Theaterpädagogisches Material HIOB Bild 1 Empfohlen ab 15/16 Jahren (Klasse 11) Premiere 6. September 2015, Kammerspiele Stückdauer 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause 2 Verehrtes Publikum, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe Pädagoginnen und Pädagogen! „Hiob“ erzählt die Geschichte einer ostjüdischen Familie, die im ländlichen Galizien beginnt und in Amerika endet. Mendel Singer, ein einfacher Grundschullehrer und seine Frau haben eine Tochter und drei Söhne. Der jüngste, Menuchim, hat epileptische Anfälle und kann außer „Mama“ kein Wort sprechen und auch die anderen drei Kinder machen es Mendel nicht leicht, da sie ganz eigene Vorstellungen vom Leben haben. Mendel selbst pflegt einen frommen und bescheidenen Lebensstil. Doch die schicksalhaften Ereignisse verändern nicht nur die Familiensituation, sondern auch Mendels Sichtweise auf seinen Glauben und seine Beziehung zu Gott. Regisseurin Lisa Nielebock gelingt es, einen klaren, differenzierten und immer liebevollen Blick auf die einzelnen Figuren zu werfen, die in all ihren Facetten auf der Bühne zu erleben sind. Das Bühnenbild von Oliver Helf trägt viel zu dieser klar ausgerichteten Inszenierung bei. „Die Schauspieler sind eingesperrt in einen steil ansteigenden hellen Kasten, wie Laborratten in einer Kiste. Einzig ein dunkler Hocker möbliert diesen Raum, in dem die Akteure keine Rückzugsmöglichkeit finden. In dieser Versuchsanordnung sind nun die Stationen von Mendel Singers Leben aneinander montiert. Das funktioniert auch wegen der glänzenden und spielfreudigen Schauspieler gut und wirkt nicht artifiziell.“ (Ralf Stiftel: https://www.wa.de/kultur/lisa-nielebock-inszeniert-hiob-nach-joseph-roths-roman-bochum-5509540.html, gefunden am 8.9.15) Auf den folgenden Seiten finden Sie Hintergrundinformationen sowie Anregungen für die Vor- und Nachbereitung des Theaterbesuchs. Wenn Sie Fragen haben oder sich für eine theaterpädagogische Vor- oder Nachbereitung interessieren, melden Sie sich gerne bei mir. Mit herzlichen Grüßen aus dem Schauspielhaus Bochum 3 INHALT Besetzung…………………………………………………………………………………………..…..Seite 3 Hintergrundinformationen....…………………………………………………………….…....Seite 4 Vor- und Nachbereitung - Anregungen für die Spielleiter……………………………..Seite 14 Quellen- und Literaturhinweise, Bildangabe..............………………………………….Seite 32 Service: Theater & Schule, Impressum…………………………………………………..…..Seite 33 BESETZUNG Mendel Singer Deborah Menuchim Mirjam Schemarjah / Groschel Jonas / Kosak / Mac / Skowronnek Doktor / Kapturak / Bauer / Psychiater / Menkes Michael Schütz Irene Kugler Jana Schulz Xenia Snagowski Florian Lange Damir Avdic Klaus Weiss Regie Bühne Kostüme Musik Licht Dramaturgie Theaterpädagogik Regieassistenz Bühnenbildassistenz Kostümassistenz Souffleuse Inspizienz Hospitanz Lisa Nielebock Oliver Helf Ute Lindenberg Thomas Osterhoff Andreas Bartsch Kekke Schmidt Franziska Rieckhoff Dennis Duszczak Amelie Neblich Janna Banning Fee Sachse Alexander Störzel Michelle Sembritzki (Kostüm) Fotos Birgit Hupfeld Herstellung des Bühnenbilds und der Kostüme in den theatereigenen Werkstätten des Schauspielhauses Bochum. 4 HINTERGRUNDINFORMATIONEN Inhalt „Das Leben gehört Gott und nicht den Menschen. […] So vergehen die Jahre. Es wird Morgen, es wird Abend. Es wird Sommer und Winter. Und alles, was geschieht, ist, dass man Tee trinkt, alt wird und stirbt.“ (Iris Radisch: „Zum Verzweifeln glücklich“, Die Zeit Nr. 34/2003, http://www.zeit.de/2003/34/KA-Sbib-34Die Zeit Nr. 34/2003, gefunden am 15.9.15) Die Geschichte beginnt in Zuchnow, einem fiktiven Ort in Russland, in dem Mendel Singer sein schlichtes Leben als frommer Jude zusammen mit seiner Frau und seinen vier Kindern verbringt. Dieses Leben ist nicht einfach und wird noch dadurch erschwert, dass der jüngste Sohn Menuchim, krank zur Welt kommt. Er hat Epilepsie und wächst nicht gut. In einem Spital in einer größeren Stadt, könnte man ihn wohl heilen, doch Mendel ist sich sicher, dass diese Krankheit von Gott bedacht ist und weigert sich Menuchim behandeln zu lassen. Bald folgen die nächsten Schicksalsschläge: Jonas und Schemarjah, die älteren Söhne, sollen zur Armee eingezogen werden und die Tochter Mirjam lässt sich mit russischen Soldaten ein. Deborah, Mendels Frau, akzeptiert das Schicksal der Söhne nicht und ermöglicht Schemarjah die Flucht vor dem Militär und damit ein neues Leben in Amerika, in welches sie, Mendel und Mirjam bald folgen werden. Obwohl Schemarjah in Russland zunächst dem Kriegsdienst entkommt und ein reicher Geschäftsmann wird, fällt er einige Jahre später genau wie sein Bruder im ersten Weltkrieg. Beide freiwillig, nur an gegnerischen Fronten. Deborah zerbricht an diesen Verlusten und auch Mirjam verabschiedet sich spätestens nach dem Tod ihrer Mutter in eine „andere Welt“. Mendel wendet sich enttäuscht und verbittert von Gott ab, den er als Verursacher des Leids sieht. Er missachtet seinen Glauben, doch spürt gleichzeitig, dass er seine Verbindung zu Gott nicht einfach zertrennen kann. Dann geschieht das Wunder, für das Mendel früher so lange gebetet hat: Sein Sohn Menuchim, welchen er als Kind in Russland zurückgelassen hatte, findet Mendel in Amerika. Er ist gesund geworden und inzwischen ein weltberühmter Komponist und Dirigent. Das Wiedersehen lässt Mendel Frieden schließen mit Gott und seinem Leben. Bild 2 5 Über Joseph Roth „Ihm war das Irgendwo lieber als das Zuhause. [...]