrlässigkeitsmaximen
zuläßt, weithin schon deshalb zur Straflosigkeit führt, weil das geltende
deutsche StGB nur einige wenige Fahrlässigkeitsdelikte kennt.
6.
Irrtümer in bezug auf normative Tatbestandsmerkmale und Blankette
Die bisherigen Überlegungen haben der Frage nach der grundsätzlichen
Behandlung und der systematischen Einordnung bestimmter Irrtumstypen
gegolten. Dabei hat sich gezeigt, daß insbesondere die Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums, mit Abstrichen auch die systematische Bedeutung des Tatumstandsirrtums, überaus umstritten ist. Der Streit über die Behandlung und systematische Einordnung der anderen Irrtumstypen hält
sich zwar im Blick auf insoweit bestehende gesetzliche Regelungen in Grenzen oder ist abgeflaut, er besteht jedoch sowohl im systematischen Bereich
als auch in Gestalt deutlicher Kritik an der Adäquität der gesetzlichen Regelungen fort. Indessen ist das Bild der strafrechtlichen Irrtumslehre in
Deutschland nicht nur durch die schon geschilderten Kontroversen über die
Behandlung und systematische Relevanz der einzelnen Irrtumstypen gekennzeichnet. Die Verhältnisse werden zusätzlich kompliziert dadurch, daß
in einer erheblichen Zahl von Fällen unklar ist, ob eine bestimmte Fehlvorstellung bzw. Unkenntnis der einen oder anderen - hinsichtlich systematischer Relevanz und/oder Behandlung dann zum Teil ebenfalls umstrittenen Irrtumskonstellation zuzuordnen ist. Zweifel solcher Art können vor allem
- freilich keineswegs nur - im Bereich der Tatbestandsmerkmale auftauchen,
die im Sinne des üblichen Verständnisses nicht deskriptiv sind, sondern eine
256
Wolfgang Frisch
Wertung voraussetzen oder im Blick auf andere Normen zu konkretisieren
sind.116 Sie begegnen darüber hinaus insbesondere bei Strafrechtsnormen,
die Blankette sind und bei denen sich die in concreto je verbotenen Verhaltensweisen nur durch die Heranziehung anderer, regelmäßig außerhalb des
Strafrechts stehender Normen bestimmen lassen - wie dies z.B. bei dem
Straftatbestand der Steuerhinterziehung der Fall ist, der mit der Anknüpfung
an die pflichtwidrige Nichtmitteilung steuerlich erheblicher Tatsachen sachlich auf die entsprechenden Mitteilungspflichten des Steuerrechts Bezug
nimmt, oder dem Bankrottatbestand, der die Strafbarkeit dessen vorsieht, der
z.B. Handelsbücher, zu deren Führung er gesetzlich verpflichtet ist, zu führen unterläßt.117
a) Was zunächst die Irrtumsproblematik im Bereich der sogenannten normativen Tatbestandsmerkmale anlangt, so schien der hier seit langem bestehende Streit über die Abgrenzung prinzipiell vorsatzausschließender Tatumstandsirrtümer von hierzu nicht geeigneten Irrtümern dadurch weitgehend
gegenstandslos geworden zu sein, daß der BGH die reichsgerichtliche Distinktion zwischen irrelevantem strafrechtlichem und relevantem außerstrafrechtlichem Irrtum aufgegeben hatte. Indem sich der BGH zugleich zu dem
in der Literatur favorisierten Kriterium der "Parallelwertung" in der Laiensphäre118 bekannte und von einem schon prinzipiell den Vorsatz ausschließenden Irrtum nur sprach, wenn der Täter das auch laienhaft nicht erfaßt hatte, worauf es nach der Wertung des Gesetzes ankommt, schienen
Rechtsprechung und Lehre doch jedenfalls hinsichtlich der für die Beurteilung maßgebenden grundsätzlichen Leitlinie einig zu sein. Sieht man genauer hin, so stellt man indessen rasch fest, daß von solcher Einigkeit schon
in grundsätzlicher Hinsicht keine Rede sein kann. Die Rechtsprechung bemüht zwar verbal zum Teil die Formel von der Parallelwertung. Sie praktiziert unterhalb dieser verbalen Verständigungsbasis aber ganz unterschied116 Zu derartigen Begriffen und ihren Besonderheiten eingehend mit - auch historischen Nachweisen Schlüchter (Anm. 19), insbesondere S. 7 ff., 15 ff., 92 ff.; siehe ferner
Schroeder (Anm. 99), § 16 Rn. 41 ff. Kritisch zur Brauchbarkeit der Unterscheidung
zwischen normativen und deskriptiven Merkmalen Puppe, GA 1990, 173, 178 f.
117 Zu Blankettgesetzen im Strafrecht vgl. etwa Warda, Die Abgrenzung von Tatbestandsund Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, 1955, S. 5 ff.; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969, S. 239 ff., und jüngst Puppe, GA 1990, 162 ff.;
Überblicke über die Beurteilung von Irrtümern über Blankettmerkmale seitens der
Rspr. finden sich bei Herdegen, BGH-Festschrift, 1975, S. 202 ff.; Kuhlen (Anm. 54),
S. 44 ff., 54 ff., und jüngst Otto, Gedächtnisschrift für K. Meyer, S. 584 ff.
118 Vgl. die Nachweise oben Anm. 59 sowie bei Lackner (Anm. 82), § 15 Anm. II 2 b
(dort auch Nachweise abweichender Ansätze).
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
257
liche Zuordnungsmuster, indem sie zum Teil darauf abhebt, ob der Irrtum
auf tatsächlichem oder auf rechtlichem Gebiet liegt, zum Teil aber auch den
rechtlichen Irrtum (insbesondere bei Irrtümern im außerstrafrechtlichen Bereich) als vorsatzausschließend ansieht.119 Es ist mit anderen Worten sehr
die Frage, ob die Rechtsprechung materiell wirklich von der Leitlinie des
Reichsgerichts abgerückt ist.120 In der Literatur aber ist, wenn nicht alles
trügt, das Stichwort von der Maßgeblichkeit der "Parallelwertung" in der
Laiensphäre ebenfalls in eine Krise geraten. Erste Anzeichen dieser Krise
waren im Grunde schon die Versuche, einen Teil der - bis dahin - normativen Tatbestandsmerkmale zu sogenannten Rechtswidrigkeitsmerkmalen zu
erklären und damit die vorsatzausschließende Wirkung der fehlenden Parallelwertung zu unterlaufen121 - wie etwa dort, wo das Gesetz von der "Zuständigkeit" spricht. Mittlerweile ist die Krise grundsätzlicher geworden.
Von manchen wird nunmehr im Sinne einer deutlichen Reduzierung der Anforderungen an die Bejahung des Vorsatzes und damit letztlich einer Einschränkung der (prinzipiell) vorsatzausschließenden Irrtümer schon grundsätzlich die "Erfassung der Verletzungsbedeutung des Verhaltens" für
ausreichend erklärt,122 andere fordern, daß der Täter "den Sinn des Tatbestands" (dieser Sinn als Sachverhalt verstanden) erfaßt haben muß,123 wieder
andere heben mehr oder weniger unverblümt auf die alte Unterscheidung von Rechts- und Tatsachenirrtum ab,124 und endlich finden sich inzwi119 Eine Analyse der Rspr. findet sich bei Schlüchter (Anm. 19), S. 44 ff., 62 ff., und
Kuhlen (Anm. 54), S. 153 ff., 180 ff.; siehe ferner Baumann, Festschrift für Welzel,
S. 533 ff., und Schroeder (Anm. 99), § 16 Rn. 41 ff. mit weiteren Nachweisen.
120 Im Sinne der These, daß die vom Reichsgericht vertretene Unterscheidung der Sache
nach bis heute der Rspr. zugrunde liegt, in neuerer Zeit vor allem Kuhlen (Anm. 54,
eingehend Anm. 64; dort auch weitere Nachweise).
121 Vgl. etwa Welzel, JZ 1952, 19, 133, 208; 1953, 119; ZStW 67 (1955), S. 224; derselbe
(Anm. 48), S. 168; Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. 101, 257, 286.
122 So etwa Schlüchter (Anm. 19), insbesondere S. 79 ff., 117 ff.; hiergegen Tischler
(Anm. 14), S. 367 ff., und Arthur Kaufmann, Festschrift für Lackner, S. 191 f.; kritisch
auch Kuhlen (Anm. 54), S. 431 ff., 444 f.
123 So Puppe, GA 1990, 145 ff., und ZStW 102 (1990), 896 ff.; dagegen wiederum Kindhäuser, GA 1990, 407, 409 ff., 413 f., 416 f.
124 So etwa Herberger, Die deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, in: Herberger/H.J. Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische
Philosophie, 1976, S. 124, 141 ff., 152; der Sache nach auch Kindhäuser, GA 1990,
407 ff., der nur den Irrtum über die Wahrheit der im Normbefehl genannten Voraussetzungen als vorsatzausschließend behandeln will und diesem Irrtum als nicht vorsatzausschließend (sondern nur für § 17 StGB bedeutsam) den "Sinnirrtum" gegenüberstellt
(dabei freilich näher besehen in gewissen Fällen - z.B. bei der Urkundenfälschung -
258
Wolfgang Frisch
schen auch wieder deutliche Sympathieerklärungen für die alte Distinktion
des Reichsgerichts, also die These, daß prinzipiell vorsatzausschließend nur
der außerstrafrechtliche Irrtum wirke, während der strafrechtliche - insoweit
gegenüber dem Reichsgericht modifiziert - nur über den Verbotsirrtum (gegebenenfalls) Beachtung finden könne.125
Daß bei so viel Divergenzen schon über den Inhalt der grundsätzlich maßgebenden Beurteilungsleitlinie auch in den Einzelheiten vielfältige Schwankungen und Meinungsunterschiede bestehen, ist nicht verwunderlich. Klar
sind im Grunde nur die Paradebeispiele der Lehrbuchdiskussion - wie der
Fall des (aus zivilrechtlichen Gründen) die Fremdheit der weggenommenen
Sache nicht kennenden Täters oder die bekannten Beispiele zum erforderlichen Vorsatz hinsichtlich der Urkundenqualität eines bestimmten Gegenstands: Hier führt gewissermaßen der Konsens über das im Subjektiven deliktstypisch notwendige Tatbestandsbild zum richtigen Ergebnis (und ist der
Streit über die richtige Formel somit praktisch bedeutungslos).126 Durchaus
anders ist es dagegen bei den Tatbeständen, bei denen solche gefestigte
Strukturen und konsentierte Bilder (in bezug auf das entsprechende Merkmal
noch) fehlen - wie etwa beim Tatbestandsmerkmal der "Zuständigkeit" (zur
Abnahme von Eiden) in den Aussagedelikten. Hier besteht zwar Konsens
darüber, daß der Tatsachenirrtum (der Richter ist gar nicht als solcher erkannt) den Vorsatz prinzipiell ausschließt. Jenseits dieser Grenzen beginnt
jedoch der Streit. Die einen erklären alle Irrtümer im Wertungsbereich,
insbesondere aufgrund rechtlicher Fehlannahme, hier für unerheblich, wobei sie sich zur Erklärung dieser von der "Parallelwertungsthese" abweichenden Sachbehandlung auf die Qualität des Merkmals als Rechtswidrigkeitsmerkmal oder Blankettbegriff berufen,127 zum Teil aber auch
unverdeckt auf die alte gemeinrechtliche Distinktion von Tatirrtum und
Rechtsirrtum rekurrieren.128 Die Gegenposition fordert - zumindest verbal -
125
126
127
128
eben doch die Erfassung bestimmter Sinngehalte fordert und bei deren Nichterfassung
Vorsatzausschluß annimmt; vgl. a.a.O., S. 411 f., 415 f., 418).
So etwa Kuhlen (Anm. 54), insbesondere S. 121 ff., 333 ff.; zuvor hatte schon Tischler
(Anm. 14), S. 349 ff., unverkennbar Sympathie für die reichsgerichtliche Grenzziehung erkennen lassen.
Dazu, daß das letztlich auch einsichtig ist, weil es eben nicht um ein mit einer allgemeinen Formel lösbares Problem, sondern um die bei einer adäquaten Normkonkretisierung sich je ergebenden normspezifischen Wissensinhalte geht, vgl. noch unten
IV. 5.
Welzel (Anm. 48), S. 168, 515 f., 527 f.; eingehend Hirsch (Anm. 97), S. 299 ff.
Besonders deutlich im Rahmen der Behandlung des umgekehrten Irrtums: der reine
Rechtsirrtum soll hier ein Wahndelikt darstellen, nur der Tatsachenirrtum soll zum
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
259
die volle Kenntnis der Zuständigkeit und sieht Fehlwertungen des Täters,
auch infolge fehlerhafter Rechtsansicht, als vorsatzausschließend an.129 Dazwischen finden sich andere Positionen, die die volle Kenntnis der Zuständigkeit durch die Erfassung der in der Zuständigkeit enthaltenen "rechtsgutsbezogenen Komponente" ersetzen wollen130 oder zwar den Bedeutungsirrtum auch hier als vorsatzausschließend werten, bei fehlerhaften
rechtlichen Erwägungen aber den Vorsatzausschluß ablehnen und nur einen
Subsumtionsirrtum annehmen wollen.131
b) Ebenso umstritten wie die Klassifikation von Irrtümern im Bereich der
normativen Tatbestandsmerkmale ist die Aufteilung der Fehlvorstellungen
auf die Kategorien "Tatumstandsirrtum - Verbotsirrtum" im Zusammenhang
sogenannter Blankettatbestände. Hier wird bei völlig gleichen Sachverhalten
für das eine ebenso plädiert wie für das andere. Von der einen Auffassung
wird als maßgeblich erachtet, daß die in den Strafgesetzen vorausgesetzten
bzw. durch Verweisung in Bezug genommenen Vorschriften hier die Verbotsmaterie mitbestimmen, also das Verbot komplettieren oder die strafrechtlich bewehrten Pflichten bilden. Sie gelangt daher, ähnlich wie es wäre,
wenn die entsprechende Pflicht in der strafrechtlichen Norm selbst stünde,
beim Irrtum über das Bestehen der Pflicht oder deren Reichweite zu einem
Verbotsirrtum.132 Ein Tatumstandsirrtum soll danach nur vorliegen, wenn
der Täter schon die Umstände nicht kennt, bei deren Gegebensein die entsprechende Pflicht besteht. Die Gegenauffassung zieht den Kreis der vorsatzausschließenden Irrtümer weiter: Vorsatzausschließend soll nach ihr
nicht nur die Unkenntnis der Tatumstände sein, an die die ausfüllende (im
Straftatbestand in Bezug genommene) Norm anknüpft. Zum Vorsatzausschluß soll vielmehr auch die Unkenntnis der in Bezug genommenen Pflicht
129
130
131
132
untauglichen Versuch führen, vgl. die Übersicht bei Schlüchter (Anm. 19), S. 150 f.;
ferner Krey, Strafrecht, Besonderer Teil I, 7. Aufl. 1989, Rn. 559.
Vgl. etwa Kohlrausch/Lange (Anm. 104), § 154 Anm. V; wohl auch Kuhlen
(Anm. 54), S. 440 f.
So Schlüchter (Anm. 19), S. 125 f.
Vgl. Rudolphi, SK StGB, Bd. II, Besonderer Teil, 4. Aufl. 1989, § 153 Rn. 6; Schönke/
Schröder/Lenckner (Anm. 70), vor § 153 Rn. 32 mit weiteren Nachweisen.
Vgl. Warda (Anm. 117), S. 37; Schönke/Schröder/Cramer (Anm. 82), § 15 Rn. 99; Jescheck (Anm. 76), S. 277; Maurach/Zipf (Anm. 99), § 63 Rn. 9; Rudolphi, SK StGB,
Bd. I, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1989, § 16 Rn. 9; Schroeder (Anm. 99), § 16 Rn. 39;
für den Tatbestand der Steuerhinterziehung Maiwald, Unrechtskenntnis und Vorsatz
im Steuerstrafrecht, 1984, S. 15 ff. (mit eingehenden weiteren Nachweisen S. 4 ff.); im
Ergebnis ebenso Kindhäuser, GA 1990, 421 f. (Irrtum über "Jagdbarkeit des Tieres"
als Mißverständnis des Norminhalts von § 292 StGB).
260
Wolfgang Frisch
selbst führen133 - was zum Teil damit begründet wird, daß außerhalb des
Kernstrafrechts die Vorsatztheorie zu gelten habe,134 zum Teil aber auch
damit, daß die vorstrafrechtliche Pflicht bzw. das auf sie verweisende Blankettmerkmal Tatbestandsmerkmal sei und daher vom Vorsatz umfaßt sein
müsse.135 Doch ist der Meinungsstand in diesem Bereich mit der bloßen Gegenüberstellung der beiden skizzierten Grundpositionen noch nicht genau
beschrieben. Denn beide Auffassungen werden nicht selten auch in kombinierend-differenzierender Form vertreten, wobei Kriterium der Differenzierung die Art des Blanketts oder der Grundgedanke der Blankettnorm
ist.136
IV.
Die eigene Sicht
Die bisherigen Darlegungen haben sich darauf beschränkt, über die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Irrtumslehre zu berichten, wobei
im Rahmen dieser Darstellung die straftatsystematischen Aspekte einen
Schwerpunkt bildeten. Die persönliche Meinung des Verfassers kam im
Rahmen dieses Berichtes allenfalls durch die Auswahl und Verknüpfung der
Problemkreise, die Sicht der Entwicklungslinien und einige Randbemerkungen zum Ausdruck. Natürlich wäre es reizvoll, nach diesem Bericht in
eine eingehende eigene Untersuchung der angeschnittenen Fragen einzutreten und dabei die Prämissen, Argumente und Ergebnisse der verschiedenen
Auffassungen im einzelnen zu würdigen. Eine solche vertiefte und eingehendere Würdigung der Einzelansichten muß hier leider unterbleiben; sie
133 So schon RGSt 49, 323, 327; 50, 332, 335; 51, 228, 231 ff.; 56, 337, 339; 57, 15, 17
(dazu Kuhlen [Anm. 54], S. 421 ff.); aus der Judikatur des BGH z.B. BGHSt 5, 90, 92;
BGH DB 1977, 176; BGH wistra 1986, 220; 1987, 139; 1989, 263 (zum Irrtum über
den Steueranspruch bei der Steuerhinterziehung); BGH JZ 1989, 549 (zum Irrtum über
die Geltung eines Berufsverbots bei § 145c StGB); aus der Literatur Schröder, MDR
1951, 387, 389; Lange, JZ 1956, 73, 75 ff.; Tiedemann (Anm. 117), S. 387 ff.; Weber,
ZStW 96 (1984), S. 376, 393, sowie jüngst Puppe, GA 1990, 166 ff., und Otto, Gedächtnisschrift für K. Meyer, S. 584 ff.
134 So z.B. Lange, JZ 1956, 73, 75 ff.; dazu zuletzt Jenny, SchwZStR 1990, 241, 250 f.
135 In diesem Sinne Herdegen, BGH-Festschrift, S. 197, sowie jüngst erst wieder Puppe,
GA 1990, 166 ff., und Otto, Gedächtnisschrift für K. Meyer, S. 587 f., je mit weiteren
Nachweisen.
136 Im Sinne einer solchen Differenzierung z.B. Jakobs (Anm. 70), 8/47, und Kuhlen
(Anm. 54), der darauf abstellen will, ob es sich bei den Verweisungen der Blankettmerkmale um dynamische (dann Vorsatzausschluß) oder statische Verweisungen handelt (vgl. a.a.O., S. 416 ff.; kritisch dazu Puppe, ZStW 102 [1990], S. 899 f.). Siehe
auch Jenny, SchwZStR 1990, 252, 256, 258, der die Kenntnis des Verbots fordert,
wenn es an einer der rechtlichen Norm vorgelagerten sozialen Norm fehlt.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
261
würde den vorgegebenen Rahmen - noch mehr - sprengen. Was an dieser
Stelle allein möglich ist, sind einige skizzenhafte Überlegungen zu dem aus
der Sicht des Verfassers Bedeutsamen, verbunden mit der Darlegung der
eigenen Generallinie. Diese Bemerkungen scheinen mir allerdings auch geboten. Das gilt vor allem für die Überlegungen zum Stellenwert, zu der Bedeutung und zu den Maßstäben der systematischen Einordnung der verschiedenen Irrtumskonstellationen. Diesem Punkt wird in der gegenwärtigen Irrtumsdiskussion zu wenig Beachtung geschenkt, man geht hier weithin zu
hastig "in medias res". Auf diese Weise kommen, bedingt schon durch Fehleinschätzungen der Funktion oder der Art und Weise der Vornahme systematischer Einordnungen, Fehlargumente ins Spiel und geraten die eigentlich
maßgebenden Lösungsansätze aus dem Blick - hier liegt ein wesentlicher
Grund für die Unübersichtlichkeit und den Theorienpluralismus der Irrtumslehre. Vermeidet man diese Fehler im Einstieg, widmet man sich vor
dem Bemühen um die Lösung der Sachprobleme zunächst der Frage nach
der Bedeutung und nach den Kriterien systematischer Einordnungen, so
werden demgegenüber nicht nur sofort die maßgebenden, durchgängig leitfähigen Lösungsmaßstäbe für die Beantwortung der systematischen Fragen
wie der Frage nach der je richtigen rechtspraktischen Lösung sichtbar. Es
wird dann auch deutlich, daß eine grundlagenorientierte, methodisch fundierte Irrtumslehre einfacher ist, als es das unübersichtliche Gesamtbild der
heutigen Irrtumslehre glauben machen könnte.
1.
Bedeutung, Kriterien und Vorgaben systematischer Einordnungen
a) Ein wesentlicher, für manche Fehleinschätzung oder Irritation verantwortlicher Mangel der Diskussion um die systematische Qualifikation der
Irrtümer liegt, wie schon bemerkt, in Unklarheiten oder geradezu Fehlvorstellungen über das Wesen, die Bedeutung und die Kriterien einer systematischen Qualifikation. Vor allem dort, wo das Gesetz - wie z.B. bei der vorsatzausschließenden Wirkung des Tatumstandsirrtums - seit langem das
rechtspraktische Ergebnis ohnehin festlegt, erweckt die systematische Qualifikation der Irrtumskonstellationen bisweilen den Eindruck einer eigenständigen, jenseits der Sachfrage betreibbaren Diskussion - so, als ginge es darum, die ohnehin klare gesetzliche Entscheidung hinterher noch in ein Systemkonzept einzutragen. Aus anderen Äußerungen, insbesondere solchen,
die sich zur systematischen Frage gar nicht auslassen, sondern nur am
rechtspraktischen Ergebnis Interesse finden, kann man den Eindruck gewinnen, daß manchem die systematische Qualifikation als l'art pour l'art er-
262
Wolfgang Frisch
scheint - es doch letztlich gleichgültig sei, ob man das ohnehin feststehende
Ergebnis über den Gedanken eines Unrechts- oder Schuldausschlusses begründe. Wieder andere erkennen die systematische Qualifikation zwar als
durchaus bedeutsam an. Sie sehen die Bedeutung dabei jedoch in erster Linie
in der Fernwirkung der jeweiligen Qualifikation für Folgefragen in anderen
Zusammenhängen - womit die adäquate Programmierung dieser Folgefragen
zum Kriterium der systematischen Qualifikation wird; ein typisches Beispiel
bilden gewisse Äußerungen zur Relevanz des Erlaubnistatbestandsirrtums,
die versuchen, durch eine entsprechende systematische Qualifikation dieses
Irrtums eine (aus ihrer Sicht) adäquate Lösung von Teilnahmefragen zu erreichen.137
b) Vorstellungen der eben skizzierten Art sind verfehlt. Sie verkennen - in
freilich durchaus unterschiedlicher Weise - das Wesen systematischer Qualifikationen. Bei diesen geht es nicht darum, auf sonstige Weise gefundene Ergebnisse nachträglich systematisch einzuordnen. Die maßgebende Aufgabe
besteht vielmehr darin, bestimmte sogenannte Irrtumskonstellationen138 am
Maßstab der Inhalte der Systemkategorien Unrecht und Schuld zu messen
und auf diese Weise zu einer Aussage über ihre systematische Relevanz und
ihre richtige Sachbehandlung zu gelangen: Lassen die je interessierenden
Fehlvorstellungen - ggf. unter gewissen weiteren Voraussetzungen - jene Inhalte entfallen, die z.B. das Unrecht der Vorsatzdelikte kennzeichnen, so
steht damit sowohl ihre Qualifikation (Ausschluß des Vorsatzunrechts) als
auch das rechtspraktische Sachergebnis (keine Vorsatzbestrafung) fest. Berühren sie diese Inhalte dagegen nicht, so gilt es, sie nunmehr an den - anderen - Inhalten der Systemkategorie "Schuld" zu messen; ihre Einschlägigkeit nach diesem Maßstab kann zum selben rechtspraktischen Ergebnis (keine Vorsatzbestrafung) führen, ist dann aber anders fundiert. Sachlich ist es
dabei durchaus denkbar, daß eine bestimmte Irrtumskonstellation, die im
Lichte des einen Maßstabs, z.B. des Unrechts, bereits relevant ist, also hier
137 Vgl. die Nachweise oben Anm. 102.
138 "Sogenannte" nicht nur deshalb, weil es vielfach um gar keine Irrtümer im engeren
Sinne, sondern um schlichte Unkenntnis von Sachverhalten geht (die man freilich in
einem weiteren, normativ maßgebenden Sinne durchaus noch als Irrtum bezeichnen
kann; zur Problematik etwa Gössel, Über die Bedeutung des Irrtums im Strafrecht,
1974, S. 23, 28 ff.). Die Einstufung gewisser subjektiver Befindlichkeiten als "Irrtum"
ist vor allem deshalb problematisch, weil ihr ein unreflektierter Beurteilungsmaßstab
zugrunde liegt und es sich vor dem Hintergrund des normativ entscheidenden Maßstabs z.T. noch nicht einmal um einen Irrtumsfall handelt (vgl. etwa unten 5. im Zusammenhang der normativen Tatbestandsmerkmale).
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
263
zum Strafausschluß führt, solche Relevanz auch im Lichte des anderen Maßstabs (Schuld) hat - doch ist es angesichts der Verschiedenheit der sachlogisch aufeinander abgestimmten Maßstäbe einigermaßen naheliegend, daß
der Ausschluß hier unter anderen Voraussetzungen erfolgt und im Gesamtfeld der Konstellationen anders geschnitten ist.139
Vergegenwärtigt man sich dieses allein adäquate und sinnvolle Wesen der systematischen Qualifikation von Irrtumsfällen, so wird klar, woran die eingangs skizzierten Vorstellungen über das Wesen systematischer Qualifikationen und die entsprechend betriebenen Qualifikationen kranken. Eine systematische Einordnung
im Anschluß an die irgendwie sonst festgelegten Sachergebnisse kann es von vornherein nicht geben; denn die Sachergebnisse folgen überhaupt erst aus dem Inhalt
der systematischen Kategorien - die Gewinnung des Sachergebnisses und die systematische Einordnung bezeichnen nur verschiedene Aspekte desselben Vorgangs. Die gleichen Bedenken bestehen gegen die Vorstellung, man könne die systematische Frage mehr oder weniger offenlassen, sofern damit gemeint sein
sollte, man könnte zu den Sachergebnissen auch unabhängig von systemorientierten
Erwägungen kommen. Sollte damit aber gemeint sein, man brauche sich nicht
zu entscheiden, weil man die jeweiligen Ergebnisse am Maßstab der einen wie der
anderen Systemkategorie finden könne, so ist dagegen nicht nur zu sagen, daß
eine solche Deckung im Bereich der Ergebnisse lediglich teilweise besteht.139 Die
These würde vor allem verkennen, daß selbst dort, wo man zu gleichen Ergebnissen kommt, die Frage schon deshalb nicht offenbleiben kann, weil diese Offenheit
mit eindeutigen Wertentscheidungen außerhalb der hier interessierenden Irrtümer unvereinbar wäre - mit anderen Worten: daß in anderen Zusammenhängen
getroffene Entscheidungen es unmöglich machen, die Frage im vorliegenden Zusammenhang offenzulassen. Mit der Einsicht, daß es bei der systematischen Qualifikation darum geht, die Irrtumskonstellationen am Inhalt der Systemkategorien
zu messen und das Ergebnis dessen hinzunehmen, ist endlich aber auch der Stab
über jene Auffassung gebrochen, die systematische Qualifikationen zum Zweck
der Programmierung bestimmter Ergebnisse in anderen Kontexten (z.B. der Teilnahmelehre) bemüht. Diese Auffassung verkennt nicht nur das Wesen systematischer Qualifikationen und bringt deplazierte Kriterien ins Spiel; sie übersieht
auch, daß der von ihr eingeschlagene Weg schon deswegen überhaupt nicht notwendig ist, weil die Lösung der ihr am Herzen liegenden Probleme mühelos über
eine ratio-orientierte Auslegung in den anderen Bereichen möglich ist (etwa da-
139 Als Beispiel der Erlaubnistatbestandsirrtum: Geht man davon aus, daß die vorsätzliche
Tat schon im Unrechtsbereich durch sog. Entscheidungsunrecht charakterisiert ist, so
entfällt damit bei irrtümlicher Annahme eines Rechtfertigungssachverhalts ohne weitere Voraussetzungen die Vorsatzstrafe (vgl. unten 3.). Bestimmt man das Vorsatzunrecht dagegen anders und sieht es auch im Falle eines Erlaubnistatbestandsirrtums als
gegeben an, so eröffnet sich im Rahmen der damit folgenden Schuldprüfung die Möglichkeit, den Strafausschluß (in bezug auf die Vorsatztat) an die Unvermeidbarkeit des
Irrtums (und damit der Tat) zu knüpfen (vgl. noch unten 4.).
264
Wolfgang Frisch
durch, daß man im Bereich der Teilnahme für die vorsätzliche rechtswidrige
Haupttat den Tatbestandsvorsatz im engeren Sinne ausreichen läßt).140
c) Natürlich setzt eine systematische Qualifikation der eben beschriebenen Art voraus, daß man festliegende Inhalte der Systemkategorien hat, an
denen man die je interessierenden Phänomene, hier also die Irrtümer, messen kann. Möglicherweise rühren die schon gerügten Vorgehensweisen bei
der systematischen Qualifikation (oder deren Bagatellisierung) nicht nur
aus prinzipiellen Fehlvorstellungen über das im Rahmen der systematischen
Qualifikation zu Leistende, sondern auch aus der Vorstellung, daß es an
solchen als Maßstab benötigten festliegenden Inhalten doch weitgehend
fehle - man als Unrecht das eine wie das andere Substrat ausgeben könne.
Auch das wäre eine Fehlintuition. Zwar mag man sich jenseits konkreter
Normenordnungen den Unrechts- und Schuldbegriff in bestimmten (u.a.
durch Aspekte der Sachlogik mitbestimmten) Grenzen so oder so zurechtmachen können. Sobald man nach dem Inhalt der Kategorien in konkreten
Normenordnungen fragt, verfällt diese Freiheit. Hier zeigt sich, daß der Inhalt der Kategorien durch konsentierte Vorentscheidungen, Erwägungen der
Sachlogik, aber auch gesetzgeberische Entscheidungen in anderen Kontexten
weit mehr festgelegt ist, als es bei dem isolierten Blick auf das konkret zu
lösende Problem (hier die Irrtumskonstellationen) vielleicht scheinen mag.
Eine Betrachtungsweise, die um widerspruchsfreie systematische Qualifikation der von ihr zu behandelnden Phänomene bemüht ist, hat dann auch
diese Vorentscheidungen zu beachten. Sie hat die Irrtumsfragen so zu lösen,
daß die in dieser Lösung enthaltenen Aussagen über Inhalte der Systemkategorien Unrecht und Schuld sich mit diesen Vorwertungen - soweit
sie ebenfalls Aussagen über die Inhalte der Systemkategorien enthalten141 -
140 Vgl. dazu etwa Rudolphi (Anm. 132), § 16 Rn. 13; Frisch (Anm. 98), S. 253 (dort und
bei Arthur Kaufmann, Festschrift für Lackner, S. 194 f., auch dazu, daß die meisten
dieser Fälle ohnehin über die Figur der mittelbaren Täterschaft erfaßbar sind). - Darüber, ob eine solche Auslegung vorzugswürdig ist (kritisch dazu Kuhlen [Anm. 54],
S. 329, und Schünemann, GA 1985, 349 f.), soll damit nichts gesagt sein; das ist vielmehr nochmals eine eigenständige Sachfrage.
141 Das muß freilich nicht so sein; bei §§ 26, 27 StGB ("vorsätzliche rechtswidrige Tat")
geht es in Wahrheit primär um die Frage der adäquaten (funktionalen) Auslegung bloßer Gesetzesbegriffe; so schon Frisch (Anm. 98), S. 253; zustimmend Kuhlen
(Anm. 54), S. 329.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
265
vereinbaren lassen.142 Diese Einsicht führt gerade auch im Zusammenhang
der Lösung der Irrtumsfragen weiter.
2.
Das Bekenntnis zu subjektivem Unrecht (Entscheidungsunrecht) und
seine grundsätzliche Bedeutung für die Irrtumsfrage
a) Tatsächlich enthält das geltende Recht - von zahlreichen Niederschlägen
eines objektiven Unrechtsverständnisses abgesehen143 - seit langem auch
Regelungen, die als Bekenntnis zur Existenz subjektiv begründeten Unrechts
aufgefaßt werden müssen: die Aussagen zur Strafbarkeit des Versuchs, genauer: des untauglichen Versuchs. Da die Bestrafung wegen eines Verhaltens von vornherein nur legitimierbar ist, wenn dieses Verhalten unrechtes
Verhalten darstellt,144 ist diese Regelung nur haltbar auf der Basis der Annahme, daß auch das im untauglichen Versuch begegnende Verhalten unrechtes Verhalten ist (und sich legitimerweise als solches ausweisen läßt).
Auf den Gesichtspunkt einer objektiven Güterbeeinträchtigung oder auch nur
Gütergefährdung läßt sich das Unrechtsprädikat hier indessen schon per definitionem nicht stützen.145 Der einzige in sich schlüssige Ansatz zur Erklärung der Unrechtsqualität liegt vielmehr darin: Nach der - inzwischen ja
auch fast durchweg akzeptierten146 - Auffassung des Gesetzes ist unrechtes
Verhalten allein schon darin zu sehen, daß sich jemand für ein Verhalten
entscheidet, das auf der Basis seiner Vorstellung die Merkmale des in den
Tatbeständen der Vorsatzdelikte je erfaßten Verhaltens aufweist. Das Gesetz
und die ganz herrschende Meinung gehen, mit anderen Worten, davon aus,
daß schon die betätigte Entscheidung für ein solches Verhalten Unrecht ist daß es also so etwas wie Entscheidungsunrecht gibt.
142 Postulat der Systemkonsistenz! - Die Irrtumsfragen bzw. genauer: die Möglichkeit, die
systematischen Aussagen der Irrtumslehre auch in anderen Kontexten durchzuhalten,
bilden insoweit einen Prüfstein für die Konsistenz des Systems; übereinstimmend
Schünemann, GA 1985, 360, und - allgemein zur Systembildung - derselbe, Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 1 ff.
143 Z.B. Fahrlässigkeitsdelikt; höhere Bestrafung der vollendeten Tat.
144 Nicht haltbar erscheint die Annahme, daß ein Verhalten auch dann bestraft werden
dürfe, wenn es - auch ohne Unrecht zu sein - nur schuldhaft ist; so etwa früher Nowakowski, JZ 1958, 336; gegen ihn zutreffend Zielinski (Anm. 1), S. 41; siehe auch
Frisch (Anm. 98), S. 86.
145 Richtig erkannt von der älteren Lehre, die deshalb - auf dieser Basis konsequent - die
Strafbarkeit des untauglichen Versuchs ablehnte.
146 Eine Ausnahme macht - soweit ersichtlich - im deutschen Strafrecht nur Spendel, Festschrift für Stock, 1966, S. 98 ff.
266
Wolfgang Frisch
b) Diese Vorwertung muß - jedenfalls seitens einer Systematik, die gesetzliche Wertentscheidungen ernstnimmt - auch in anderen Kontexten berücksichtigt werden.147 Sie hat naheliegenderweise Bedeutung nicht nur für das
Versuchsdelikt, sondern auch für die vollendete Vorsatztat. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man - wie die in Deutschland ganz herrschende Auffassung
- annimmt, daß für den Versuch im Blick auf die Vorsatzformen dieselben
subjektiven Voraussetzungen ausreichen und gefordert sind wie für die vollendete Tat, daß also das Unrecht des Versuchs (auch des untauglichen) nicht
an insoweit enger definierte Voraussetzungen geknüpft ist.148 Denn wenn
insoweit Übereinstimmung besteht und die Betätigung in einer bestimmten
Vorstellung im Rahmen des Versuchsdelikts als Unrecht qualifiziert wird,
geht es nicht an, wäre es vielmehr willkürlich, dieses Substrat im Kontext
der vollendeten Tat nicht als Unrecht zu bewerten. Insbesondere ist der Umstand, daß hier auch andere Unrechtsdimensionen verfügbar sind, kein
Grund, die betätigte Vorstellung nunmehr aus dem Unrechtskontext zu entfernen.149 Allein konsistent ist vielmehr die Fortschreibung des Gedankens
subjektiven Unrechts für das Verständnis auch der Vollendungstat. Sie weist
deren Unrecht als komplexes, durch aufeinander bezogene subjektive und
objektive Momente charakterisiertes Unrecht aus.150 Dieses Verständnis hat
aber nun ersichtlich Folgen für die Irrtumslehre - zumindest soweit es um
den Irrtum über Umstände geht, die (nach allen Auffassungen) zu den Tatbestandsmerkmalen gehören. Da bei Unkenntnis solcher Umstände die "Vorstellung von einer Tat" (im Sinne der Straftatbestände) entfällt, das im Versuch erfaßte subjektive Unrecht also nicht mehr gegeben ist, gilt Gleiches
im Kontext der Fälle, in denen das Verhalten des Täters objektiv tat147 Damit wird nicht etwa der untaugliche Versuch zum Prototyp der Straftat gemacht.