. Er war ein freiwilliger Flüchtling von Anbeginn.“ (Soma Morgenstern: In: Joseph Roths Flucht und Ende. Erinnerungen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, S. 281ff.: In: Quelle: EinFach Deutsch, Joseph Roth „Hiob“ S.157) Joseph Roth, ein österreichischer Dichter und Publizist, 1894 im galizischen Brody geboren, gestorben 1939 im Pariser Exil an den Folgen seiner schweren Alkoholsucht. Er zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Erzählern des 20. Jahrhunderts. Seine Heimat verließ er, um zu studieren. Als Reporter und Korrespondent für verschiedene Zeitungen, wechselte er oft seinen Wohnort. Schon zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland emigrierte Roth nach Frankreich und lebte dort einige Jahre in Paris. Das Gefühl der Heimatlosigkeit beeinflusste ihn und seine Literatur stark. Roth verarbeitet in seinen Erzählungen Themen, die für ihn prägend waren, wie zum Beispiel das Leben der Ostjuden in dem Essay „Juden auf Wanderschaft“ oder dem Roman „Hiob“, was nicht zu Letzt daran lag, dass auch er ein Jude galizischer Abstammung war. Außerdem beschäftigte er sich mit dem Zerfall der österreichischenungarischen Monarchie in „Radetzkymarsch“ und seiner Alkoholsucht in seiner letzten Erzählung „Die Legende vom heiligen Trinker.“ Bild 3 6 „Er hatte genug Charme, um auf die Gewichtigkeit zu verzichten. Seine Weisheit gibt sich leicht, gelassen und heiter. Doch wie sich hinter seiner Leichtigkeit Gram verbarg, so hinter der scheinbaren Gelassenheit die schrecklichste Unrast. Und seine Heiterkeit war die bitterste, die sich vorstellen lässt. Aber Roth wusste diesen Gram erträglich, die Unrast apart und diese Bitterkeit schmackhaft zu machen! (…) Hilflos und schutzbedürftig wie seine Figuren und ebenso weltfremd und versponnen, zugleich weise und einfältig irrte Roth durch das Leben. Daher war er, wie er schon 1925 in einem Brief festgestellt hatte, immer auf der Flucht. Auf jene Wunder, mit denen er den Geschöpfen seiner Phantasie etwas Glück und Freude bereitete, ohne sie vor der Katastrophe bewahren zu können, wartete Joseph Roth vergeblich. Er musste sich die Wunder, die er so dringend brauchte, selbst erfinden, ihm, Joseph Roth, blieb nur die Flucht ins Märchen. Ins Märchen? Man kann auch sagen: die Flucht in die Poesie. Er war wohl ein Strizzi und fast ein Prophet, ein Filou und ein Poet dazu.“ (Marcel Reich Ranicki über Joseph Roth, Programmheft zur Inszenierung von „Hiob“ am Schauspielhaus Bochum, S. 19) Bild 4 7 Über die Familienverhältnisse in Joseph Roths Roman „Hiob“ von Kekke Schmidt Eine Figur in einem Roman, den der Autor „Hiob“ betitelt, kann wahrscheinlich nur eine unglückliche Figur sein. Der biblische Hiob erleidet eine Kette von Unglücksfällen – darunter der Verlust seiner Söhne -, die sich im Nachhinein als Prüfung Gottes herausstellt und ihn als vorbildlichen Gläubigen bestätigt. Andererseits „weiß“ die Figur Mendel Singer ja nicht, dass ihre Geschichte diesen Titel trägt, das weiß nur der Leser, der ihn durch diese „Brille“ liest. Mendel Singer wird uns jedoch als Mensch gezeigt, der ein eigenes Programm hat, an seinem Unglück zu arbeiten. Dazu gehört zunächst seine Frau. „Viel zu gering war Mendel Singer in ihren Augen. Die Kinder warf sie ihm vor, die Schwangerschaft, die Teuerung, die niedrigen Honorare und oft sogar das schlechte Wetter.“ Die „Klagen“ Deborahs werden bereits auf der zweiten Seite des Textes erwähnt. Im Laufe der Erzählung erfahren wir, dass Mendel und Deborah sich einmal nah waren, in ihrer Jugend, vor allem in ihren sexuellen Umarmungen. Als diese nachlassen und eines Tages ganz aufhören, verbindet sie nur noch das Unglück. Mendel sieht nur den Verfall ihres Körpers und fühlt sich wider Willen an eine Fremde gekettet. Deborah achtet seinen Lehrerberuf nicht, mit dem geringen Verdienst und dem fehlenden Glanz. Ihr Gemeinsames: die Kinder, schweißt sie nicht zusammen, fast im Gegenteil: Sie verheimlichen sich die Sorgen und die innersten Gedanken um sie. Gemeinsam ist ihnen der Fatalismus: Was ist, ist unwiderrufbar so, Gott hat es gewollt, der Mensch kann es nicht ändern. In dieser pessimistischen Weltsicht übertrifft Mendel sogar seine Frau. Weshalb er noch ein feinerer Schmied seines Unglückes ist. Nicht die Fakten sind das Schlimmste in seinem Leben, sondern die Bedeutung, die er ihnen gibt. Mendel und Deborah haben drei gesunde Kinder: Jonas, Schemarjah und Mirjam. Als letztes bekommen sie ein Kind, das für Deborah schon seit einem Vorfall in der Schwangerschaft unter dem Zeichen des Unheils steht: Menuchim. Menuchim wird vor allem als defizitär erfahren: Er kann nicht reden, er kann nicht gehen, er sieht nicht normal aus. Er ist „krank“. Für das, was ihn positiv auszeichnen könnte, gibt es keine Sprache, also existiert es auch nicht. Die Geschwister quälen das Kind oder lassen es in der Ecke liegen. Die Eltern empfinden es als Strafe Gottes, in manchen Momenten lieben sie es auch ganz besonders: Menuchim ist alles, was ihnen bleibt, als die anderen Kinder erwachsen werden und nach und nach das Haus verlassen. Aber die Liebe zu Menuchim ist immer mit der Hoffnung verknüpft, dass er ein Anderer sei, nicht der, der er ist. Dass „ein Wunder geschehe“ und ihn wieder „normal“ mache. Die Systemtheorie betrachtet Familien als kommunikative Systeme, in denen Mitglieder durch ihre Konversationen Bedeutungen erzeugen und so gemeinsam eine Wirklichkeit erschaffen. Ein Kind, das als „Bestrafung“ seiner Eltern definiert wird, hat wenig Aussicht, sich von diesem Stigma zu befreien. Paul Watzlawick spricht von dem „wirklichkeits“- schaffenden Effekt selbsterfüllender Prophezeiungen. In der systemischen Familientherapie geht man davon aus, dass ein Kind nicht einfach „krank“ oder „Opfer“ seiner Eltern ist, sondern Teilnehmer einer Gesamtkonstellation, die mit Leid aller Beteiligten einhergeht. Das „kranke“ Kind wird eher als Signal verstanden, das die Störung des Systems als Ganzem anzeigt. Verblüffend ähnlich beschreibt dies der 8 Erzähler in „Hiob“: „In der Familie Mendel Singers aber schien es, als hätte der kleine Menuchim die ganze Anzahl menschlicher Qualen auf sich genommen, die sonst vielleicht eine gütige Natur sachte auf alle Mitglieder verteilt hätte.“ Viel später, als Jonas verschollen, Schemarjah im Krieg gefallen, Mirjam „verrückt“ geworden, Deborah gestorben ist, Gott ihm nichts mehr bedeutet, erkennt Mendel, dass seine „Sünde“ die fehlende Liebe war: „Weil nicht die Wärme der Liebe in uns war, sondern der Frost der Gewohnheit, starb alles rings um uns, verkümmerte alles und wurde verdorben.“ Als Eltern sind Mendel und Deborah nicht in der Lage gewesen, ihren Kindern ein lebendiges und bewegliches Gegenüber zu sein, sie erstarrten in den einmal gefundenen Verhaltens- und Deutungsmustern. Jonas‘ Lebenshunger, der ihn zu den Soldaten trieb, konnten sie nicht auffangen, Schemarjahs Drang ins Unternehmerische und in die Ferne nur mit Argwohn begegnen, Mirjams Sinnlichkeit nur verteufeln, Menuchims Verschlossenheit nicht öffnen." Das „Wunder“, das Roth dann am Ende geschehen lässt, indem er den totgeglaubten Menuchim als berühmtes Wunderkind in Mendels Leben führt, stellt seinen Text tatsächlich in den biblischen Kontext, in dem märchenhafte Dinge passieren, die im realen Leben unwahrscheinlich sind. Mendel erkennt, dass er ein schlechter Vater war, dass er Mirjam und Menuchim schlecht behandelt hat. Einer seiner jüdischen Bekannten sagt es ihm schonungslos: „Ein kranker Sohn war dir beschieden, und ihr habt getan, als wäre es ein böser Sohn.“ Über ihr Verhältnis zu Mirjam ließe sich Analoges sagen. Der Rabbi hatte einst zu Deborah gesagt: „Menuchim wird gesund werden. Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark“, aber er legte ihr zugleich eine Bedingung für das Eintreten dieser Prophezeiung auf: „Verlass deinen Sohn nicht, auch wenn er dir eine große Last ist, gib ihn nicht weg von dir, er kommt aus dir, wie ein gesundes Kind auch.“ – Mendel Singer aber schenkte der „selffulfilling prophecy“, ein von Gott Bestrafter zu sein, mehr Glauben als der Hoffnung, die in den Worten des Rabbis lag. Sich eine Hoffnung zu erlauben, hätte – noch einmal systemtheoretisch gesprochen – bedeutet, ein gewohntes Muster zu verlassen und damit vertraute Sicherheiten aufzugeben. Da fühlte sich Mendel in seinem einmal entworfenen Programm sicherer: die Verfertigung des Unglücks. (Kekke Schmidt, Programmheft zur Inszenierung von „Hiob“ am Schauspielhaus Bochum, S. 7ff.) Bild 5 9 Mendels Religionsverständnis Joseph Roth verweist […] deutlich auf die alttestamentarische Geschichte Hiobs. Dennoch ist die Parallele trügerisch. Im Alten Testament kommen Gottes Heimsuchungen immer direkt aus dem Himmel, sie sind die Folge einer direkten Beziehung zwischen Gott und Mensch. Roth stellt in seinem Roman die Plagen, die Mendel Singer treffen, in einen deutlichen Kontext: die erbärmliche soziale und wirtschaftliche Situation der osteuropäischen Juden, ihre Unterdrückung und Diskriminierung, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die Unmöglichkeit, kranke Kinder nach Amerika mitzunehmen, die zunehmende Entfremdung der Menschen durch den in Amerika aufkommenden Konsumismus. All diese Elemente bilden die offenkundige Basis für die aufeinanderfolgenden Schläge, die Mendel einstecken muss. Und dennoch, trotz dieser spezifischen Umstände, erfährt Mendel Singer die Katastrophen als Glaubensprüfungen. Soll das heißen dass Mendel dumm, naiv oder kurzsichtig ist? Im Gegenteil. Nach jedem Schicksalsschlag fragt sich Mendel, welchen Anteil er daran hat: Welche Sünde hat er begangen? Mendel weigert sich schlichtweg, die Schuld außerhalb seiner selbst zu suchen. Das wäre zu bequem, es würde von zu geringem Vertrauen in die Allmacht Gottes zeugen. Gott ist schließlich im Guten wie im Bösen anwesend. „Wenn wir etwas Schlechtes tun, kann Gott uns strafen.