Auch wenn man den Prototyp der Straftat - m.E. mit Recht - in der vollendeten Straftat
sieht, müssen indessen Gesichtspunkte der Systemkonsistenz beachtet werden. Siehe
dazu Frisch (Anm. 98), S. 125 f.; Hruschka (Anm. 91), S. 193, und - im Zusammenhang der Lehre vom bloßen Ausschluß der Vorsatzschuld im Falle des Erlaubnistatbestandsirrtums - Schünemann, GA 1985, 348 ff., 374.
148 Vgl. zu dieser Frage die eingehenden Nachweise bei Jescheck (Anm. 76), S. 464, und
Vogler, in: Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1983, § 22 Rn. 2 mit Fn. 3; aus der Rspr.
BGHSt 22, 330, 332 ff.; 31, 374, 378; a.A. (und beim untauglichen Versuch auf die intendierte Gutsbeeinträchtigung einschränkend) Schmidhäuser (Anm. 65), 15/23 f., 43,
und Alwart, Strafwürdiges Versuchen, 1982, S. 94, 140 ff.
149 Dies gegen Baumann/Weber (Anm. 65), S. 283.
150 Zutreffend schon H. v. Weber (Anm. 43), S. 12, 16; eingehend dazu - mit weiteren
Nachweisen - Gallas, Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 155 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 36 ff., 569 ff., 602 ff.,
und Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, insbesondere S. 25 ff.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
267
bestandsmäßig ist, der Täter aber Tatumstände im Tatbestandsbereich nicht
kennt: Der genannte Irrtum führt zum Fortfall des subjektiven Teils des
komplexen Unrechts der vollendeten Vorsatztat - mithin zum Fortfall spezifischen Vorsatzunrechts. Die Vorsatzschuld entfällt damit zugleich, weil es
(insoweit) schon an dem in ihr vorausgesetzten Gegenstand fehlt.
c) Die eben skizzierte Argumentation beruht freilich auf gewissen Prämissen. Soweit sie sich als Systemaussage auf der Basis vorfindbarer gesetzlicher Wertungen, also unter Zugrundelegung der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs versteht, hängt ihre Stringenz im weiteren davon ab, daß die
subjektive Seite des Versuchs und des Vorsatzdelikts sich unter dem Aspekt
der geforderten Vorsatzformen decken, also die Strafbarkeit des (untauglichen) Versuchs nicht nur einen Teil des Tatbestandsvorsatzes erfaßt.151 Soweit es um Systementwürfe geht, die auch das Gesetz selbst zur Disposition
stellen, trägt die Argumentation ferner nur, wenn man die im heutigen Gesetz getroffene Vorentscheidung für adäquat hält.
Es ist in diesem begrenzten Rahmen nicht möglich, diese Fragen eingehender zu behandeln. Ich muß mich auf die Andeutung beschränken, daß aus
meiner Sicht beide Prämissen wohlbegründet sind: Die grundsätzliche
Adäquität der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs (und damit: seine
Qualifikation als Unrecht) folgt daraus, daß auch ein auf den Schutz von
Rechtsgütern zielendes Strafrecht diesen Schutz nur durch die Eindämmung
oder Unterbindung bestimmten Entscheidungsverhaltens erreichen kann. Für
den Bereich der Vorsatzdelikte bedeutet dies: Das Strafrecht muß hier bestrebt sein zu erreichen, daß es möglichst schon gar nicht zu jenen Entscheidungen kommt, bei denen alles Weitere - insbesondere der Eintritt
oder das Ausbleiben von Güterbeeinträchtigungen - vielfach nur eine Frage
des Zufalls ist. Es muß sich damit gegen bestimmte Entscheidungsstile wenden152 - und damit prinzipiell auch gegenüber dem sogenannten untauglichen Versuch vorgehen, soweit dieser sich als Ausdruck jenes Entscheidungsverhaltens darstellt, das (im Blick auf seine weitgehend vom Zufall
abhängige Tauglichkeit) unterbunden werden soll. Aus dieser grundsätzli151 Unerheblich für die Erwägungen des Textes ist dagegen, ob der Vorsatz des Vollendungsdelikts nicht u.U. zusätzliche, für die Annahme eines Versuchs nicht notwendige
Voraussetzungen erfüllen muß (sog. "Vollendungsvorsatz"); siehe dazu Frisch
(Anm. 150), S. 602 ff.
152 Zutreffend Welzel (Anm. 48), S. 4 f. (unter dem Stichwort des "Schutzes der elementaren sozialethischen Handlungswerte").
268
Wolfgang Frisch
chen Erwägung folgt zugleich, daß eine sachgerecht konzipierte Strafbarkeit
des untauglichen Versuchs an die Extension des im Vollendungsfall ausreichenden Vorsatzes anknüpfen muß: Wenn man das in den vollendeten Vorsatzdelikten erfaßte Entscheidungsverhalten verhindern will, muß man konsequenterweise auch im Versuchsbereich prinzipiell an die Entscheidungssachverhalte anknüpfen, die bei etwa gegebener - mehr oder weniger zufälliger - Tauglichkeit zur Güterbeeinträchtigung führen und dann im vollendeten Vorsatzdelikt erfaßt sind.153
3.
Folgerungen für den Irrtum über Rechtfertigungssachverhalte
a) Versuchsdelikt wie vollendetes Delikt beinhalten nach allem eine Form
des subjektiven Unrechts, die man am ehesten wohl als Entscheidungsunrecht bezeichnen kann: Der Täter entscheidet sich für ein bestimmtes Verhalten, obwohl er diesem die für die - jeweilige - Tatbestandsmäßigkeit
maßgebende Dimension zuschreibt.154 Dabei ist diese spezifische Form der
betätigten falschen Entscheidung im einen Fall (Versuch) unter Umständen
der alleinige Unrechtsaspekt, im anderen Fall (Vollendung) bezeichnet er
eine für die Annahme von Vorsatzunrecht notwendige und in diesem Sinne
spezifische Unrechtsdimension. Freilich ist dieses Entscheidungsunrecht
damit, daß sich der Täter für ein Verhalten entschieden hat, dem er selbst die
tatbestandsmäßige Unwertdimension zuschreibt, noch nicht vollständig umschrieben. Die Vorstellung, daß dem Verhalten eine bestimmte - für die
Tatbestandsmäßigkeit ausreichende - Dimension eigne, ist eine unverzichtbare Bedingung für die Annahme von Entscheidungsunrecht; sie beschreibt
dieses aber nur teilweise. Soll die betätigte Entscheidung sich als - durch
Entscheidung für tatbestandsmäßiges Verhalten erfolgendes - betätigtes
Entscheidungsunrecht, als ins Werk gesetzte unrechte Entscheidung und
Abfall von den Entscheidungsmaximen der Rechtsordnung darstellen, so
darf der sich für das tatbestandsmäßige Verhalten Entscheidende nicht zugleich von einer Sachlage ausgehen, bei deren Gegebensein ihm die Rechtsordnung seine Entscheidung gestattet. Es wäre ein schlichter Widerspruch,
153 Die Beschränkung der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs auf zielgerichtete Versuche (so Schmidhäuser und Alwart [Anm. 148]) erscheint vor diesem Hintergrund
nicht sachgerecht.
154 Der Begriff "Entscheidungsunrecht", der sich an die Qualifikation des untauglichen
Versuchs als "betätigte Entscheidung gegen das Rechtsgut" (siehe dazu Frisch
[Anm. 98], S. 205, 356, 456) anlehnt, ist dem geläufigen Begriff Intentionsunrecht
vorzuziehen, da er die mit dem Begriff der Intention assoziierte, der h.M. aber gerade
nicht entsprechende Einschränkung auf sog. Zielunrecht vermeidet.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
269
jemandem zwar bei Gegebensein einer bestimmten Sachlage die Vornahme
bestimmten (tatbestandsmäßigen) Verhaltens zu gestatten, zugleich aber eine
Entscheidung, die auf der Basis entsprechender Annahmen erfolgt, als Entscheidung für falsch, gewissermaßen als unrechtlichen Entscheidungsstil
oder rechtswidriges Handlungsmuster, zu bezeichnen. Allein konsistent ist
insoweit vielmehr die Annahme fehlenden Entscheidungsunrechts.
Diese Einsicht ist zunächst bedeutsam für die Fälle, in denen es schon an
objektiv begründbarem Unrecht fehlt: hier läßt sich bei entsprechenden Annahmen auch Entscheidungsunrecht nicht begründen - womit jede Basis für
eine Bestrafung entfällt. Das gilt nicht nur für den Fall eines untauglichen
Versuchs, bei dem der Handelnde irrtümlich von einer rechtfertigenden Situation, z.B. einer Notwehrlage, ausgeht: Niemand würde wohl auf die Idee
kommen, denjenigen wegen Versuchs zu bestrafen, der auf einen vermeintlichen Angriff mit Mitteln reagiert, die untauglich sind, Güterbeeinträchtigungen bei anderen herbeizuführen. Da die Handlung hier objektiv ungefährlich ist, der Handelnde aber auch dem Entscheidungsstil nach mit der
Rechtsordnung in Einklang steht, fehlt es sowohl an objektiv als auch an
subjektiv begründbarem Unrecht. Entsprechendes gilt, wenn das Verhalten
zwar zur Güterbeeinträchtigung führt, der Handelnde aber in concreto so
handeln durfte, weil eine rechtfertigende Sachlage gegeben war und der
Handelnde sich auf der Basis entsprechender Annahmen für das tatbestandsmäßige Verhalten entschieden hat: Das Verhalten ist hier objektiv gerechtfertigt, weil die güterbeeinträchtigende Handlung erlaubt war; und von
Entscheidungsunrecht kann keine Rede sein, weil die Entscheidung auf der
Basis der Entscheidungsgrundlage des Täters - also seiner Annahmen - so
getroffen werden durfte155 (während strafbares Entscheidungsunrecht verbliebe, wenn der Täter, ohne von einer solchen rechtfertigenden Sachlage
ausgegangen zu sein, sich für ein tatbestandsmäßiges Verhalten entschieden
hätte156).
b) Das eben Gesagte beinhaltet ersichtlich den Lösungsschlüssel für die
Fälle des sogenannten Erlaubnistatbestandsirrtums. In Fällen dieser Art
führt der Täter zwar - im Unterschied zu den bisher behandelten Fällen - eine
nicht gerechtfertigte Güterbeeinträchtigung herbei. Da er - wie der Täter,
dessen Vorstellung sich mit der Wirklichkeit deckt - jedoch auf der Basis
155 Eingehend - mit weiteren Nachweisen - dazu Frisch (Anm. 98), S. 244 ff.
156 Näher dazu Frisch (Anm. 98), S. 456 f., und derselbe, Festschrift für Lackner,
S. 113 ff., 126 ff.
270
Wolfgang Frisch
seiner Entscheidungsgrundlage nach den Maßstäben des Rechts entscheidet,
kann seine Entscheidung - verstanden als Handlungsmuster auf der Basis
einer gewissen Entscheidungsgrundlage - genausowenig als unrechte Entscheidung ausgewiesen werden wie die Entscheidung in den Fällen objektiver Ungefährlichkeit oder Erlaubtheit des Verhaltens.157 Ganz unhaltbar, ja geradezu willkürlich wäre es insbesondere, die Entscheidung des Täters hier deshalb als unrechte Entscheidung anzusehen, weil der Täter im
Bereich der Grundlagen seiner Entscheidung geirrt hat und deshalb eine
nicht gerechtfertigte Güterbeeinträchtigung herbeigeführt hat. Daß der Irrtum
im Bereich der Entscheidungsgrundlage - in Gestalt der unrichtigen Annahme eines Rechtfertigungsgrundes - ein richtiges Entscheidungsmuster nicht
zu einem falschen machen kann, ist ohnehin offensichtlich; dementsprechend würde niemand im Falle der Abwehr eines vermeintlichen Angriffs durch eine zur Güterbeeinträchtigung nur nach der Vorstellung des
Täters geeignete Maßnahme zur Annahme von Entscheidungsunrecht (und
damit zur Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs) gelangen.158 Zur Begründung von Entscheidungsunrecht genauso ungeeignet ist der Umstand,
daß es infolge des Irrtums zu einer Güterbeeinträchtigung gekommen ist.
Dem Verhalten des Täters mag deswegen die Qualität objektiven Unrechts,
d.h. der vermeidbaren Gütergefährdung und Güterbeeinträchtigung zukommen. Diese objektive Unrechtsdimension ist jedoch im vollendeten
Vorsatzdelikt nichts weiter als eine notwendige weitere, zum Entscheidungsunrecht hinzutretende Unrechtsdimension. Sie ist ungeeignet, Defizite
im Bereich der anderen unverzichtbaren Unrechtsdimension des vollendeten
Vorsatzdelikts, also des Entscheidungsunrechts, zu kompensieren. Fehlt es
nach allem damit in den Fällen des Erlaubnistatbestandsirrtums an begründbarem Entscheidungsunrecht, so bedeutet das, daß der Erlaubnistatbestandsirrtum sich im Bereich der Vorsatzdelikte als Unrechtsausschließungsgrund (im Sinne eines Grundes für den Ausschluß des spezifischen Vorsatzunrechts) auswirkt. Denkbar ist in solchen Fällen allenfalls die
Annahme des in den Fahrlässigkeitsdelikten vorausgesetzten Unrechts (wo-
157 Das ist der richtige Kern der Rspr., die in den Fällen des Erlaubnistatbestandsirrtums
sagt, der Täter habe sich ja an sich rechtstreu entschieden (vgl. BGHSt 3, 105, 107;
Engisch, ZStW 70 [1958], S. 566). - Zu weit geht es freilich, wenn z.T. (vgl. die Nachweise bei Frisch [Anm. 98], S. 250) der Eindruck erweckt wird, es fehle in diesen
Fällen überhaupt am Handlungsunwert (dagegen mit Recht Jescheck [Anm. 76],
S. 418, und Wessels [Anm. 79], § 11 III 1 b): was fehlt, ist allein der subjektive Handlungsunwert des Vorsatzdelikts!
158 Siehe schon zu Beginn des vorigen Absatzes.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
271
bei die Einzelheiten hier dann auch von der Konzeption des Fahrlässigkeitsunrechts abhängen).
c) Diesen aus den Leittypen des Unrechts entwickelten Ergebnissen läßt
sich nicht etwa mit dem Hinweis auf die bei einer solchen Qualifikation an
anderen Stellen (z.B. bei der Teilnahmestrafbarkeit) auftauchenden Probleme159 oder dem Hinweis auf den doch vorhandenen, auf die Tatbestandsverwirklichung gerichteten Vorsatz begegnen. Der Versuch, durch
eine bestimmte systematische Behandlung von Irrtümern Teilnahmeproblemen zu entgehen, ist schon im Ansatz verfehlt: Systematische Qualifikationen sind nicht das verfügbare Vehikel zur Programmierung der Strafbarkeit in gewissen Subsystemen, sondern die unausweichliche Konsequenz,
die sich aus einer problembezogenen Konkretisierung der Leitinhalte von
Unrecht und Schuld ergibt. Im übrigen ist es ein innerer Widerspruch,
jemandem zugleich subjektiv rechtstreues Verhalten und die Verwirklichung von Vorsatzunrecht zu attestieren160 - wobei der hier liegende Bruch
besonders deutlich wird, wenn sich am Ende noch nicht einmal Unrecht
in Gestalt einer vermeidbaren Güterbeeinträchtigung feststellen läßt (z.B.
bei objektiv unvermeidbarem Irrtum161). Unhaltbar ist aber auch der hinter
all diesen Irrtümern offenbar stehende Glaube, daß derjenige Vorsatzunrecht verwirkliche, der mit Tatbestandsvorsatz handele.162 Damit werden
Vorsatzunrecht und Tatbestandsvorsatz in unzulässiger Weise gleichgesetzt.
Sowenig aber im Objektiven Tatbestandserfüllung schon Unrecht bedeutet, sowenig bedeutet Handeln mit Tatbestandsvorsatz schon Vorsatzunrecht. Die Tatbestandsverwirklichung ist objektives Unrecht nur unter
der Voraussetzung, daß sie nicht durch Rechtfertigungsgründe gedeckt ist.
Und Handeln, bei dem der Handelnde vorsätzlich in bezug auf die
Tatbestandsverwirklichung agiert, bedeutet in subjektiver Hinsicht begründetes Unrecht und in diesem Sinne Vorsatzunrecht nur, solange der
Täter nicht von einer seine Entscheidung für die Tatbestandsverwirklichung
159 Siehe die Nachweise oben Anm. 102.
160 So aber z.B. Wessels (Anm. 79), § 11 III 1 b, f.
161 Denn: Worin soll eigentlich das Unrecht liegen, wenn die Entscheidung als solche der
Rechtsordnung entsprach und die Gütergefährdung und -beeinträchtigung (selbst objektiv) unvermeidbar war? - Unter diesem Aspekt mit Recht kritisch gegenüber der das
Vorsatzunrecht bejahenden "rechtsfolgenverweisenden" Variante der eingeschränkten
Schuldtheorie Herzberg, JA 1989, 296, und Schünemann, GA 1986, 348 ff., 373 f.
162 Vgl. die Nachweise oben Anm. 99 f.
272
Wolfgang Frisch
gestattenden Sachlage ausgegangen ist.163 Wäre es anders, so müßte man
eine unrechte Entscheidung auch dem bescheinigen, dessen Vorstellung von
der rechtfertigenden Sachlage mit der Wirklichkeit übereinstimmt - denn
sein subjektives Bild ist in keiner Hinsicht anders als das des Täters, dessen
Vorstellung der Wirklichkeit nicht entspricht. Die auf der Basis dieser Konsequenz auftauchende Frage, warum der objektiv Gerechtfertigte dann nicht
im Blick auf die ja auch bei ihm anzunehmende unwertige Entscheidung
bestraft werde, würde die hier abgelehnte Auffassung zwar sicher mit dem
Hinweis auf das objektive Gegebensein der Rechtfertigung beantworten.
Aber damit verwickelt sie sich nur in neue Widersprüche. Denn erstens wäre
es wenig einsichtig, daß die Rechtfertigung subjektiv begründeten Unrechts
von objektiven Gegebenheiten abhängen soll, die vielfach rein zufällig
sind.164 Und zweitens wäre auch gar nicht zu begreifen, warum das objektive
Gegebensein einer Lage, die als (subjektive) Ausgangsbasis der Entscheidung des Täters ungeeignet sein soll, der Entscheidung die geistige Unwertigkeit zu nehmen, diese Entscheidung im Falle ihres Gegebenseins sollte
rechtfertigen können. In Wahrheit sorgt in diesen Fällen nicht das Gegebensein der Rechtfertigungslage für die Rechtfertigung einer unwertigen Entscheidung. Die Entscheidung ist vielmehr (als solche, also unbeschadet
verbleibenden "objektiven Unrechts") schon gar nicht unwertig - weil der
Handelnde von einer Lage ausgegangen ist, die sein Handeln rechtfertigt.
Diese Einsicht muß dann freilich aus Konsequenzgründen auch auf den Irrtumsfall übertragen werden, denn dort ist die subjektive Seite völlig identisch!
4.
Folgerungen für den (reinen) Irrtum über das Verbotensein des
Verhaltens und über Entschuldigungsgründe
a) Die Einsicht, daß nicht nur das Versuchsdelikt, sondern ebenso die vollendete Vorsatztat im Unrechtsbereich entscheidend durch das Vorhandensein von sogenanntem Entscheidungsunrecht charakterisiert wird, bildet
163 Bezeichnenderweise (und mit Recht) gelangt Zielinski (Anm. 1), S. 232 f., 268 ff., der
das Unrecht ganz subjektiv konturiert, zum Ausschluß des Vorsatz-Unrechts bei irriger
Annahme einer Rechtfertigungssituation.
164 Völlig konsequent Zielinski (Anm. 1), S. 232 f., wenn er als Seitenstück subjektiv begründeten Unrechts (für das die Zufälligkeit des Objektiven keine Rolle spielt) die Zufälligkeiten des Objektiven auch im Rahmen der Rechtfertigung ausblendet. Damit ist
- um nicht mißverstanden zu werden - selbstverständlich kein Bekenntnis des Verfassers zu einer rein subjektiven Unrechtslehre verbunden. Siehe nur meine Stellungnahme in: Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 36 ff.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
273
auch die sichere Basis für die systematische Qualifikation der verbleibenden
Irrtumskonstellationen, wie des Irrtums über das Verbotensein des Verhaltens, die irrige Annahme von Erlaubnisnormen oder die irrige Annahme von
Entschuldigungsgründen. Diese Irrtümer berühren das Entscheidungsunrecht
nicht mehr; sie sind damit keine Unrechtsausschlußgründe - auch nicht in
dem hier allein interessierenden Sinne von Gründen, die das spezifische
Vorsatzunrecht ausschließen. Denn der Täter entscheidet sich in einer von
den Verhaltensnormen der Rechtsordnung (unter Einschluß der Erlaubnisnormen) abweichenden Weise gegen das im jeweiligen Tatbestand geschützte Gut, wenn er die tatbestandsmäßige Dimension seines Verhaltens
erfaßt hat, ohne zugleich von einem anerkannten Rechtfertigungssachverhalt
auszugehen: Wer so handelt, entscheidet in dem in den Vorsatzdelikten gemeinten spezifischen Sinne nach Mustern, die von jenen Entscheidungsmaßstäben abweichen, die die Rechtsordnung durch die Bestrafung
vorsätzlicher Verhaltensweisen aufrechterhalten will. Sein Glaube, nicht
verboten zu handeln oder ausnahmsweise so handeln zu dürfen, oder die irrige Annahme einer Entschuldigungssituation können allenfalls noch die
Befugnis des Staates berühren, ihn wegen seiner falschen Entscheidung zur
Rechenschaft zu ziehen, ihn für seinen Normbruch und den mit diesem (bei
fehlender Ahndung) verbundenen Normgeltungsschaden verantwortlich zu
machen oder ihm seine unrechte Entscheidung vorzuwerfen165 - kurz: sie
können allenfalls noch zu einem Ausschluß der Schuld führen.
Wann sie dies tun, ist nach den Leitprinzipien dieser Kategorie zu beurteilen
und - jedenfalls im Grundsätzlichen - weit weniger schwierig zu beantworten
als die Frage des Unrechtsausschlusses. Mindestvoraussetzung dafür, daß
man den Täter wegen seines Normbruchs zur Rechenschaft ziehen, ihn für
diesen und dessen etwaige Folgen verantwortlich machen, sie ihm vorwerfen
kann, ist die Vermeidbarkeit der falschen Entscheidung. Fehlt es an dieser
wegen des Irrtums, so ist damit die Schuld ausgeschlossen.166 Ebenso verfällt aus Gründen der Systemkonsistenz die Basis dafür, dem Täter einen
Schuldvorwurf zu machen, wenn dieser unvermeidbar über bestimmte objektive Gegebenheiten irrend in eine psychische Situation geraten ist, die im
Falle ihrer Entstehung aus einer entsprechenden objektiven Gegebenheit
165 Auf die umfangreiche Diskussion über den Inhalt der Kategorie "Schuld" und damit
den Inhalt des Schuldurteils soll (und kann hier schon aus Raumgründen) nicht eingegangen werden.
166 Absolut sachgerecht daher § 17 Satz 1 StGB (und der Bruch mit der reichsgerichtlichen Rspr. von der Irrelevanz des Strafrechtsirrtums).
274
Wolfgang Frisch
nach den Wertungen der Rechtsordnung der Erhebung eines Schuldvorwurfs
entgegensteht: entschuldigende Wirkung des unvermeidbaren Irrtums über
einen Entschuldigungssachverhalt.167
b) Die Einsicht, daß in den Vorsatzdelikten eine spezifische - nämlich
durch die Entscheidung für tatbestandsmäßig umschriebenes, in concreto
nicht gerechtfertigtes Verhalten charakterisierte - Form von Entscheidungsunrecht erfaßt ist, hat freilich nicht nur für die Einstufung bestimmter Irrtümer als Unrechtsausschlußgründe und die Abgrenzung von unrechts- und
schuldausschließenden Irrtümern Bedeutung. Sie ist indirekt bedeutsam auch
für die nach allem verbleibenden Irrtümer, die nach den für die Schuld maßgebenden Leitprinzipien nicht schuldausschließend, sondern lediglich (oder
allenfalls) schuldmindernd wirken. Da der Täter in diesen Fällen, wenn auch
mit geminderter Schuld, das spezifische Unrecht der Vorsatzdelikte verwirklicht hat, ist es prinzipiell gerechtfertigt und richtig, ihn wegen Vorsatzdelikts zu bestrafen. Die bisweilen geäußerte Ansicht, der Täter, der
z.B. infolge fahrlässiger Normunkenntnis oder wegen vermeidbaren Irrtums
über eine Erlaubnisnorm handle, sei wegen des bloßen Fahrlässigkeitscharakters solcher Schuld allein wegen fahrlässigen Verhaltens (und das heißt
praktisch auch: nur im Falle des Bestehens von Fahrlässigkeitsdelikten)
strafbar,168 mag haltbar sein, wenn man von der (vollständigen) Deckungsgleichheit des Unrechts von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten ausgeht.169
Hat man erkannt, daß das Fahrlässigkeits- und das Vorsatzdelikt sich - ungeachtet der Deckungsgleichheit im objektiven Bereich170 - dadurch unterscheiden, daß im Vorsatzdelikt eine spezifische Form von Entscheidungsunrecht enthalten ist, die dem Fahrlässigkeitsdelikt fehlt, so kann dieser Auffassung nicht mehr gefolgt werden. Denn wenn sich das Unrecht der Vorsatz- von dem der Fahrlässigkeitsdelikte unterscheidet, muß - so wie das mit
Bezug auf die einzelnen Deliktstypen ja auch geschieht - zum Ausdruck gebracht werden, welche Form von Unrecht dem Täter angelastet wird. Die
Bestrafung des Täters wegen einer Fahrlässigkeitstat, obwohl dieser das
Unrecht eines Vorsatzdelikts verwirklicht hat, erweckte den Anschein, daß
167 Vgl. § 35 Abs. 2 StGB.
168 So die Anhänger der sog. Vorsatztheorie, vgl. die Nachweise oben Anm. 15, 83, 84.
169 Das war ja bezeichnenderweise die Prämisse der älteren Lehre und ist auch noch das
systematische Fundament der in Anm. 83 f. nachgewiesenen modernen Vertreter der
Vorsatztheorie.
170 Zur Deckungsgleichheit des Fahrlässigkeits- und des vollendeten Vorsatzdelikts im
Objektiven vgl. Frisch (Anm. 98), S. 84 f., 158 f.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
275
diesem nur eine vermeidbare Güterbeeinträchtigung zur Last gelegt werden
kann, während ihm in Wahrheit dies und eine qualifizierte Fehlentscheidung
in Gestalt der Entscheidung für ein tatbestandsmäßiges Verhalten zur Last zu
legen sind.171 Der Umstand, daß dem Täter dieses Verhalten - wegen seines
Irrtums - nur begrenzt zur Last gelegt werden kann, darf nicht dazu führen,
daß man den Gegenstand des Schuldvorwurfs außer acht läßt und damit zu
einem falschen Inhalt des Vorwurfs kommt, sondern ist allein für das Maß
der Schuld bedeutsam. Vor diesem Hintergrund erscheint die zum Teil kritisierte Regelung des § 17 Satz 2 StGB im Ansatz durchaus sachgerecht.172
Dagegen ist die Bezugnahme auf § 17 Satz 2 in § 35 Abs. 2 StGB (vermeidbarer
Irrtum über einen Entschuldigungssachverhalt) nicht unproblematisch:173 Hier kann
dem Täter im Zeitpunkt der Tat selbst wegen seines Entscheidungsverhaltens an
sich kein Vorwurf gemacht werden; dieser gründet sich vielmehr darauf, daß der
Täter vermeidbar in die der Entscheidung zugrundeliegende psychische Lage geraten ist, also auf einen vorgelagerten Vorwurf. Ist es aber wirklich gerechtfertigt, den
Fall, in dem zur vermeidbaren objektiven Güterbeeinträchtigung noch ein im Zeitpunkt des Verhaltens entschuldigtes vermeidbares Entscheidungsverhalten hinzukommt, anders zu behandeln als den Fall vermeidbarer Güterbeeinträchtigung?
Geht es nicht bezogen auf den - früheren - Zeitpunkt, in dem dem Täter sein Verhalten vorgeworfen werden kann, eben doch nur um eine Form der vermeidbaren
Güterbeeinträchtigung, in der das Entscheidungsverhalten keine für die Bestrafung
maßgebende Rolle spielt, ja seine Akzentuierung im Schuldspruch geradezu verfälschend wirkt?174 - Aus dieser Sicht wäre - wie dies im Bereich der Defizite nach
§ 20 StGB ja weithin vertreten wird175 - in den Fällen bloßer Vermeidbarkeit des
schuldlosen Entscheidungsverhaltens die richtige Lösung in der Tat die bloße
Fahrlässigkeitsbestrafung. Doch kann das hier nicht weiter vertieft werden.
171 Natürlich nicht im Sinne einer Addition, sondern im Sinne eines kongruent aufeinander bezogenen Gebildes, vgl. Frisch (Anm. 150), S. 563 ff.
172 Eine andere Frage ist freilich, ob das in § 17 Satz 2 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB vorgesehene Maß der Strafmilderung adäquat ist; darauf kann hier nicht näher eingegangen
werden. Näher zur Problematik Krümpelmann (Anm. 112), S. 6 ff., 47 ff.
173 Insoweit m.E. zutreffend die Kritik Schmidhäusers (Anm. 72), 8/27 f.
174 Daß es vorhanden und damit insoweit als Vorsatzunrecht gegeben ist (zutreffend
Schönke/Schröder/Lenckner [Anm. 70], § 35 Rn. 40), soll damit nicht bestritten werden; es geht um die Adäquität des Vorsatzunrechts als Basis für den Schuldspruch
(und natürlich auch den Strafausspruch).
175 Sog. actio libera in causa; siehe dazu Schönke/Schröder/Lenckner (Anm. 70), § 20
Rn. 32 ff., 38; zur Frage speziell im Kontext von Affekttaten Frisch, ZStW 101
(1989), S. 539 ff.
276
5.
Wolfgang Frisch
Folgerungen für Irrtümer in bezug auf normative Merkmale und
Blankette
Die Einsicht, daß es in den (vollendeten) Vorsatzdelikten, von anderen Unrechtsaspekten abgesehen, jedenfalls notwendig um Entscheidungsunrecht
im früher explizierten Sinne geht, liefert freilich nicht nur den Lösungsmaßstab für die Qualifikation einzelner Irrtumstypen. Sie bildet auch eine leitfähige Grundlage für die Beantwortung der Frage, welcher Kategorie bestimmte Irrtümer zuzuordnen sind - ob es sich etwa bei einer Fehlvorstellung
des Täters im Zusammenhang mit sogenannten normativen Tatbestandsmerkmalen oder einer auf außerstrafrechtliche Pflichten verweisenden Strafrechtsnorm um einen das Vorsatzunrecht ausschließenden Tatumstandsirrtum oder einen Irrtum handelt, der jenseits dessen liegt und allenfalls als
Verbotsirrtum im Rahmen der Schuld begrenzt bedeutsam werden kann. Die
richtige Sicht im Grundlagenbereich führt hier weit über die gebräuchlichen
Problemlösungsinstrumente - "Parallelwertung in der Laiensphäre" usw. hinaus.
a) Charakteristisch für den Vorsatztäter ist, daß er das in den Straftatbeständen der Vorsatzdelikte verbotene Verhalten in eben der Dimension erfaßt hat, die für das Gesetz den Grund seines Verbots ausmacht: Wer diese
spezifische Dimension erfaßt hat und - ohne zugleich einen Rechtfertigungssachverhalt anzunehmen - gleichwohl (im Sinne des verbotenen Verhaltens) handelt, entscheidet sich durch dieses Verhalten abweichend von
der gutspezifischen Verhaltensordnung des jeweiligen Tatbestands und in
diesem Sinne gegen das Gut.176 Sachlich bedeutet das nicht weniger als: In
der - der Entscheidung zugrundeliegenden - Vorstellungswelt des Täters
müssen eben jene Sachverhalte als der Tat und der Handlung eignend eingeschlossen sein, derentwegen das Verhalten in concreto verboten ist, die
also den Anknüpfungspunkt des jeweiligen Verbots bilden. Dabei ist freilich
zu bedenken, daß ein und derselbe Sachverhalt sehr unterschiedlich be176 Nicht gefordert ist - das wird auch durch die Annahme des Ausschlusses von Vorsatzunrecht bei Vorstellung einer Rechtfertigungslage nicht erzwungen -, daß der sich gegen das Gut entscheidende und in diesem Sinne Vorsatzunrecht verwirklichende Täter
in der Vorstellung des Fehlens von Rechtfertigungssachverhalten handelt. Zu einer
solchen Sicht zwingt übrigens - entgegen immer wieder vorgetragenen Argumentationen (vgl. z.B. Jescheck [Anm. 76], S. 417) - die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen nicht. Denn der für die Annahme von Entscheidungsunrecht notwendige Vorstellungsinhalt ist nicht das Produkt schematisch-konstruktiver Spiegelungen von Objektiv und Subjektiv, sondern eine eigenständige normative Frage, die nach
den oben 2. und 3. genannten Grundsätzen zu beantworten ist.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
277
zeichnet oder gedacht werden kann. Man kann sich eines Fachterminus bedienen, man kann - unter Verzicht hierauf - jene Kriterien verwenden, die
diesen Begriff definieren, man kann aber auch zur Bezeichnung des Gemeinten auf die mehr oder weniger einfache Sprache des täglichen Lebens, des
juristischen Laien usw. zurückgreifen und mit den Mitteln dieser Sprache
oder mit gewissen Bildern die Sachverhalte beschreiben, auf die es nach der
Norm ankommt.177 "Entscheidung des Täters für das tatbestandsmäßige
Verhalten" bedeutet dementsprechend, daß der Sachverhalt, dessentwegen
der Gesetzgeber ein bestimmtes Verhalten verbietet, vollständig in der Vorstellung des Täters vorhanden sein muß - mag dieser Sachverhalt in der Laiensprache auch ganz anders heißen, mögen hier auch an die Stelle juristischer Termini bestimmte Bilder usw. treten. Oder anders formuliert: Würde man die Norm unter Zugrundelegung der Sprachwelt, der Ordnungsschemata und der Bilder des je zu beurteilenden Täters formulieren, so
müßte der auf diese Weise gebildete (natürlich sinnvoll bildbare178) Anknüpfungssachverhalt auch in der der konkreten Entscheidung zugrundeliegenden Vorstellungswelt des Täters aufweisbar sein. Die Vorstellungswelt
des Täters muß mit anderen Worten das enthalten, wozu das Ergebnis einer
in diesem Sinne täterspezifischen Normkonkretisierung jener Normsachverhalte führt, die in das Bewußtsein aufgenommen sein müssen, damit man
von einer Entscheidung gegen das Gut sprechen kann. Fehlt das, was bei einer die Norm in diesem Sinne der Begriffs- und Denkwelt des Täters anpassenden Normkonkretisierung in dessen Vorstellungswelt vorhanden sein
muß, so fehlt es auch an der Entscheidung gegen das Gut. Für die Rechtsanwendung bedeutet das, daß die für die Annahme von Entscheidungsunrecht maßgebenden Substrate, die sonst in der juristischen Hoch- oder
Fachsprache formuliert sind, täterorientiert zu konkretisieren sind: Es geht
darum, im Wege einer täterorientierten Normkonkretisierung das zu präzisieren (und dann festzustellen), was zur Annahme von Entscheidungsunrecht in die Tätervorstellung aufgenommen worden sein muß. Praktisch läßt
sich das am einfachsten dadurch bewerkstelligen, daß man fragt, ob die
normrelevante Vorstellungswelt des Täters in concreto so beschaffen ist,
177 Vgl. dazu etwa Schmidhäuser (Anm. 65), 10/52 ff.; speziell zum Sachdenken und zum
Denken in Bildern derselbe, Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 317 ff.
178 Fehlte es an der Möglichkeit, den Anknüpfungssachverhalt der Norm in der Vorstellungswelt des Täters zu formulieren, so könnte im Grunde gar nicht mit der gezielten
Befolgung der entsprechenden Norm durch entsprechende Tätergruppen gerechnet
werden.