“ Dass Mendel in Armut lebt, die Juden im zaristischen Russland diskriminiert werden, Amerika ein Land falscher Versprechen ist, Krieg in Europa herrscht, sind nicht zwangsläufig Dinge, die gegen Gottes Güte sprechen. Doch dass Mendel sein ganzes Leben in den Dienst Gottes stellt und dennoch alles verliert, was ihm in diesem Leben lieb und teuer ist, dafür muss jemand Rechenschaft ablegen. Aber wenn die Schuld nicht am Lauf der Welt liegt, wo liegt sie dann? Erst als ihm alles genommen wurde hat Mendel Singer eine Antwort auf diese Frage: Nicht der fehlende Glauben an Gott sondern die fehlende Liebe zu den Menschen ist die Ursache allen Elends: „Wir haben nicht genug geliebt!“ Mendel erkennt zu spät, dass der Glauben die Liebe braucht, dass die menschliche Liebe eine notwendige Ergänzung der göttlichen Liebe ist. Um zu dieser Einsicht zu gelangen, muss Mendel seinen Gott dafür verfluchen, dass in seiner Beziehung zu Gott kein Platz für die Liebe war. Erst als er sich davon befreit hat, kann er als Mensch wiedergeboren werden. Auszug aus: Theaterpädagogische Materialmappe „Hiob“, Das Rheinische Landestheater Neuss, SZ 2012/2013: In: http://tinyurl.com/p6a6sp5, S. 24, gefunden am 30.9.15. 10 Eine Welt ohne Trost Ein Interview mit Susan Neiman. Sie ist seit dem Jahr 2000 Direktorin des Einstein Forums Potsdam. Zuvor war sie Professorin für Philosophie an der Yale Universität und der Tel Aviv Universität. Frau Neiman, wieso erzählen sich die Menschen seit 2000 Jahren die Geschichte von Hiob, der alles richtig macht und dennoch vom Leben hart bestraft wird? Weil es die menschliche Erfahrung widerspiegelt, wie kein anderes Buch. Es gibt rechtschaffene Menschen, die trotzdem viel Leid erfahren und es gibt sehr verdorbene Menschen, die ungestraft, reich und glücklich durchs Leben kommen. Das ist leider die Erfahrung, mit der wir immer wieder konfrontiert werden. Diese Erfahrung ist eigentlich der Beginn der Philosophie, die Frage nach dem warum. Wenn alle bekämen, was sie verdienten, würden sich die Fragen nach dem Sinn des Lebens nicht so brennend stellen. Gott will Hiob auf die Probe stellen, er nimmt ihm seine Kinder, sein Land, seine Gesundheit. Dennoch bleibt Hiob demütig, er beschwert sich nicht. Schließlich nimmt Gott das Leid wieder von ihm. Ist also Ergebenheit der Schlüssel? Das ist die meist diskutierte Frage der Hiob-Interpretation, wie lässt sich das Ende verstehen. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war Demut und Ergebenheit in Gottes Handeln die Antwort auf die Frage. [...]. Erst im späten 18. Jahrhundert – mit Kant – begannen die Menschen sich mit Hiob zu identifizieren, der stets seine Unschuld und Treue zu Gott beteuerte. Vorher waren alle Interpreten Hiobs Freunden gefolgt, die Sünde als Grund für die vermeintliche Bestrafung Hiobs sahen. Man teilte die Auffassung von Leibniz, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben: die kleinen Menschen können Gottes Handeln ohnehin nicht verstehen, wenn man nur durchhält werde schon alles gut. Erst mit der Aufklärung hat man dies hinterfragt. Kant sagte, dass die Freunde nur sagen, was Gott hören will und Hiob der einzige ist, der sich tatsächlich mit Gott und dem Zustand der Welt auseinandersetzt. Wichtig ist, dass Gott ganz zum Schluss sagt, dass nicht die Freunde, sondern Hiob Recht hat. Was folgt daraus? Dass eben nicht Geduld und Demut die Lehre sind, sondern dass Hiob selbst verlangt, dass die Vernunft und die Welt zusammenkommen sollen. Dass sei die Aufgabe des Menschen, Gerechtigkeit und Justiz in die Welt zu bringen. Das ist meine Sicht auf Hiob. Natürlich ist das nicht die einzige Lesart. Doch ich würde davor warnen, die Demut gegenüber dem Leid zu stark in den Vordergrund zu stellen. [...]. Aus Ergebenheit kann ja auch schnell Fatalismus werden. Genau das! Deshalb will ich dieses Moment nicht zu sehr unterstreichen. Demut als Lehre aus Hiob ist eigentlich Vergangenheit, auch wenn es in einigen Kirchen noch so gelehrt wird. Die Rede Gottes zu Hiob gehört zu den schönsten Stellen der Bibel – sie ist erschreckend schön. Erst fragt Gott Hiob, wo er denn war, als er die Welt erschuf. Dann beschreibt er, was er alles kann, was Hiob nicht kann. Aber am Schluss sagt Gott doch, dass sein Knecht Hiob Recht hatte und nicht seine Freunde, die Demut und Geduld angemahnt hatten. Das kann also nicht die ganze Botschaft sein. 11 Der Skeptiker würde sagen, das Buch Hiob wurde schlichtweg verfasst, um den Menschen zu erklären, wieso es in der Welt eines guten Gottes überhaupt das Böse gibt. Interessant ist, dass das Buch eines der drei Texte ist, bei denen die Gelehrten am stärksten stritten, ob es überhaupt in die Bibel aufgenommen werden soll. Es gibt auch die Theorie, die besagt, dass der letzte Teil, die Aufhebung des Leids, nur hinzugedichtet wurde, damit es in das religiöse Weltbild passe. Denn ohne diesen Teil ist die Aussage ziemlich düster: eine Welt ohne Trost. [...]. War Hiob der erste Antiheld der Menschheit? Warum Antiheld? Ich halte ihn vielmehr für einen Helden. Er war rechtschaffen, hat alles richtig gemacht, und zum Schluss versteht er wirklich, was Gerechtigkeit ist. Als die ganzen Schicksalsschläge auf ihn einprasseln, versucht er das hinzunehmen, bis er nicht mehr kann. Dann wirft er mit einer in der Bibel einzigartigen Wucht und Wut Gott Ungerechtigkeit vor. Sich mit dem Schöpfer anzulegen, erfordert schon Mut. Er sagt dann, dass Gerechtigkeit eine menschliche Kategorie ist, und es am Menschen liegt, die Gerechtigkeit in die Welt zu bringen. Das ist eine extrem heldenhafte Haltung. Jan Kixmüller: Interview mit Susan Neiman „Eine Welt ohne Trost“. In: http://www.pnn.de/campus/653469/, gefunden am 17.09.2015 Bild 6 12 Pressestimme Lisa Nielebock inszeniert „Hiob“ nach Joseph Roths Roman in Bochum 08.09.15 Verzweifelt versucht Mendel (Michael Schütz, rechts), sich mit Menuchim (Jana Schulz) zu verständigen. Szene aus Lisa Nielebocks Inszenierung von „Hiob“ am Schauspielhaus Bochum. © Hupfeld Von Ralf Stiftel BOCHUM - In einer Reihe stehen sieben Schauspieler im Bühnenkasten. Die Leidensgeschichte des Mendel Singer aus Zuchnow beginnt in den Kammerspielen des Schauspiels Bochum als Erzählung. Reihum erzählen sie: Von der Armut im Schtetl, vom behinderten Sohn Menuchim, von den Auf- und Ausstiegswünschen der gesunden Brüder Schemarjah und Jonas. Seit geraumer Zeit entdecken die Theater Romane für die Bühne. Joseph Roths 1930 erschienener „Hiob“ in der Dramatisierung von Koen Tachelet gehört dazu. In Bochum zeigt Lisa Nielebock, wie man solche Anleihen rechtfertigen kann. Sie deutet Roths Text unaufdringlich als Emanzipationsgeschichte. Mendel, der chassidische Dorflehrer, der mit seinen Kopeken Frau und vier Kinder ernähren muss, muss sich erst aus seinem engen, dogmatischen und letztlich menschenfeindlichen Glauben lösen, um Glück zu erleben. Davor verliert er seine zwei gesunden Söhne, seine Frau stirbt in der Fremde, seine Tochter verfällt dem Wahnsinn. Heimsuchungen wie beim biblischen Hiob, nur dass sich Mendel keiner Sünde bewusst ist. Das Ende, die wundersame Wiederkehr des kranken Sohnes, nun als erfolgreicher Musiker, ist schwer mit den vorhergegangenen Schicksalsschlägen zusammenzubringen. Eine märchenhafte Wendung, eine Utopie vielleicht. 13 Das Bühnenbild von Oliver Helf trägt viel zu dieser klar ausgerichteten Inszenierung bei. Die Schauspieler sind eingesperrt in einen steil ansteigenden hellen Kasten, wie Laborratten in einer Kiste. Einzig ein dunkler Hocker möbliert diesen Raum, in dem die Akteure keine Rückzugsmöglichkeit finden. In dieser Versuchsanordnung sind nun die Stationen von Mendel Singers Leben aneinander montiert. Das funktioniert auch wegen der glänzenden und spielfreudigen Schauspieler gut und wirkt nicht artifiziell. Florian Lange und Damir Avdic spielen die beiden Söhne (und weitere Rollen), und sie reifen überzeugend von raufenden Jungs zu Männern, die der geistigen Enge von Mendels Leben entkommen wollen. Xenia Snagowski ist die Schwester, die insbesondere die sinnlichen Lockungen des Lebens spürt – und wie triumphiert sie über die Kosaken, die nur für sie singen. Irene Kugler zeichnet Mendels Frau Deborah als Rebellin, die gegen seinen Fatalismus ankämpft, am Ende aber resigniert. Michael Schütz aber ist die zentrale Figur, jener Wiedergänger des biblischen Hiob. Am Anfang zeichnet er Mendel Singer als in sich ruhenden, selbstgewissen kleinen Mann, der vom Leben nicht viel erwartet, aber alles hinnimmt. Er hat durchaus diktatorische Seiten, wenn er zum Beispiel mit knallendem Lederriemen seine ungehorsamen Söhne über die Bühne peitscht. Aber Schütz zeigt auch glaubhaft, wie der Mann mit jedem Rückschlag seine Sicherheit mehr verliert, wie er schrumpft. In Amerika, wo er nur noch Vater seines erfolgreichen Sohnes ist, der seinen Namen zu Sam amerikanisiert hat, da taumelt er umher, während Frau und Kinder Turnschuhe und coole US-Mode tragen und sich Konsumfreuden hingeben. Das darf man getrost zu seinen größten Prüfungen zählen. Und sein resignierter Sarkasmus, mit dem er die Versprechungen des Kapitalismus nachäfft, fällt so wenig aus der Rolle wie die geradezu kindliche Leichtigkeit, die ihn nach seiner Lossagung von Gott ergreift. Schütz unterspielt das eher und berührt so mehr, als wenn er große Gesten nähme. Er macht gar nicht viel, und doch merkt man auf beim Kernsatz in Nielebocks Inszenierung: „Wir haben alle zu wenig geliebt.