278
Wolfgang Frisch
daß sie als Anknüpfungspunkt der Norm taugt, die der Täter vorsätzlich
verletzt haben soll.
b) Es ist vor dem Hintergrund der eben skizzierten Erwägungen leicht zu
sehen, woran die zur Lösung der hier interessierenden Problematik meist
benützte Parallelwertungsthese krankt. In ihr endet der eigentliche, ausdrückliche Prozeß der Normkonkretisierung auf der objektiven Ebene, und
hier wiederum in den Begriffen der juristischen Fachsprache - z.B. bei den
Definitionskriterien der Urkunde, der Definition des Begriffs "fremd" über
die Anknüpfung an den Begriff des "fremden Eigentums" und die diesen
Begriff ausfüllenden Regeln. Da der Normadressat in diesen Sachverhaltsbezeichnungen vielfach nicht denkt, fällt es schwer, auf der Basis einer solchen Normkonkretisierung bei der folgenden Erörterung des Subjektiven
direkt zu sagen, daß der Handelnde das für die Annahme von Entscheidungsunrecht maßgebende Vorstellungsbild gehabt habe. Statt nun die
Normkonkretisierung explizit der Denk- und Vorstellungswelt des Täters
anzupassen - die ja nun einmal als Faktum unveränderbar da ist und der daher die Norm sinnvollerweise angepaßt werden muß -, betrachtet man das
Problem (angesichts der Unkenntnis der üblichen Einordnung oder Begrifflichkeit auf seiten des Täters) als Irrtumsproblem und fragt nach dessen Lösung. In der dann folgenden Irrtumsbetrachtung wird durch den Hinweis auf
die Notwendigkeit einer Parallelwertung des Täters und die Unbeachtlichkeit
eines bei vorhandener Parallelwertung verbleibenden Subsumtionsirrtums im
Gewand einer Irrtumsprüfung und mit Formeln über die Relevanz und Irrelevanz des Irrtums dann in Wahrheit Normkonkretisierung nachgeholt. Dabei bleibt freilich nicht nur ungesagt, daß es um ein Problem der täterspezifischen Normkonkretisierung geht und der sogenannte Irrtum179 lediglich den Anlaß für eine solche Normkonkretisierung bildet. Die Redeweise von der Parallelwertung oder die Frage nach der Bedeutungsgleichheit
macht auch nicht deutlich, was eigentlich der Maßstab für die Beurteilung
ist: daß es nämlich darum geht, die für die Annahme von Unrecht maßgebenden Sachverhalte mit den Kategorien des Täters so auszudrücken,
daß diese Beschreibungen als Anknüpfungspunkt für Normen taugen und
der, der bei ihrer Erfassung handelt, Entscheidungsunrecht verwirklicht. Es
wird mit anderen Worten nicht gesagt, daß die Bedeutungsgleichheit nichts
179 "Sogenannt" deshalb, weil es auf der Ebene der je zu erfassenden Sachverhalte an
einem Irrtum fehlt, wenn der Täter den - so oder so bezeichenbaren - Sachverhalt erfaßt hat, auch wenn er die Sachverhaltsbezeichnung der juristischen Hochsprache nicht
kennt. Siehe dazu auch unten nach Anm. 185.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
279
anderes ist als die jederzeit mögliche Konkretisierung der Norm in Richtung
auf das, was der Täter erfaßt hat. Und weil das ungesagt bleibt, statt dessen
der Eindruck einer bloßen Parallelität erzeugt wird, kann leicht auch der gefährliche weitere Eindruck aufkommen, man könne von der Formel noch
einige Abstriche vornehmen, weil sie in manchen Zusammenhängen zu viel
fordere.180
Zumindest unter methodischem Aspekt weit weniger angreifbar als die
Formel von der Parallelwertung ist der in diesem Zusammenhang zum Teil
ebenfalls benutzte, freilich viel geschmähte Versuch, den Problemen mit
Hilfe der gemeinrechtlichen Distinktion von Tat- und Rechtsirrtum beizukommen.181 Die Formel ist unbedenklich, wenn man den hier herausgearbeiteten funktionalen Hintergrund sieht und, im Bewußtsein dessen, richtig
mit ihr umzugehen weiß: als Tatirrtum den Irrtum über das Gegebensein
jenes Sachverhalts versteht, den der Täter nach den Maximen einer adäquaten Normkonkretisierung erfaßt haben muß, damit man sein Verhalten als
Entscheidungsunrecht im Sinne des jeweiligen Straftatbestands qualifizieren
kann, und von Rechtsirrtum dann spricht, wenn der Täter diesen Sachverhalt erfaßt hat, aber sein Verhalten gleichwohl für rechtlich unbedenklich
180 In diesem Sinne - inhaltlich unterschiedlich - die auch in der neueren Literatur z.T.
vertretenen Reduktionsansätze, z.B. die Reduktion auf Fakten (durch Herberger
[Anm. 124]; Darnstädt, JuS 1985, 443). Eine andere Frage ist, ob nicht manche dieser
Ansätze - wie z.B. die Lehre Schlüchters von der "teleologisch-reduzierten Sachverhaltssicht" (siehe dazu auch Kuhlen [Anm. 54], S. 431 ff.) oder das Abstellen auf "eine
rudimentäre Kenntnis der Rechtslage" (Maiwald [Anm. 132], S. 19 f.) - zumindest in
bestimmten Zusammenhängen durchaus das Richtige treffen. Doch tun sie das dann
nicht deshalb, weil sie die richtige Lösungsformel für das Irrtumsproblem sind, sondern weil sie eine zutreffende Anleitung für eine täterspezifische Normkonkretisierung
enthalten. Daß die Funktion der "teleologisch-reduzierten Sachverhaltssicht" auf dieser
Ebene liegt, drängt sich ja geradezu auf ("teleologische Sicht"!).
181 Zu diesen Versuchen, ihrer Tradition und der Kritik an ihnen eingehend Schlüchter
(Anm. 19), S. 38 ff., 58 ff., 81 ff. - Einen interessanten neuen Ansatz in dieser Richtung hat jüngst Kindhäuser, GA 1990, 407 ff., unterbreitet. Kindhäusers Versuch, die
Abgrenzung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum
unter Rückbesinnung auf den Inhalt des Normbefehls zu lösen, stimmt im grundsätzlichen mit den Erwägungen des Textes überein. Kindhäuser beachtet indessen zu wenig,
daß Anknüpfungspunkt des Normbefehls vielfach (nicht nur im Fall des § 267 StGB!)
soziale Sinngehalte (Wertungsergebnisse) sind und daß die eigentliche Frage darin
liegt, wo und inwieweit das der Fall ist (so auch in dem Beispiel zu § 292 StGB, das
von Kindhäuser nicht überzeugend gelöst wird, a.a.O., S. 421 f.). Weil der Normbefehl vielfach schon als Anknüpfungspunkt Sinngehalte nennt, ist es auch mißverständlich, den "Sinnirrtum" als Rechtsirrtum zu qualifizieren. Dies ist vielmehr richtig nur,
soweit es um die Verfehlung des Sinngehalts des Normbefehls (im Normverständnis
des Täters) geht - die Nichterfassung des konkreten Geschehens in jenem Sinngehalt,
an den der Normbefehl anknüpft, ist ein vorsatzausschließender Irrtum.
280
Wolfgang Frisch
hält. Die Gefahr der Distinktion besteht darin, daß man, weil man diesen
Hintergrund nicht sieht, schematisch vorgeht und einen bloßen Rechtsirrtum
z.B. auch schon dann annimmt, wenn jemand aufgrund rechtlicher Fehlvorstellungen (z.B. im Bereich der Eigentumsordnung) gar nicht den Sachverhalt erfaßt, der für die Bejahung von Entscheidungsunrecht erfaßt sein
muß.182 In dieser Hinsicht weniger gefährlich ist die Benutzung der Distinktion "außerstrafrechtlicher - strafrechtlicher Irrtum", die wohl nicht
zuletzt deshalb in neuerer Zeit durchaus wieder Befürworter findet:183 Wenn
der Täter aus Rechtsirrtum schon den Anknüpfungssachverhalt und damit
die Grundlage für die Annahme von Entscheidungsunrecht nicht erfaßt hat,
so wird es sich regelmäßig um einen Irrtum über außerstrafrechtliche Normen handeln; ein strafrechtlicher Irrtum im Sinne des Glaubens an die rechtliche Unbedenklichkeit trotz Erfassung des Anknüpfungssachverhalts kommt
dagegen nicht als vorsatzausschließender Tatumstandsirrtum in Betracht.184
Freilich ist nicht zu übersehen, daß die Formel in dem Moment gefährlich
wird, in dem man den hier entwickelten Hintergrund außer acht läßt, also
die Begriffe nicht nur als ungefähr treffende Kürzel für das eigentlich Gemeinte versteht, sondern sie zum entscheidenden Kriterium macht. Dann
wirkt sich nicht nur die gesamte Schwierigkeit einer Abgrenzung von strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Normen verunsichernd aus. Es besteht
dann auch die Gefahr echter Fehler, weil z.B. als maßgeblich angesehen wird, daß der Täter, der den für die Annahme von Entscheidungsunrecht relevanten Sachverhalt voll erfaßt hat, sein Handeln aufgrund eines
zufällig im Zivilrecht stehenden und damit außerstrafrechtlichen Rechtfer-
182 Oder sich an einem Tatsachenbegriff orientiert, der irgendeinem Vorverständnis entspringt, aber nicht dem Sachverhalt entspricht, auf den es bei einer sachgerechten
Normkonkretisierung ankommt und nach dessen Realität (in der Vorstellungswelt des
Täters) daher allein gefragt ist. Dieser Gefahr erliegt z.T. auch Kindhäuser, GA 1990,
407 ff., der zwar mit Recht auf die Kenntnis der von der Norm bezeichneten Sachverhalte abhebt, dabei aber dem eigentlichen Problem, der Umschreibung des Normbefehls und insbesondere der in ihm bezeichneten (Anknüpfungs-)Sachverhalte, m.E. zu
wenig Aufmerksamkeit schenkt bzw. die Überzeugungskraft der von ihm genannten
(Anknüpfungs-)Sachverhalte und Norminhalte doch wohl z.T. etwas überschätzt (so
etwa bei den Blankettmerkmalen, a.a.O., S. 421 f.).
183 Vgl. die in Anm. 54 angeführte Schrift Kuhlens (insbesondere S. 336 ff., 370 ff.,
416 ff.) sowie jüngst Puppe, GA 1990, 180 f., deren Gedanken sich in vielem mit den
hier skizzierten Überlegungen decken oder berühren. Siehe ergänzend oben Anm. 125.
184 Zutreffend daher Puppe, GA 1990, 180 f., wenn sie darauf hinweist, daß der gemeinsame Aspekt des rechtlichen Irrtums insoweit eine Äußerlichkeit erfaßt (während der
Gegensatz zwischen beiden Arten des Rechtsirrtums durchaus fundamental ist).
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
281
tigungsgrundes (z.B. Überdehnung desselben) irrig als unbedenklich ansieht.185
c) Der grundsätzliche Fehler der üblichen Methoden zur Abgrenzung der
vorsatzausschließenden Tatumstandsirrtümer von den unter diesem Aspekt
irrelevanten, allenfalls zu einem Verbotsirrtum führenden Irrtümern liegt
nach allem offen zutage. Er besteht in einer Überschätzung der Bedeutung
und der Problemlösungspotenz der Irrtumslehre und allgemeiner Irrtumsformeln. Das eigentliche materiale Problem in all den Fällen, die - insbesondere im Zusammenhang mit normativen Tatbestandsmerkmalen - heute intensiv als Irrtumsfälle diskutiert werden, liegt nicht im Bereich der Irrtumslehre. Es ist ein Problem der Normkonkretisierung. Es geht um die Frage,
wie jene - üblicherweise nur in der juristischen Hochsprache formulierten spezifischen Sachverhalte, an die das Verbot (oder Gebot) anknüpft und bei
deren Erfassung das Handeln des Täters Entscheidungsunrecht ist, genau
und insbesondere auch in der Denk- und Erfahrungswelt des Nichtjuristen
bzw. von Menschen wie dem konkret interessierenden Täter lauten. Irrtumsformeln können zur Beantwortung dieser Frage naheliegenderweise
schon deshalb wenig beitragen, weil es richtigerweise um eine am Sinn der
jeweiligen Einzelnorm orientierte Normkonkretisierung in bestimmte
Sprech-, Denk- und Erfahrungswelten geht. Ist dieses Normkonkretisierungsproblem gelöst, so ist die Beantwortung der Irrtumsfrage eine Trivialität: Natürlich unterliegt der Täter, der den Anknüpfungssachverhalt nicht
kennt, den er - für die Annahme von Entscheidungsunrecht - kennen muß,
einem vorsatzausschließenden Irrtum. Ebenso trivial ist, daß der, der das
solchermaßen im Wege der Normkonkretisierung Herauspräparierte erfaßt
hat, nicht im vorsatzausschließenden Sinne irrt. Mehr noch: Der diesem Täter zugeschriebene Irrtum verdankt seine Qualifikation eigentlich nur einem
Umstand: daß man es versäumt hat, die Norminhalte sofort sachgerecht
an der Denk- und Erfahrungswelt des Täters zu orientieren. Er kommt zustande, weil man Personen mit einer Begrifflichkeit und Kategorienwelt
konfrontiert, die man bei ihnen nicht voraussetzen kann, statt sofort den
Normsinn in adäquater Weise für sie zu konkretisieren. Was auf diese
Weise zum Teil künstlich zum Irrtum gemacht worden ist, muß dann an185 Obwohl dieser Irrtum das Entscheidungsunrecht nach dem oben 4. Gesagten unberührt
läßt (z.T. verfehlt daher die oben Anm. 32 angeführte Judikatur des RG). Oder umgekehrt: daß man z.B. die Verkennung des Begriffs der "Straftat" bei § 258 StGB als
strafrechtlichen Irrtum qualifiziert und als für den Vorsatz unerheblich einstuft. Dazu,
daß die reichsgerichtliche Judikatur zu Fehlintuitionen in diese Richtung Anlaß gegeben hat, vgl. Kuhlen (Anm. 54), S. 171 ff., 215, 566 f.
282
Wolfgang Frisch
schließend von den wirklichen Irrtümern abgegrenzt werden - was dadurch
geschieht, daß man unter dem Etikett "relevanter oder irrelevanter Irrtum?"
mit Formeln, die vorgeben, Irrtumsprobleme zu lösen (z.B. Parallelwertung),
endlich die bislang unterlassene adäquate Normkonkretisierung nachholt.186
Bei sofortiger adäquater Normkonkretisierung endete die Prüfung bei der
Feststellung, daß der Täter den maßgeblichen Anknüpfungssachverhalt erfaßt (oder nicht erfaßt) hat, und es stellte sich dann allenfalls noch die Frage,
ob er über die rechtliche Verbotenheit seines Verhaltens geirrt hat - die verwirrende Kategorie des sogenannten Subsumtionsirrtums tauchte gar nicht
auf.187
d) Daß es bei der sogenannten Abgrenzung der Irrtümer in der üblichen
Sicht um eine den Kern der Problematik verschleiernde Fragestellung geht
und das eigentliche Problem ein solches der Normkonkretisierung ist, zeigt
sich im übrigen regelmäßig auch bei den Illustrationen der gebräuchlichen
Irrtumsformeln. Wenn z.B. im Zusammenhang mit den bekannten Lehrbuchbeispielen des "Irrtums über die Urkundenqualität" gefragt wird, ob der, der
einen Strich auf dem Bierdeckel ausradiert, gewußt hat, welchen Sinn solche
Striche für den Wirt haben, so bedeutet das nichts weiter als eine Fortschreibung des Norminhalts in Richtung auf die Denk- und Erfahrungswelt des
Täters. Der "Irrtum"188 ist nur der Einstieg für dieses Konkretisierungsverfahren, dessen Charakter freilich durch die Problemlösung mit Irrtumsformeln verschleiert wird. Entsprechendes gilt für andere Feststellungen.
Während hier die unzureichende bewußte Erfassung des eigentlichen Problems wenigstens nicht schadet, man wegen der intuitiven Einigkeit darüber,
was die entscheidenden Anknüpfungssachverhalte sind und wie diese in der
Denk- und Erfahrungswelt des durchschnittlichen Normadressaten lauten,
auch in der unspezifischen Einkleidung zum richtigen Ergebnis gelangt, ver186 Besonders deutlich wird das an solchen Irrtumslösungen, die sich sogar des Vokabulars der adäquaten Normkonkretisierung bedienen - wie z.B. die teleologischreduzierte Sachverhaltssicht (Schlüchter [Anm. 19]), die einen Irrtum als unerheblich
betrachtet, wenn in der Vorstellung des Täters alles das vorhanden ist, was man im
Lichte des Normsinns einerseits und dessen, was man in bestimmten Kontexten wissen
kann, andererseits in subjektiver Hinsicht (also: für die Annahme von Entscheidungsunrecht) zu fordern hat (vgl. etwa die Ausführungen zur "Zuständigkeit" a.a.O.,
S. 125 f.).
187 Mit Recht hält Arthur Kaufmann, Festschrift für Lackner, S. 190, diese Kategorie für
überflüssig.
188 Der übrigens nicht selten erst durch nachträgliche Befragungen in inadäquater Sprache
produziert sein dürfte.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
283
stellt die Nichterfassung des eigentlichen Problems in gewissen anderen Zusammenhängen den Weg zur Lösung bzw. eine adäquate Problemdiskussion.
So liegt es beispielsweise beim Begriff der "Zuständigkeit" in den Aussagedelikten. Die Diskussion wird hier weitgehend mit Begriffen wie Tatund Rechtsirrtum bestritten;189 das eigentliche Problem ist kaum gesehen.
Die entscheidende Vorfrage wäre allemal, was denn nun eigentlich ein juristischer Laie, von dem man kaum besondere Kenntnisse in bezug auf Zuständigkeitsnormen erwarten kann, als Anknüpfungssachverhalt erfaßt haben
muß (und kann), damit man von ihm eine wahre Aussage erwarten darf und
seine Falschaussage bei dieser Sachlage als Entscheidungsunrecht im Sinne
der Aussagedelikte angesehen werden kann.190 Ist diese materiale Frage beantwortet,191 so ist die Qualifikation der Tätervorstellung als ausreichend
oder als vorsatzausschließender Irrtum eine Trivialität. Und andererseits:
Solange diese - zugegebenermaßen nicht einfache - Vorfrage nicht geklärt
ist, läßt sich die "Irrtumsfrage" nicht lösen. Sie mit Hilfe von Irrtumsdistinktionen lösen zu wollen, ist ein Irrweg - weil hier das eigentliche Problem nicht liegt. Ganz Entsprechendes gilt, wie hier nicht mehr im einzelnen
ausgeführt werden kann, für eine Vielzahl anderer normativer Merkmale.
Und es beansprucht, wie ergänzend angefügt sei, nicht nur für den Fall der
Unkenntnis, sondern ebenso für die Fälle Geltung, in denen der Täter irrig
gar nicht gegebene Sachverhalte annimmt: Auch für die Frage "untauglicher
Versuch - Wahndelikt?" ist die entscheidende Vorfrage die Frage danach,
welcher Art die Sachverhalte sind, bei denen man nach dem Normbefehl der
je interessierenden Tatbestände nicht handeln darf - so daß das gleichwohl
erfolgende Handeln in der Vorstellung des Gegebenseins dieser Sachverhalte
Entscheidungsunrecht ist.192
189 Vgl. oben bei Anm. 127 ff.
190 Ansatzweise (und durchaus richtig) in diesem Sinne z.B. die Überlegungen Schlüchters (Anm. 19), S. 125 f., die freilich nicht sieht, daß es damit gar nicht mehr um ein
Irrtumsproblem, sondern um die vorgelagerte Frage der Konturierung des Entscheidungsunrechts des jeweiligen Delikts geht.
191 Weiterführend hierzu Frisch, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 337 f.
192 Bezogen auf die vieldiskutierten Beispiele des Irrtums über das Gegebensein einer
Straftat im Falle einer Strafvereitelung nach § 258 StGB oder über das Bestehen eines
Steueranspruchs bei der Steuerhinterziehung (vgl. etwa Herzberg, JuS 1980, 469 ff., 473;
Burkhardt, JZ 1981, 681 ff.; derselbe, wistra 1982, 178 ff.; Kuhlen [Anm. 54], S. 566 f.;
dort und bei Schünemann, GA 1986, 312 ff., auch weitere Beispiele): Da bestimmtes
Verhalten des Täters als Strafvereitelung verboten ist, wenn das Vorverhalten des Begünstigten eine bestimmte Qualität (Straftat) aufweist, hat auch der Vorsatz diesen
Sachverhalt zu erfassen - muß der Täter also von einem tatbestandsrelevanten Vorgang
tatsächlicher Art ausgehen, den er zudem in seiner Bedeutung als Straftat erfaßt haben
muß. Entsprechend setzt das Entscheidungsunrecht der Steuerhinterziehung die Erfas-
284
Wolfgang Frisch
e) Vor diesem Hintergrund ist endlich auch die Diskussion über die Behandlung von Irrtümern bei strafrechtlichen Blankettatbeständen zu führen.
Normentheoretische Erwägungen über den Stellenwert der ausfüllenden
Pflichtnorm193 helfen hier ebensowenig weiter wie Versuche, in diesem Zusammenhang mit Hilfe abweichender Irrtumstheorien (z.B. der Vorsatztheorie194) zu adäquaten Problemlösungen zu gelangen. Die entscheidende
Frage ist nämlich auch hier nicht eigentlich ein Irrtumsproblem, sondern
eine solche der adäquaten Normkonkretisierung. Es geht auch hier darum
festzustellen, wie jener Sachverhalt lautet, bei dessen Erfassung die Rechtsordnung von dem einzelnen z.B. die Mitteilung bestimmter steuerlich relevanter Vorgänge (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) oder bestimmte Buchführungsmaßnahmen (§ 283 Abs. 1 Nr. 6 StGB) erwartet und widersprechendes Versung eines bestimmten Sachverhalts und dessen Qualität als steuerpflichtbegründend
voraus (vgl. unten e). Dementsprechend liegt ein untauglicher Versuch, der ja doch jedenfalls das Entscheidungsunrecht der genannten Delikte fordert, nur vor, wenn der
Täter irrig von einem Sachverhalt ausgeht, der im Falle seines tatsächlichen Gegebenseins das tatbestandliche Unrecht erfüllte, und wenn er außerdem auch die tatbestandsrelevante Bedeutung dieses irrig angenommenen Sachverhalts erfaßt hat (zutreffend
Jakobs [Anm. 70], 8/59, 25/42; für umgekehrte Irrtümer in bezug auf Blankettmerkmale und Wertprädikate - anders für sog. institutionelle Tatsachen - auch Puppe, GA
1990, 170, 174 f.). Dagegen fehlt es an einem tatbestandsrelevantes Entscheidungsunrecht voraussetzenden untauglichen Versuch, wenn sich der Täter nur einbildet, ein bestimmter hierzu ungeeigneter Sachverhalt stelle eine Straftat dar (und dann z.B. nicht
anzeigt) oder ein bestimmter Vorgang sei steuerpflichtig. Irrtümer dieser Art begründen ein Wahndelikt (überzeugend Burkhardt, a.a.O.). Das wird nicht nur sofort sichtbar, wenn man sich korrekt am vollständigen Vorsatzinhalt orientiert, also insbesondere nicht übersieht, daß der Vorsatz im Normalfall des vollendeten Delikts das Wissen
um ein tatbestandsrelevantes tatsächliches Substrat einschließt - so daß dies selbstverständlich auch im Falle des untauglichen Versuchs vorausgesetzt werden muß und hier
das Wissen nicht einfach auf die (falsche) Wertung beschränkt werden darf. Es folgt
auch daraus, daß die Norm, bestimmtes Verhalten zu unterlassen oder vorzunehmen,
im Blick auf mögliche Gefährdungen des Rechtsguts nur sinnvoll ist, wenn bei der
vom Täter irrig angenommenen Sachlage Gefahr für das Rechtsgut bestünde - nicht
dagegen, wenn es hieran auch dann noch fehlt. Eine Verhaltensnormverletzung setzt
aber auch der untaugliche Versuch voraus. Daß darüber hinaus ein untauglicher Versuch unter Umständen sogar dann zu verneinen sein mag, wenn der Täter das erfaßt
hat, was subjektiv gefordert ist (nämlich dann, wenn in dieser Hinsicht nur relativ wenig
gefordert werden kann - wie z.B. in bezug auf die "Zuständigkeit", siehe dazu Frisch,
Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 338; derselbe, ZStW 101 [1989], S. 609 f.;
ähnlich wohl Schünemann, GA 1986, 324), sei hier nur am Rande erwähnt - die Ausführung dieser Problematik muß einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben.
193 Etwa die Erwägung, daß die Norm das tatbestandsmäßige Verhalten umschreibe (vgl.
z.B. Warda [Anm. 117], S. 5 ff.), in den Sollens-Bereich falle, so daß der Irrtum über
den Umfang der Pflichten nicht anders zu bewerten sei als der Irrtum über das Ausmaß
des tatbestandsmäßigen Verhaltens bzw. des Gesollten, also als Verbotsirrtum (vgl.
Warda, a.a.O., S. 36 ff.; Maiwald [Anm. 132], S. 15 ff.; zu ihm Otto, Gedächtnisschrift für K. Meyer, S. 585 f.).
194 So der Versuch Langes, JZ 1956, 73, 75 ff.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
285
halten trotz Kenntnis dieses Sachverhalts als Entscheidungsunrecht qualifiziert - ob hierfür beispielsweise schon der Abschluß des Geschäfts oder das
Wissen um bestimmte Tätigkeiten genügt oder ob das Wissen um die Pflicht,
die (objektiv) bei den entsprechenden Sachlagen besteht, hinzukommen
muß.
Eine überzeugende Antwort auf diese Frage muß sich an dem Konstitutionsprinzip und damit an der Funktion des Anknüpfungssachverhalts orientieren.
Diese Funktion kann sinnvollerweise nur in der Beschreibung eines Sachverhalts liegen, der den Grund des Verbots der Handlung (oder der Erwartung ihrer Vornahme) selbst so einleuchtend verkörpert, daß die Rechtsgemeinschaft von einem um die Vermeidung von Güterbeeinträchtigungen bemühten Mitglied der Gemeinschaft195 erwarten darf, daß es die in Aussicht
genommene Handlung bei Erfassung dieses ihr anhaftenden Sachverhalts
unterläßt (oder bei Erfassung eines bestimmten Sachverhalts handelt) - so
daß das gegenteilige Verhalten - wegen dieser erfaßten Bedeutung des Sachverhalts - als Entscheidung gegen das Gut qualifiziert werden kann.196
Im Bereich der geläufigen Verletzungserfolgsdelikte liegt dieser Sachverhalt
in der konkreten Eignung des Verhaltens, bestimmte Güterbeeinträchtigungen herbeizuführen197: Wer diese (den Verbotsgrund bildende) Qualität seines Verhaltens erfaßt hat und von ihr ausgeht,198 müßte im Interesse des
Gutes seine Handlung unterlassen; nimmt er sie in voller Erkenntnis dieser
ihrer Bedeutung vor, so entscheidet er sich damit durch positives Tun gegen
das Gut. Für den Bereich des Unterlassens liegt der entsprechende Sachverhalt darin, daß es im Falle des Unterlassens einer bestimmten Handlung seitens der je interessierenden Person zu einer Gutsbeeinträchtigung zu kommen droht und die Person im sozialen Leben für die Abwendung dieser Beeinträchtigung zuständig erscheint, etwa wegen einer Schutzfunktion gegenüber dem bedrohten Gut: Wer die Bedrohung und diese spezifische Funk195 Und damit: bei unterstelltem dominantem Vermeidemotiv, vgl. Jakobs, Studien zum
fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S. 2 f., 34 ff., 48 f.; derselbe (Anm. 70), 6/27 mit
weiteren Nachweisen; siehe auch Kindhäuser, GA 1990, 416 f.
196 Das ist der berechtigte Grundgedanke der These von der Appellfunktion des Tatbestands; siehe dazu etwa Naka, JZ 1961, 210; Jescheck (Anm. 76), S. 290; Rudolphi
(Anm. 132), § 16 Rn. 12; Arthur Kaufmann (Anm. 29), S. 21; Maiwald (Anm. 132),
S. 17 f., und jüngst Jenny, SchwZStR 1990, 242 ff.
197 Siehe dazu näher Frisch (Anm. 150), S. 36, 69 ff.
198 Auf die für die Annahme einer Entscheidung gegen das Gut notwendigen psychischen
Substrate selbst (herkömmlich: Elemente des Vorsatzes) kann hier nicht näher eingegangen werden. Näher dazu Frisch (Anm. 98), S. 162 ff., und derselbe, Gedächtnisschrift für K. Meyer, S. 533 ff., 545 ff.
286
Wolfgang Frisch
tion erfaßt hat, von dem kann erwartet werden, daß er tätig wird - sein Unterlassen bedeutet Entscheidung gegen das Gut.199 Überträgt man diesen Gedanken auf die nunmehr interessierenden Blankettnormen, so geht es damit
auch hier darum, jenen Anknüpfungssachverhalt zu bestimmen, bei dessen
Erfassung (und Anerkennung) von dem um die Vermeidung von Beeinträchtigungen des entsprechenden Gutes Bemühten bestimmtes Verhalten
erwartet werden kann und das dem nicht gerecht werdende Verhalten als
Entscheidung gegen das entsprechende Gut qualifizierbar ist.
Am Beispiel der Steuerhinterziehung: Zu bestimmen ist hier - unabhängig
von gesetzestechnischen Variationen200 - der Anknüpfungssachverhalt des
strafrechtlichen Tatbestands, der den Grund für die Vornahme bestimmter
Handlungen (z.B. die Mitteilung eines Vorgangs) so unmittelbar einsichtig
verkörpert, daß von einem im Blick auf das Rechtsgut des staatlichen Steueranspruchs um die Vermeidung von Verkürzungen bemühten Bürger eben
diese Handlung (Mitteilung) erwartet werden darf und das gegenteilige
Handeln damit als Entscheidung gegen das Rechtsgut erscheint. Dieses Datum liegt nun ersichtlich nicht schon in der Erfassung eines Vorgangs
oder Geschäfts, das objektiv steuerpflichtig ist. Da das Rechtsgut des staatlichen Steueranspruchs entscheidend durch die steuerliche Relevanz oder die
Steuerpflichtigkeit mitkonstituiert wird,201 kann die Geeignetheit seines
Verhaltens zur Güterbeeinträchtigung überhaupt nur der erfassen, der um
die Steuerpflichtigkeit des Vorgangs weiß: Allein von ihm kann die Vornahme bestimmter Handlungen zur Vermeidung der Gutsbeeinträchtigung
im selben Maße erwartet werden wie von dem, der z.B. die Verletzungsgeeignetheit seines Verhaltens in Richtung auf die körperliche Integrität oder
199 Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden; eine Weiterführung meiner
Überlegungen über den vom Vorsatz zu umfassenden maßgeblichen Anknüpfungssachverhalt von den Begehungsdelikten in den Bereich des Unterlassungsdelikts enthält die Habilitationsschrift von Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1991, insbesondere §§ 9, 12 ff., 15 ff.
200 Der Tatbestand ist in den letzten Jahrzehnten mehrfach geändert worden: Ursprünglich
(nach der RAO von 1931) ging es in § 396 RAO - u.a. - um die Verkürzung von Steuereinnahmen, also darum, daß jemand "bewirkt, daß die nach den Steuergesetzen zu
entrichtenden Steuern nicht, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig entrichtet werden"
(vgl. Hartung, Das Steuerstrafrecht, 1950, § 395 RAO Anm. I 1 c, § 396 RAO
Anm. I 4 b und II 1). Ähnlich lautete dann § 392 Abs. 1 AO in der Fassung des Änderungsgesetzes von 1967/68. Von der jetzt (seit 1977) geltenden Vorschrift des § 370
AO ist im Text - neben der Nr. 1 (Steuerverkürzung durch unrichtige oder unvollständige Angaben) - insbesondere die Unterlassungsalternative der Nr. 2 angesprochen,
wonach bestraft wird, "wer ... 2. die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis läßt ... und dadurch Steuern verkürzt ...".
201 Zutreffend Jakobs (Anm. 70), 8/47, 56.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
287
bestimmte andere Rechtsgüter der Person erfaßt hat. Wer dagegen die
steuerliche Relevanz des Vorgangs nicht kennt, hat auch diese spezifische
Gutsrelevanz seines Verhaltens nicht erkannt - sein Verhalten kann dementsprechend nicht als Entscheidung gegen das Gut qualifiziert werden. Die
Unkenntnis der Steuerpflicht schließt somit als Tatumstandsirrtum den Vorsatz aus - und zwar ganz gleich, ob der Täter die Steuerpflicht des Vorgangs
schon grundsätzlich nicht kennt202 oder (nur) annimmt, daß diese z.B.
wegen eines (in Wahrheit nicht eingreifenden) Doppelbesteuerungsabkommens entfalle.203 Gleiches hat aber auch für die Unkenntnis der Pflicht
zur Mitteilung steuerlich erheblicher Tatsachen an die Finanzbehörden zu
gelten, von deren Verletzung die Strafbarkeit nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO
abhängt: Wer um die steuerliche Erheblichkeit des Vorgangs weiß, aber diese Pflicht - z.B. zur umgehenden Anzeige einer gerade aufgenommenen Tätigkeit - nicht kennt und etwa glaubt, es reiche die Angabe im Rahmen der
allgemeinen Einkommensteuerveranlagung, hat nicht erfaßt, daß sein
Verhalten einen Angriff auf den staatlichen Steueranspruch darstellt. Seinem Verhalten fehlen dementsprechend die Charakteristika der unrechten
Entscheidung gegen das Gut; kurz: es handelt sich auch hier um einen das
Vorsatzunrecht ausschließenden Irrtum.204 Daß der Grund des Irrtums im
Bereich der Pflichten liegt, ändert daran nichts, ist insbesondere nicht geeignet, den Irrtum zu einem Verbotsirrtum zu machen. Denn für die Abgrenzung von Tatumstands- und Verbotsirrtum kommt es nicht auf den Topos "Irrtum über Tatsachen oder Pflichten?" an, sondern darauf, ob der Irrtum sich auf den Anknüpfungssachverhalt sinnvoll konzipierter strafrechtlicher Normen oder auf diese selbst bezieht. Danach läge ein Verbotsirrtum
erst vor, wenn der Täter diesen Anknüpfungssachverhalt kennt, also z.B.
202 Übereinstimmend BGHSt 5, 90, 92; BGH NJW 1980, 1005 f.; BGH wistra 1989,
263 f. (mit weiteren Nachweisen); Franzen/Gast/Samson, Steuerstrafrecht, 3. Aufl.
1985, § 370 Rn. 187; Jakobs (Anm. 70), 8/56; Kuhlen (Anm. 54), S. 531 f.; Welzel,
NJW 1953, 486 ff.; a.A. BayObLG DB 1981, 874, 875 (nur die Merkmale, von denen
das Bestehen des Anspruchs abhängt, müssen bekannt sein); Maiwald (Anm. 132),
S. 15 ff. (der damit argumentiert, daß bei Annahme eines vorsatzausschließenden Irrtums ein Verbotsirrtum nicht mehr denkbar wäre, vgl. a.a.O., S. 21 f.); Roxin, Offene
Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, 2. Aufl. 1970, S. 147; Warda (Anm. 117),
S. 47 f. - Siehe zum Ganzen auch Tiedemann (Anm. 117), S. 323 ff., und derselbe,
ZStW 81 (1969), S. 869, 879 ff.
203 So zutreffend BayObLG wistra 1990, 202 f.; vgl. auch BGH wistra 1986, 174 und 220
(irrige Annahme der Möglichkeit eines Vorsteuerabzugs als Vorsatzausschluß).
204 Übereinstimmend Kohlmann, Steuerstrafrecht, 5. Aufl. 1990, § 370 Rn. 219, 229; im
Grundsatz ebenso OLG Bremen StV 1985, 282, 284; a.A. Franzen/Gast/Samson
(Anm. 202), § 370 Rn. 189; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Hübner, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl. 1989, § 370 Rn. 116.
288
Wolfgang Frisch
seine Steuerpflicht und die Mitteilungspflichtigkeit eines bestimmten Vorgangs erfaßt hat, aber glaubt, seine gegenwärtig schlechte finanzielle Lage
gebe ihm ein Recht, die staatlichen Interessen hintanzusetzen, also die Anzeige zunächst zu unterlassen und Steueransprüche unerfüllt zu lassen.205
Verbotsirrtümer dürften damit in diesem Bereich einigermaßen selten
sein.206
Oder am Beispiel dessen, der "bei Überschuldung Handelsbücher, zu deren
Führung er gesetzlich verpflichtet ist, zu führen unterläßt" (§ 283 Abs. 1
Nr. 6 StGB): Das hier geschützte Gut, die Erhaltung der Übersicht über den
Vermögensstand, besteht von vornherein nur innerhalb der Grenzen der
entsprechenden Pflicht. Es - bzw. das dadurch mittelbar geschützte Gläubigervermögen - kann dort nicht verletzt werden, wo entsprechende Pflichten
gar nicht bestehen.207 Dementsprechend kann das Bild, dieses Gut - oder
mediatisiert dadurch das Gläubigervermögen - zu beeinträchtigen, von
vornherein nur der haben, der vom Bestehen entsprechender Pflichten ausgeht. Wer diese Pflichten nicht kennt, hat so wenig das Bild eines Angriffs
auf das Gut vor sich, wie derjenige, der solche Pflichten tatsächlich nicht hat
205 Denn bei dieser Vorstellung weiß der Täter, daß er in das geschützte Gut eingreift; er
bildet sich lediglich ein - auf der Linie des Notstands liegendes - Eingriffsrecht ein,
das es in dieser Form nicht gibt (wohl übereinstimmend Kohlmann [Anm. 204], § 370
Rn. 234, und Welzel, NJW 1953, 487). Anders, wenn der Täter glaubt, ein bestimmter
Steueranspruch sei wegen vorhandener Vorsteuerabzugsmöglichkeiten (siehe die
Nachweise oben Anm. 203) entfallen: Hier berührt der Irrtum schon den Eingriff in
das Gut und führt zum Vorsatzausschluß. Daß die Grenze zwischen vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum damit nicht besonders markant ist
(zumal wenn man die Annahme schon eines Wegfalls der Steuerpflicht bei schlechter
finanzieller Situation ebenfalls als vorsatzausschließend anzuerkennen bereit sein
sollte) und daß auch Nachweisprobleme meist zum Vorsatzausschluß führen werden,
ist zuzugeben, ändert aber nichts am Vorhandensein der Grenze (a.A. wohl Maiwald
[Anm. 132], S. 28, der in allen Fällen nur einen Verbotsirrtum annehmen will).