“ Jana Schulz als Menuchim ist erst recht ein Erlebnis, gerade weil sie fast die ganze Zeit nicht spricht außer einigem Gelalle und dem einen Wort „Mama“, das sie freilich sehr variiert. Allein durch Körpersprache drückt sie als Opfer brüderlicher Übergriffe ihre Verletztheit aus. Sie zeigt die Macht der Musik in einer Lauschhaltung. Sie spielt auch schlimme epileptische Krämpfe. All das geschieht ebenfalls ohne Übertreibung, sozusagen natürlich, sie ist eine Abgetauchte, die man auch mit einem Kopfputz als Freiheitsstatue ausstaffiert. Und wenn sie am Ende den Deckel der Bühnenkiste hebt, die mentale Gefangenschaft mit dieser Geste aufhebt, wenn sie als erfolgreicher Künstler selbstbewusst daherkommt, dann erkennt man darin doch den früheren Menuchim wieder, das klaglose und stoische Opfer. Zwei Menschen, die sich lange verloren hatten, finden zu sich. Ein sehr bodenständiges Wunder. Nielebock zeigt es als strenge und zugleich emotionale, berührende Bühnenparabel. Großer und lang anhaltender Beifall. Ralf Stiftel: https://www.wa.de/kultur/lisa-nielebock-inszeniert-hiob-nach-joseph-roths-roman-bochum-5509540.html, gefunden am 8.9.15 14 VOR- UND NACHBEREITUNG - ANREGUNGEN Die folgenden Übungen dienen zur Vor- und/oder Nachbereitung des Theaterbesuchs. Sie können die Übungen miteinander kombinieren und selbstverständlich in eine für Sie sinnvolle Reihenfolge bringen. Zum Verständnis: Die anleitende Person wird in den Übungsbeschreibungen immer als Spielleiter bezeichnet. Spieler sind diejenigen,die spielen und experimentieren. Zuschauer sind diejenigen, die für einen Moment eine beobachtende Funktion einnehmen, Rückmeldungen geben oder aber auch Spielideen formulieren. Lassen Sie sich inspirieren! Mit den folgenden zwei Übungen „Assoziationskreis und Raumlauf“ beginnen die Spieler gemeinsam, sich die gesehene und erlebte Inszenierung in Erinnerung zu rufen und erste Eindrücke zu schildern. Assoziationskreis Die Spieler stehen in einem Kreis. Sie als Spielleiter haben einen Ball, den Sie den Spielern zuwerfen. Sie nennen beim Werfen den ersten Begriff, zum Beispiel „Glauben“, zu dem nun jeder, dem der Ball zugeworfen wird, eine Assoziation, die ihm zum genannten Begriff einfällt, sagt. Die Antworten zu den verschiedenen Begriffen sollen dabei möglichst spontan genannt werden. Wenn den Spielern nichts mehr zum Begriff einfällt, nennen Sie das nächste Schlagwort. Vorschläge: Gott, Familie, Geschwister Erwartungen, Zukunftspläne, Schicksal, Neue Heimat, Fremde etc. Raumlauf Die Spieler laufen durch den Raum und umkreisen Begriffe (Vorschlag s.u.), die auf dem Boden liegen. Die Begriffe stehen im Zusammenhang mit dem Stück. Die Spieler markieren mit einem Stift, welche Begriffe ihrer Meinung nach für die Inszenierung kennzeichnend oder wichtig sind. Abschließend stellt sich jeder zu dem Begriff, der ihm am wichtigsten ist und begründet seine Entscheidung: Was war dir fremd? Warum war die Inszenierung für verstörend etc.? Fremd Bewegend Beängstigend Verstörend Berührend Lustig Abstrakt Gedankenanregend Surreal Schleppend Langweilig Fesselnd 15 Die Übung „Figurenmemory“ ist ein guter Einstieg für die anschließende Übungssequenz aus „Statuenwald, Figurenarbeit – Heißer Stuhl und Figurenkonstellation- Anfang und Ende“. In allen Übungen kommen die Spieler den Figuren näher. Beginnen über sie nachzudenken und entwickeln über das körperliche Nachempfinden ein Gefühl für die unterschiedlichen Figuren mit ihren Ängsten, Wünschen, Hoffnungen, Erwartungen aneinander etc. Figurenmemory Die Spieler bilden Paare. Jedes Paar überlegt sich eine Figur aus dem Stück. Diese Figur wird mit einer typischen Geste und einem Geräusch zum Leben erweckt. Die Paare müssen, Körperhaltung, Bewegung, Geräusch und Mimik so exakt wie möglich synchronisieren. Ein Paar wird ausgewählt und darf zum Raten nach vorne. Die Spieler verteilen sich regelmäßig im Raum und drehen dem ratenden Paar den Rücken zu. Wie bei dem Karten-Memory werden die Spieler nacheinander umgedreht und es gilt die jeweiligen Paare zu finden. Das ratende Paar spielt gegeneinander. Wer am Ende die meisten Spieler auf seiner Seite hat gewinnt das Spiel. Sammeln Sie zunächst gemeinsam: Welchen Figuren begegnen wir in der Inszenierung? Was ist charakteristisch für die jeweilige Figur? Zum Beispiel: Mendel Singer Deborahs Mann Vater von vier Kindern Frommer Jude Arbeitet als Lehrer, lehrt die Thora Lebt bescheiden, braucht keinen ReichtumDenken und Handeln ist religiös geprägt Streng, starrsinig, aufbrausend, schicksalsergeben Seine Sichtweise zu Gott ändert sich Deborah Mendels Frau Mutter von vier Kindern Jüdin Setzt sich aktiv für das Wohl ihrer Kinder ein Lässt ihren Sohn Menuchim zurück Stirbt an zerbrochenem Herzen Ältester Sohn Schlichter Geist Wünscht sich ein Soldaten- oder Bauernleben Ist nicht besonders gläubig Geht später im Krieg verloren Schemarjah Zweitältester Sohn Schlau und geschäftstüchtig Hat hohe Lebensziele, er möchte Kaufmann werden, reich werden Flieht nach Amerika, um nicht in die russische Armee eigezogen zu werden Nimmt den Namen Sam an Zieht für Amerika in den Krieg und stirbt Menuchim Jüngster Sohn Geboren als „Krüppel“ und neigt zu Epilepsie Von den Geschwistern gehasst, von den Eltern als Strafe Gottes angesehen Wird in Russland zurückgelassen Als Erwachsener ist er gesund und ein weltberühmter Komponist und Dirigent Reist nach Amerika und findet seinen Vater Mirjam Einzige Tochter Ist unzufrieden mit dem schlichten Lebensstil Lässt sich mit Kosaken ein Ist nicht besonders gläubig Sie wird über den Verlust der Mutter verrückt Jonas Weitere Rollen: Mac, Kapturak, Menkes & Groschel & Skrowonnek (jüdische Freunde Mendels in Amerika), Rabbi, Arzt, Psychiater, Bauer, Kosaken 16 Statuenwald Jeder Spieler zieht einen Satz aus dem Stück. Die Spieler gehen durch den Raum. Sie sprechen den Satz für sich, beginnen zu murmeln, werden nach und nach immer lauter. Der Spielleiter gibt verschiedene Stimmungen hinein: traurig, wütend, gelangweilt, fröhlich, hysterisch. Nach dem gemeinsamen Ausprobieren, findet jeder Spieler die für sich schlüssige Stimmung, in der er den Satz sagt. Zu dem Satz findet jeder eine Bewegung, eine Geste, die seiner Meinung nach passt. Die Hälfte der Gruppe merkt sich den Satz und die Bewegung und geht ins Publikum, die Spieler der anderen Gruppe suchen sich einen Ort und sind nun Standbilder. Der Spielleiter kann durch Antippen die Spieler „an- und auszaubern“. Solange der Spieler „angezaubert“ ist, wiederholt er den Satz und seine Bewegung in Schleife. Gemeinsam wird mit den Zuschauern überlegt, wer den Satz in welcher Situation sagt. Du bist ein Schwächling.(Deborah) Er schneidet Grimassen. Er stöhnt wie ein Tier. (Deborah) Er ist nicht normal. (Jonas) Kein Doktor kann ihn gesund machen, wenn Gott es nicht will. (Mendel) Unsere Freunde spotten, wenn er bei uns ist. (Schemarjah) Mendel Singer. Jude. Fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich. Blasses Gesicht, Vollbart, große, träge, schwarze Augen.(Mendel) Er stirbt nicht. Er ist behindert, aber er stirbt nicht. (Mirjam) Ich bin nur ein einfacher Lehrer. (Mendel) Mama. Dies eine Wort bedeutet alles. (Deborah) Ich wäre gern ein Bauer. Ich will trinken. (Jonas) Ich will sein, was ich bin. Ein Jude, nüchtern, wie der Vater. (Schemarjah) Wofür bin ich so gestraft. Wo ist die Sünde? Wo steckt die Sünde?(Mendel) Wenn Gott ein Wunder tun will, wird er es dich nicht vorher wissen lassen. (Mendel) Seit Menuchims Geburt war Kummer in jeder Freude gewesen. Alles starb. Nur die Hoffnung wollte nicht sterben. (Deborah) Ab jetzt werden wir wie zwei Menschen des gleichen Geschlechts nebeneinander schlafen. (Deborah) Bleib hier, Mutter. Bleib hier und höre zu. (Mirjam) 17 Mama! (Menuchim) Du willst, dass sie Leichen werden in der Armee des Zaren. (Deborah) Wir sind arm. Die armen sind ohnmächtig. Sie müssen ihr Los in Ergebenheit tragen. (Mendel) Wenn sich der Mensch zu helfen weiß, dann wird Gott ihm auch helfen. (Deborah) Ich werde meine Söhne retten vor dem Zaren. (Deborah) Ich singe für dich. (Mendel) Ich mag den Geruch nach Urin und Schweiß. (Jonas) Jonas, warum tust du das? Du bist mein Sohn. (Mendel) Ein Fluch ruht auf diesem Haus. (Mendel) Sie geht mit einem Kosaken. Ich habe sie im Korn gesehen. (Mendel) Menuchim, du bist und bleibst ein Idiot. (Deborah) Verlass ihn nicht. Verlass ihn nicht. (Deborah) Was gehen mich diese Leute an? Vielleicht habe ich mich selbst in Zuchnow zurückgelassen, in der Nähe Menuchims. (Mendel) Ihr seid also in Amerika und ich habe nichts davon gewusst. (Jonas) Nicht Sam, Schemarjah! (Mendel) Ich bin zu alt für das Neue. (Mendel) Du lebst in der Vergangenheit, Vater. (Schemarjah) Das Fleisch, das ihm so vertraut war, ist ihm nun fremd. (Deborah) Mac ist kein Jude. (Mendel) Nein, mein Sohn, ich bleibe hier, in der Nähe der Armen, der Katzen und Mäuse. (Mendel) 18 Wir haben uns getäuscht. Wir haben gehofft, hier eine neue Welt zu finden, wir dachten, dass es möglich wäre, das alte Leben, Jonas und Menuchim zu vergessen. (Deborah) Jeder Mensch ist verpflichtet, für sein Vaterland in den Krieg zu ziehen. (Schemarjah) „Bleib, Sam“, hätte ich sagen müssen. (Mendel) Mussten wir den weiten Weg über das Wasser nehmen, um wieder nach Kluczýsk zu kommen? (Deborah) Ich weiß, was jetzt kommt. Ich habe es geträumt. (Mendel) Sie reißt eine Strähne nach der anderen aus. (Mirjam) Sie ist tot. (Mac) Ich glaube, dass auch Menuchim gestorben ist, allein, unter Fremden. (Mendel) Ich hör ihn oft rufen. „Mama, Mama“, ruft er. (Deborah) Du bist mein Vater, dir kann ich es ja sagen. Ich liebe Mac, aber ich hab ihn betrogen. (Mirjam) Die Welt hat nichts damit zu tun. Wir sind es selbst. Wir haben nicht genug geliebt. (Mendel) Ich werfe alles ins Feuer. (Mendel) Ich will Gott verbrennen. (Mendel) Warum zerreißt du mir das Herz? (Mendel) Wie lang muss Mendel noch leben. Er hat noch einen einzigen Plan, den letzten. (Mendel) Mein Name ist Alexej Kossak. (Menuchim) Ich weiß, dass er sagen wird: Menuchim ist tot. (Mendel) Menuchim lebt. (Skowronnek) Ich habe das Gefühl, dass ich aufstehen muss, gerade werden, wachsen, groß und größer werden, über das Haus hinaus, um mit den Händen den Himmel zu berühren. (Mendel) 19 Dann singst du. Es klang wunderbar. Ich wollte, ich könnte es heute komponieren. (Menuchim) Ich kann mich an Mutter erinnern. Es war warm und weich bei ihr, ich glaube, sie hatte eine tiefe Stimme und ihr Gesicht war groß und rund, wie eine ganze Welt. (Menuchim) An Mirjam, Jonas und Schemarjah erinnere ich mich nicht. (Menuchim) Ein schlechter Vater war ich. (Mendel) Ich muss gehen, Vater. Wenn du aufwachst, bin ich wieder da. Schlaf jetzt. (Menuchim) Ich möchte die Welt begrüßen. (Mendel) Figurenarbeit - Heißer Stuhl Es wird eine Figur ausgesucht, z.B. Mendel, Deborah