206 Hieraus und aus der zugrundeliegenden Einsicht in den schon vorsatzausschließenden
Charakter der Unkenntnis einer bestehenden Steuerpflicht folgt nicht etwa im Sinne eines (schematischen) Umkehrverfahrens, daß dann die irrige Annahme des Bestehens
einer Steuerpflicht (wegen deren Einordnung als Tatbestandsmerkmal) prinzipiell zu
einem untauglichen Versuch führen müßte. Ein solcher liegt vielmehr nur vor, wenn
der Täter sich irrig einen Sachverhalt vorstellt, bei dessen Gegebensein eine Steuerpflicht besteht, und deshalb die Steuerpflicht annimmt. Die bloß irrtümliche Annahme
einer Steuerpflicht bei einem hierzu nicht tauglichen Vorgang führt richtigerweise zum
Wahndelikt (so überzeugend Burkhardt, wistra 1982, 178 ff.) - freilich nicht einfach
wegen der Verwurzelung des Irrtums im Rechtlichen, sondern deshalb, weil auch der
(untaugliche) Versuch die Verletzung einer Verhaltensnorm voraussetzt und sich eine
solche dort, wo der Täter noch nicht einmal (irrig) von einem an sich steuerpflichtigen
Vorgang ausgegangen ist, sinnvoll nicht konzipieren läßt (siehe ergänzend oben
Anm. 190).
207 Auch hier konstituiert die Pflicht also überhaupt erst das Gut.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
289
- er handelt dementsprechend in einem das Vorsatzunrecht ausschließenden
Tatumstands-, nicht in einem "Gebotsirrtum".208 Dagegen läge eine Entscheidung gegen das Gut vor, wenn der Täter die Führung unterläßt, obwohl
er seine gesetzliche Pflicht und deren Bedeutung für alle Gläubiger kennt,
aber z.B. glaubt, infolge des Einverständnisses seines Hauptgläubigers auf
die Führung verzichten zu dürfen.
Mit diesen skizzenhaften Bemerkungen zur Grenze zwischen Tatumstandsund Verbotsirrtum muß es hier sein Bewenden haben. Die zentrale These der
vorstehenden Erwägungen, daß es bei der Frage, die gewöhnlich als allgemeines Irrtumsproblem mit allgemeinem Instrumentarium gelöst zu werden pflegt, in Wahrheit um ein spezifisches Problem der Normkonkretisierung geht, mag zunächst überraschen. Sie bildet indessen den sowohl
grundlagenfundierten als auch methodisch allein richtigen Weg, um aus jenen vielfältigen Friktionen und offenen Fragen herauszukommen, die die
heutige Irrtumslehre im Bereich der sogenannten normativen Tatbestandsmerkmale und Blankette kennzeichnen. Daß hier eine Reihe von Problemen
nicht gelöst sind, hängt damit zusammen, daß man sie an falscher Stelle und
mit falschen, weil zu globalen Formeln zu lösen versucht.209 Sind die einzelnen Strafrechtsnormen und Deliktstypen ratio-orientiert so weit präpariert,
daß man die Frage des in ihnen enthaltenen Entscheidungsunrechts beantwortet hat, und sind die Normanknüpfungspunkte auf die Denk- und Erfahrungswelt dessen zugeschnitten, dessen Entscheidungsunrecht festgestellt
werden soll, so braucht man sich um eine besondere Irrtumslehre - auch in
diesem Punkt - nicht mehr zu sorgen.
208 Übereinstimmend Dreher/Tröndle (Anm. 114), § 283 Rn. 33, und Tiedemann, in: Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1984, § 283 Rn. 183; a.A. Schönke/Schröder/Stree, StGB,
23. Aufl. 1988, § 283 Rn. 56; zu § 283b Abs. 1 Nr. 3 StGB auch BGH NJW 1981, 355.
209 Das gilt für die Versuche, die Problematik mit der Parallelwertungsformel zu lösen,
ebenso wie für den Versuch, die Irrtumsfragen nur im Kernstrafrecht nach der Schuldtheorie zu behandeln und im Nebenstrafrecht die Vorsatztheorie anzuwenden: Der Sache nach wird mit diesem letzteren Ansatz nur der Einsicht Rechnung getragen, daß
insbesondere im Bereich des Nebenstrafrechts der negative Bezug bestimmter Verhaltenweisen vielfach überhaupt erst über bestimmte Pflichten konstituiert wird - womit
auch die dem Vorsatz eigentümliche Entscheidung gegen das Gut die Erfassung dieser
Pflichten (und ihrer Verletzung) voraussetzt. Doch sind Fälle dieser Art nicht auf das
Nebenstrafrecht beschränkt. Das obige Beispiel des § 283 StGB zeigt das ebenso wie
ein Blick auf § 266 StGB (Bewußtsein der Pflichtwidrigkeit als Vorsatzmoment; siehe
dazu BGH wistra 1987, 137, 138). Und auch bei § 292 StGB konstituieren die Normen
des Bundesjagdgesetzes über "jagdbare Tiere" das Gut, so daß das auf ihre Unkenntnis
zurückgehende Unwissen über die Jagdbarkeit des Tieres - entgegen Kindhäuser, GA
1990, 421 f. - nicht nur einen Verbotsirrtum, sondern einen den Angriff auf das Gut
verschleiernden vorsatzausschließenden Tatumstandsirrtum zur Folge hat.
DER IRRTUM ALS UNRECHTS- UND/ODER
SCHULDAUSSCHLIESSUNGSGRUND IM SPANISCHEN STRAFRECHT
Santiago Mir Puig, Barcelona
I.
Einführung
1. Im spanischen Strafrecht ist der Irrtum seit 1983 in Art. 6bis a Código
Penal geregelt. Diese Vorschrift behandelt den Tatbestandsirrtum und den
Verbotsirrtum in unterschiedlicher Weise.
Beim Tatbestandsirrtum unterscheidet Art. 6bis a zwischen dem Irrtum über
ein "wesentliches Element des strafrechtlichen Verstoßes" (elemento esencial integrante de la infracción penal) und dem Irrtum über ein Element, "das
die Strafe erschwert" (que agrave la pena). Die für den Irrtum über ein wesentliches Tatbestandsmerkmal vorgesehenen Rechtsfolgen entsprechen denjenigen, welche schon vor dem Inkrafttreten der neuen Vorschrift von Lehre
und Rechtsprechung einstimmig angenommen worden waren: Ist der Irrtum
unvermeidbar, so führt er zur Straflosigkeit (Art. 6bis a Abs. 1); ist er
vermeidbar, so wird die Tat als Fahrlässigkeitsdelikt bestraft, sofern die
Fahrlässigkeit mit Strafe bedroht ist (Art. 6bis a Abs. 2). Der Irrtum über
ein strafschärfendes Element schließt die Strafschärfung aus (Art. 6bis a
Abs. 1).
Der Verbotsirrtum wird - davon getrennt - im dritten Absatz desselben Artikels 6bis a geregelt. Ist er unvermeidbar, so ordnet das Gesetz wie beim Tatbestandsirrtum die Straflosigkeit an. Ist der Irrtum vermeidbar, dann verweist das Gesetz aber nicht auf die Fahrlässigkeitstatbestände, sondern auf
die Strafmilderung, welche Art. 66 CP für die unvollständigen Strafausschließungsgründe vorsieht.
2. Aus dieser Regelung des Art. 6bis a läßt sich nicht entnehmen, welche
systematische Stellung den verschiedenen Irrtumsarten innerhalb des Ver-
292
Santiago Mir Puig
brechensaufbaus zukommt und ob sie das Unrecht oder die Schuld betreffen.
Auch bestimmt das Gesetz nicht, ob der Irrtum über die Voraussetzungen
eines Rechtfertigungsgrundes als eine Form des "Irrtum über ein wesentliches Element des strafrechtlichen Verstoßes" der Absätze 1 und 2 anzusehen und demgemäß als Tatbestandsirrtum zu behandeln ist, oder ob er
als eine Art des Verbotsirrtums im Sinne des dritten Absatzes erachtet werden muß. Schließlich läßt sich Art. 6bis a sowohl vom Standpunkt der
Schuldtheorie als auch der Vorsatztheorie erklären.
Alle diese Fragen sind nach wie vor in Spanien umstritten. Die Rechtsprechung und ein Teil der Lehre verharren auf dem kausalistischen Standpunkt,
daß sowohl der Tatbestandsirrtum als auch der Verbotsirrtum den Vorsatz
ausschlössen und die Schuld beträfen. Freilich überwiegt inzwischen wohl
die Meinung, daß der Tatbestandsirrtum ein Unrechtsproblem darstelle. Der
Verbotsirrtum wird von der herrschenden Meinung weiterhin - mit unterschiedlichen Begründungen - als Schuldausschließungs- oder Schuldminderungsgrund angesehen. Demgegenüber vertrete ich selbst die Auffassung,
daß nicht nur der Tatbestandsirrtum, sondern auch der Verbotsirrtum das
Unrecht betrifft. Hinsichtlich des Irrtums über die Voraussetzungen eines
Rechtfertigungsgrundes ist die spanische Lehre ebenfalls gespalten zwischen
denen, die ihn als Tatbestandsirrtum, und denen, die ihn als Verbotsirrtum
behandeln. Schließlich sieht ein Teil in der differenzierenden Behandlung
von Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum in Art. 6bis a die Schuldtheorie
verwirklicht, während andere Autoren, zu denen ich mich selbst rechne, es
für möglich halten, diese Vorschrift aus dem Blickwinkel der Vorsatztheorie
zu interpretieren. Im folgenden werden wir uns mit diesen Streitfragen näher
befassen.
II.
Die verbrechenssystematische Stellung des Tatbestandsirrtums
Wir beziehen uns zunächst auf die verbrechenssystematische Stellung des
Tatbestandsirrtums. Dabei können wir uns relativ kurz fassen. Die systematische Stellung des Tatbestandsirrtums ist eine bloße Konsequenz derjenigen
Stellung, welche man dem natürlichen Vorsatz zuweist, denn niemand bestreitet, daß diese Irrtumsart nichts anderes darstellt als das negative Gesicht
jenes Vorsatzes: sein Fehlen. Wer den Vorsatz in der Schuld ansiedelt, gelangt zur Auffassung, daß der Tatbestandsirrtum diese Verbrechenskategorie betrifft, während diejenigen, welche den Vorsatz in das Unrecht einbe-
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschließungsgrund
293
ziehen, den Tatbestandsirrtum als Ausschluß- oder Minderungsgrund des
Unrechts anerkennen müssen. In der spanischen Strafrechtslehre werden
beide Ansichten gewöhnlich auf systematische Konstruktionen gestützt, die wie etwa der Kausalismus oder der Finalismus - von der deutschen Lehre
übernommen wurden. Es ist hier daher nicht erforderlich, näher darauf einzugehen. Dennoch muß darauf hingewiesen werden, daß einerseits die kausale Systematik, auch wenn sie in unserem Lande stark im Rückgang begriffen ist, von Cobo/Vives1 neu formuliert wurde, und andererseits die Einbeziehung des Vorsatzes (und damit auch des Tatbestandsirrtums) in das Unrecht nicht nur aus dem Blickwinkel der finalen Handlungslehre begründet
wird, sondern auch auf eigenen Wegen, die von der Normentheorie ausgehen.
Bleiben wir einen Moment bei diesem letztgenannten Weg, den auch ich
selbst beschreite. Ich gehe im Unterschied zum Finalismus nicht von einem
ontologischen Begriff der finalen Handlung aus, aus welchem die Notwendigkeit der Einbeziehung des Vorsatzes in die verbotene, rechtswidrige Tat
folgen würde, sondern stütze mich - gewissermaßen im Gegensatz dazu - auf
die motivierende Funktion der Norm, welche auf den Geist des Adressaten
gerichtet ist und nur willentliche Handlungen von diesem verlangt, soweit
dieser einen freien Willen hat. Nicht aus dem Wesen der menschlichen
Handlung folgt der Inhalt dessen, was durch eine Norm verboten werden
kann, sondern aus der motivatorischen Funktion der Norm ergibt sich, daß
durch diese nur willentliche Verhaltensweisen als solche verboten werden
können.
Der Ausgangspunkt der motivatorischen Funktion der Norm ist in verschiedenen Formen und unterschiedlichen Formulierungen dargestellt worden.2
Ich selbst habe mich bemüht, diese Konzeptionen auf das Modell des sozialen und demokratischen Rechtsstaates zu gründen, welches die spanische
Verfassung von 1978 aufgreift (Art. 1 Abs. 1), sowie auf die Umsetzung dieses Modells auf das Strafrecht: als begrenzte Prävention, als Mittel des sozialen Schutzes, das einer Reihe von Begrenzungen unterworfen ist, welche die
1
2
Vgl. Cobo/Vives, Derecho penal, Parte General, 2. Aufl. Valencia 1987, S. 186 ff.
Vgl. Gimbernat Ordeig, Estudios de Derecho penal, 2. Aufl. Madrid 1981, S. 112 ff.,
142; Muñoz Conde, Funktionen der Strafnorm und Strafrechtsreform, in: Madlener/Papenfuß/Schöne (Hrsg.), Strafrecht und Strafrechtsreform, Köln 1974, S. 312 ff.; Mir
Puig, Introducción a las bases del Derecho penal, Barcelona 1976 (unveränderter
Nachdruck 1982), S. 56 ff., 106 ff.
294
Santiago Mir Puig
Ausübung des Ius Puniendi in jener Art von Staat beschränken, der der Gesellschaft zu dienen hat (Sozialstaat), dem Recht unterworfen (Rechtsstaat)
und auf die Würde des Menschen ausgerichtet ist (demokratischer Staat).3
Nur willentliche (finale) Verhalten können durch Normen verhindert werden. Die Normen versuchen, den Bürger zur Unterlassung solcher willentlicher Handlungen zu bewegen, welche strafrechtlich geschützte Rechtsgüter
gefährden.4 Da die willentlichen Verhaltensweisen, die beim Vorsatz- und
beim Fahrlässigkeitsdelikt (jenes auf die tatbestandliche Verletzung zielend,
dieses nur sorgfaltswidrig hinsichtlich deren Möglichkeit) verboten werden
können, unterschiedlich sind, müssen auch die entsprechenden Tatbestände
und Normen sich voneinander unterscheiden.5
Die Konsequenzen dieser Auffassung für die systematische Behandlung des
Tatbestandsirrtums sind offensichtlich: Wenn dieser Irrtum den Vorsatz ausschließt und ohne Vorsatz die (finale) willentliche Handlung des Täters nicht
die in dem Tatbestand des Vorsatzdelikts umschriebene, sondern eine weniger schwerwiegende (fahrlässige) oder gar tatbestandslose ist, dann schließt
der Tatbestandsirrtum den Vorsatztatbestand aus und eröffnet - wenn er
vermeidbar ist - den Weg zu einem Fahrlässigkeitstatbestand oder - wenn er
unvermeidbar ist - zur Tatbestandslosigkeit.
Umstrittener sind die Konsequenzen, die meiner Auffassung nach aus dieser
Erkenntnis für den Verbotsirrtum zu ziehen sind. Bevor diese jedoch näher
betrachtet und ihre Vereinbarkeit mit Art. 6bis a dargelegt werden können,
müssen zuerst zwei andere, bereits aufgeworfene Fragen beantwortet werden: Wie der Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes
nach dieser Vorschrift zu behandeln ist und ob die gesetzliche Regelung zur
Anerkennung der Schuld- oder Vorsatztheorie verpflichtet. Von der ersten
Frage hängt die Begrenzung der Reichweite des Verbotsirrtums ab, von der
zweiten der theoretische Freiraum, den Art. 6bis a CP übrigläßt.
3
4
5
Vgl. Mir Puig, Función de la pena y teoría del delito en el Estado social y democrático
de Derecho, 2. Aufl. Barcelona 1982, S. 42 ff.; derselbe, ZStW 95 (1983), S. 420 ff.,
422 ff.; derselbe, Derecho penal, Parte General, 2. Aufl. Barcelona 1985, S. 53 ff.,
60 ff., 89 ff.
Vgl. Mir Puig, Über das Objektive und das Subjektive im Unrechtstatbestand, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, Köln 1989, S. 256.
Vgl. Mir Puig, ZStW 95 (1983), S. 439.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschließungsgrund
III.
295
Die Einordnung des Irrtums über die objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes
Aus dem Gesetzeswortlaut läßt sich nicht ersehen, ob der Irrtum über die
objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes als Tatbestandsirrtum nach Art. 6bis a Abs. 1 und 2 oder als Verbotsirrtum nach Art. 6bis a
Abs. 3 zu behandeln ist. Die Entscheidung dieser Frage hängt daher von dogmatischen und kriminalpolitischen Erwägungen ab.
a) Es sei daran erinnert, daß der erste Absatz des Art. 6bis a, den man
übereinstimmend auf den unvermeidbaren Tatbestandsirrtum anwendet, sich
wörtlich auf ein "wesentliches Element des strafrechtlichen Verstoßes" (elemento esencial integrante de la infracción penal) bezieht. Versteht man den
Begriff "Verstoß" (infracción) seinem Wortsinn nach als "Verstoß gegen
eine Norm", so hängt die Beantwortung der Frage davon ab, ob man in der
Verwirklichung des Tatbestandes (verstanden im klassischen Sinne als positiver Tatbestand) schon den Verstoß gegen die strafrechtliche Norm sieht
und deshalb keine "Elemente des Verstoßes" außerhalb des Tatbestandes
anerkennt. Wenn man das - wie der orthodoxe Finalismus6 - annimmt, dann
kann der "Irrtum über ein Element des strafrechtlichen Verstoßes" als ausschließlich auf Merkmale des (positiven) Tatbestandes bezogen interpretiert
werden. Der Irrtum über die objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes würde dann auf den Bereich der "irrigen Annahme, erlaubt zu
handeln" des dritten Absatzes von Art. 6bis a zurückgedrängt. Er wäre dann
ein Verbotsirrtum, so wie es die strenge Schuldtheorie vorschlägt.
b) Aber diese Folgerung ist nicht zwingend, nicht einmal, wenn man bereits in der Verwirklichung des (positiven) Tatbestandes einen "Verstoß"
sieht. Auch dann steht nichts entgegen, für die Wirksamkeit der konkreten
Pflicht, das tatbestandliche Geschehen zu vermeiden, auch das Fehlen von
Rechtfertigungsgründen zu verlangen - jedenfalls sieht das Welzel so.7 Man
könnte dann den "Irrtum über ein Element des strafrechtlichen Verstoßes"
des ersten Absatzes von Art. 6bis a so interpretieren, daß er sich auf ein
Element des konkreten Verstoßes bezieht, welcher die Tatbestandsverwirklichung und das Fehlen von Rechtfertigungsgründen voraussetzt. So könnten
diejenigen vorgehen, welche zwar der eingeschränkten Schuldtheorie folgen,
6
7
Vgl. Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. Berlin 1969, S. 50.
Vgl. Anm. 6.
296
Santiago Mir Puig
sich aber nicht auf die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen stützen wollen.8
c) Dasselbe Ergebnis folgt natürlich logisch zwingend aus der Lehre von
den negativen Tatbestandsmerkmalen sowie für diejenigen, welche - wie
diese Lehre - annehmen, daß die Verwirklichung des positiven Tatbestandes
für die Verletzung einer strafrechtlichen Norm zwar notwendig, aber nicht
hinreichend ist: mithin für alle, nach deren Ansicht die Rechtfertigungsgründe verhindern, daß die verbotene Tat, der Verstoß, zustande kommt.
Wer fehlerhaft annimmt, daß die objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes vorliegen, irrt - aus dieser Sicht - über notwendige Voraussetzungen des Verstoßes. Ein solcher Irrtum wäre dann ein "Irrtum über
ein wesentliches Element des strafrechtlichen Verstoßes" im Sinne des ersten
Absatzes von Art. 6bis a CP.
Dieses Ergebnis, wie auch das von b), zeigt, daß die objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes sich auf situative "Elemente des Verstoßes" beziehen, die von der rechtlichen Bewertung der Tat als nicht gerechtfertigt zu trennen sind. Der Irrtum über diese Bewertung ist zweifellos
ein Verbotsirrtum. Aber das Fehlen von Rechtfertigungsgründen bedeutet
nicht nur, daß die tatbestandsmäßige Handlung als rechtswidrig zu bewerten
ist, sondern es setzt auch voraus, daß bestimmte situative Merkmale nicht
vorliegen, die einen Rechtfertigungstatbestand bilden. Es wäre fehlerhaft anzunehmen, daß die als rechtswidrig zu beurteilende Tat vollständig im Tatbestand umschrieben sei und die Rechtswidrigkeit ein bloßes Werturteil über
den Tatbestand bilde. Die Frage, ob ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, ist
nicht nur rechtlicher Natur, sondern hängt auch vom Vorliegen bestimmter
situativer Merkmale ab (wie etwa der Tatsache eines Angriffs bei der Notwehr). Die rechtswidrige Tat muß nicht nur die im positiven Tatbestand umschriebene Situation verwirklichen, sondern auch die in einem Rechtfertigungstatbestand (negativen Tatbestand) umschriebene Situation nicht verwirklichen. Diese Situation setzt sich zusammen aus den objektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes. Ein Irrtum darüber ist deshalb
ein Irrtum über die tatbestandliche Situation der Rechtfertigung, über den
negativen Tatbestand. Diese Art von Irrtum ist kein Irrtum über den positiven Tatbestand, aber sie betrifft auch nicht nur das Verbot, d.h. die Bewer8
Auch für den, der die "rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie" vertritt, wie etwa Jescheck, Tratado de Derecho penal, Traducción y adiciones de Derecho español de Mir
Puig/Muñoz Conde, I, Barcelona 1981, S. 633 f., 635 f.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschließungsgrund
297
tung der Tat als verboten, sondern den negativen Tatbestand, der ebenso situationsbezogen ist wie der positive Tatbestand. Terminologisch wäre es am
genauesten, diesen Irrtum als "negativen Tatbestandsirrtum" zu bezeichnen.
Er kann zwar nicht den Tatbestandsvorsatz aufheben, der Teil des positiven
Tatbestandes ist, aber doch den vorsätzlichen Charakter der gesamten
rechtswidrigen Tat, welcher nicht nur eine vorsätzliche Tatbestandsverwirklichung voraussetzt, sondern auch, daß der Täter weiß, daß kein Rechtfertigungsgrund eingreift.9
Das alles zeigt, daß es aus dogmatischer Sicht sehr wohl möglich ist, den Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes wie den Irrtum
über den (positiven) Tatbestand als "Irrtum über Elemente des Verstoßes"
gemäß Art. 6bis a Abs. 1 und 2 CP anzusehen. Sicherlich führt ein solcher
Irrtum auch zu einem Irrtum über des Verbotensein der Tat, aber dasselbe
gilt auch für den Tatbestandsirrtum: Wer nicht weiß, daß er einen Menschen
tötet, sondern von einem dem Jagdrecht unterliegenden Tier ausgeht, glaubt,
daß er rechtmäßig handelt. Es bleibt daher dabei, daß nur der Irrtum, der sich
nicht auf ein Element des Verstoßes, sondern nur auf den Verstoß als solchen bezieht, ein Verbotsirrtum gemäß Art. 6bis a Abs. 3 CP ist.
Aber die Zulässigkeit dieser Konstruktion bedeutet noch nicht, daß man
nicht genauso annehmen könnte, daß der Irrtum über die Voraussetzungen
eines Rechtfertigungsgrundes die Elemente des Verstoßes nicht betrifft. Wie
bereits unter a) gezeigt, kann das Welzelsche Verständnis vom Tatbestand als
ausschließlichem Sitz der Verbotsmaterie als Basis für die Annahme dienen,
daß alle Elemente des Verstoßes innerhalb des Tatbestandes liegen und keines außerhalb. Die Entscheidung zwischen der einen oder der anderen dogmatischen Konzeption (von der Bedeutung des Wortes "Verstoß") muß daher
auch kriminalpolitische Erwägungen einbeziehen.
Aus dieser Sicht ist gegen die Annäherung der Behandlung des Irrtums über
die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes an die Behandlung des
Irrtums über den (positiven) Tatbestand eingewendet worden, daß es nicht
richtig sei, den vermeidbaren Irrtum über derartige Umstände bei der
Mehrzahl der Delikte straflos zu lassen. Ein solches Ergebnis würde in Spanien eintreten, wenn sich das in dem Entwurf für einen Código Penal von
1980 und dem Entwurfsvorschlag für einen Código Penal von 1983 vorgese9
Vgl. Mir Puig, Derecho penal (Anm. 3), S. 198 f.
298
Santiago Mir Puig
hene System des Numerus clausus für die Bestrafung wegen Fahrlässigkeit
durchsetzen sollte. Diese Auffassung könnte jedenfalls vertreten, wer glaubt,
daß die Tatsache der Verwirklichung des (positiven) Tatbestandes (welche
allgemein eine bewußte Verletzung eines Rechtsguts bedeutet) eine strengere
Behandlung der irrigen Annahme rechtfertigender Situationen verlangt.10
Auf einer besseren kriminalpolitischen Grundlage steht dagegen die gegenteilige, in der Lehre herrschende11 Ansicht, die davon ausgeht, daß der Irrtum über die im Tatbestand eines Rechtfertigungsgrundes umschriebene Situation wegen dessen Ähnlichkeit mit dem Irrtum über die im (positiven)
Tatbestand umschriebene Situation dieselbe strafrechtliche Behandlung verdient. Tatsächlich bedeutet der Irrtum über den negativen Tatbestand keine
Mißachtung der Pflicht, das Recht zu kennen, und deshalb ist hier auch die
größere Strenge, mit der die Unkenntnis des Rechts behandelt wird, nicht
angebracht. Diese größere Strenge ist - wenn überhaupt12 - nur gerechtfertigt
als Stimulus, sich mit dem Recht vertraut zu machen, sowie damit nicht derjenige, der sich nicht um die Kenntnis der Verbote gekümmert hat, gegenüber demjenigen, welcher die Mühen, sich darüber kundig zu machen, auf
sich genommen hat, belohnt wird. Wer einem Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes unterliegt, verkennt aber keine strafrechtliche Norm noch ihren Anwendungsbereich, sondern irrt nur - wie beim Irrtum über den (positiven) Tatbestand - über die Situation, in der er sich gerade befindet.
Die Folgerung aus dem allen ist: Wer - was ich persönlich für richtig halte annimmt, daß das Fehlen eines Rechtfertigungsgrundes notwendig ist, damit
10
11
12
Im Hinblick auf den Entwurf von 1980 haben sich aus kriminalpolitischen Gründen für
die strikte Schuldtheorie ausgesprochen: Huerta Tocildo, RFDUC, monográfico 8
(1980), S. 93; Zugaldía, CPCrim 15 (1980), S. 519 f.; Romeo Casabona, ADPCP 1981,
766 f.; Cerezo Mir, Problemas fundamentales del Derecho penal, Madrid 1982, S. 201 f.
Letzterer vertritt dieselbe Position auch gegenüber dem Art. 6bis a in ADPCP 1985,
279 ff. Im Hinblick auf Art. 6bis a in diesem Sinne: Gómez Benítez, Teoría jurídica del
delito, Madrid 1984, S. 486; Octavio de Toledo/Huerta Tocildo, Derecho penal, I, Madrid 1985, S. 176 f., II, 1986, S. 62 ff.; Maqueda Abreu, CPCrim 31 (1987), S. 260 f.
Den Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes schließt in Abs. 3
des Art. 6bis a ein Muñoz Conde, in: Fernández Albor (Hrsg.), Estudios penales y criminológicos, X, Santiago de Compostela 1987, S. 308 ff. Die analoge Anwendung der Regelung des Verbotsirrtums schlägt vor Bacigalupo, La Ley, 16.1.1981, S. 2 f. Demgegenüber treten von der Vorsatztheorie aus für die Gleichbehandlung dieses Irrtums mit
dem Tatbestandsirrtum ein Torío, in: Fernández Albor (Hrsg.), La reforma penal y penitenciaria, Santiago de Compostela 1980, S. 262 f., und Cobo/Vives (Anm. 1), S. 463.
Vgl. statt aller Jescheck (Anm. 8), S. 635 mit weiteren Nachweisen.
Dies lehnen ab Torío (Anm. 10), S. 262 f., und Cobo/Vives (Anm. 1), S. 461. Ebenfalls
zweifelnd, aus einer anderen Haltung heraus, Muñoz Conde (Anm. 10), S. 300.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschließungsgrund
299
man wahrhaft von einem "strafrechtlichen Verstoß" sprechen kann, kann den
Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes in den "Irrtum über ein wesentliches Element des strafrechtlichen Verstoßes" der Absätze 1 und 2 des Art. 6bis a einbeziehen, so daß die Rechtsfolgen des Tatbestandsirrtums mit allen ihren kriminalpolitischen Vorteilen anzuwenden sind.
Aber diese Lösung kann auch derjenige anwenden - falls er sie für kriminalpolitisch vorzugswürdig hält -, für den die Verwirklichung des Tatbestandes
bereits einen abstrakten "Verstoß" gegen die Norm darstellt, der aber dennoch anerkennt, daß außerdem keine Rechtfertigungsgründe eingreifen dürfen, damit man von einem konkreten "Verstoß" sprechen kann.
d) Welche Haltung nimmt das spanische Tribunal Supremo gegenüber dieser Streitfrage ein? Auch wenn es den Irrtum über die Voraussetzungen eines
Rechtfertigungsgrundes als "Verbotsirrtum" bezeichnet, erachtet es ihn doch
als Fall der Absätze 1 und 2 des Art. 6bis a. Ist der Irrtum vermeidbar, so
hält das Tribunal Supremo den Vorsatz für ausgeschlossen und Abs. 2 dieser
Vorschrift für anwendbar, d.h. die Bestrafung aus einem Fahrlässigkeitstatbestand. Dafür lassen sich die Urteile vom 26.1.1984, 20.6.1984,
14.12.1985 und 26.10.1986 anführen.13 Auch wenn es nicht angebracht ist,
hier von einem "Verbotsirrtum" zu sprechen, erscheint mir die Haltung der
Rechtsprechung aus den zuvor genannten Gründen als vorzugswürdig.
IV.
Art. 6bis a Código Penal als gesetzliche Festschreibung der
Schuldtheorie?
Die Mehrzahl der Autoren, die sich mit Art. 6bis a oder dessen Vorläufer,
dem Art. 20 des Entwurfs für einen Código Penal von 1980, befaßt haben,
sehen in diesen eine Festschreibung der Schuldtheorie.14 Gleichwohl zeigt
aber eine genauere Betrachtung, daß die neue Regelung weder zur Annahme
dieser Theorie noch zur Annahme der Vorsatztheorie zwingt, sondern von
beiden aus interpretiert werden kann.
13
14
Vgl. Joshi, ADPCP 1987, 715 f.
Vgl. Zugaldía, CPCrim 15 (1980), S. 511; Torío (Anm. 10), S. 249 f. (dagegen); Romeo Casabona, ADPCP 1981, 740 f.; Rodríguez Ramos, La Ley, 5.12.1980, S. 1; Bacigalupo (Anm. 10), S. 1; Huerta Tocildo (Anm. 10), S. 35 ff.; Cerezo Mir, ADPCP
1985, 279 ff.; Octavio de Toledo/Huerta Tocildo, II (Anm. 10), S. 59 ff.; Gómez Benítez (Anm. 10), S. 486; Maqueda Abreu, CPCrim 31 (1987), S. 258 f. (auch wenn sie
einräumt, daß Art. 6bis a ebenfalls mit der Vorsatztheorie vereinbar sei).
300
Santiago Mir Puig
Weder Art. 6bis a CP noch sein Vorläufer, Art. 20 des Entwurfs für einen
Código Penal von 1980, nehmen ausdrücklich auf die Schuldtheorie oder irgendeine andere Theorie Bezug. Sie unterscheiden lediglich zwischen verschiedenen Arten des Irrtums und weisen ihnen unterschiedliche Rechtsfolgen zu. Genau darin liegt auch die Aufgabe des Gesetzgebers, der sich gegenüber dogmatischen Streitfragen zurückhalten muß. Woher kommt dann
die Annahme, daß die neue Irrtumsregelung die Schuldtheorie übernehme?
Diese Annahme gründet sich auf die Tatsache, daß die neue Formulierung
zwischen der Behandlung des vermeidbaren Tatbestandsirrtums und des vermeidbaren Verbotsirrtums differenziert: Während der zweite Absatz für den
vermeidbaren Tatbestandsirrtum auf die Fahrlässigkeitsstrafe verweist, ordnet der dritte Absatz für den vermeidbaren Verbotsirrtum eine Milderung der
Strafe um ein oder zwei Grade gegenüber der Strafe für das Vorsatzdelikt an.
Das wird so interpretiert, daß der vermeidbare Verbotsirrtum das Vorsatzdelikt unberührt lasse und lediglich die Strafe herabsetze, was wiederum nur
mit einer Minderung der Schuld zu begründen sei - genauso wie es die
Schuldtheorie verlangt. Aber der Text von Art. 6bis a zwingt keinesfalls zu
dieser Interpretation; die Vorschrift entfernt sich vielmehr in einem wesentlichen Punkt von der Schuldtheorie.
Der Verweis auf eine gegenüber dem Vorsatzdelikt dem Grad nach mildere
Strafe bedeutet noch keine positive Bekräftigung, daß tatsächlich ein Vorsatzdelikt vorliege. Art. 6bis a sagt nichts zur Rechtsnatur der mit vermeidbarem Verbotsirrtum begangenen Tat, sondern beschränkt sich auf die Strafzumessungsregel. Und diese Strafe ist nicht die des Vorsatzdelikts, sondern
eine andere, mildere. Daß sie aufgrund eines Vergleichs mit der Strafe des
Vorsatzdelikts berechnet wird, bedeutet nicht, daß der Vorsatz aufrechterhalten bleibt. Auch der vorletzte Absatz von Art. 565 CP ordnet für
das Fahrlässigkeitsdelikt an, daß die Strafe immer geringer sein müsse als
bei einer Vorsatztat; und auch die für die Fälle der nur teilweisen Verwirklichung eines Strafausschließungsgrundes vorgesehene Strafmilderung - auf
die sich auch Art. 6bis a bezieht - gilt für völlig unterschiedliche Strafausschließungsgründe, sowohl rechtfertigende als auch schuldausschließende. In
diesem Sinne ist auch die in § 17 dt.StGB vorgesehene Strafmilderung identisch mit der für den Versuch vorgesehenen (§ 23 dt.StGB): In beiden Fällen
wird auf § 49 dt.StGB verwiesen, ohne daß jemand behaupten würde, der
Versuch setze deshalb ein vollendetes Vorsatzdelikt voraus, auf dessen
Grundlage die Strafe zu mildern sei. Es handelt sich ganz eindeutig nur um
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschließungsgrund
301
eine übereinstimmende Strafzumessungsregel, die nichts über den Grund der
Milderung aussagt.
Im Fall des Art. 6bis a Abs. 3 CP steht aber nichts entgegen, die für den
vermeidbaren Verbotsirrtum vorgesehene Strafe mit dem Vorliegen einer
culpa iuris zu begründen. Die vom vermeidbaren Tatbestandsirrtum abweichende Behandlung kann mit einem kriminalpolitischen Bedürfnis nach
strengerer Ahndung dieser Fahrlässigkeitsform erklärt werden, um die
Kenntnis des Rechts zu stimulieren. Der letzte Absatz von Art. 6bis a steht
daher keinesfalls der Aufrechterhaltung der Vorsatztheorie entgegen, sondern kann als Ausdruck einer Rechtsfahrlässigkeitsgeneralklausel aufgefaßt
werden, so wie sie von der Vorsatztheorie aus vorgeschlagen wurde, um in
allen den Fällen, wo die Tatsachenfahrlässigkeit nicht strafbar ist, keine unbefriedigende Straflosigkeit des vermeidbaren Verbotsirrtums zu erhalten.15
Tatsächlich enthält die Redaktion des dritten Absatzes von Art. 6bis a ein
Merkmal, das daran denken läßt, daß nicht die Forderungen der Schuldtheorie verwirklicht werden sollten, sondern welches im Gegenteil die Interpretation aus der Sicht der Vorsatztheorie stützt: Die Strafmilderung ist immer anzuwenden, wenn das aktuelle Unrechtsbewußtsein fehlt. Es ist bekannt - aber dennoch wichtig, in Erinnerung gebracht zu werden -, daß einer
der wichtigsten Punkte der Schuldtheorie das Abrücken vom Erfordernis eines aktuellen Unrechtsbewußtseins und seine Ersetzung durch die Möglichkeit dieses Bewußtseins (potentielle Kenntnis) darstellt sowie dessen Bewertung als nicht mehr psychologisches Faktum, sondern Teil des Schuldvorwurfs. Das aktuelle Wissen wird nur beim Vorsatz verlangt. Nach der Abtrennung des Unrechtsbewußtseins von diesem genügt es, daß der Täter mit
der Rechtswidrigkeit rechnen konnte, weil das bereits für die Möglichkeit
einer normkonformen Motivation und damit des Andershandelnkönnens
ausreicht, worauf Welzel den Schuldvorwurf aufbaut. Es sei daran erinnert,
daß der Finalismus anführt, jeden psychologischen Schuldinhalt ausgeschlossen und einen "reinen" normativen Schuldbegriff erreicht zu haben.16
Um es mit den Worten Graf zu Dohnas zu sagen: In der Schuld verbleibe
15
16
Zu dieser Konstruktion, die in Deutschland von Schröder vorgeschlagen wurde, und
wie sie für Spanien gangbar zu machen sei - natürlich übereinstimmend mit der Verhängung einer milderen Strafe als beim Vorsatzdelikt, wie es Art. 6bis a vorsieht - vgl.
Torío (Anm. 10), S. 263 ff.
Vgl. Jescheck (Anm. 8), S. 579; Maurach, Tratado de derecho penal, Traducción y
notas de derecho español de Cordoba Roda, II, Barcelona 1962, S. 24 ff.
302
Santiago Mir Puig
keinerlei Objekt der Wertung, das vollständig ins Unrecht verlagert werde,
sondern nur die Bewertung des Objekts. Bei der Schuld wird nicht gefragt,
ob der Täter die rechtswidrige Tat wollte oder nicht wollte, sondern nur, ob
er sie vermeiden konnte oder nicht. Bei einem groben Verbotsirrtum verlangt die Schuldtheorie daher, daß die Strafe nicht einmal gemildert werden
dürfe, weil keinerlei Verringerung der Möglichkeit zur normkonformen Motivation vorliege. Es sei auch nicht vergessen, daß dies einer der Gründe der
Anerkennung der Schuldtheorie durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18.3.1952 war: Man verschloß die Tür vor der Gefahr, daß die
Anerkennung der Beachtlichkeit des Verbotsirrtums als eine Form der Belohnung für unentschuldbares Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen fundamentaler
Werte aufgefaßt werden könnte. Gegen das alles verstößt die Formel des
Abs. 3 von Art. 6bis a, die weiterhin in der klassischen Alternative von
Kenntnis/Unkenntnis als aktuellem psychologischem Faktum verankert ist.17
Die spanische Regelung des Verbotsirrtums äußert sich somit nicht nur
nicht zugunsten der Schuldtheorie, sondern sie enthält auch Merkmale, die
besser von der Vorsatztheorie aus zu erklären sind. Es verwundert daher
nicht, daß ein Teil der Lehre Art. 6bis a Abs. 3 lieber von der Vorsatztheorie aus interpretiert.18 Das heißt natürlich nicht, daß die Schuldtheorie nicht
aufrechterhalten werden könnte. Aber es bedeutet doch, daß die Wahl zwischen Schuld- und Vorsatztheorie nicht als durch das geltende Recht entschieden angesehen werden darf, sondern weiterhin von den jeweiligen
dogmatischen und kriminalpolitischen Prämissen abhängt.19 Im folgenden
17
18
19
Auf die Differenz zwischen dem vom Finalismus vorgeschlagenen und dem von dem
Entwurf 1980 gewählten Weg weist der allgemeine Berichterstatter der Redaktionskommission des Vorentwurfs von 1979 (aus welchem jener entstand) Rodríguez Mourullo, in: Fernández Albor (Hrsg.), La reforma penal (Anm. 10), S. 25, hin.
Vgl. Mir Puig, Derecho penal (Anm. 3), S. 548 f.; Cobo/Vives (Anm. 1), S. 463;
Rodríguez Devesa, RFDUC, monográfico 6 (1983), S. 594.
Darin, daß Art. 6bis a die Frage nicht zugunsten der Schuldtheorie entscheide, stimmen ein Quintero, in: Quintero/Muñoz Conde, La reforma penal de 1983, Barcelona
1983, S. 53 ff., und Muñoz Conde, in: Fernández Albor (Hrsg.), Estudios penales
(Anm. 10), S. 290, der es für zulässig hält, aus einer rechtsfolgenorientierten kriminalpolitischen Perspektive Elemente der Schuldtheorie und der Vorsatztheorie miteinander zu verbinden. Ebenso, auch wenn er offensichtlich die Schuldtheorie für vorzugswürdig hält, Cuello Contereras, CPCrim 32 (1987), S. 283, 285; Rodríguez Devesa
(Anm. 18), S. 598. Für Bustos, ADPCP 1985, 711 ff., 719, erklären weder die Vorsatznoch die Schuldtheorie hinreichend den Art. 6bis a, sondern er hält eine andere Konstruktion für notwendig, die die "creencia errónea" nicht als Form des Irrtums, sondern
als "abweichendes Bewußtsein", das eine andere Bewertung der Tat enthält als die des
positiven Rechts, versteht.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschließungsgrund
303
werde ich einige Überlegungen zu einer dieser Prämissen darstellen: die systematische Stellung des Verbotsirrtums in der Verbrechenslehre.
V.
Die verbrechenssystematische Stellung des Verbotsirrtums
Die systematische Stellung des Verbotsirrtums in der Struktur der Verbrechenslehre bildet keine lediglich formale Frage der Einordnung in ein System, sondern ist mit der materiellen Natur der Rechtswidrigkeit und ihrer
wertungsmäßigen Bedeutung verbunden. Sie besitzt die größte theoretische
Tragweite, weil sie mit dem tieferen Sinn der Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld verbunden ist und deshalb die Grundlagen der Verbrechenslehre berührt. Sie kann aber auch praktische Konsequenzen haben, weil
von diesen materiellen Fragen die strafrechtliche Behandlung des Verbotsirrtums abhängen kann. Dies alles ist im Spiel, wenn man diskutiert, ob
der Verbotsirrtum die Schuld betrifft - so die herrschende Lehre - oder dagegen das Unrecht - wie ich es selbst mehrfach vorgeschlagen habe. Daß der
unvermeidbare Verbotsirrtum nicht die Rechtswidrigkeit, sondern nur die
Schuld ausschließt, ist eine Wertentscheidung in dem Sinne, daß die begangene Tat unter solchen Umständen weiterhin als rechtswidrig erachtet wird,
d.h. als rechtlich inkorrekt und verboten. Anders ist es dagegen, wenn man
anerkennt, daß es bereits keinen Sinn hat, eine Tat demjenigen gegenüber zu
verbieten, den dieses Verbot nicht erreichen kann. Die Entscheidung zwischen diesen Alternativen kann andererseits auch die Entscheidung zwischen
der Vorsatztheorie und der Schuldtheorie betreffen.
1. Der Text von Art. 6bis a Abs. 3 gebraucht einen Ausdruck, welcher die
herrschende Auffassung, daß die in unvermeidbarem Verbotsirrtum begangene Tat rechtswidrig bleibt, stützen könnte. Er bezieht sich auf "die irrige
und unvermeidbare Annahme, erlaubt [lícitamente] zu handeln". Wenn die
Annahme der Erlaubtheit der Tat irrig ist, dann bleibt die Tat in Wirklichkeit
unerlaubt (ilícito). Und wenn "unerlaubt" (ilícito) als "rechtswidrig" verstanden wird, folgt daraus, daß die erwähnte Formulierung bestätigt, daß
der unvermeidbare Verbotsirrtum die Rechtswidrigkeit der Tat unberührt
läßt. Man kann sicherlich der Auffassung sein, daß es dem Gesetzgeber
nicht zukommt, dogmatische Fragen wie etwa die nach dem Begriff der
Rechtswidrigkeit zu entscheiden. In diesem Sinne griff seinerzeit eine parlamentarische Fraktion meinen Vorschlag auf, den Art. 20 des Entwurfs für
einen Código Penal von 1980 (Vorgänger des aktuellen Art. 6bis a CP ins-
304
Santiago Mir Puig
besondere durch Weglassung des Begriffes "irrig" zu ändern, so daß der Text
gelautet hätte: "Die unvermeidbare Annahme, erlaubt zu handeln, schließt
die strafrechtliche Verantwortlichkeit aus."20 Dennoch hält der derzeit gültige Text an dem ursprünglichen Ausdruck "irrige Annahme" fest. Demgegenüber sind jetzt zwei unterschiedliche Haltungen möglich.
Die erste Haltung wäre, abzulehnen, daß die Strafrechtswissenschaft sich in
ihren theoretischen Begriffen an den Gebrauch, den der Gesetzgeber von
diesen machen kann, gebunden fühlen muß. Zugunsten dieser Haltung kann
angeführt werden, daß die Aufgabe des Gesetzes in der Regelung des sozialen Lebens durch Zuweisung von Rechtsfolgen zu bestimmten Sachverhalten besteht und es nicht autorisiert ist, theoretische Analysen von der
Wirklichkeit vorzunehmen oder gar vorzuschreiben, daß sich Dinge anders
verhielten, als es tatsächlich der Fall ist. Ich stimme dieser Begrenzung zu.
Aber die Stellungnahme zu einer Wertung, die selbst normative Konsequenzen haben kann, darf nicht mit einer bloß theoretischen Analyse verwechselt
werden. Die erstere gehört zu den regulatorischen Kompetenzen des Gesetzgebers, auch wenn es klüger sein mag, sich bei einer zwischen verschiedenen
Autoren umstrittenen Wertung einer Stellungnahme zu enthalten.
Die zweite Haltung gegenüber der Formulierung des Art. 6bis a Abs. 3 geht
davon aus, daß der von dieser Vorschrift gehandhabte Unrechtsbegriff jedenfalls insoweit nicht von der Strafrechtsdogmatik ignoriert werden darf, als er
eine Wertung des positiven Rechts ausdrückt: eine Wertung darüber, was
erlaubt (lícito) und was unerlaubt (ilícito) ist. Es gibt nun allerdings verschiedene Formen der Beachtung dieser Wertung, die sich in der Bezugnahme auf das Unerlaubte manifestiert.
Man kann sie zunächst dahin verstehen, daß "unerlaubt" ein Äquivalent zu
"rechtswidrig" im dogmatischen Sinne sei. Aus meiner Sicht würde das dazu
führen, daß die Rechtswidrigkeit nicht als Verstoß der konkreten Tat gegen
das Verbot (Rechtswidrigkeit der konkreten Tat oder konkrete Rechtswidrigkeit), sondern als Verstoß der Tat gegen das Verbot im allgemeinen, im
abstrakten (abstrakte Rechtswidrigkeit) zu verstehen ist. Mit dieser Unterscheidung habe ich mich insbesondere in der zweiten Auflage meines Buches über die Funktion der Strafe und die Lehre vom Verbrechen im sozialen
20
Vgl. Mir Puig/Muñoz Conde, Propuesta Alternativa de la Parte General del Código
Penal, CPCrim 18 (1982), S. 621.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschließungsgrund
305
und demokratischen Rechtsstaat befaßt.21 Die abstrakte Rechtswidrigkeit
setzt lediglich voraus, daß die Tat generell verboten ist, während die konkrete Rechtswidrigkeit verlangt, daß die Tat auch in Anbetracht aller konkreten Umstände rechtswidrig ist. Eine im unvermeidbaren Verbotsirrtum
begangene Tat kann danach nur als rechtswidrig im abstrakten Sinne angesehen werden, weil es im konkreten angesichts der Unvermeidlichkeit des
Irrtums keinen Sinn macht, dem Täter die Ausführung der Tat zu verbieten.
Ein solches Verbot wäre zum Scheitern verurteilt, wenn man anerkennt, daß
die Funktion der Strafnormen darin liegt, zur Vermeidung schädigenden oder
gefährdenden Verhaltens zu motivieren. Dies erscheint mir aber zwingend
für ein Strafrecht, das Rechtsgüter schützen soll, wie es das in Art. 1 Abs. 1
der spanischen Verfassung übernommene Modell des sozialen und demokratischen Rechtsstaates verlangt. Kein Verbot kann darauf gerichtet sein, zur
Vermeidung einer Tat zu motivieren, wenn der Adressat das Verbot nicht
kennen kann, was aber gerade beim unvermeidbaren Verbotsirrtum der Fall
ist. Was für einen Sinn hätte es, die Tat dem Täter zu verbieten, wenn dieser
das nicht wahrnehmen kann?
Zur selben Schlußfolgerung - daß der unvermeidbare Verbotsirrtum die
Rechtswidrigkeit der konkreten Handlung ausschließt - gelangt man auch
auf einem anderen Weg, der im Fall seiner Gangbarkeit noch sehr viel deutlicher wäre. Wenn wir bei dieser Irrtumsart - ebenso wie beim unvermeidbaren Tatbestandsirrtum - sagen, daß das Recht nicht zur Vermeidung
der Tat motivieren kann, nehmen wir Bezug auf den Grad des erlaubten Risikos. Das soll heißen, daß es für den Täter, solange er innerhalb der Grenzen des vom Recht erlaubten Risikos bleibt, nicht möglich ist, Motive dafür
zu finden, daß in seinem Fall gerade doch ein größeres Risiko existiert.
Tatsächlich könnte das Recht aber auch hier versuchen, zur Vermeidung
der Tat zu motivieren. Nämlich dann, wenn es zuvor diejenigen Risiken verbieten würde, welche zu einem unvermeidbaren Irrtum führen könnten.
Wenn man etwa jedem Ausländer das Betreten des Landes verwehren
würde, der nicht nachweist, daß er die spanischen Gesetze kennt, dann
könnten mögliche Irrtümer, die wir heute als unvermeidbar ansehen, vermieden werden. Das Recht verlangt das deshalb nicht, weil es die Nachteile
einer solchen Rechtspolitik, die im Extremfall zur Paralysierung des sozialen Lebens führen könnte, weil diesem immer ein bestimmter Grad von Risiko anhaftet, größer als die Vorteile ansieht. Die Straflosigkeit einer in un21
Vgl. Mir Puig, Función de la pena (Anm. 3), S. 81 ff., 104 ff.
306
Santiago Mir Puig
vermeidbarem Irrtum - sei es Tatbestandsirrtum oder Verbotsirrtum - begangenen Tat kann daher letztlich als Ergebnis einer kriminalpolitischen
Entscheidung der Rechtsordnung angesehen werden, die lieber das Handeln
in solchen Situationen zuläßt, auch auf Kosten entsprechender Verletzungen,
als den Bereich des erlaubten Risikos innerhalb des sozialen Lebens zu reduzieren. Es handelt sich, wie man sieht, um den Grundgedanken aller derjenigen Fälle, welche die (konkrete) Rechtswidrigkeit ausschließen: den Grundgedanken des Prinzips des überwiegenden Interesses. Es ist somit kein
Problem der Schuld.
Das verhindert aber nicht, daß eine im unvermeidbaren Verbotsirrtum begangene Tat generell verboten bleibt, d.h. für die Fälle, wo kein unvermeidbarer Verbotsirrtum vorliegt. Aus diesen Darlegungen ergibt sich somit, daß
die Bezugnahme des Art. 6bis a Abs. 3 auf die "Unerlaubtheit" (ilícitud) der
Tat nur mit der Rechtswidrigkeit gleichgesetzt werden kann, wenn diese im
dargelegten Sinne als "abstrakte Rechtswidrigkeit" verstanden wird.
Dieser Rechtswidrigkeitsbegriff ist auch in der Lehre geläufig.22 Dennoch
glaube ich, daß er der unbestrittenen Notwendigkeit entgegensteht, daß bei
den Unterlassungsdelikten alle konkreten Umstände, in denen sich der Täter
befindet, berücksichtigt werden müssen, um zu entscheiden, ob er tatsächlich
eine Handlungspflicht verletzt und sich rechtswidrig verhält. So wird niemand behaupten, daß der Unrechtstatbestand der unterlassenen Hilfeleistung
verletzt wird, wenn eine Person, die nicht schwimmen kann, nicht ins Wasser springt, um einen Ertrinkenden zu retten. Ebenso wird generell eingeräumt, daß die besonderen Kenntnisse des Täters bei der Beurteilung der
Sozialadäquanz seines Verhaltens - und daher auch der objektiven Erfolgszurechnung - zu berücksichtigen sind. Diese und andere Beispiele zeigen,
daß die Entwicklung der Verbrechenslehre in einer Reihe von Punkten zur
Anerkennung der Notwendigkeit einer konkreten Tatbetrachtung geführt hat,
wenn es um die Bewertung der Rechtswidrigkeit geht. Es wäre daher inkohärent, einen abstrakten Rechtswidrigkeitsbegriff beizubehalten, der von den
konkreten Tatumständen, wie etwa solchen, welche den Verbotsirrtum unvermeidlich machen, absieht.
Aus diesen Darlegungen folgt, daß ich einem Rechtswidrigkeitsbegriff zuneige, der sich auf die konkrete Tat bezieht. Wenn aber, wie ich zuvor ge22
Vgl. beispielsweise Welzel (Anm. 6), S. 138.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschließungsgrund
307
sagt habe, die "Unerlaubtheit" (ilícitud), auf die sich Art. 6bis a bezieht, nur
im Sinne einer generellen oder abstrakten Rechtswidrigkeit verstanden werden kann, muß die Konsequenz sein, daß unser dogmatischer Rechtswidrigkeitsbegriff sich nicht auf demselben Abstraktionsniveau bewegt wie der
Begriff der Unerlaubtheit (ilícitud), welchen das Gesetz verwendet. Die in
unvermeidbarem Verbotsirrtum begangene Tat ist "unerlaubt" (ilícito) in
abstracto, aber sie kann dem Täter in concreto nicht verboten und daher auch
nicht als rechtswidrig in concreto angesehen werden. Damit wird nicht die in
dem Begriff der Unerlaubtheit (ilícitud) des Art. 6bis a ausgedrückte rechtliche Wertung geleugnet. Im Gegenteil, sie bildet eine notwendige Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Regeln über den unvermeidbaren Verbotsirrtum: Diese sind nur einschlägig bei generell unerlaubten (ilícitos), d.h. im
allgemeinen verbotenen Taten, auch wenn man verneinen muß, daß das Verbot auf den Täter der konkreten, im unvermeidbaren Verbotsirrtum begangenen Tat gerichtet werden kann.
Die vorgeschlagene Interpretation des in Art. 6bis a verwendeten Begriffs
der Unerlaubtheit, dessen Unterscheidung von dem dogmatischen Begriff
der konkreten Rechtswidrigkeit sowie das Verhältnis zwischen beiden können als Präzedenzfall anführen, daß auch der Ausdruck "eine Pflicht verletzt" in Art. 8 Nr. 7 CP in einer parallelen Weise interpretiert werden muß.
Auch dieser Ausdruck muß in einem abstrakten Sinne interpretiert werden,
der sich von einer konkreten Verletzung der geopferten Pflicht unterscheidet. Da es sich um eine rechtfertigende Pflichtenkollision handelt, ist offensichtlich, daß der Täter nur die wichtigere Pflicht erfüllen muß. Das Recht
kann ihn in diesem Fall nicht weiterhin verpflichten, die andere Pflicht zu
erfüllen. Das bedeutet nichts anderes, als daß das Recht nur an der wichtigeren Pflicht festhält und damit die andere im Konflikt stehende Pflicht entfällt. Man kann daher nicht annehmen, daß der Täter im konkreten Fall
"eine Pflicht verletzt". Dieser Ausdruck muß vielmehr in einem abstrakten
Sinne verstanden werden, daß der Täter im allgemeinen, wenn man von der
Konkurrenz der anderen, wichtigeren Pflicht abstrahieren würde, gegen die
Pflicht verstieße. In demselben abstrakten Sinne muß der terminologische
Gebrauch der "Pflichtenkollision" verstanden werden, der nur dann zulässig
ist, wenn man sich dabei vor Augen hält, daß im konkreten Fall nur eine
Pflicht besteht.23 Etwas Ähnliches geschieht auch mit dem Begriff der "Gesetzeskonkurrenz". Es handelt sich in allen diesen Fällen, wie auch beim
23
Vgl. Mir Puig, Función de la pena (Anm. 3), S. 83.
308
Santiago Mir Puig
Begriff der "Unerlaubtheit", den das Gesetz für den Irrtum verwendet, um
Ausdrücke, deren Gebrauch in dem gezeigten abstrakten Sinne aus linguistischen Gründen nur schwer vermieden werden kann, weil anderenfalls auf
umständlichere und weniger anschauliche Umschreibungen zurückgegriffen
werden müßte.
2. Nach den dargestellten Überlegungen hindert die neue Formulierung
des Verbotsirrtums nicht die Beibehaltung eines dogmatischen Begriffs von
der Rechtswidrigkeit als Verstoß gegen ein konkretes, an den Täter gerichtetes Verbot und daher auch nicht die Annahme, daß der unvermeidbare Verbotsirrtum in diesem Sinne das Vorliegen der Rechtswidrigkeit ausschließt,
weil es keinen Sinn hat, einen Täter, der sich in einer solchen Situation befindet, durch ein Verbot motivieren zu wollen, das er nicht wahrnehmen
kann. Aber was geschieht mit dem vermeidbaren Verbotsirrtum? Bei dieser
Art von Irrtum bleibt es sinnvoll, das Verbot an den Täter zu richten, weshalb es evident ist, daß die Rechtswidrigkeit nicht ausgeschlossen wird. Deshalb ist dieser Fall auch gemäß Art. 6bis a strafbar, obgleich mit einer milderen Strafe. Die Frage, der hier nachgegangen werden sollte, ist, ob dieser
Strafmilderung eine Minderung der Schwere des Unrechts oder der Schuld
entspricht und worin diese Minderung begründet ist.
Die Entscheidung dieser Frage hängt davon ab, ob man anerkennt oder ablehnt, daß die Schwere des Unrechts davon bestimmt wird, ob eine bewußte
Verletzung der Norm oder nur mangelnde Aufmerksamkeit dieser gegenüber
vorliegt. Wenn man das bejaht, muß auch akzeptiert werden, daß das Bewußtsein von der Norm das Unrecht der Tat anhebt.
Betrachten wir die erste Alternative. Danach hängt die Schwere des Unrechts nicht nur von der Bedeutung ab, die die Rechtsordnung dem betroffenen Rechtsgut und der Form des Angriffs beimißt, sondern auch von der
Kenntnis oder Unkenntnis seines strafrechtlichen Schutzes. Das verbotene
Verhalten wird vom Recht nur dann negativ bewertet, wenn die Handlung
willentlich auf negative Weise mit der Norm verbunden ist, sei es, weil sie
eine bewußte Verletzung von dieser darstellt, sei es, weil sie ein nachlässiges, der Norm gegenüber unaufmerksames Verhalten bildet. Wenn der
Tatunwert (teilweise) von diesen negativen Beziehungen zur Norm abhängt,
dann ist es logisch, den ersten Fall des bewußten Auflehnens schwerer anzusehen als den zweiten Fall der Unaufmerksamkeit. Diese Auffassung spiegelt sich in der Vorsatztheorie wider, sofern man den Vorsatz im Unrecht
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschließungsgrund
309
ansiedelt: Die Vorsatztheorie bewertet die willentliche (mit natürlichem Vorsatz begangene) Verletzungshandlung danach, ob sie mit dem Bewußtsein
von der Norm (dolus malus) oder aus Unaufmerksamkeit dieser gegenüber
(imprudentia iuris) begangen wird.
Die andere mögliche Auffassung bewertet die Tat ausschließlich aufgrund
des Angriffs - willentlich oder nicht - auf das betroffene Rechtsgut. Sie betrachtet diesen Angriff allein im Hinblick auf seine innere Schwere, unabhängig von der psychischen Beziehung des Täters zu der Norm, die ihn verbietet. Das ist der Blickwinkel der Schuldtheorie. Sie räumt ein, daß die
Norm nur finale Handlungen verbieten kann und daß die willentlich auf die
tatbestandliche Verletzung gerichtete Handlung schwerer wiegt als die lediglich fahrlässige, aber sie bewertet diese Handlungen nicht im Hinblick auf
ihre finale Beziehung zu dem Verbot. Der Unrechtsunwert wird in diesem
Unwert der verbotenen finalen Handlung gesehen, aber nicht in dem Unwert
des Verhaltens als finaler Handlung gegenüber dem Verbot (in der Form
eines bewußten Verstoßes oder einer fahrlässigen Nichtbeachtung). So bleibt
die Schwere des Unrechts einer vorsätzlichen (mit dolus naturalis begangenen) Tat gleich, egal ob der Täter das Verbot kennt oder nicht. Nur bei der
Schuld kann berücksichtigt werden, ob der Täter durch die Norm adäquat
motiviert werden konnte.
Beide Alternativen können an die von mir vertretene Auffassung angepaßt
werden. Da ich von der Einbeziehung des Vorsatzes in das Unrecht ausgehe,
würde die Vorsatztheorie zum Einschluß des dolus malus in das Unrecht
führen. Die Schuldtheorie könnte angesichts der Annahme, daß der unvermeidbare Verbotsirrtum bereits die Adressierung der Verbotsnorm an den
Täter verhindert, nur auf den vermeidbaren Verbotsirrtum bezogen werden:
Da das Verbot möglich bleibt, wird es verletzt, aber die Schuld kann gemindert sein - beim unvermeidbaren Irrtum ist dagegen bereits das Unrecht ausgeschlossen.
Wie ich bereits zuvor angedeutet habe, zwingt die neue Irrtumsregelung
nicht zur Übernahme einer der beiden Theorien. Man muß daher ausgehen
von dem jeweils zugrundegelegten Begriff der Rechtswidrigkeit und der
daraus folgenden Lösung der dogmatischen Alternative, ob die Tat in ihrem
Charakter als bewußte Verletzung bzw. als bloße Unaufmerksamkeit gegenüber der Norm zu bewerten ist oder ob es nur auf die innere Schwere des
Angriffs auf das betroffene Rechtsgut ankommt. An anderer Stelle habe ich
310
Santiago Mir Puig
mich für die Vorsatztheorie (mit im Unrecht angesiedelten Vorsatz) ausgesprochen. Das kann - im Einklang mit der gezeigten ersten Alternative - auf
folgende Überlegung gestützt werden: Wenn nur willentliche Handlungen
als rechtswidrig anzusehen sind - wovon der Finalismus ausgeht - und das
nur in Beziehung auf ein rechtliches Verbot - es gibt keine Rechtswidrigkeit
eines Verhaltens an sich, bloß quia malum -, dann kann ein Verhalten nur
rechtlich negativ bewertet werden, soweit es eine willentliche Verletzung der
Norm oder eine willentliche Handlung ohne Beachtung des Appells dieser
Norm darstellt. Die bewußte Verletzung wiegt schwerer, da sie final die
Norm negiert, während die Unaufmerksamkeit gegenüber der Norm diese
nicht bewußt verneint, sondern auf Fahrlässigkeit beruht. Schließlich habe
ich bereits darauf hingewiesen, daß das Erfordernis des aktuellen und nicht
nur potentiellen Bewußtseins vom Verbot in Art. 6bis a Abs. 3 diese Auffassung bestärkt.
Ich möchte aber nicht schließen, ohne noch eine andere Argumentationslinie
zugunsten der Vorsatztheorie, so wie ich sie verstehe, und ihrer skizzierten
Begründung anzudeuten: Das alles paßt sehr viel besser zu einem Rechtsbegriff, der an der Idee des demokratischen Staates, am Dialog zwischen
Staat und Bürger ausgerichtet ist. Das Unrecht aus der Beziehung des Normadressaten zur Norm heraus zu begreifen, seine Möglichkeit und Schwere
anhand der Möglichkeit und Intensität des Widerstands gegen die normative
Botschaft zu bewerten, bedeutet, den Normadressaten als Gesprächspartner
anzuerkennen, mit dem man Kontakt aufnehmen muß, um zu entscheiden,
ob ein Verstoß vorliegt, und von dessen subjektiver Haltung gegenüber der
Norm man die Schwere dieses Verstoßes abhängig macht. Beim anderen
Modell, das bei der Rechtswidrigkeitswertung die Beziehung zwischen dem
Bewußtsein des Täters und der Norm übergeht, ist das nicht der Fall. Aber
ich kann diesen Gedanken hier nicht weiter ausfalten, sondern ihn lediglich
vorschlagen.
DER IRRTUM ALS UNRECHTS- UND/ODER SCHULDAUSSCHLUSS
IM ITALIENISCHEN STRAFRECHT*
Alfonso M. Stile, Neapel
I.
Vorbemerkung
Die Behandlung des vorliegenden Themas im Rahmen einer rechtsvergleichenden Tagung wirft erhebliche, nicht gänzlich lösbare Probleme auf.
Zum einen lassen sich dogmatische Ausführungen kaum vermeiden. Zwar
erleichtern sie die "Kommunikation" zwischen italienischen und deutschen
Juristen (dasselbe gilt auch für die spanischen und portugiesischen Kollegen), doch machen sie es äußerst schwierig, die Positionen der italienischen
Rechtsprechung darzustellen. Die Dogmatik der italienischen Rechtsprechung - sofern man überhaupt von einer Dogmatik sprechen kann - ist weit
hinter der der Lehre zurückgeblieben. Es wäre sinnlos, die von der Praxis
verwandten Begriffe der Rechtswidrigkeit oder Schuld in einer der in der
Lehre wiederkehrenden Bedeutungen zu gebrauchen: die Rechtswidrigkeit der Begriff wird nur selten benutzt - definiert man in der Regel als "Widerspruch des Verhaltens zu der Norm"; unter Schuld versteht man die subjektiven Tatelemente. Auch die normative Schuld fand, was die Rechtsprechung
betrifft, aus historischen Gründen kaum Eingang in das System. Erst in einem neueren Urteil hat der Verfassungsgerichtshof das Schuldprinzip erstmals "offiziell" zu einem Verfassungsgrundsatz erklärt, als er entschied, daß
der unvermeidbare Verbotsirrtum ein Entschuldigungsgrund sei.1
Bis zu jenem Zeitpunkt war es wegen der Existenz zahlreicher Fälle der Erfolgshaftung2 kaum möglich, dem Gesetzbuch von 1930 ein konkretes
*
1
2
Übersetzung von Anne Federle, Institut für die gesamten Strafrechtswissenschaften,
München.
Corte Cost. 23.-24. März 1988 Nr. 364, Riv.it.dir.proc.pen. 1988, 686 ff.
Leider sieht das italienische Strafgesetz nach wie vor Fälle der objektiven Verantwortlichkeit vor. Infolge der zitierten Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs scheint je-
312
Alfonso M. Stile
Schuldprinzip zu entnehmen. Auf der normativen Ebene beschränkte sich
der Schuldbegriff allein auf die Schuldfähigkeit.
Im Verhältnis zur Rechtsprechung kommt der italienischen Lehre daher lediglich die Aufgabe zu, Einzelfallentscheidungen, die systematische Aspekte
kaum berücksichtigen, zu analysieren und zu versuchen, diese in ihre dogmatischen Schemata einzuordnen.
Zu den sich hieraus ergebenden Schwierigkeiten kommen diejenigen hinzu,
die auf der besonderen Struktur des italienischen Strafgesetzbuchs beruhen.
Der allgemeine Teil des geltenden Strafgesetzbuchs (Codice penale) von
1930 zeichnet sich bekanntlich durch sehr detaillierte Regelungen aus. Dies
gilt auch für die Irrtumsproblematik:
Art. 5 bestimmt, daß "sich niemand zu seiner Entschuldigung auf die Unkenntnis des Strafgesetzes berufen kann". Diese Vorschrift wurde, wie bereits erwähnt, vor kurzem insoweit für verfassungswidrig erklärt, als sie den
unvermeidbaren Verbotsirrtum nicht berücksichtigt.3
Art. 47 regelt den - tatsächlichen oder rechtlichen - "Tatbestandsirrtum".
Art. 48 befaßt sich mit dem "durch die Täuschung eines Dritten hervorgerufenen Irrtum".
Art. 49 regelt "Das Wahndelikt" und den "untauglichen Versuch",
Art. 55 die fahrlässige Überschreitung der Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes.
Art. 59 betrifft den Irrtum über Entschuldigungsgründe.4 Er wird für den
Fall, daß mehrere an der Straftat beteiligt sind, durch Art. 119 ergänzt.
3
4
doch nun die Absicht zu bestehen, diese abzuschaffen. Ausführlich zum Meinungsstand Alfonso M. Stile (Hrsg.), Responsabilità oggettiva e giudizio di colpevolezza,
Neapel 1989. Zu einem ersten gesetzgeberischen Versuch, das rein objektive Zurechnungskriterium bei den strafschärfenden Merkmalen aufzuheben, vgl. das Gesetz vom
7. Februar 1990, Nr. 19.
Vgl. Corte Cost. (Anm. 1).
Art. 5 C.p. befindet sich im Ersten Buch in Titel I.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
313
Weitere wichtige Normen zum Thema des Irrtums5 finden sich im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs6 sowie in Spezialgesetzen.7
Es versteht sich, daß eine so eingehende Regelung nicht ohne dogmatische
Auswirkungen bleiben kann, insbesondere bei Bestimmungen, von denen anzunehmen ist, daß sie auf kriminalpolitischen Entscheidungen des Gesetzgebers von 1930 beruhen. Sie führt letztlich zu größeren Schwierigkeiten, als
dies bei einer Normierung in allgemeinen Prinzipien der Fall wäre. Wie auch
die vorige Aufzählung zeigt, bleibt die Regelung zudem trotz ihrer Detailliertheit auf halbem Wege stehen. So fehlen zum Beispiel so wichtige Vorschriften wie die des § 33 und § 35 dt.StGB.
II.
Der dogmatische Bezugsrahmen
Angesichts der besonderen Natur des vorliegenden Themas sind zunächst
noch einige Vorbemerkungen zum Verhältnis von Rechtswidrigkeit und
Schuld im italienischen Strafrecht nötig.
Im wesentlichen existieren drei grundlegende Bezugsschemata.
1. Das erste besteht in dem Erbe der naturalistischen Lehre, die zu Anfang
dieses Jahrhunderts in der Verbrechenslehre herrschend war. Sie fand ihren
vollendetsten Ausdruck in dem systematischen Werk von Ernst Beling, das
in Italien vor allem durch Giacomo Delitala Verbreitung fand.8
In Übereinstimmung mit dem Belingschen Tatbestandsbegriff beinhaltet das
Begriffspaar Unrecht-Schuld bekanntlich den ebenso linearen wie rigorosen
Gegensatz zwischen dem äußeren Aspekt der Tat und ihrer subjektiven
Wirklichkeit. Wegen seiner beispielhaften Klarheit - sowie aus speziellen
ideologisch-kulturellen Gründen - hat dieser Ansatz die italienische Strafrechtswissenschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die Fort-
5
6
7
8
Auf die aberratio ictus sowie die aberratio delicti braucht im Rahmen des behandelten
Themas nicht eingegangen zu werden.
So z.B. Art. 539 C.p., nach dem bei Sittlichkeitsdelikten der Irrtum über das Alter des
minderjährigen Opfers nicht entschuldigend wirkt.
So z.B. Art. 8 des Gesetzes vom 7. August 1982, Nr. 516, der den Irrtum bei Steuerdelikten regelt.
Vgl. Delitala, Il "fatto" nella teoria generale del reato, Padua 1930.
314
Alfonso M. Stile
entwicklung der Dogmatik auf der Grundlage des italienischen Strafgesetzbuchs von 1930 stark beeinflußt.
Wie bereits erwähnt, ist es zumindest zweifelhaft, ob man von einer Dogmatik der Rechtsprechung sprechen kann; wohl gerade deshalb hat das - inzwischen zu Strafrechtsgeschichte gewordene und dogmatisch nicht mehr haltbare - Belingsche Modell in vielen Hinsichten bis heute unausrottbare Wurzeln in der Praxis hinterlassen (man denke nur an die Definition der Rechtswidrigkeit als formalen Widerspruch zur Norm oder an die Einordnung des
Tatbestandsirrtums unter die Entschuldigungsgründe) und dies, obwohl es in
der Lehre - endgültig? - überwunden ist.9
2. Allzu bekannt, als daß näher darauf eingegangen werden müßte, ist die
Entwicklung, die - über den Teleologismus, die Schule von Kiel und den Finalismus - in Deutschland und Italien zur kritischen Vertiefung und daraus
folgenden Revidierung des Belingschen Modells führte. Im vorliegenden
Zusammenhang ist vor allem von Interesse, welche Auswirkungen die Krise
des Naturalismus auf das Verhältnis von Unrecht und Schuld in Italien hatte.
Die in der Lehre nach wie vor am weitesten verbreitete Ansicht erkennt offensichtlich, daß das Begriffspaar Unrecht-Schuld nicht mehr auf den starren
Gegensatz zwischen äußerem Aspekt der Tat und korrespondierender subjektiver Wirklichkeit gestützt werden kann. Dennoch scheint, daß die herrschende Lehre hieraus nicht alle nötigen Konsequenzen zieht. Während sie
auf der einen Seite fast einhellig die Erforderlichkeit des subjektiven Elements für das Vorliegen strafrechtlichen Unrechts anerkennt, vertritt sie auf
der anderen Seite hinsichtlich der Strafausschließungsgründe im wesentlichen den Belingschen Dualismus.10 Dabei orientiert man sich vorwiegend an
einer der am stärksten in der allgemeinen und insbesonders in der strafrechtlichen Doktrin verwurzelten Zielsetzung und folgt dem Weg der Anhänger
des einheitlichen Charakters der Rechtswidrigkeit.
Der in der Normentheorie von Binding hervorgehobene sowie von Beling
und einem großen Teil der Anhänger seines Modells übernommene Gedanke der Einheit der Rechtsordnung - der im gesamten Recht einheitlichen
Rechtswidrigkeit - lehnt bekanntlich die begriffliche Möglichkeit ab, daß
9
10
Vgl. hierzu eingehend Marinucci, Il reato come "azione", Critica di un dogma, Mailand 1971.
Siehe dazu G. V. de Francesco, La proporzione nello stato di necessità, Neapel 1978.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
315
eine rechtlich relevante Handlung nach einem Teil der Rechtsordnung
rechtmäßig, nach einem anderen Teil aber rechtswidrig sein kann.11
Die Bedeutung dieser Lehre im Hinblick auf das Verhältnis von Rechtswidrigkeit und Schuld liegt vor allem in der begrifflichen Einordnung der Rechtfertigungsgründe, denen eine jegliche spezifisch strafrechtliche Funktion und
damit eine jegliche kriminalpolitische Zielsetzung abgesprochen wird. Ihnen
ist nach dieser Auffassung lediglich die Aufgabe zugewiesen, das Strafrecht
in die gesamte Rechtsordnung zu "integrieren", da sie sich in allen Teilen der
Rechtsordnung finden und sich auf diese in ihrer Gesamtheit auswirken.
Während bei den Rechtfertigungsgründen die Straflosigkeit auf einer objektiven - und einheitlichen - Bewertung der Rechtmäßigkeit der Tat beruhe, sei
hingegen die Wirkung der Entschuldigungsgründe, da sie die subjektive Situation des Täter berücksichtigen, allein auf das Strafrecht beschränkt: Die
objektiven Gründe für das Festhalten an der Strafnorm und der allgemeine
und abstrakte Unwertgehalt der entsprechenden Tat blieben davon unberührt,
so daß das abschließende Urteil keinerlei Billigung oder Erlaubnis beinhalte.
Das Strafrecht halte es lediglich im Hinblick auf die besondere Situation des
Täters nicht für angebracht, eine Sanktion zu verhängen.12
Es läßt sich nicht leugnen, daß das so verstandene Verhältnis zwischen
Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen praktisch-systematische, am
Prinzip der Verhinderbarkeit orientierte Forderungen erfüllt. Indem man der
Stufe der Rechtswidrigkeit die Umstände zuordnet, die das tatbestandsmäßige Handeln als rechtmäßig (und damit nicht verhinderbar) erscheinen
lassen, und der Stufe der Schuld diejenigen Umstände, die trotz der Straflosigkeit der Tat deren objektive Rechtswidrigkeit unberührt lassen, berücksichtigt man auf der begrifflichen Ebene die unterschiedliche gesetzliche
Relevanz der strukturell wie rechtlich verschiedenen Situationen. Man denke
einerseits an eine in Notwehr begangene tatbestandsmäßige Handlung und
andererseits an den Fall des Täters, der irrig (aber nachvollziehbar) annimmt,
er werde angegriffen und reagiert.
11
12
Siehe die Darstellung bei Marinucci, Stichwort "Antigiuridicità", in: Digesto delle
Discipline penalistiche, II, 1988, S. 173 ff.
In diesem Sinne M. Romano, Cause di giustificazione, cause scusanti, cause di non punibilità, in: Scritti in onore di Vassalli (im Druck).
316
Alfonso M. Stile
Andererseits darf nicht übersehen werden, daß dieser Ansatz wegen des andauernden Einflusses des naturalistischen Modells der inhaltlichen Substanz
der fraglichen Phänomene nicht auf den Grund geht, da er deren Verschiedenheit unterstreicht, deren Ähnlichkeit dabei außer acht läßt. Wenn es zutrifft, daß das Phänomen der (echten) Notwehr hinsichtlich der Rechtsfolgen
nicht dem der Putativnotwehr gleichgesetzt werden kann, so hat der Richter
doch in beiden Fällen einen historischen Umstand (den tatsächlichen oder
vermeintlichen Angriff) festzustellen und bedient sich dabei einer verallgemeinernden Betrachtungsweise, der eine wie auch immer geartete Berücksichtigung der individuellen Täterpersönlichkeit fremd ist.
3. Auf eine Berücksichtigung der Persönlichkeit des Täters kann hingegen
nicht verzichtet werden, wenn es darum geht, das Vorliegen eines Strafausschließungsgrundes zu prüfen, dessen Eingreifen nicht von der rechtlichen
Bewertung der Tat, sondern von der Frage abhängt, ob der Täter die Möglichkeit hatte, dem Gesetz entsprechend zu handeln. So zum Beispiel bei
Art. 85 (Unzurechnungsfähigkeit) oder im Fall des auf einem äußerst niedrigen Bildungsniveau beruhenden Verbotsirrtum (hierzu später ausführlicher). Wenn diese Fälle auch einerseits, da sie ebenfalls nicht die Verhinderbarkeit der Tat entfallen lassen, mit denen des Irrtums über Rechtfertigungsgründe vergleichbar sind, so unterscheiden sie sich von diesen jedoch
grundlegend durch den Umstand, daß ihre Prüfung nicht aufgrund eines verallgemeinernden Maßstabs erfolgen kann, sondern vielmehr anhand eines
individuellen Kriteriums vorzunehmen ist: Gegenstand des Urteils ist hier
die individuelle Möglichkeit des Täters, nach dem von der Strafrechtsordnung allgemein aufgestellten Gebot zu handeln.
Hieraus ergibt sich das dritte der möglichen Schemata des Gegensatzpaares
Unrecht-Schuld, wie wir es im italienischen Recht finden: Auf der einen
Seite das deskriptiv-wertende Element der Norm, das in der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit und der Rechtswidrigkeit seinen Ausdruck findet, auf der
anderen Seite das imperative Element, das im Verhältnis zwischen gesetzlichem Gebot und individueller Möglichkeit der Befolgung seine Umsetzung erfährt.13
4. Der letzte der untersuchten Ansätze verdeutlicht unseres Erachtens am
besten die kriminalpolitischen Aspekte - des Rechtsschutzes und der
13
Siehe z.B. Latagliata, Contributo allo studio della recidiva, Neapel 1958.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
317
Rechtssicherheit, beziehungsweise der Verallgemeinerung und Objektivität
auf der einen und der Individualisierung des Urteils auf der anderen Seite -,
die historisch dem normativen Dualismus und dem sich daraus ergebenden
dogmatischen Gegensatz zwischen Unrecht und Schuld zugrundeliegen.
Hinsichtlich der Einordnung der Rechtfertigungsgründe verpflichtet er zu
einer genauen Unterscheidung der Fälle, deren Prüfung anhand eines verallgemeinernden Maßstabs erfolgen kann und derjenigen, die einen individuellen Maßstab erfordern.
Dies ändert allerdings nichts an der Tatsache, daß innerhalb der ersten Fallgruppe (die einen verallgemeinernden Maßstab verlangt) weiterhin zu unterscheiden ist zwischen den Fällen, in denen die Rechtswidrigkeit insgesamt
(in bezug auf die gesamte Rechtsordnung, z.B. bei der Notwehr) und damit
die Verhinderbarkeit des Verhaltens entfällt und den übrigen (z.B. Putativnotwehr), in denen die Rechtswidrigkeit der Tat in bezug auf andere Teile
der Rechtsordnung und damit deren Verhinderbarkeit unberührt bleibt.
Diese Präzisierung ist von größter Wichtigkeit für unser Thema. Denn wenn
der Irrtum in all seinen Erscheinungsformen grundsätzlich nicht die (ziviloder verwaltungsrechtliche) Rechtswidrigkeit und die Verhinderbarkeit der
Tat berühren kann, so kann dies nicht bedeuten, daß er aus diesem Grund
immer und ausschließlich ein Problem der Schuld darstellt. Die Kriterien der
rechtlichen Relevanz und damit die einschlägige dogmatische Ebene sind
vielmehr im Wege der Auslegung der verschiedenen in unserer Rechtsordnung vorgesehenen Regelungen zu ermitteln.
5. Im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs sowie in Spezialgesetzen findet sich eine Unzahl von Strafausschließungsgründen. Bei einigen scheint
die Lehre dazu zu neigen, sie unter die Entschuldigungsgründe einzuordnen.
Zum Beispiel - man beachte, daß das italienische Strafrecht nicht den entschuldigenden Notstand kennt - zählt man zu den Entschuldigungsgründen
die ausdrückliche Straflosigkeit desjenigen, der einen Prozeßbetrug oder eine
Strafvereitelung begeht, "weil er durch die Notwendigkeit, einen nahen Angehörigen vor einem schweren und unvermeidlichen Schaden an Freiheit
oder Ehre zu bewahren, dazu gezwungen wurde". Zweifellos handelt es sich
nicht um einen Fall fehlender Sozialschädlichkeit oder um einen Rechtfertigungsgrund im beschriebenen Sinne, doch ist die Zuordnung zur Schuld
nicht zwingend.
318
Alfonso M. Stile
Abgesehen von der dogmatischen Einordnung haben wir es hier mit einer
vorweggenommenen Einschränkung der generalpräventiven Erfordernisse
bei Vorliegen bestimmter persönlicher Beziehungen zu tun.
Auch wenn der Angehörige die Situation ausnutzt und sich seine Unterstützung teuer bezahlen läßt, kann man seine Strafbarkeit wohl kaum bejahen,
obwohl sie mehr als gerechtfertigt wäre.
In anderen Worten: Es ist nicht zu prüfen (da ohne Bedeutung), ob der Täter
nicht auch in der Lage war, rechtmäßig zu handeln; entscheidend ist allein,
welches Verhalten man normalerweise von einem Täter gegenüber seinen
Angehörigen erwarten kann: Eine bestimmte Personengruppe erscheint dem
Gesetzgeber als regelmäßig nicht motivierbar, und er schränkt daher den
Kreis der Adressaten von vorneherein ein.
Die Tatsache, daß der entschuldigende Notstand auch hinsichtlich so wichtiger Rechtsgüter wie dem Leben nicht vorgesehen ist, scheint noch mehr zu
erstaunen. In der Tat ist dem Strafgesetzbuch von 1930 ein allgemeines
Schuldprinzip fremd und es existieren anstatt dessen lediglich typische Fälle
der Beschränkung der Generalprävention.
Hinsichtlich der übrigen Strafausschließungsgründe ist es unseres Erachtens
aus methodischen Gründen nicht möglich, ein für die gesamte Kategorie
gültiges allgemeines Prinzip zu benennen: Man kann sich lediglich auf die
einzelnen Umstände, ihre Auslegung und ihre jeweiligen kriminalpolitischen
Bezüge beziehen. Nicht zu dieser Fallgruppe zählen unserer Ansicht nach
allerdings die Ausnahmen von der Geltung des Strafrechts (Art. 3 Abs. 1,
sog. Immunität), die nicht unter den Begriff der "Umstände" im Sinne von
Art. 59 subsumiert werden können und daher "verbrechensfremd" sind. Umgekehrt sind auch außerhalb der Verbrechenssystematik stehende Umstände
nicht deshalb "verbrechensfremd".
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
III.
319
Der Verbotsirrtum
1. Bis zum Urteil des Verfassungsgerichtshofs Nr. 364/88 galt das drastische Prinzip des Art. 5, nach dem "sich niemand zu seiner Entschuldigung
auf die Unkenntnis des Strafgesetzes berufen kann". Der Verbotsirrtum wurde traditionell wie die Unkenntnis des Strafgesetzes behandelt.14
Die systematische Stellung des Prinzips ignorantia legis non excusat - im
Strafgesetzbuch von 1889 war es im Zusammenhang mit der Schuldfähigkeit
geregelt - erläutert sehr einleuchtend die amtliche Begründung des damaligen Justizministers (Alfredo Rocco): "Die Regel ist außerhalb und oberhalb
der Schuldfähigkeit angesiedelt; sie hat ausschließlich politische Gründe, da
sie notwendig ist, um die wesentlichen Bedingungen für das Bestehen der
Gesellschaft und des Staates zu schützen."15 Eindeutig generalpräventive
Motive also, die typisch für den autoritären Charakter dieses Strafgesetzbuchs sind und in keiner Weise durch das Schuldprinzip gemildert werden.16
Wenn dies auch nicht verwunderlich ist, so erstaunt einen jeden, der nicht
den windungsreichen Verlauf der Strafrechtsreform in Italien verfolgt hat, zu
Recht, wie lange Art. 5 (sowie auch andere Vorschriften: insbesondere jene
über die objektive Verantwortlichkeit) auch nach Inkrafttreten der Verfassung bestehen bleiben konnte. Diese ist - abgesehen von der kategorischen
Feststellung des Art. 27, nach dem "für Straftaten ein jeder persönlich verantwortlich ist" - Ausdruck eines Wertesystems, das der menschlichen Person einen völlig anderen Stellenwert einräumt als der Gesetzgeber von 1930.
Die im Rahmen eines durch die negative Generalprävention geprägten Systems wirkende Rechtsprechung stellte das Prinzip ignorantia legis non excusat nicht in Frage, sondern beschränkte sich darauf, Durchbrechungen zuzulassen. So erkannte sie in einigen Fällen die entschuldigende Wirkung des
sogenannten "guten Glaubens bei Ordnungswidrigkeiten" an,17 wo der Irr14
15
16
17
Siehe z.B. Antolisei, Manuale di Diritto Penale, Parte Generale, 10. Aufl. Mailand
1987.
Begründung, Teil I, S. 31.
Vgl. hierzu für alle Pulitanò, L'errore di diritto nella teoria del reato, Mailand 1976,
passim, S. 111 ff.; M. Romano, Commentario sistematico del codice penale, I, Mailand
1987, S. 86 ff.
Vgl. z.B. Cass. vom 16.1.1981, Giust.pen. 1981, II, 497. Es handelte sich darum, das
Verbot des Art. 5 C.p. zu umgehen, da man auch in diesen Fällen - wegen Unanwendbarkeit des Schuldbegriffs - die Fahrlässigkeit zweifellos nicht verneinen konnte. Gerade
320
Alfonso M. Stile
tum über die Unrechtmäßigkeit des Tuns auf einem positiven Umstand (z.B.
einer behördlichen Erlaubnis) beruhte.18
2. Die grundlegende Bedeutung des Urteils des Verfassungsgerichtshofs
Nr. 364/88 beruht daher weniger auf dem Umstand, daß es eine Ausnahme
vom Grundsatz der Unbeachtlichkeit des Verbotsirrtums schuf, sondern
vielmehr darauf, daß es, um zu diesem Ergebnis zu gelangen, das Schuldprinzip "offiziell anerkannte". Dieses schon seit langem von der Lehre19 verkündete Prinzip hatte nie ausdrückliche Anerkennung im geltenden Recht
gefunden. Demzufolge wurde (und wird nach wie vor) in der Rechtsprechung auch der Schuldbegriff mit dem subjektiven Tatelement gleichgesetzt.
Diese Vorbemerkungen zeigen, daß sich die Änderung des Art. 5 durch den
Verfassungsgerichtshof in den Kontext eines Strafgesetzbuchs einfügt, das
von einer völlig anderen Grundhaltung geprägt ist. Auch auf das Urteil hin
wurde dieses keiner organischen Neusystematisierung unterzogen.20 Im übrigen ist der Verfassungsgerichtshof auch nicht befugt, Normen zu ändern:
Man spricht in den Fällen wie dem vorliegenden von "additiven" Entscheidungen, da die Norm (hier Art. 5) durch die Hinzufügung der Entschuldbarkeit des unvermeidlichen Verbotsirrtums "gerettet" wird.
Um zum eigentlichen Thema zu gelangen, sind nun die Voraussetzungen
darzulegen, unter denen der Verbotsirrtum heute entschuldigende Wirkung
hat: Diese hängen von der Bedeutung ab, die man der "Unvermeidbarkeit"
des Irrtums zuschreibt; aus den obengenannten Gründen ist dies Lehre und
Rechtsprechung überlassen.
Der Grundsatz, den der Verfassungsgerichtshof anwendet, beruht auf den
Verfassungsprinzipien der sozialen Solidarität (Art. 2 Verf.) und der
18
19
20
an deren Fehlen knüpfte die Rechtsprechung aber den Ausschluß der Verantwortlichkeit. Vgl. Vassalli, L'inevitabilità dell'ignoranza della legge penale come causa
generale di esclusione della colpevolezza, Giur.Cost. 1988, II, 6 ff.
Vgl. hierzu unten.
Vgl. die in Anm. 16 zitierten Autoren sowie Bricola, Teoria generale del reato, in: Novissimo Digesto, 19, 51 ff.; Pulitanò, Politica criminale, in: Marinucci/Dolcini (Hrsg.),
Diritto penale in trasformazione, Mailand 1985, S. 9 ff.
Der italienische Gesetzgeber hat es bisher versäumt, dringend nötige Änderungen der
von der offiziellen Anerkennung des Schuldprinzips betroffenen Institute vorzunehmen. Die einzige Maßnahme ist das erwähnte Gesetz vom 7. Februar 1990, Nr. 19
(vgl. I. Anm. 2).
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
321
Gleichheit (Art. 3 Verf.):21 "Wer sich gewissenhaft an die präventiven Anforderungen der Rechtsordnung hält, alle zweckdienlichen, im einzelnen
vorhersehbaren Pflichten der sozialen Solidarität erfüllt und trotzdem von
einem Strafgesetz keine Kenntnis hat, kann nicht ebenso behandelt werden
wie jemand, der wissentlich oder aus Nachlässigkeit diese Pflichten verletzt." Auf der Grundlage dieser Erwägungen hat der Verfassungsgerichtshof
eine Reihe von Kriterien oder, wenn man so will, Anhaltspunkten genannt,
um mögliche Mißverständnisse und Mißbräuche bei der Anwendung auszuschließen.22
Man verlangt somit für die Relevanz des Verbotsirrtums eine gewisse objektive Grundlage, die folgendermaßen beschaffen sein muß:
a)
Zunächst muß es sich um "künstliche Delikte" handeln, d.h. Delikte, bei
denen der soziale Unwert des Verhaltens nicht unabhängig von der
(Kenntnis der) Norm erkennbar ist.
b)
Der Irrtum gilt im allgemeinen als unvermeidlich, wenn er auf der Unklarheit des Gesetzestextes, widersprüchlichen Auslegungen durch die
Rechtsprechung, offiziellen Stellungnahmen der öffentlichen Verwaltung, (ernsthaften) Versicherungen Rechtskundiger u.ä. beruht.
Zu diesen Elementen objektiver Unsicherheit kommt eine Bewertung der
individuellen Situation des Täter hinzu, der das Verbot nicht kannte:
a)
Es darf sich nicht um eine (fahrlässige) Verletzung von Informationspflichten handeln, wie zum Beispiel in dem Fall, daß sich jemand nicht
über Strafvorschriften, die seine berufliche Tätigkeit betreffen, auf dem
laufenden hält: "unvermeidlich" und damit schuldausschließend ist der
Irrtum in diesem Fall, wenn man ihn selbst bei Erfüllung aller Informationspflichten nicht vermeiden konnte.
b)
"Hat der Täter spezielle Kenntnisse, die es ihm ermöglichen, das Strafgesetz zu kennen, so kann er sich nicht auf einen (eventuellen) allgemein verbreiteten Verbotsirrtum berufen." Andernfalls würde man dem
allgemein verbreiteten Verbotsirrtum die Stellung eines die Strafnormen
verdrängenden Gewohnheitsrechts zuerkennen.
21
22
Corte Cost. (Anm. 1), § 18.
Corte Cost. (Anm. 1), §§ 26-28; vgl. hierzu für alle Pulitanò, Una sentenza, che restaura il principio di colpevolezza, Riv.it.dir.proc.pen. 1988, 711 ff.
322
c)
Alfonso M. Stile
Umgekehrt ist auch ein besonders niedriges Bildungsniveau des Täters
zu berücksichtigen.
Selbstverständlich handelt es sich hierbei lediglich um Anhaltspunkte, nicht
aber um für den Auslegenden bindende Kriterien.
3. Die Lehre, die dieser Entscheidung begeisterten Beifall spendete,23 hat
eine Reihe von Ergänzungen und Präzisierungen zur Frage der Unvermeidbarkeit des Irrtums formuliert: Die "absolute Unklarheit" einer gesetzlichen
Vorschrift betrifft weniger die Grundlage des entschuldbaren Irrtums als
vielmehr die "Bestimmtheit" des Tatbestands (Art. 25 Verf.).24 Die "relative
Unklarheit" kann ihrerseits einen (a posteriori) Irrtum des Rechtskundigen
(und damit desjenigen, der sich diesem anvertraut hat) hervorrufen, der die
Norm bei aller Sorgfalt anders auslegt als der Richter: Warum sollte man,
wenn letzterer ohnehin das letzte Wort hat, nicht die Auslegung des ersteren
berücksichtigen und deshalb die Schuld verneinen? Zweifellos handelt es
sich um eine Wertung, die jeweils im konkreten Fall vorzunehmen ist. Auch
zur klassischen Problematik des rechtsunkundigen Ausländers hat das Verfassungsgericht nicht Stellung genommen.
Es ist noch zu früh, um eine klare Linie der Rechtsprechung erkennen zu
können. Die einhellige Zustimmung der Lehre zu der Entscheidung hat keine
Entsprechung in der Richterschaft gefunden.25 Große Erschütterungen
wurden jedoch nicht ausgelöst. So erkannte man die entschuldigende
Wirkung des Irrtums nach Art. 5 im Falle von in Frankreich wohnhaften
Tunesiern an, die in diesem Land ein dort frei verkäufliches Luftdruckgewehr erworben hatten und wegen unerlaubten Waffenbesitzes festgenommen wurden, als sie sich in Genua nach Tunesien einschiffen wollten.26
Denselben Ausgang hatte ein Verfahren über den unerlaubten Abbau von
23
24
25
26
Pulitanò (Anm. 22), S. 686 ff; Vassalli (Anm. 17), S. 3 ff.; Stortoni, L'introduzione nel
sistema penale dell'errore scusabile di diritto: significato e prospettive, Riv.it.dir.proc.pen.
1988, 1313 ff.; F.C. Palazzo, Ignorantia legis, vecchi limiti e orizzonti nuovi della colpevolezza, in: Stile (Anm. 2), S. 150 ff.; Fiandaca, Foro it. 1988, I, 1385 ff.; Padovani,
Legisl. pen. 1988, 449 ff.; Guardata, L'ignoranza della legge penale dopo l'intervento
della Corte Costituzionale, prime impressioni, Cass.pen. 1988, 1152 ff.; vgl. auch die
Beiträge von Malinverni, De Felice, Parodi Giusino und Cadoppi, in: Stile (Anm. 2),
S. 199-263.
Pulitanò (Anm. 22), S. 723.
Eine ausdrückliche Kritik findet sich in Trib. Napoli, 8. Juli 1988, Giur. di merito
1989, II, 361 ff. (mit Anm. Barbolinardo).
So das Trib. Genova Sez. II, 30. Mai 1989, imp. Khediri, das genau die Kriterien des
Verfassungsgerichtshofs anwendet.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
323
Erdreich wegen Widerspruchs der Rechtsprechung von Strafgerichten und
Verwaltungsgerichten.27 Auch den Irrtum eines Senegalesen, der Feuerzeuge
ohne die vorgeschriebene staatliche Stempelmarke verkaufte, hielt man wegen seines geringen Bildungsniveaus und seiner beschränkten Kommunikationsfähigkeit für unvermeidbar.28 Angreifbar ist dagegen der Freispruch des
Geschäftsführers einer auf dem Abfallsektor tätigen Vermittlergesellschaft,
die nicht die gesetzlich vorgeschriebene Erlaubnis der Region eingeholt hatte
"wegen der objektiven Unklarheit der gesetzlichen Bestimmungen".29 Denselben Bedenken begegnet eine Entscheidung, die im Falle eines "Kleinunternehmers" wegen der schwierigen Bestimmbarkeit dieser Eigenschaft annahm, es sei diesem objektiv unmöglich gewesen, seine Buchhaltungspflichten zu kennen.30
Festzuhalten ist jedoch, daß keine Urteile zum Verbotsirrtum ersichtlich
sind, die dem Schuldprinzip offensichtlich widersprechen.31 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sich mit der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs die italienische Regelung des Verbotsirrtums, wenn auch in notgedrungen unpräziserer Form, an die der anderen europäischen Länder angepaßt hat.
Der Begriff der "Unvermeidbarkeit" des Irrtums ist vermutlich § 17 dt.StGB
entnommen. Wie die in den Gründen angeführten Schranken zeigen, entspricht er einer bewußten Entscheidung, die strenger ist als zum Beispiel die
Vorschrift des Art. 17 portug.StGB, wo der Begriff der "Vorwerfbarkeit" des
Irrtums verwendet wird und im Falle des vorwerfbaren Irrtums eine Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit vorgesehen ist.32
27
28
29
30
31
32
Pret. Cingoli, 8. Juni 1988, Giur.it. 1988, II, 412.
Pret. Pescia, 21. November 1988, Foro it. 1989, II, 248.
Pret. Mailand, 29. März 1988, Foro it. 1989, II, 291.
Zum Fall einer Konkursstraftat: Pret. Reggio Emilia, 28. Juni 1988, Il fallimento 1989,
563. Die Bedenken hinsichtlich der letzten beiden Entscheidungen stützen sich allein
auf deren Leitsätze, da dem Verfasser die Entscheidungsgründe nicht bekannt sind.
Vgl. z.B. Cass.Sez. III, 16. Juni 1988, wo die Unkenntnis auf die Verletzung von Informationspflichten zurückgeführt wird. Dennoch fehlt es nicht an Entscheidungen,
die im Falle eines auf positivem Handeln der Behörden beruhenden, entschuldbaren
Irrtums ("guter Glaube") nicht die Schuld, sondern weiterhin die Fahrlässigkeit verneinen. Das Verhalten des Täters würde danach - wie beim Irrtum über Rechtfertigungsgründe (siehe unten) - kein Unrecht darstellen.
Der Verfassungsgerichtshof hat die "Möglichkeit" einer Strafmilderung bei Vermeidbarkeit des Irrtums (wie in § 17 dt.StGB) einer zukünftigen Entscheidung des Gesetzgebers vorbehalten.
324
Alfonso M. Stile
Trotz der Bemühungen, die Kriterien der Unvermeidbarkeit auf eine objektive Grundlage zu stellen, ist offensichtich, daß das Urteil "stark individualisiert"33 ist. Und da das Schuldprinzip in der italienischen Rechtsordnung gerade im Zusammenhang mit der Problematik des Verbotsirrtums offizielle
Anerkennung fand, so besteht kein Zweifel daran, daß der unvermeidbare
Irrtum die Tatschuld ausschließt.
IV.
Der (tatsächliche und rechtliche) Tatbestandsirrtum
1. Der Tatbestandsirrtum ist in Art. 47 Abs. 1 geregelt, welcher besagt:
"Der Irrtum über die Straftat schließt die Strafbarkeit des Handelnden aus."
Systematisch ist der Irrtum ein Strafausschließungsgrund, da er den Vorsatz
entfallen läßt. Der Täter nimmt den Sachverhalt in seiner "gesamten Bedeutung" verzerrt wahr; das für den Vorsatz spezifische Wissenselement - ebenso wie das Willenselement - fehlt daher. Folgt man der These, die den Vorsatz als Teil des Tatbestands behandelt, so wirkt sich der Irrtum bereits auf
die Tatbestandsmäßigkeit und nicht erst auf die Schuld aus.
Um beachtlich zu sein, muß sich der Irrtum auf die konstitutiven oder wesentlichen Elemente der Straftat beziehen. Diese ergeben sich aus dem
Straftatbestand, der über seinen Wortlaut hinaus insbesondere den Angriff
auf das Rechtsgut hervorhebt, der dem unter Strafe gestellten Verhalten innewohnt, d.h. "das durch seinen Unwertgehalt gekennzeichnete Verbrechensmodell".34
Auch die Rechtsprechung vertritt diese Position. Der beachtliche Tatbestandsirrtum wird gewöhnlich definiert als "verzerrte Wahrnehmung der
Wirklichkeit durch den Täter, die bewirkt, daß das volitive Element des psychischen Prozesses durch das intellektuelle beeinflußt wird und der Täter
unter der Voraussetzung einer Realität handelt, die der tatsächlichen nicht
entspricht".35
33
34
35
Vassalli (Anm. 17), S. 12.
Vgl. Romano (Anm. 16), S. 417; ebenso Fiandaca/Musco, Diritto Penale, Parte generale, 2. Aufl. Bologna 1989, S. 282.
Cass. vom 19.1.1981, Giust.pen. 1981, 720; zuvor Cass. vom 14.12.1977, Cass.pen.
1979, 55.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
2.
Der "fahrlässige" Tatbestandsirrtum
a)
bei Verbrechen (delitti)
325
Art. 47 Abs. 1 fährt fort: "Beruht der Irrtum jedoch auf Fahrlässigkeit, so ist
die Strafbarkeit nicht ausgeschlossen, wenn das Gesetz auch die fahrlässige
Begehung der Tat mit Strafe bedroht." Damit diese Vorschrift Anwendung
finden kann, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Zum einen muß der
Straftatbestand (auch) eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tat vorsehen;
zum anderen muß im konkreten Fall bei der Entstehung des Irrtums die
Verletzung einer Sorgfaltspflicht feststellbar sein. Wenn zum Beispiel A bei
einer Jagd aus nächster Nähe in eine sich bewegende Hecke schießt und dabei ein Kind tödlich verletzt, das dort seinen Ball suchte, ist, da die fahrlässige Tötung als Straftat existiert, zu prüfen, ob der Irrtum nicht auf Fahrlässigkeit zurückzuführen ist; dies wäre der Fall, wenn A kurz zuvor eine
Gruppe Kinder in der Nähe gesehen hätte.
b)
bei Übertretungen (contravvenzioni)
Das einzige Problem auf dem Gebiet des durch Fahrlässigkeit bedingten
Tatbestandsirrtums betrifft dessen Anwendbarkeit bei Übertretungen. Art. 47
Abs. 1 Satz 2 regelt die Beachtlichkeit des fahrlässigen Irrtums allein in bezug auf Verbrechen, ohne die Übertretungen zu erwähnen. Wie ist also der
Irrtum zu behandeln, der den Tatbestand einer Übertretung betrifft?
Bei einer rein am Wortlaut orientierten Auslegung ist die Antwort eindeutig:
ubi lex voluit dixit, ubi noluit non dixit. Es wäre also davon auszugehen, daß
der Gesetzgeber die Geltung des Prinzips bewußt auf die Verbrechen beschränkt hat und umgekehrt immer und in jedem Fall die entschuldigende
Wirkung des - auf welchem Grund auch immer beruhenden - Irrtums bei den
Übertretungen bejaht.
Diese Lösung, die sich in ihrer Form als "wortlautorientiert" und hinsichtlich
ihrer Konsequenzen als "restriktiv" bezeichnen läßt, stellt in Rechtsprechung
und Lehre derzeit eine Mindermeinung dar.36 Ihr steht die Ansicht gegenüber, daß das allgemeine Prinzip der unterschiedslosen Strafbarkeit vor-
36
Vgl. Battaglini, Osservazioni sull'elemento psicologico delle contravvenzioni, Giust.pen. 1988, II, 1034; Alimena, L'elemento psicologico nelle contravvenzioni,
Sc.pos. 1939, 292; Cass. vom 22.5.1962, Riv.it.dir.proc.pen. 1963, 891 ff.
326
Alfonso M. Stile
sätzlich und fahrlässig begangener Übertretungen (Art. 42 Abs. 4)37 auch in
diesem Fall Anwendung findet und der fahrlässige Irrtum über den Tatbestand einer Übertretung daher in den Bereich des Art. 42 Abs. 4 fällt.38
Die Beantwortung der Frage ergibt sich unseres Erachtens aus der kriminalpolitischen Ratio der Regelung. Wäre eine unterschiedliche Behandlung
von Verbrechen und Übertretung gerechtfertigt, die dazu führt, daß derjenige, der über einen Verbrechensstatbestand irrt, strafbar ist, während bei
einer Übertretung der Täter in derselben Situation straflos bleibt?
Es ist sinnvoll, einige leicht mögliche Mißverständnisse auszuräumen. Das
derzeit geltende Strafgesetzbuch unterscheidet Übertretungen und Verbrechen nach einem rein formalen Gesichtspunkt: Art. 39 nennt als kennzeichnendes Merkmal die Art der Strafe. Angesichts des beschränkten Strafrahmens können Übertretungen daher nur Verstöße von geringerer Schwere
sein. Das formale Kriterium beinhaltet somit auch ein inhaltliches.
Die Tatsache, daß Übertretungen häufig eine schärfere Sanktion nach sich
ziehen als eine Straftat mit geringem Unwertgehalt, berührt nicht die Gültigkeit des allgemeinen Prinzips. Ebensowenig greift der - durchaus beachtliche - Einwand, daß Übertretungen in bestimmten Fällen eine schwerwiegendere Rechtsgutsverletzung beinhalten können. Der historische Kern der
Unterscheidung hat sich im Laufe der Zeit verwischt und die Übertretungen
umfassen heute "die Mißachtung von Normen präventiven Charakters" oder
"die Mißachtung von Normen, welche einer behördlichen Kontrolle unterliegende Tätigkeiten regeln". Dies ändert, wie erwähnt, nichts daran, daß bei
Erlaß des Strafgesetzbuchs die Unterscheidung quantitativer und nicht funktional-qualitativer Art war und daher - wie aus den Materialien39 hervorgeht
- der Gesetzgeber dem fahrlässigen Irrtum bei den Übertretungen entschuldigende Wirkung zubilligen wollte. De iure condendo läßt sich zweifellos
darüber diskutieren, ob es sinnvoll ist, dieses "Privileg" am Leben zu erhal37
38
39
"Auf dem Gebiet der Übertretungen ist jeder für sein bewußtes und gewolltes Handeln
oder Unterlassen verantwortlich, sei es vorsätzlich oder fahrlässig."
Vgl. C. F. Grosso, Coscienza e volontà ed errore nelle contravvenzioni, Riv.it.dir.
proc.pen. 1963, 891 ff.; Mantovani, Diritto penale, Parte generale, 2. Aufl. Padua
1988, S. 361. In der Rechtsprechung: Cass. vom 3.5.1973, Cass.pen. 1974, 1076,
m. 1680. Weitere Nachweise bei Donini, in: Bricola/Zagrebelsky (Hrsg.), Codice Penale, Parte Generale, I, Turin 1984; Padovani, Stichwort "Delitti e contravvenzioni",
in: Digesto delle Discipline penalistiche, III, 1989, S. 337.
Vgl. in bezug auf Art. 55 C.p. die Begründung für den König, Nr. 38, sowie die Protokolle der Parlamentarischen Kommission, S. 90.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
327
ten, de iure condito würde sich eine anderslautende Auslegung jedoch in unzulässiger Weise zum Nachteil des irrenden Täters auswirken; zudem ließe
man eine allgemeine Vorschrift (Art. 42 Abs. 4) einer speziellen (hier
Art. 47 Abs. 1) vorgehen und höbe faktisch ein Prinzip auf, das im System
des Strafgesetzbuchs weiterhin selbständige Geltung besitzt.
3.
Der rechtliche Tatbestandsirrtum
Der dritte und letzte Absatz des Art. 47 bestimmt: "Der Irrtum über ein außerstrafrechtliches Gesetz schließt die Strafbarkeit aus, wenn er einen Irrtum
über die Straftat hervorgerufen hat." Die Entschlüsselung dieser Vorschrift
gestaltet sich, zweifellos auch wegen ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung, schwierig.
Obwohl er von der theoretischen Unterscheidung zwischen (nicht entschuldigenden) das Strafrecht ergänzenden und (entschuldigenden) dieses nicht
ergänzenden Normen ausgeht, verneint der Kassationsgerichtshof faktisch
fast einhellig die Existenz von das Strafrecht nicht ergänzenden außerstrafrechtlichen Normen. "Unter einem nicht strafrechtlichen Gesetz im Sinne
des Art. 47 Abs. 3 sind allein Normen zu verstehen, die von Anfang an dazu
bestimmt sind, rechtliche Beziehungen nicht strafrechtlicher Art zur regeln,
und die weder in einer Strafnorm erwähnt, noch ausdrücklicher oder impliziter Bestandteil einer solchen sind." Ausgehend von dieser Leitlinie verlangt man später auch, daß die außerstrafrechtliche Norm nicht dazu beitragen dürfe, den Inhalt und die Bedingungen einer Strafnorm zu bestimmen,
noch eine von deren Voraussetzung sein dürfe. In der Praxis war es daher
leicht, den außerstrafrechtlichen Charakter einer jeden Vorschrift zu verneinen, so daß die Lehre von einer "richterlichen Nichtanwendung" des Art. 47
Abs. 3 spricht.
Nicht nur. Gerade mit dem Ziel, diese Vorschrift entgegen der restriktiven
Auslegung durch die Rechtsprechung wiederzubeleben, glaubte ein Teil der
Lehre, in Art. 47 Abs. 3 eine Ausnahmeregelung zu dem Prinzip ignorantia
iuris non excusat (Art. 5) zu entdecken. Ausgehend von der Voraussetzung,
daß eine eindeutige Unterscheidung von strafrechtsergänzenden und sonstigen Normen nicht möglich ist (was die katastrophale Erfahrung der Praxis
beweist), da letztlich eine jede Norm zur Ausfüllung von Straftatbeständen
beiträgt, rechtfertigt man die Ausnahme der Beachtlichkeit des Rechtsirrtums mit der untergeordneten Bedeutung dieser Fälle sowie der "geringeren
328
Alfonso M. Stile
symptomatischen und sozialen Bedeutung" einer aufgrund eines derartigen
Irrtums begangenen Tat.
Der geschilderte Ansatz überzeugt jedoch nicht. Unter anderem widerspricht
er dem Wortlaut des Art. 47 Abs. 3, und auch inhaltlich ist die Argumentation nicht zwingend, denn es sind Fälle denkbar, auf die die Annahme des geringeren objektiv-subjektiven Verhaltensunwerts nicht zutrifft.
Seit der Ungültigerklärung von Art. 5 und den Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs hierzu (siehe oben III.) läßt sich die genannte These noch
weniger aufrechterhalten. Jedoch sollte zumindest ihr grundlegendes Postulat
Beachtung finden, Art. 47 Abs. 3 als Ausnahme zum - inzwischen nicht
mehr absoluten - Prinzip der Unbeachtlichkeit des Verbotsirrtums zu betrachten.
Eine zutreffende Interpretation des Art. 47 Abs. 3 hat daher von den für den
Vorsatz geltenden allgemeinen Prinzipien auszugehen.
Das Wissen des Täters - das zusammen mit dem Wollen das Spezifische des
Vorsatzes ausmacht - muß alle konstituierenden Elemente des Tatbestandes
umfassen. Enthält der Tatbestand auch Begriffe, die im Lichte außerstrafrechtlicher Normen auszulegen sind, so muß der Täter folglich, um vorsätzlich zu handeln, deren normative Bedeutung kennen. Dies heißt, daß der
Vorsatz (auch) die Kenntnis der normativen Tatbestandsmerkmale umfaßt,
wenn auch in der reduzierten Form der Parallelwertung in der Laiensphäre.
So schließt sich der Kreis, der gedanklich den ersten und dritten Absatz von
Art. 47 miteinander verbindet: Wer sich über eine rechtlich Vorschrift
täuscht, irrt in gleicher Weise wie derjenige, der ein deskriptives Tatbestandselement verkennt. In beiden Fällen ist die Wirkung - eine unzutreffende Wahrnehmung der Wirklichkeit - dieselbe. Es handelt sich daher
immer um einen Tatbestandsirrtum, der entweder auf der Verkennung eines
tatsächlichen Umstandes (tatsächlicher Tatbestandsirrtum: Art. 47 Abs. 1)
oder eines normativen Merkmals (rechtlicher Tatbestandsirrtum: Art. 47
Abs. 3) beruht.
Es bleibt nur noch klarzustellen, nach welchen Kriterien die nicht-strafrechtsergänzenden außerstrafrechtlichen Normen, welche nicht unter Art. 5
fallen, zu bestimmen sind. Wann immer eine außerstrafrechtliche Vorschrift
sich darauf beschränkt, den Anwendungsbereich des Grundtatbestands festzulegen, so daß der Täter im konkreten Fall über die Rechtmäßigkeit seines
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
329
Handelns irrt, ist Art. 47 Abs. 3 anwendbar.40 In diesen Fällen trägt die außerstrafrechtliche Norm nicht zur Definition des Tatbestands bei, "sie ist in
keiner Weise 'Garantin' des in der Norm ausgedrückten 'Sinns des Verbots'",41 da sie nichts dessen Inhalt hinzufügt und ausschließlich die Anwendbarkeit des Verbots in der konkreten Situation regelt.42
4.
Der auf Fahrlässigkeit beruhende Irrtum über ein außerstrafrechtliches Gesetz
Im Unterschied zum ersten sieht der dritte Absatz von Art. 47 keine Verantwortlichkeit im Falle des fahrlässigen Irrtums über ein außerstrafrechtliches Gesetz vor. Üblicherweise wertet man dieses Schweigen jedoch lediglich als Vermeidung einer reinen Wiederholung des im ersten Absatz niedergelegten Prinzips, dem man allgemeine Gültigkeit zuschreibt.43
Dieser Annahme kann nicht ohne weiteres zugestimmt werden. In formaler
Hinsicht stellt die beschriebene Auslegungsmethode eine offensichtliche
Mißachtung des Legalitätsprinzips dar, da sie einen unverhohlenen Analogieschluß zum Nachteil des Täters vollzieht;44 inhaltlich läßt sich zugunsten
einer unterschiedlichen Behandlung von Art. 47 Abs. 1 und Abs. 3 anführen:
Da der Irrtum über ein nicht den Tatbestand ergänzendes außerstrafrechtliches Gesetz einen relativ geringen Unwertgehalt aufweist, wäre es unverhältnismäßig, eine Strafsanktion zu verhängen, wenn dieser auf Fahrlässigkeit beruht.45,46
40
41
42
43
44
45
Vgl. hierzu Grasso, Considerazioni in tema di errore su legge extrapenale, Riv.it.dir.
proc.pen. 1976, 147 ff. Ausführlich zu den normativen Tatbestandsmerkmalen Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, Berlin 1984,
S. 40 ff.
Pulitanò, Stichwort "Ignoranza" (Dir.pen.), in: Enc.dir., XX, 1970, S. 40; derselbe,
L'errore di diritto nella teoria del reato, Mailand 1976, S. 262 f., 270 f.
Für eine praktische Veranschaulichung vgl. Romano (Anm. 16), S. 420 f.
Ebenso Cristiani, Profilo dogmatico dell'errore su legge extrapenale, Pisa 1955, S. 63;
Piacenza, Errore ed ignoranza di diritto in materia penale, Turin 1960; Grasso
(Anm. 40), S. 138 f. Ähnlich Palazzo, L'errore sulla legge extrapenale, Mailand 1974,
S. 132 ff., der es jedoch vorzieht, vom Irrtum über die Reichweite der Norm zu sprechen.
So zum Beispiel Romano (Anm. 16), S. 425 f. Der Kassationsgerichtshof scheint in
diese Richtung zu tendieren: vgl. Cass. vom 12.12.1977, Giust.pen. 1978, II, 511,
m. 526 (auch in Cass.pen. 1979, 538, m. 533).
Dieser Umstand veranlaßte einige Autoren dazu, die Strafbarkeit des fahrlässigen Irrtums über ein außerstrafrechtliches Gesetz abzulehnen. So Cristiani (Anm. 43),
S. 146; Ranieri, Manuale di Diritto Penale, Parte Generale, Padua 1956, S. 295.
330
V.
Alfonso M. Stile
Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe
1. Wie bereits erwähnt, ist der Irrtum über die "Strafausschließungsgründe" in Art. 59 geregelt. Absatz 1 lautete ursprünglich:
"Sofern das Gesetz nichts anderes bestimmt, wirken Umstände, die die Strafe
(schärfen, mildern oder) ausschließen, auch dann (zu Lasten bzw.) zugunsten
des Täters, wenn dieser sie nicht kannte oder sie irrig für nicht gegeben hielt."
Gerade als dieser Vortrag im Entstehen begriffen war, ersetzte das Gesetz
vom 7. Februar 1990, Nr. 19 diese Vorschrift durch die folgende: "Umstände, die die Strafe (mildern oder) ausschließen, wirken auch dann zugunsten des Täters, wenn dieser sie nicht kannte oder sie irrig für nicht gegeben
hielt."47
Absatz 3 bestimmt:
"Hält der Täter irrig strafausschließende Umstände für gegeben, so wirken
diese immer zu seinen Gunsten. Beruht der Irrtum jedoch auf Fahrlässigkeit,
so ist die Strafbarkeit nicht ausgeschlossen, wenn das Gesetz auch die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bedroht."
Erste Auslegungsschwierigkeiten ergeben sich bei der Bestimmung des Begriffs der "strafausschließenden Umstände", der sowohl im ersten wie im
dritten Absatz verwendet wird: Unstreitig fallen hierunter die Rechtfertigungsgründe; zweifelhaft ist dies jedoch hinsichtlich der Entschuldigungsgründe sowie der übrigen speziellen Strafausschließungsgründe des Besonderen Teils, deren dogmatische Einordnung oft schwierig ist.48
Es empfiehlt sich hier eine getrennte Untersuchung erstens des Falles, daß
der Täter die Strafausschließungsgründe nicht kannte oder sie irrig für nicht
gegeben hielt (Art. 59 Abs. 1), und zweitens des Falles, daß der Täter Strafausschließungsgründe irrig für gegeben hielt (Art. 59 Abs. 3).
46
47
48
Der Wortlaut des Art. 47 Abs. 3 C.p. wurde identisch in Art. 8 des Gesetzes Nr.
516/1982 über Steuerstraftaten übernommen, um die rigorose Haltung der Rechtsprechung in der Frage des rechtlichen Tatbestandsirrtums zu überwinden.
Diese Gesetzesänderung wirkt sich nicht wesentlich auf die Regelung der Strafausschließungsgründe aus. (Diese sind weiterhin allein aufgrund ihres objektiven Vorliegens anwendbar.) Von Bedeutung ist sie dagegen hinsichtlich der strafschärfenden
Umstände, die ebenfalls unter Verletzung des Schuldprinzips auf rein objektiver
Grundlage angewandt wurden.
Vgl. für alle Romano (Anm. 16), S. 444 ff., 564 f.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
331
2. Liegen alle Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes vor, so
greift dieser auch dann ein, wenn der Täter sich dessen nicht bewußt ist oder
sogar fälschlich annimmt, ein solcher sei nicht gegeben.
Man fragt sich, ob sich diese Norm nicht auf die Struktur der Rechtfertigungsgründe auswirkt, indem sie "deren subjektive Elemente objektiviert".
Wer daher zum Beispiel in Ausübung eines ihm von der Rechtsordnung zuerkannten Rechts einen Straftatbestand erfüllt, begeht, auch wenn er von der
Existenz dieses Rechts nichts wußte, unstreitig keine rechtswidrige Tat, da
der Rechtfertigungsgrund des Art. 51 streng objektiv formuliert ist: "Die
Ausübung eines Rechtes (...) schließt die Strafbarkeit aus".
Umgekehrt führen Notwehr und Notstand zur Straflosigkeit desjenigen, der
"die Tat begangen hat, weil er durch die Notwendigkeit (...) dazu gezwungen
wurde".
Wer seinen Feind bei der Begegnung auf der Straße tötet, ohne zu wissen,
daß dieser seinerseits einen Revolver in der Hand hatte, um ihn zu erschießen, wurde nicht "durch die Notwendigkeit gezwungen", sondern befand sich objektiv in einer (wenn auch ihm unbekannten) Notwehrlage, die
ihn dazu zwang, auf diese Weise zu handeln. Objektiv steht die Tat nicht in
Widerspruch zur Rechtsordnung, auch wenn es sich subjektiv um einen
Mordanschlag handelt. Nach der eindeutig objektivistischen Sichtweise des
Strafgesetzbuchs gilt die Tat als rechtmäßig.49
Die in jüngster Zeit erfolgte Aufhebung des Einschubs "sofern das Gesetz
nichts anderes bestimmt", aus dem ein Teil der Lehre,50 unseres Erachtens
zu Unrecht, eine Einschränkung des Grundsatzes ableitete, daß das objektive Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes genügt, hat keine weitreichenden Konsequenzen. Unserer Ansicht nach berührte und berührt Art. 59
49
50
Die Begründung des Justizministers zum Entwurf des Strafgesetzbuchs präzisiert in
bezug auf Art. 59 Abs. 1 C.p. (im Entwurf: Art. 63) ausdrücklich, daß bereits das tatsächliche Vorliegen des Rechtfertigungsgrundes die Strafbarkeit entfallen läßt: "Handelt jemand zum Beispiel, ohne es zu wissen, in Notwehr (...), so kann er nicht als
strafrechtlich verantwortlich gelten, da er tatsächlich im Rahmen eines Rechtes handelt". Dies zeigt, daß der Zwang objektiv wirkt: "von der Notwendigkeit gezwungen"
heißt daher in einer Situation, die objektiv zum Handeln zwang ... Die Lehre folgt
überwiegend dieser Auffassung: vgl. für alle Romano (Anm. 16), S. 565 mit weiteren
Nachweisen; C.F. Grosso, L'errore sulle scriminanti, Mailand 1961, S. 114 ff.
Romano (Anm. 16) mit weiteren Nachweisen; Fiandaca/Musco (Anm. 34), S. 195.
332
Alfonso M. Stile
Abs. 1 nicht die Struktur der Rechtfertigungsgründe:51 Er beschränkt sich
darauf, das Vorliegen der objektiven wie eventuellen subjektiven Rechtfertigungselemente vorauszusetzen. In anderen Worten, wenn diese vorliegen,
obwohl der Täter von ihnen keine Kenntnis hat oder sie für nicht gegeben
hält, sind sie dennoch anzuerkennen. Diese Regel schließt jedoch nicht aus,
daß im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, welche die "innere Schranke" der
Rechtfertigungsgründe darstellt, subjektive Elemente eine entscheidende
Rolle spielen können:52 Sind dem Täter bestimmte Elemente bekannt, ist die
Verhältnismäßigkeit (und damit der Rechtfertigungsgrund) gegeben, sind sie
ihm nicht bekannt, ist die Verhältnismäßigkeit und damit das Vorliegen des
Rechtfertigungsgrundes zu verneinen.
Art. 59 Abs. 1 stellt daher das Pendant zu Art. 49 Abs. 1 dar, der die Straflosigkeit des Wahndelikts regelt.53
3. Art. 59 Abs. 3 bezieht sich zweifellos auf die Rechtfertigungsgründe.
Diese setzen eine Interessenabwägung (im weiteren Sinne) voraus, die dazu
führt, daß der Unwert der tatbestandsmäßigen Handlung aufgrund einer umfassenderen Wertung im Lichte der gesamten Rechtsordnung entfällt. Diese
Abwägung wird entweder - und dies ist die Regel - dem Richter überlassen,
der das "Gewicht" des tatbestandsmäßigen Verhaltens und der rechtfertigenden Situation festzustellen hat (Art. 51, 52, 53, 54) oder sie wird vom Gesetzgeber vorweggenommen, wie es bei der Einwilligung des Rechtsgutsinhabers der Fall ist: Hier ist die einzige objektive Schranke die "Disponibilität
des Rechtsguts", in das mit Einwilligung desjenigen, der wirksam darüber
verfügen kann, eingegriffen wird; in allen anderen Fällen kann die Entscheidung nicht im voraus getroffen werden.
Ebenso wie der Tatbestandsirrtum kann sich der Irrtum nach Art. 59 Abs. 3
auf einen tatsächlichen Umstand beziehen, der Voraussetzung des Rechtfertigungsgrundes ist (z.B. den Angriff bei der Notwehr), oder auf eine rechtliche Frage. In letzterem Fall ist zu unterscheiden: Entsprechend der Regelung des Art. 47 Abs. 3 entschuldigt der Irrtum über ein außerstrafrechtli51
52
53
Vgl. Spagnolo, Gli elementi soggettivi nella struttura delle scriminanti, Padua 1980,
S. 96.
G.V. de Francesco, La proporzione nello stato di necessità, Neapel 1978, passim. In
diesem Sinne könnten einige Stellungnahmen der Rechtsprechung verstanden werden,
die zum Beispiel bei der Notwehr einen Verteidigungswillen verlangen.
Romano (Anm. 16), S. 564.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
333
ches Gesetz nur, wenn er zur irrigen Annahme eines echten Rechtfertigungsgrundes führt. Wenn also A glaubt, er sei Eigentümer der Sache, die
ihm der wahre Eigentümer B wegnimmt, so nimmt er irrig eine echte Notwehrsituation an. Begeht der Täter dagegen eine Straftat in der Meinung, ein
Recht auszuüben (zum Beispiel den Gegner im Boxkampf töten zu dürfen)
oder eine Pflicht zu erfüllen, während das Recht bzw. eine rechtliche Pflicht
nicht existiert, so kommt ihm der Irrtum nicht zugute: Seine Fehlvorstellungen beziehen sich nicht auf eine tatsächlich rechtfertigende Situation,
sondern auf Bestehen und Grenzen von Rechtfertigungsgründen.
Es bestätigt sich daher, daß ein jedweder Irrtum beachtlich ist, sofern die irrig angenommene Situation die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes erfüllt. Bei der Einwilligung des Rechtsgutsinhabers zum Beispiel
führt der rechtliche Irrtum über die Inhaberschaft des Rechts ebenso wie der
Irrtum über tatsächliche Umstände zu einem Handeln, das insgesamt nicht in
Widerspruch zu den Erfordernissen des Schutzes der Rechtsordnung steht
oder erlaubt ist.
Die irrige Annahme von Rechtfertigungsgründen (im beschriebenen Sinne)
schließt bei Verbrechen die Vorsatzstrafbarkeit und bei Übertretungen die
Verantwortlichkeit insgesamt aus.54
In der Regelung des Art. 59 Abs. 3 läßt sich unschwer die Parallele zu der
des Art. 47 über den Tatbestandsirrtum erkennen.55
Was die verbleibende Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit betrifft, sofern das
Gesetz eine solche vorsieht, sind zwei Fälle zu unterscheiden:
a)
Zum einen kann die in der Annahme rechtfertigender Umstände begangene Tat vorsätzlich sein, so zum Beispiel, wenn A vorsätzlich B tötet, da er ihn für einen Killer hält;
54
Die Übertretungen verlangen Vorsatz oder Fahrlässigkeit (Art. 42 C.p.). Aufgrund einer präzisen gesetzlichen Aussage (Art. 47, 55, 59 C.p.) schließen die verschiedenen
Arten des Irrtums jedenfalls die Strafbarkeit wegen Vorsatzes aus, lassen eine eventuell bestehende Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit dabei aber unberührt. Übertretungen
können auch dann nicht geahndet werden, wenn der Irrtum auf Fahrlässigkeit beruht.
Anders, jedoch ohne die Bemühung um eine extensive Auslegung in malam partem,
unter Mißachtung des Wortlauts des Gesetzes sowie der Materialien die herrschende
Lehre: vgl. für alle Fiandaca/Musco (Anm. 34), S. 197.
Fiandaca/Musco (Anm. 34), S. 197; Romano (Anm. 16), S. 565 f., 96.
55
334
b)
Alfonso M. Stile
zum anderen kann es sich um eine echte Fahrlässigkeitstat (oder einen
fahrlässigen Exzeß, Art. 55) handeln, so zum Beispiel, wenn A sich von
einer Personengruppe angegriffen fühlt und, ohne jemanden verletzen
zu wollen, auf diese schießt, dabei aber einen der vermeintlichen Angreifer tötet.
Beruht der Irrtum im ersten Fall - nach den allgemeinen Grundsätzen - auf
Fahrlässigkeit, so stellt die tatbestandsmäßige Vorsatztat eine rechtswidrige
Fahrlässigkeitstat dar: Es handelt sich hier weder um eine Gleichsetzung
von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt quod poenam, noch um eine Umwandlung der vorsätzlichen Tatbestandsverwirklichung in eine fahrlässige
(außer man vertritt die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen).56
Im zweiten Fall, in dem von vorneherein ein Verletzungswille fehlt, ist zunächst zu untersuchen, ob angesichts der konkreten, vom Täter irrig angenommenen Situation tatsächlich fahrlässiges Handeln vorliegt. Die Prüfung der Fahrlässigkeit (nach einem objektiven Maßstab) ist unterschiedlich
schwierig, je nachdem, um welchen der folgenden beiden Fälle es sich handelt:
a)
Zunächst ist zu fragen, ob das Handeln auch bei Vorliegen des irrig angenommenen Rechtfertigungsgrundes fahrlässig gewesen wäre;
b)
bei Verneinung ist dann zu prüfen, ob nicht die irrige Annahme des
Rechtfertigungsgrundes auf Fahrlässigkeit beruht.
4. Zur Problematik des Irrtums über Rechtfertigungsgründe zählt auch der
Fall der fahrlässigen Überschreitung der Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes. Art. 55 bestimmt:
"Werden bei der Begehung einer Tat nach Art. 51, 52, 53 und 54 fahrlässig die
durch das Gesetz, die behördliche Anordnung oder die Notwendigkeit gesetzten Grenzen überschritten, so kommen die Vorschriften über Fahrlässigkeitsdelikte zur Anwendung, wenn das Gesetz auch die fahrlässige Begehung
der Tat mit Strafe bedroht."
Auch bei der fahrlässigen Überschreitung der Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes handelt es sich um einen Irrtum: Im Gegensatz zum Fall des
irrig angenommenen Rechtfertigungsgrundes (Art. 59 Abs. 3) liegen hier die
56
Fiandaca/Musco (Anm. 34), S. 197; Romano (Anm. 16), S. 568.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
335
Voraussetzungen des Erlaubnistatbestands vor, doch werden fahrlässig dessen Grenzen überschritten.
Spezifischer Gegenstand der Fahrlässigkeit ist das "Mehr" gegenüber dem
Verhalten, das gerechtfertigt gewesen wäre. Es existieren daher zwei Arten
des fahrlässigen Exzesses:57
a)
Der Täter deutet lediglich die tatsächliche Situation falsch; sein Verhalten ist seiner Fehlvorstellung, nicht aber der Wirklichkeit angemessen.
A meint zum Beispiel, daß ihn seine Angreifer nicht nur schlagen, sondern töten wollen; er schießt daher auf sie und tötet einige von ihnen.
b)
Der Täter erkennt richtig die tatsächliche Situation, sein Irrtum betrifft
jedoch die Ausführungsphase und führt zu einem schwerwiegenderen
Erfolg als beabsichtigt. A erkennt zum Beispiel, daß seine Angreifer ihn
lediglich schlagen wollen; um sich zu verteidigen, zieht er einen Revolver in der Absicht, diese damit zu bedrohen; dabei löst sich ein Schuß
und tötet einen Angreifer.
Es sei hervorgehoben, daß der Exzeß in der Variante a) Parallelen zum Fall
des Art. 59 Abs. 3 aufweist, da in beiden Fällen irrig rechtfertigende Umstände angenommen werden.
Schließlich kann man sich fragen, ob es auch eine fahrlässige Überschreitung der Grenzen eines irrig angenommenen Rechtfertigungsgrundes gibt:58
A glaubt, man drohe ihm mit einem - nicht gegen sein Leben gerichteten Angriff und tötet bei der Verteidigung durch ein Versehen den vermeintlichen Angreifer. Die Fahrlässigkeitsprüfung bezieht sich hier sowohl auf die
Fehlvorstellung wie auf den Fehler bei der Verteidigung: Die Verneinung im
einen Fall zieht nicht die Verneinung im anderen Fall nach sich, doch auch
wenn in beiden Hinsichten die Fahrlässigkeit zu bejahen wäre, so wäre die
Straftat nicht deshalb nicht mehr fahrlässig.
Die Regelung des fahrlässigen Exzesses entspricht einer (nicht zwingenden)
Anwendung allgemeiner Prinzipien der strafrechtlichen Verantwortlichkeit.59 Ihre Funktion besteht darin, jegliche rechtfertigende Relevanz des
57
58
59
Nuvolone, Le due forme dell'eccesso colposo, Giust.pen. 1949, II, 803; Azzali, L'eccesso colposo, Mailand 1965, 34 ff.; Fiandaca/Musco (Anm. 34), S. 197.
Bejahend die Rechtsprechung; zweifelnd Bettiol/Pettoello Mantovani, Diritto penale,
Parte generale, Padua 1986, S. 397 ff.
Romano (Anm. 16), S. 502.
336
Alfonso M. Stile
vorsätzlichen Exzesses auszuschließen. Auch wenn Art. 55 nicht Art. 50
(Einwilligung des Rechtsgutsinhabers) erwähnt, ist daher diese Regelung
anzuwenden (Irrtum über die Reichweite der Einwilligung, unbeabsichtigte
Überschreitung der Grenzen der Einwilligung). Dasselbe gilt für alle Rechtfertigungsgründe des Besonderen Teils, die eine Interessenabwägung beinhalten.60
Die Regelung der verschiedenen Arten des Irrtums über Rechtfertigungsgründe läßt sich letztendlich auf dieselben Prinzipien zurückführen, die für
den Tatbestandsirrtum gelten:
Der Irrtum über die Grenzen der rechtfertigenden Norm entschuldigt nur,
wenn er subjektiv unvermeidbar ist.
Der (Tatsachen- oder Rechts-)Irrtum, der den Täter an das Vorliegen eines
Rechtfertigungsgrundes glauben läßt, schließt bei Übertretungen die (strafrechtliche) Rechtswidrigkeit und bei Vorsatzdelikten die (subjektive)
Rechtswidrigkeit aus. Jeder auf Fahrlässigkeit beruhende Irrtum läßt eine
eventuell vorgesehene Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit unberührt.
In dieses Schema ist unserer (alles andere als unbestrittenen) Ansicht nach
auch der durch die Unzurechnungsfähigkeit des Täters bedingte Irrtum einzuordnen.61
Ein anderes, mit dem vorgenannten zusammenhängendes Problem betrifft
die Stellung der Fahrlässigkeit. Betrachtet man die Fahrlässigkeit innerhalb
des Unrechts als Verletzung einer objektiven Sorgfaltsnorm (nach einem
Durchschnittsmaßstab), so ist auch die (tatsächliche oder angenommene)
spezielle Situation, in der der Täter handelte, zu berücksichtigen. In den geltenden Rechtsordnungen, in denen das Schuldprinzip umfassendere Anerkennung gefunden hat als in der unseren, ist es in diesem Fall möglich, den
individuellen Einfluß der Situation (die besondere Beeinflußbarkeit des Täters) auf der Ebene der Schuld in die Wertung miteinzubeziehen.
Wenn man sich hingegen auf der dogmatischen Ebene für eine noch stärkere Subjektivierung des Tatbestands und damit des Unrechts entscheidet
60
61
Spezielle Probleme ergeben sich bei der berechtigten Reaktion auf willkürliche Handlungen eines Amtsträgers.
Siehe oben.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
337
und die Fahrlässigkeit als Verletzung einer subjektiven Sorgfaltspflicht versteht,62 so kann man den individuellen Einfluß des tatsächlichen oder angenommenen Rechtfertigungsgrundes innerhalb des Unrechts berücksichtigen
und vermeidet damit ein - unnötiges - Schuldurteil.
Auch wenn dies nicht anhand von Rechtsprechung überprüft werden kann,
so ist zu beachten, daß die subjektiven Schranken der Fahrlässigkeit das einzige Instrument darstellen, das es ermöglicht, die Strafbarkeit von Tätern
auszuschließen, die eine objektive Sorgfaltsregel verletzt haben, ohne daß
ihnen wegen der individuellen Reaktion auf die objektiven oder angenommenen Umstände, die das Verhalten bestimmten, ein ernsthafter Vorwurf
gemacht werden könnte.
Ein Hinweis in diese Richtung findet sich in der amtlichen Begründung zum
Entwurf des Strafgesetzbuchs.63 Einige Kommissionsmitglieder hatten Bedenken, die Regelung des fahrlässigen Exzesses auch dann anzuwenden,
wenn die Verwirrung aufgrund des Angriffs oder anderer tatsächlicher Umstände eine zutreffende Beurteilung des gebotenen Verhaltens verhindert
hatte. In seiner Stellungnahme hierzu unterstrich der Justizminister, daß die
Verwirrung zur völligen Verneinung der Fahrlässigkeit führen könne.
VI.
Der Irrtum über Entschuldigungs- und Strafausschließungsgründe
1. Hinsichtlich der Gründe, die unstreitig die Schuld oder die Zurechnungsfähigkeit ausschließen sowie des unvermeidbaren Verbotsirrtums ist
klar, daß kein wie auch immer gearteter Irrtum von Relevanz sein kann: das
Problem stellt sich hier schlichtweg nicht.
Bei den übrigen (als solche betrachteten) Entschuldigungsgründen des Besonderen Teils etc. führt die Mehrdeutigkeit der Bezugnahme auf die Schuld
neben der Problematik des Schuldbegriffs selbst dazu, sie zusammen mit
allen anderen besonderen Strafausschließungsgründen zu behandeln. Dies
beugt der Gefahr von dogmatischen Überschneidungen bei der Konstruktion
der entsprechenden Irrtumsregelungen vor.
62
63
In diesem Sinne z.B. Stratenwerth, Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes
beim Fahrlässigkeitsdelikt, Festschrift für Jescheck, I, Berlin 1985, S. 285 ff.
Begründung, Teil I, S. 99.
338
Alfonso M. Stile
In der Theorie ist es nicht allzu schwer, die Entschuldigungsgründe von den
anderen Strafausschließungsgründen zu unterscheiden: Zu den ersteren zählen all jene, die auf der Unmöglichkeit oder besser dem Verzicht beruhen,
dem tatbestandsmäßig und rechtswidrig handelnden Täter einen Schuldvorwurf zu machen, da er sich subjektiv nicht anders verhalten konnte. Die übrigen beinhalten auch einen Schuldvorwurf: Sie wirken "außerhalb der
Straftat", da sie lediglich die Strafbarkeit aus unterschiedlichsten Gründen
der Opportunität, wie z.B. den persönlichen Verhältnissen des Täters, seinem
Verhalten nach der Tat oder seiner Beziehung zum Opfer, ausschließen. Bedenkt man, daß in diese "Kategorie" nach der Auffassung einiger die Immunität, der Rücktritt vom Versuch, die wechselseitig begangenen Beleidigungen, der Familiendiebstahl etc. fallen, so ist sofort ersichtlich, daß die
einzige Gemeinsamkeit in dem Ausschluß der Strafbarkeit besteht.
Angesichts dieser absoluten Heterogenität ist es jedoch auch schwierig, die
Entschuldigungsgründe präzise einzuordnen: Ist die Strafbarkeit bei einem
Delikt aus Gründen, die die Person des Täters betreffen, ausgeschlossen, so
läßt sich nur schwer mit Sicherheit sagen, ob es sich um ein Problem der
Schuld oder des Tatbestands handelt. Es wäre jedenfalls willkürlich, aus
dogmatischen Bezugspunkten irgendwelche Schlußfolgerungen zu ziehen,
insbesondere, wenn diese unsicher sind. Unseres Erachtens ist vielmehr von
Art. 59 auszugehen, der den präzisen gesetzgeberischen Willen auszudrücken scheint, alle Strafausschließungsgründe ein und derselben Regelung
zu unterwerfen. Nachdem bereits untersucht wurde, wie sich die in dieser
Vorschrift enthaltenen Grundsätze auf die Rechtfertigungsgründe auswirken,
wäre es auch hier nötig, die übrigen Strafausschließungsgründe Fall für Fall
zu prüfen. Da dies jedoch nicht möglich ist, beschränken wir uns auf eine
beispielhafte Darstellung einiger Gründe, die als zur Schuld gehörend betrachtet werden, sowie eines speziellen Strafausschließungsgrundes.
2. Sofern sie objektiv vorliegen, finden alle Strafausschließungsgründe
auch bei fehlender Kenntnis oder Irrtum des Täters Anwendung. Es sei an
dieser Stelle wiederholt, daß Art. 59 Abs. 1, ebenso wie bei den Rechtfertigungsgründen (siehe oben V.2.), auch die Struktur der anderen Strafausschließungsgründe nicht berührt.
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
339
Auch versteht sich von selbst, daß, wenn das Gesetz von besonderen Situationen, die "den Täter betreffen", spricht, diese Betroffenheit vorliegt oder
nicht vorliegt.
Ein Umstand, den viele zu den Entschuldigungsgründen rechnen, findet sich
in Art. 59 Abs. 2, welcher bestimmt, daß straflos ist, wer "aus Wut über eine
ungerechte Behandlung und in unmittelbarem Anschluß daran" einen anderen beleidigt oder verleumdet. Die Provokation, die einen allgemeinen Milderungsgrund darstellt (Art. 62 Nr. 2), wird bei einigen Straftaten gegen die
persönliche Ehre zum Strafausschließungsgrund, da diese nicht besonders
schwer wiegen und die ungerechte Behandlung durch den anderen eine rein
verbale Reaktion teils rechtfertigt und im übrigen entschuldigt.
Hier ließe sich (unter Schwierigkeiten) das Beispiel konstruieren, daß der auf
eine objektiv ungerechte Behandlung reagierende Täter nur den verletzenden
Charakter, nicht aber die Ungerechtigkeit des Verhaltens des anderen erkennt (oder erkennen kann); Art. 59 Abs. 1 enthält eine klare Entscheidung
für die Straflosigkeit in diesem Fall, da die Ungerechtigkeit objektiv vorlag.
Betrachten wir, weiterhin auf demselben Gebiet, die Strafvereitelung zugunsten eines nahen Angehörigen. Art. 384 sieht unter anderem vor, daß
dieses Delikt nicht strafbar ist, wenn der Täter aus der "Notwendigkeit, einen
nahen Angehörigen vor einem schweren und unvermeidlichen Schaden an
Freiheit oder Ehre zu bewahren", gehandelt hat. Wie verhält es sich also,
wenn A den B dabei unterstützt, sich Ermittlungen zu entziehen, ohne zu
wissen, daß dieser sein Vater oder Bruder ist? Die negative Antwort der
herrschenden Meinung stützt sich auf die Ratio dieser Vorschrift, bei deren
Auslegung jedoch Art. 59 nicht berücksichtigt wird.
Untersuchen wir nun einen Fall der Straflosigkeit, der sicherlich nicht den
Entschuldigungsgründen zuzurechnen ist: den Familiendiebstahl (Art. 649).
Wenn A den B bestiehlt, ohne zu wissen, daß es sich um seinen Vater handelt, ist er gemäß Art. 59 Abs. 1 nicht strafbar, da die Straflosigkeit in jedem
Fall der ratio legis entspricht.
3. Betrachten wir die eben untersuchten Fälle der Straflosigkeit nun in bezug auf Art. 59 Abs. 3: "Hält der Täter irrig strafausschließende Umstände
für gegeben, so wirken diese immer zu seinen Gunsten."
340
Alfonso M. Stile
Beleidigt A den B aus Wut über eine vermeintlich ungerechte Behandlung,
so führt das Fehlen einer objektiven Voraussetzung des "Entschuldigungsgrundes" aufgrund Art. 59 Abs. 3 nicht zu dessen Unanwendbarkeit. Auch
wenn es sich nicht um einen Rechtfertigungsgrund handelt, bestätigt die
Einheitlichkeit der Regelung des Art. 59 auch hier das allgemeine Prinzip,
gemäß dem auch die irrige Annahme strafausschließender Umstände zur
Straflosigkeit führt.
Zum selben Ergebnis gelangt man in dem von Art. 384 Abs. 1 vorgesehenen
Fall, daß der Täter einen anderen bei der Flucht unterstützt, den er irrig für
seinen Sohn hält. In diesen Fällen besteht keinerlei (zu überwindender) Gegensatz zwischen rechtlicher Regelung und vorweggenommener ratio legis.
Sehr umstritten ist die Strafbarkeit des Diebstahls, wenn der Täter glaubt,
einen nahen Angehörigen zu schädigen. Der Irrtum kann das Eigentum an
der Sache oder die Verwandtschaftsbeziehung betreffen (nicht dagegen die
juristische Qualifikation: Irrtum über die Grenzen der Strafnorm).
Die Ablehnung einer entschuldigenden Wirkung durch einen Teil der Lehre,
die sich auf die vermeintliche Ratio dieses Strafausschließungsgrundes
stützt, erscheint nicht überzeugend. Man argumentiert, wenn dieser Ausschlußgrund außerhalb des Tatbestands wirke und Rechtswidrigkeit und
Schuld unberührt lasse, könne dessen vermeintliches und tatsächliches Vorliegen keinesfalls gleichgesetzt werden. Die irrige Annahme, die eigenen Eltern zu bestehlen, könne nicht die kriminalpolitischen Gründe für ein Absehen von der Strafe entfallen lassen (diese sind in Wirklichkeit relativ diffus:
ethisch-vermögensrechtliche Motive, gemeinsame wirtschaftliche Interessen,
Störung der familiären Beziehungen etc.).
Hiergegen läßt sich sogleich einwenden, daß die Tatsache, daß der Sohn den
eigenen Vater und nicht einen Fremden bestehlen will, möglicherweise bedeutet, daß er dies nur tut, da er sowohl auf die Toleranz des Betroffenen als
auch auf die Toleranz der Rechtsordnung zählt, die sein Verhalten bei Vorliegen einer echten Verwandtschaftsbeziehung in der Tat auch duldet. Dies
darf a priori nicht übersehen werden.
Passender ist der Rückgriff auf Art. 59 Abs. 3, insoweit dieser im Falle des
Irrtums eine eventuelle Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung unberührt
läßt. Bei Strafausschließungsgründen, die auf reinen Opportunitätserwägun-
Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß
341
gen beruhen, wie etwa Art. 649, ergäbe sich die Unbeachtlichkeit des Irrtums
über das Eigentum an der Sache daraus, daß dieser nicht den Vorsatz ausschließt.
Auch dieses Argument kann nicht überzeugen. Angenommen, die Vorsätzlichkeit des Diebstahls ist im genannten Beispiel unstreitig, so kann der normalerweise unbeachtliche Irrtum über das Eigentum an der Sache im Einzelfall dennoch als beachtlich gelten: Nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv die eigenen Eltern zu bestehlen, kann eine andere Bedeutung haben als
ein Diebstahl zum Nachteil eines Fremden.
Wenn im übrigen eine entsprechende Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung vorgesehen ist, so läge diese im Falle fahrlässigen Irrtums vor.
4. Zur Möglichkeit, daß die irrige Annahme von (die Schuld oder andere
und speziellere kriminalpolitische Gesichtspunkte betreffenden) Strafausschließungsgründen eine Verantwortlichkeit wegen fahrlässiger Begehung
unberührt läßt, sei noch das Folgende ausgeführt:
Wie bereits mehrmals erwähnt, sieht das italienische Strafrecht weder den
entschuldigenden Notstand noch andere Entschuldigungsgründe allgemeinerer Art vor. In Ermangelung von Entsprechungen im positiven Recht ist es
daher nicht einfach, Beispiele für einen fahrlässigen Irrtum zu finden, der
eine Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit bestehenbleiben läßt. In der Theorie
dürfte es jedoch keine Anpassungsprobleme geben: Der Irrtum kann sich nur
auf eine tatsächliche Voraussetzung oder auf die schuldausschließende Situation beziehen; die vorsätzliche (und rechtswidrige) Tat ist schuldlos; die
rechtswidrige fahrlässige Tat ist schuldhaft. Im Fall eines entschuldigenden
Notstands kann man dem Täter keinen Vorwurf daraus machen, daß er eine
Person töten wollte, da er in dieser Situation, wenn sie tatsächlich vorgelegen hätte, entschuldigt gewesen wäre (der Irrtum erlaubt es nicht, die Tat
als vorsätzlichen und schuldhaften Totschlag zu qualifizieren); umgekehrt
kann man dem Täter jedoch vorwerfen, daß er, obwohl dies bei gebotener
Sorgfalt möglich war, die Situation richtig erkannt hat und er damit einen
fahrlässigen Totschlag begangen hat.
5. Unseres Erachtens ist die Entscheidung für eine einheitliche Regelung
aller Strafausschließungsgründe durchaus nicht zufällig. Die objektivistische
Logik, auf der Art. 59 Abs. 1 basiert, ist unstreitig dieselbe, die das gesamte
342
Alfonso M. Stile
Strafgesetzbuch prägt (so sind das Wahndelikt [Art. 49] und der untaugliche
Versuch [Art. 56] straflos). Auch die Art. 59 Abs. 3 zugrundeliegende Logik
findet sich im gesamten System: Die irrige Annahme, eine Tat zu begehen,
die, so wie sie der Täter sich vorstellt, aus einem wie auch immer gearteten
Grund nicht strafbar wäre, schließt jenes versari in re illicita aus, gegen das
das Strafgesetzbuch von 1930 mit besonderer Schärfe vorgeht und welches
es sicherlich nicht straflos gelassen hätte.
Gemeinsamer Ursprung ist eine formalistische, heute sicherlich überholte
Gehorsamsethik, die neben Regelungen von inakzeptabler Härte auch (auf
der Grundlage formaler Gegebenheiten) solche von wohl übermäßiger Milde
vorsieht.
Der zur Betonung der Rolle des Art. 59 angeführte Gesichtspunkt der Wahrung der Legalität darf daher nicht als Verteidigung eines Systems verstanden werden, das mehr und mehr Unzulänglichkeiten aufweist.
DER DURCH GEISTESKRANKHEIT BEDINGTE IRRTUM:
EIN UNGELÖSTES PROBLEM
Andrea R. Castaldo, Urbino
1.
Die Gründe für den unglücklichen methodologischen Ansatz
Die Problematik des Irrtums des Schuldunfähigen zählt zu den von der Strafrechtswissenschaft traditionell wenig geliebten Fragen. Die Kombination
von zwei Elementen (Irrtum und Schuldfähigkeit), deren systematische Einordnung umstritten ist, sowie die damit zusammenhängende Unsicherheit
hinsichtlich ihres Inhalts sind vermutlich der Grund für diese Haltung. Die
Verlegenheit von Lehre und Rechtsprechung wurzelt vor allem in der ebenso
beharrlichen wie wenig erfolgversprechenden Suche nach einem Ausgleich
zwischen der Notwendigkeit des Schutzes der Allgemeinheit und der Respektierung der klassischen Dogmatik. Wenn auch nur wenig Literatur zu
diesem Thema existiert, so drängt sich doch der Eindruck auf, daß ein methodischer Ausgangsfehler vorliegt: Eine aufgrund außerrechtlicher Kriterien
für unumstößlich gehaltene Schlußfolgerung wird als gegeben vorausgesetzt
und die betroffenen Kategorien des Allgemeinen Teils werden ihr angeglichen.
Dies zeigt sich unmittelbar bei dem durch Geisteskrankheit bedingten Irrtum
(sogenannter krankheitsbedingter oder spezifischer Irrtum), wo diese Unstimmigkeiten aufgrund der Schwierigkeit der Materie fast immer verschwiegen oder allenfalls mit übergeordneten - und unangreifbaren - Kriterien der Gerechtigkeit begründet werden.
2.
Krankheitsbedingter und allgemeiner Irrtum: Differenzierungskriterien und unterschiedliche Wirkung nach der herrschenden
Meinung
Bekanntlich umfaßt der krankheitsbedingte Irrtum die Fälle, in denen der
Schuldunfähige die Tat aufgrund eines Irrtums begeht, der auf seiner Gei-
344
Andrea R. Castaldo
steskrankheit beruht. Schulbeispiel: A, der an Verfolgungswahn leidet, hält
den harmlosen Passanten B für einen Angreifer und tötet ihn in vermeintlicher Notwehr. A entschließt sich also zu dem (mangels Vorliegens der Notwehrvoraussetzungen) objektiv verbotenen Verhalten, da er es subjektiv aufgrund seiner verfälschten Wahrnehmung der Wirklichkeit - für erlaubt
hält. Die Krankheit berührt nicht seine Fähigkeit, die rechtliche Bedeutung
seines Verhaltens zu verstehen und den Angriff auf B für gerechtfertigt zu
halten.1
Die italienische Lehre neigt hier im allgemeinen dazu, dem Irrtum des
Schuldunfähigen keinerlei Bedeutung beizumessen, es sei denn, ein schuldfähiger Täter wäre diesem Irrtum nicht erlegen (sogenannter allgemeiner
Irrtum).2 Die Rechtsprechung scheint, wenn auch nur wenige Entscheidungen existieren, dieselbe Linie zu verfolgen.3
Die Unterscheidung zwischen krankheitsbedingtem und allgemeinem Irrtum erweist sich jedoch als keineswegs einfach. Wenn die Abgrenzung anhand eines subjektiven Kriteriums vorgenommen wird (eine schuldfähige
Person wäre unter gleichen Umständen nicht dem Irrtum erlegen), so läuft
man bei dem Vergleich Gefahr, sich in den Windungen der psychischen
Prozesse des Geisteskranken zu verlieren und zu einer Willkürentscheidung
zu gelangen. Wählt man dagegen den Weg eines objektiven Kriteriums, indem man auf äußere, von den konkreten Umständen abhängende Elemente
abstellt,4 so ist dies zweifellos die formal korrekte Methode. Auch diese Lö1
2
3
4
In der Praxis hat die Putativnotwehr nur dann rechtfertigende Wirkung, wenn objektive Indizien für das Vorliegen einer Fehlvorstellung des Täters existieren; vgl. Cass.
14.1.1987, Riv.pen. 1988, 88; Cass. 10.2.1987, Riv.pen. 1988, 745; Cass. 5.11.1987,
Riv.pen. 1988, 740. Es ist offensichtlich, daß diese restriktive Tendenz auf dem Anliegen beruht, den tatsächlichen Verteidigungswillen des Täters - in beweisrechtlicher
Hinsicht - an konkrete Umstände zu knüpfen, um eine rein subjektive - und damit verschwommene - Konstruktion des Tatbestandes zu verhindern. Abgesehen von der
Richtigkeit dieser Gesetzesauslegung - Art. 59 Abs.3 C.p. ("Hält der Täter irrtümlich
strafausschließende Umstände für gegeben, so werden diese immer zu seinen Gunsten
berücksichtigt") enthält keinerlei Hinweise in diese Richtung - läßt sich das angeführte
Beispiel jedoch unschwer entsprechend der herrschenden Meinung abändern.
Vgl. Pulitanò, in: Crespi/Stella/Zuccalá (Hrsg.), Commentario breve al Codice Penale,
1986, S. 119; Fornari, ebda., S. 411; Mantovani, Diritto Penale. Parte Generale, 2.
Aufl. 1988, S. 344 f. Die Unterscheidung findet sich auch in der älteren Literatur: vgl.
Piacenza, Sc.pos. 1948, 429; derselbe, Giust.pen. 1949, II, Sp. 129.
Vgl. Cass. 19.6.1967, Cass.pen. 1968, 727; Cass. 21.11.1973, Mass.dec.pen. 1974, 772;
Cass. 17.2.1975, Riv.pen. 1976, II, 62. Zweideutig Cass. 12.1.1960, RIDPP 1960, 1245 f.
So Bricola, Fatto del non imputabile e pericolosità, 1961, S. 208 ff. Zur Schwierigkeit
der Abgrenzung vgl. Roeder, Festschrift für Rittler, 1957, S. 236.
Der durch Geisteskrankheit bedingte Irrtum
345
sung kann jedoch nicht die Notwendigkeit umgehen, die tatsächliche Situation mit der psychologischen Einstellung des Täters zu vergleichen, und so
fällt man in einen circulus vitiosus.
In Ermangelung einer präzisen gesetzlichen Regelung werden die in bezug
auf den Irrtum getroffenen Schlußfolgerungen auf kriminalpolitische Erwägungen gestützt. Die Argumentation ist denkbar einfach: Würde man den
Irrtum des Schuldunfähigen nach den allgemeinen Grundsätzen beurteilen,
so müßte man das Vorliegen einer Straftat verneinen, mit der Konsequenz,
daß die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus im Rahmen einer
Maßregel der Besserung und Sicherung nicht möglich wäre. Nach italienischem Recht werden Maßregeln der Besserung und Sicherung bei sozial gefährlichen5 Personen verhängt, die "eine Straftat nach dem Gesetz begangen
haben";6 insbesondere Art. 222 C.p. regelte in seiner ursprünglichen Fassung, daß nach einem Freispruch wegen Geisteskrankheit die Einweisung in
ein psychiatrisches Krankenhaus für eine Frist zu erfolgen habe, die im wesentlichen von der Schwere der begangenen Tat abhing.7
3.
Kritische Anmerkungen
Trifft es zu, daß die dargestellte Lösung die einzige ist, die "den rechtlichen
Erfordernissen entspricht", die einzige, die sich mit der "ratio des Art. 222
C.p."8 vereinbaren läßt? Vor allem aus methodologischer Sicht ist es nicht
5
6
7
8
Die Definition findet sich in Art. 203 C.p. Sie stellt in erster Linie auf die Wahrscheinlichkeit der Begehung neuer Straftaten ab.
Art. 202 C.p. Eine Ausnahme gilt allein für die Quasi-Delikte: untauglicher Versuch
(reato impossibile, Art. 49 C.p.) sowie nicht ausgeführte Verbrechensverabredung oder
erfolglose Anstiftung (Art. 115 C.p.).
Mit Urteil vom 27.7.1982 N.139 (RIDPP 1982, 1584 ff., mit Anm. Musco) hat die
Corte Costituzionale klargestellt, daß unverzichtbare Voraussetzung für die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung die Feststellung der Allgemeingefährlichkeit zum Zeitpunkt der tatsächlichen Verhängung ist. Zur Rechtsprechung auf
diesem Gebiet sei verwiesen auf Flora (Hrsg.), Le nuove norme sull'ordinamento penitenziario, L. 10 ottobre 1986, N. 663, 1987, S. 60 ff. Das Gesetz vom 10.10.1986
N. 663 hat durch die Aufhebung von Art. 204 C.p. tatsächlich alle Fälle der vermuteten Allgemeingefährlichkeit beseitigt. In jüngster Zeit hat der Kassationshof erneut
betont, daß bei der Annahme, es handle sich um einen Gewohnheitstäter, das gegenwärtige Vorliegen einer Allgemeingefährlichkeit überprüft werden muß (Cass.
17.10.1988, Cass.pen. 1989, 1733, mit Anm. Russo).
So Pagliaro, Principi di Diritto Penale. Parte Generale, 3. Aufl. 1987, S. 424; derselbe,
Il fatto di reato, 1960, S. 377 ff. Ähnlich Fiandaca/Musco, Diritto penale. Parte generale, 2. Aufl. 1989, S. 280 f.
346
Andrea R. Castaldo
korrekt, die gesetzliche Lücke hinsichtlich des krankheitsbedingten Irrtums
unter Berufung auf die Notwendigkeit des Schutzes der Allgemeinheit zu
schließen. Das Fehlen einer ausdrücklichen Regelung der Frage zeigt den
Willen des Gesetzgebers, nicht durch eine lex specialis einzugreifen, und
läßt die herkömmliche Dogmatik völlig unberührt. Daher überrascht der Versuch, das Schweigen des Gesetzes als Beweis für eine konkludente Aufhebung der Institute des Allgemeinen Teils zu werten.
Eine solche Argumentation wäre allenfalls insoweit akzeptabel, als sie nicht
die innere Kohärenz des Systems beeinträchtigt, vor allem aber nicht zu unbilligen Ergebnissen für den Geisteskranken führt. Doch dies ist nicht der
Fall. Untersuchen wir kurz die erwähnten Aspekte.
a)
Der "Vorsatz" des Schuldunfähigen
Die herrschende Meinung geht davon aus, daß ein dem Vorsatz oder der
Fahrlässigkeit ähnliches subjektives Element mit der psychischen Struktur
des Geisteskranken vereinbar ist. Hinsichtlich des Vorsatzes nimmt man an,
daß der Schuldunfähige einen bestimmten Erfolg wollen und sich damit in
einer Situation des Pseudo-Vorsatzes befinden kann.9 Da nach einer heute
verbreiteten Ansicht der Vorsatz als Element des Wissens und Wollens in
den Bereich der Tatbestandsmäßigkeit vorgezogen wird,10 führen die Regeln
der allgemeinen Verbrechenslehre zum Ausschluß des Vorsatzes (und damit
des strafbaren Unrechts) wegen Irrtums über den Tatbestand und damit zur
Unmöglichkeit, Maßregeln der Besserung und Sicherung zu verhängen.
Die Ähnlichkeit des psychischen Elements beim Geisteskranken und bei dem
voll Schuldfähigen, die über das reine Vorhandensein eines Vorsatzes in natürlichem Sinne11 hinausgeht, fügt sich im übrigen ohne weiteres in die
Struktur des geltenden Strafgesetzbuchs ein. Die Art. 222 und 224 C.p. verknüpfen die Dauer der Maßregel der Besserung und Sicherung mit der
Schwere der Tat. Zu deren Elementen zählt unter anderem die Intensität des
Vorsatzes (Art. 133 C.p.); hieraus ergibt sich, daß der Richter nicht von der
9
10
11
Ausführlich Bricola (Anm. 4), S. 183 ff. Dagegen Petrocelli, La colpevolezza, 2. Aufl.
1951, S. 100 f. Eine Erwiderung hierauf bei Gallo, Stichwort "Capacità penale",
Nov.Dig.it. 1958, II, S. 888.
Vgl. Fiandaca/Musco (Anm. 8), S. 163 ff.
So aber Bettiol/Pettoello Mantovani, Diritto Penale, 12. Aufl. 1986, S. 474 f.
Der durch Geisteskrankheit bedingte Irrtum
347
Feststellung absehen kann, ob der Schuldunfähige die Tat vorsätzlich oder
fahrlässig begangen hat.12
Aber auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten wäre es kaum vertretbar,
dem Geisteskranken nicht die prozessualen Vorteile zuzubilligen, die ein
Schuldfähiger genießt (man denke an Zufall oder Strafausschließungsgründe), und jenen automatisch wegen Schuldunfähigkeit freizusprechen. Die
Rechtsprechung zeigt sich für diese Argumente empfänglich und hat mehrmals die Eigenständigkeit der Feststellungen zum Vorsatz gegenüber denen
zur Schuldfähigkeit betont.13
Wenn man also einen, wenn auch besonders gearteten Vorsatz des Geisteskranken anerkennt, ohne daß deshalb die Verbrechenssystematik geändert
werden müßte, so ist nicht einzusehen, weshalb der Irrtum plötzlich unbeachtlich sein soll. Mit anderen Worten: Entweder geht man davon aus, daß
die Institute des Allgemeinen Teils grundsätzlich auf den Schuldunfähigen
unanwendbar sind (d.h. es gibt bei ihm keine vorsätzliche Tatbestandserfüllung), oder man einigt sich auf die Unabdingbarkeit der allgemeinen Regeln auch in diesem Fall.
Es darf nicht übersehen werden, daß man durch die Verneinung der Beachtlichkeit des krankheitsbedingten Irrtums im Ergebnis eine Regelung
schafft, die zuungunsten des Täters von Art. 47 Abs. 1 C.p. abweicht und zur
Verhängung von Maßnahmen der Besserung und Sicherung "außerhalb der
vom Gesetz vorgesehenen Fälle" (Art. 199 C.p.) führt. Dies läßt die Verfassungsmäßigkeit der geschilderten Ansicht als fraglich erscheinen.
b)
Die angebliche Gefährlichkeit des Geisteskranken
Man wendet ein, daß allein diese Lösung die Gesellschaft vor der Gefährlichkeit des Täters schützen könne. Dieses Argument, so bestechend es klingen mag, erweist sich jedoch als wenig tragfähig.
Greifen wir den eingangs genannten Fall wieder auf: Der paranoide A hält
einen Passanten für seinen Verfolger und tötet ihn. Die Anordnung einer
12
13
Vgl. Crespi, Stichwort "Imputabilità" (dir.pen.), Enc.dir., 1970, XX, S. 766 f.
Cass. 19.11.1971, Cass.pen. 1973, 94; Cass. 17.1.1972, Cass.pen. 1973, 527; Cass.
3.5.1974, Giust.pen. 1975, II, Sp. 277. Vgl. außerdem Virgilio in: Bricola/Zagrebelski
(Hrsg.), Codice Penale. Parte Generale, 1984, II, S. 853 ff.; Giov. De Francesco, ebda., III, S. 1534 ff.
348
Andrea R. Castaldo
Maßregel der Besserung und Sicherung wirft keine Probleme auf, wenn man
unter Mißachtung der gesetzlichen Vorschriften die Einweisung in ein
psychiatrisches Krankenhaus einfach auf die Gefährlichkeit des Täters stützt.
Aber gerade die dogmatische Konstruktion, in die man den krankheitsbedingten Irrtum einfügen will, zwingt zur Überprüfung der axiomatischen Annahme einer tatsächlichen Gefährlichkeit des Schuldunfähigen.
Dieser handelt nach herrschender Lehre mit Pseudo-Vorsatz. Wenn man nun
aber, etwas gezwungen, in dem abnormen Wissen und Wollen des Taterfolges das Spezifische an der Situation sieht, so muß man erkennen, daß in
dem erörterten Fall der Täter nicht irgendeine Person verletzen will, sondern
allein seinen vermeintlichen Verfolger. Dieser Umstand darf bei der Gefährlichkeitsprognose nicht außer acht bleiben.
Vergleichen wir mit diesem Fall zunächst das Verhalten eines geistig gesunden Täters, der irrtümlich das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes annimmt: Nach Art. 59 Abs. 3 C.p. entfällt hier die Strafbarkeit mangels Vorsatzes. Wenn also A irrtümlich annimmt, B wolle ihn angreifen, und ihn in
vermeintlicher Notwehr tötet, so wird die strafrechtliche Verantwortlichkeit
unabhängig von seiner psychischen Verfassung verneint.14
Dies zeigt sich noch deutlicher in einer weiteren Fallvariante: Der unter Verfolgungswahn leidende A tötet seinen Tischgenossen, den er für den gedungenen Mörder hält, genau in dem Moment, in dem ihm dieser Gift ins
Essen gibt. Da es ausreicht, daß der Rechtfertigungsgrund objektiv vorliegt,15 besteht kein Zweifel daran, daß wegen des Vorliegens einer Notwehrsituation kein Unrechtstatbestand verwirklicht ist. Dies verbietet jede
Art des Eingriffs durch Strafen oder Maßregeln. Und dennoch ist die Gefährlichkeit des Schuldunfähigen dieselbe wie in unserem Beispiel: Die Tötung des Opfers erfolgte aufgrund einer krankhaft verzerrten Wirklichkeits14
15
Zwar bleibt die Möglichkeit einer Strafbarkeit wegen fahrlässigen Handelns, doch ändert dies nichts daran, daß das Strafrecht Umstände vorsieht, unter denen die Gefährlichkeit des Täters (ein ähnlicher Vorfall kann sich jederzeit wiederholen) kein spezifisches Pendant auf der Ebene der freiheitsbeschränkenden oder therapeutischen Maßnahmen hat. Dies erklärt die restriktive Haltung der Rechtswissenschaft in bezug auf
die Voraussetzungen, unter denen die fälschliche Annahme eines Rechtfertigungsgrundes rechtfertigend wirkt (vgl. Anm. 1).
"Die strafmildernden oder strafausschließenden Umstände wirken auch dann zugunsten des Täters, wenn dieser von ihnen keine Kenntnis hatte oder sie irrtümlich für
nicht gegeben hielt." (Art. 59 Abs. 1 C.p. in der neuen Formulierung gemäß Gesetz
vom 7.2.1990, Nr. 19). Zu den Auswirkungen der - im wesentlichen ähnlichen - früheren Fassung auf die systematische Eigenständigkeit der Rechtswidrigkeit vgl. Vassalli,
Festschrift für Jescheck, Bd. I, 1985, S. 437.
Der durch Geisteskrankheit bedingte Irrtum
349
wahrnehmung, während das objektive Vorliegen der Notwehrvoraussetzungen völlig unbekannt war. Wenn daher das kriminalpolitische Anliegen, gefährliche Geisteskranke nicht frei herumlaufen zu lassen, begründet wäre, so
müßte man auch in diesem Fall die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt anordnen, denn es besteht die konkrete Möglichkeit einer Wiederholung
der Tat, die dann nicht mehr zufällig gerechtfertigt wäre. Dies ist jedoch wegen Fehlens einer Straftat nicht möglich, und so zeigt sich klar, daß die Lösung derjenigen Autoren, die aus Angst vor Lücken im Strafrechtssystem die
Beachtlichkeit des krankheitsbedingten Irrtums verneinen, dem Strafgesetz
selbst widerspricht. Und dies gerade aus der richtigen Einstellung heraus, die
dem Aspekt der konkreten Rechtspflichtverletzung gegenüber der verzerrten
Sicht des Schuldunfähigen den Vorzug gibt.
Eine letzte Bemerkung: Die Diskussion der Problematik am Beispiel des
Totschlags führt die möglichen Folgen einer Unanwendbarkeit von Maßregeln der Besserung und Sicherung besonders deutlich vor Augen. Die Frage
wirkt sich jedoch nicht minder bei weniger schwerwiegenden Delikten aus,
z.B. bei der Beleidigung. Wenn ein Geisteskranker jemanden einer Straftat
bezichtigt, den er aufgrund seiner Bewußtseinsstörung tatsächlich für schuldig hält, so wäre die Verhängung einer Maßregel nach einem Freispruch wegen Schuldunfähigkeit (und der damit zusammenhängenden Unbeachtlichkeit des Irrtums) unverhältnismäßig. Nicht ohne Grund geht die Rechtsprechung16 davon aus, daß in solchen Fällen nicht wegen Schuldunfähigkeit,
sondern mangels einer Straftat freizusprechen ist - ein Beweis für den offensichtlichen Einfluß emotionaler Momente bei der Beurteilung des "Gewichts" des krankheitsbedingten Irrtums.
4.
Gesetzesänderungen und neueste Entwicklungen in der Psychiatrie
Die Problematik ist jetzt im Lichte von inzwischen erfolgten Gesetzesänderungen von Grund auf neu zu überdenken. Zum einen wurde die Vermutung der sozialen Gefährlichkeit schuldunfähiger Straftäter völlig aufgehoben; somit entfiel die automatische Einweisung in eine psychiatrische Anstalt bei Freispruch wegen Schuldunfähigkeit, die wegen ihres autoritären
Charakters verständliches Unbehagen hervorgerufen hatte. Zum anderen
hatte die Anerkennung des auf Geisteskrankheit beruhenden Irrtums nach
16
Cass. 9.11.1967, Foro it. 1968, II, 233; Trib. Cuneo 30.4.1969, Sc.pos. 1968, 481;
dagegen Cass. 19.6.1967, Cass.pen. 1968, 727.
350
Andrea R. Castaldo
der Rechtslage bei Inkrafttreten des Codice Rocco keine weitreichenden Folgen. Wenn auch die Verhängung von Maßregeln der Besserung oder Sicherung nicht möglich war, so blieb doch die Alternative der Zwangseinweisung.17 Die für das System kennzeichnende Mentalität des Verwahrungsvollzugs und die als grundlegende Legitimation herangezogene Notwendigkeit
des Schutzes der Allgemeinheit lassen sich auf die überflüssige Institution
der psychiatrischen Anstalten der Justiz (L. 36/1904; R.D. 615/1909) zurückführen, die von den Vertretern des Rechtspositivismus beim Erlaß des
Strafgesetzbuchs von 1889 befürwortet wurde. Ursprünglich sah das Gesetz
im Falle eines Freispruchs wegen Schuldunfähigkeit die Überweisung an die
zuständige Behörde (die Eltern oder eine Verwaltungsbehörde) vor.18 Erst
infolge des Gesetzes 180/1978, das die psychiatrischen Anstalten für schädlich erklärte, entstand dann ein Vakuum.
Die Entwicklung der gesetzlichen Regelung spielt eine wichtige Rolle, da sie
eine neue Einstellung der Psychiatrie zur Geisteskrankheit aufzeigt. Man
kann - bei aller Unsicherheit im einzelnen - feststellen, daß das Dogma von
der sozialen Gefährlichkeit des Geisteskranken, jedenfalls in seiner Absolutheit, endgültig aufgegeben ist. Abgesehen von der Wirkungslosigkeit "aktiver" Absonderungsmaßnahmen hat sich gezeigt, daß gerade der zwischenmenschliche Kontakt, die Verantwortlichkeit des Kranken in einzelnen Bereichen zu besseren Ergebnissen führt, und zwar auch unter dem Aspekt des
Schutzes der Gesellschaft.
Es verwundert daher nicht, daß die Strömung, welche die Kategorie der
Schuldunfähigkeit abschaffen will, immer breitere Zustimmung erfährt. Für
sie sprechen zahlreiche Argumente. Abgesehen von der extremen Ungenauigkeit der Gefährlichkeitsprognosen erweist sich die Möglichkeit, denselben Schutz der Gesellschaft durch die für schuldfähige Täter geschaffenen Sanktionen, wenn auch in besonderer und abgeschwächter Form,19 zu
17
18
19
Diesen Aspekt betont Crespi (Anm. 12), S. 768, der auf die Art. 153 t.u.p.s. und 273
reg.p.s. verweist, die durch Art. 11 des Gesetzes vom 13.5.1978, Nr. 180, stillschweigend aufgehoben wurden; siehe auch Antolisei, Manuale di Diritto Penale. Parte Generale, 11. Aufl. 1989, S. 286 Fn. 7.
Art. 47 C.p. 1889: "... sofern er die Freilassung des freigesprochenen Angeklagten für
gefährlich hält, ordnet der Richter dennoch dessen Überweisung an die für die gesetzlichen Maßnahmen zuständige Behörde an". Vgl. hierzu Fornari/Rosso, Libertà morale, infermità di mente e forza irresistibile nella psichiatria italiana dell'ottocento, in:
Ceretti/Merzagora (Hrsg.), Criminologia e responsabilità morale, 1990, S. 83 ff.
Vgl. die ausführliche Untersuchung bei Fioravanti, Le infermità psichiche nella giurisprudenza penale, 1988, S. 139 ff., 148, 154 ff.
Der durch Geisteskrankheit bedingte Irrtum
351
erreichen, als ein wertvoller Verbündeter. Auch spricht das extreme Mißtrauen gegenüber den psychiatrischen Krankenhäusern der Justiz, deren
Scheitern als therapeutisch resozialisierende Einrichtung allen vor Augen ist,
für deren Abschaffung, vor allem im Hinblick auf den Widerspruch zu den
Art. 27 Abs. 3 und 32 Abs. 2 der italienischen Verfassung.20
Art. 100 D.P.R. 131/1976 scheint sich allerdings in diese Richtung zu bewegen, indem er den Strafvollzugsbehörden die Möglichkeit eröffnet, "mit zivilen psychiatrischen Krankenhäusern Verträge über die Aufnahme von Personen, die psychiatrischen Krankenhäusern der Justiz zugewiesen sind, zu
schließen, nach vorheriger Absprache mit der zuständigen Region und gemäß den Anweisungen des Gesundheitsministeriums". Die Überwindung der
Barriere zwischen geisteskranken und schuldfähigen Tätern findet schließlich ihre volle Bestätigung in dem am 29.9.1983 im Senat eingebrachten
Gesetzentwurf Nr. 177,21 der eine einheitliche Strafdisziplin schafft und lediglich in der Phase des Vollzugs eine unterschiedliche Behandlung vorsieht.22
Gegenüber dem geschilderten Modell erweist sich die Auffassung, die die
Beachtlichkeit des krankheitsbedingten Irrtums verneint, als relativ anachronistisch. Ihre einzige Stütze, die angenommene Gefährlichkeit des Schuldunfähigen, widerspricht den neuesten Erkenntnissen der Psychiatrie, die diese
Annahme als eine zu Zwecken der Absonderung mißbrauchte Fiktion bezeichnet.23 In diesem Bereich, in dem die Heranziehung der, wenn auch
funktionell für die Rechtswissenschaft gefilterten "Hilfswissenschaften" unverzichtbar bleibt, ist es daher äußerst problematisch, die künstliche Trennung zwischen Irrtum des Schuldfähigen und Irrtum des Geisteskranken
aufrechtzuerhalten.
5.
Vor- und Nachteile der deutschen Lösung
Eine vorschnelle Erledigung des Themas des krankheitsbedingten Irrtums
aufgrund von "Einbahn-Lösungen" sowie eine allgemeine Unzufriedenheit
20
21
22
23
Vgl. Padovani, Tommaso Natale 1978, S. 852 ff.
Mit Erläuterung veröffentlicht in Quest.Giust. 1984, II, S. 705 ff.
Ausführlich hierzu Bertolino, RIDPP 1988, 263 ff. mit interessanten rechtsvergleichenden Ausblicken; Fioravanti (Anm. 19), S. 3 f. Fn. 8.
Vgl. Molinari, Del.pen. 1987, 315.
352
Andrea R. Castaldo
in diesem Bereich zeigt auch ein Blick auf das deutsche Strafrecht, das dem
italienischen in systematischer Konstruktion und dogmatischer Tradition am
nächsten steht.
Gemäß § 63 dt.StGB ordnet der Richter die Unterbringung des schuldfähigen oder vermindert schuldfähigen Täters in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn dieser eine rechtswidrige Tat begangen hat und darüber
hinaus für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die Möglichkeit, statt dessen die
Einweisung in eine sozialtherapeutische Anstalt zu verfügen, wie dies der
nicht in Kraft getretene § 65 dt.StGB vorsah, wurde durch das StVollzÄndG
vom 20.12.198424 beseitigt. Dieses wandelte die Maßnahme in eine unter
bestimmten Voraussetzungen (vgl. § 9 dt.StVollzG) zulässige Modalität des
Strafvollzuges um (sogenannte Vollzugslösung).
Das deutsche und italienische System weisen somit gemeinsame Grundstrukturen auf. Insbesondere haben der Begriff der Schuldfähigkeit und die
differenzierte Behandlung des Geisteskranken dieselbe Funktion. Sogar hinsichtlich der Feststellung der Gefährlichkeit durch den Richter existieren seit
der Aufhebung der letzten Gefährlichkeitsvermutungen im italienischen
Strafrecht keine Unterschiede mehr. Es ist daher, jedenfalls in gewissem
Maße, unvermeidlich, daß sich die Diskussion in den bereits bekannten Bahnen bewegt: Unterscheidung zwischen krankheitsbedingtem und allgemeinem Irrtum,25 Anerkennung oder Ablehnung eines Vorsatzes des Schuldunfähigen. Und dies trotz des glücklicheren Begriffs der rechtswidrigen Tat
(§ 11 Abs. 1 Nr. 5 dt.StGB), der es erlaubt, die Schwierigkeiten bei der Anwendung auf ein Mindestmaß zu reduzieren.
Die herrschende Meinung geht von der Existenz eines sogenannten natürlichen Vorsatzes in der Psyche des Geisteskranken aus, d.h. einer psychologischen Beziehung zwischen Tat und Täter im embryonalen Stadium ohne
Unrechtsbewußtsein.26 Folglich wird dem krankheitsbedingten Irrtum keine
Relevanz beigemessen, soweit er diese grundlegende psychologische Struktur nicht antastet. Anders sieht es aus, wenn man sich der Theorie vom Vorsatz als Teil des Tatbestandes und dem Erfordernis des Unrechtsbewußt24
25
26
BGBl. 1984 I, S. 1654.
Bibliographische Hinweise bei Bricola (Anm. 4), S. 73 f.
So die Rechtsprechung des BGH; vgl. hierzu Lackner, StGB, 18. Aufl. 1989, § 63
Rdn. 2; außerdem Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt,
1962, S. 116 ff.
Der durch Geisteskrankheit bedingte Irrtum
353
seins (sogenannter dolus malus) zuwendet. Deren Unvereinbarkeit mit der
Geisteskrankheit zwingt zu entgegengesetzten Folgerungen.
Im allgemeinen rechtfertigt die herrschende Meinung die Unbeachtlichkeit
des krankheitsbedingten Irrtums sowie den minimalen Vorsatzbegriff mit
dem notwendigen Schutz der Allgemeinheit.27 Bedenkt man aber, was oben
zur Unbegründetheit solcher Argumente gesagt wurde, so ist klar, daß auch
die deutsche Lösung nicht überzeugen kann. Es fehlt auch nicht an kritischen
Stimmen, die die petitio principii dieser Auslegung aufgedeckt haben.28
Kurz gesagt: Wenn man die "klassische" Verbrechenssystematik nicht verläßt,29 so erscheint das Problem des krankheitsbedingten Irrtums untrennbar
mit dem des Vorsatzes verquickt. Das Ergebnis ist daher immer dasselbe:
Eine unterschiedliche Definition von Gegenstand und Inhalt des Vorsatzes je
nach Art des Täters läßt sich ernsthaft kaum vertreten und ist auch nicht aus
den Normen über die Maßregeln der Besserung und Sicherung ableitbar.
6.
Anregungen für eine Reform
In Deutschland vereinfacht der Begriff der rechtswidrigen Tat zweifellos die
Problematik: Nach der Schuldtheorie bleiben die Maßregeln der Besserung
und Sicherung auf den Schuldunfähigen anwendbar, ohne daß die Struktur
des Vorsatzes geändert werden müßte, so daß der Irrtum des Geisteskranken
Berücksichtigung finden kann.
27
28
29
Ausführlich Bruns, JZ 1964, 473 ff.; vgl. auch Baumann/Weber, Strafrecht. Allg. Teil,
9. Aufl. 1985, S. 716; Bockelmann/Volk, Strafrecht. Allg. Teil, 4. Aufl. 1987, S. 284;
Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 23. Aufl. 1988, § 63 Rdn. 7.
So Blei, Strafrecht. Allg. Teil, 18. Aufl. 1983, S. 433 f. Die Beachtlichkeit des krankheitsbedingten Irrtums und damit die Unanwendbarkeit von § 63 StGB wird wegen der
Unveränderlichkeit des Vorsatzbegriffs bejaht von Welzel, Das Deutsche Strafrecht,
11. Aufl. 1969, S. 264 (auf dem Gebiet der finalen Handlungslehre); Dreher/Tröndle,
StGB, 44. Aufl. 1988, § 63 Rdn. 2; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts. Allg. Teil, 4.
Aufl. 1988, S. 729; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht. Allg. Teil, Teilbd. 2, 7. Aufl.
1989, S. 614.
Einen Versuch in dieser Richtung stellt der bekannte vierstufige Verbrechensaufbau
Maurachs dar, der die Kategorie der Tatverantwortung einführt. Kritisch, unter Bezugnahme auf die erörterte Problematik, Jakobs, Strafrecht. Allg. Teil, 1983, S. 404. Ein
Hinweis auf eine Neubewertung der Lehre Maurachs findet sich jedoch bei Padovani,
RIDPP 1987, 816 f. Vgl. außerdem Bricola (Anm. 4), S. 76 ff. Für eine andere Lesart
vgl. von der Linde, Rechtfertigung und Entschuldigung im Strafrecht? Überlegungen
zu einer funktionalen Straftatsystematik, 1988, S. 272 ff.
354
Andrea R. Castaldo
Damit sind jedoch nicht alle Schwierigkeiten beseitigt: Die dogmatische Befrachtung des Vorsatzes verträgt sich schlecht mit der Existenz eines jedenfalls rudimentären Tatwillens bei dem Schuldunfähigen, abgesehen davon,
daß die entgegengesetzte Vorsatztheorie von vornherein eine solche Lösung
ausschließt. Wenn man aus der - normativen und interpretativen - deutschen
Erfahrung eine Lehre ziehen kann, so ist es die, daß die Probleme von selbst
und in dem Maße wachsen, in dem man - wie in Italien - die Begehung einer
Straftat zur Voraussetzung der Maßregeln der Besserung und Sicherung
macht.
Eine Reform des italienischen Strafgesetzbuchs nach dem Modell des § 63
dt.StGB können wir allerdings aus den genannten Gründen nicht uneingeschränkt empfehlen.
De iure condendo erscheint es nach alledem sinnvoller, die allgemeine Systematik auf dem Gebiet des Vorsatzes und des Irrtums unangetastet zu lassen, für den Schuldunfähigen keine Ausnahmen zu schaffen, gleichzeitig
aber außerstrafrechtliche Therapiemaßnahmen vorzusehen, die als solche
von der Begehung einer alle subjektiven wie objektiven Merkmale erfüllenden Straftat unabhängig sind. Auf diese Weise würde man sowohl der Notwendigkeit des Schutzes der Allgemeinheit durch die Anordnung flexibler
therapeutischer Maßnahmen als auch dem Gesetzlichkeitsprinzip in bezug
auf die Maßregeln der Besserung und Sicherung gerecht, indem man diese
an die Begehung einer Straftat und damit an eine eingehendere Überprüfung
knüpft.
Der geschilderte Ansatz mag wie eine Rückkehr zu Modellen erscheinen, die
vor dem Inkrafttreten des Codice Rocco existierten. Doch darf diese Rückwendung in die Vergangenheit nicht als Kapitulation oder als Unfähigkeit,
neue Lösungen auszuprobieren, verstanden werden. Auf kaum einem anderen Gebiet stellt das Ziel, die "Unterschiedlichkeit" nicht zu einer umgekehrten Form der Diskriminierung werden zu lassen, eine solch unaufhörliche Sisyphusarbeit dar.