oder Menuchim. Ein freiwilliger Spieler setzt sich als diese Figur auf einen Stuhl vor die Gruppe. Jeder kann nun eine Frage an die Figur stellen, dabei ist alles wichtig, Vorlieben und Gewohnheiten ebenso wie Wünsche und Handlungsmotivation. Antworten können sowohl der Spieler auf dem Stuhl, als auch andere. Derjenige, der antwortet, stellt sich hinter den Sitzenden, legt ihm eine Hand auf die Schulter und antwortet in „Ich-Form“. Dabei können auch verschiedene und widersprüchliche Antworten zu eine Frage gesammelt werden. Wichtig ist, die Spieler zu möglichst spontanen Antworten zu animieren. Es wird nicht gewertet, alles kann dienlich sein, um den Figuren näher zu kommen. Figurenkonstellation: Anfang und Ende Jede Figur im Stück wird von einem Spieler verkörpert. Dieser stellt sich an einem Ort im Raum auf. Zuerst wird Mendel Singer gebeten, sich einen Ort im Raum zu suchen, wo er sich als Figur sieht. Dann kommen Deborah, seine Kinder etc. nacheinander auf die Bühne und überlegen, in welchem Abstand sie sich zu Mendel und den anderen Figuren positionieren. Legen Sie fest, an welchem Zeitpunkt der Geschichte sich die Spieler befinden. Beispielsweise ließen sich zwei Konstellationen stellen: Zu Beginn und am Ende des Stückes. Bild 7 20 Textauszüge als Spielanregung Die folgenden Auszüge aus der Bühnenfassung von Koen Tachelet, dienen als Ausgangsmaterial für die szenische Umsetzung in Kleingruppen. Alle Textauszüge stehen unter dem Titel „Begegnungen und Erwartungen“. Wie ist die Beziehung der sich begegnenden Menschen zueinander? Wie haben sich die Beziehungen verändert? Was erwarten sie voneinander? Begegnungen zwischen Mendel und seiner Frau Deborah Szeneausschnitt 1 Deborah: Man wird ihn gesund machen! Mendel: Man wird nicht gesund gemacht in fremden Spitälern. Deborah: Du bist ein Schwächling. Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich fahre zum Rabbi nach Klucýsk Mendel: Ich bin kein Doktor, und nicht reich. Ich bin ein ganz gewöhnlicher, alltäglicher Jude. Szeneausschnitt 2 Deborah: Das Leben verteuert sich von Jahr zu Jahr. Die Ernten werden karger, die Eier verderben, die Karotten werden kleiner, die Kartoffeln erfrieren, die Suppen werden wässrig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, die Gänse hart, die Hühner ein Nichts… Mendel: Du schielst zu oft nach dem Besitz der Wohlhabenden. Deborah: …und das Wetter wird immer schlechter. Mendel: Du bist besessen von dem was andere haben. Szeneausschnitt 3 Deborah: Begehrst du mich noch? Oder schämst du dich vor mir? Mendel: Wäre es schlimm? Deborah: Was? Mendel: Wenn ich mich schämte? Deborah: Nein. Die Scham stand am Beginn unserer Lust und am Ende der Lust steht sie auch. 21 Szeneausschnitt 4 Deborah: Mendel, wir nehmen Menuchim doch mit nach Amerika? Mendel: Du weißt, dass Menuchim hier bleiben muss. Fahren wir nicht nach Amerika, so geschieht ein Unglück mit Mirjam. Fahren wir nach Amerika, so lassen wir Menuchim hier zurück. Menuchim ist so krank, ihm kann nur ein Wunder helfen. Szeneausschnitt 5 Mendel: Ich gehe in den Wald. Deborah: Was ist nur mit uns. Soeben, als Mendel an mir vorbeiging, huschte seine Hand über meinen Rücken. Das Fleisch, das ihm so vertraut war, ist ihm nun fremd. Szeneausschnitt 6 Mendel: Deborah! Deborah: Ja. Mendel: Mirjam geht mit dem Amerikaner aus. Deborah: Mit Mac? Mendel: Ja, mit Mac. Deborah: Und? Mendel: Mac ist kein Jude. Begegnungen zwischen Mendel und seinem Sohn Menuchim Szenenausschnitt 1 Mendel: Komm, Menuchim. Essen. Ich habe Graupensuppe gekocht. Ich bin gern allein mit dir. Komm setzt dich vor mich. Du siehst so blass aus, deine Haut ist fast gelb. Was für Gedanken verbergen sich hinter diesen Falten. Warum reagierst du nicht. Gib mir ein irgendein Zeichen. Wenn du mich nicht hören kannst, dann schau auf meine Lippen. Menuchim. Menuchim. Menuchim. Menuchim. Menuchim. Menuchim. Menuchim. Menuchim: Mama. Mendel: Menuchim. 22 Szenenausschnitt 2 Menuchim: Mama, Mama... Mendel: Wofür bin ich so gestraft. Ich suche nach einer Sünde, aber ich kann keine schwere finden. Wo ist die Sünde? Wo steckt die Sünde? Szenenausschnitt 3 Mendel: Menuchim! Menuchim: Mama. Mendel: Sprich mir nach, Menuchim. Am Anfang schuf Gott...Nein! Szenenausschnitt 4 Menuchim: Guten Abend. Entschuldigen Sie bitte. Man hat mir gesagt, dass sich ein gewisser Mendel Singer aus Zuchnow bei Ihnen aufhält. Mendel: Das bin ich. Menuchim: Mein Name ist Alexej Kossak. Ich bin in New York mit meinem Orchester. Mendel: Kossak? Meine Frau hieß so. Sie müssen mit ihr verwandt sein. Szenenausschnitt 5 Mendel: Nun Herr Alexej, was wollen Sie mir erzählen. Menuchim: Mein Name ist Alexej Kossak. Ich bin Dirigent und komme aus Zuchnow. Ich wusste Ihre Adresse nicht, sonst hätten Sie längst Nachricht von mir gehabt. Ich habe meinen Manager in Amerika gebeten, Sie zu suchen, aber er konnte Sie nicht finden. Szenenausschnitt 6 Menuchim: Ihr Sohn Jonas ist seit 1915 verschollen. Ich habe überall nachgefragt. Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Herr Singer, Ihre Frau ist tot? Mendel: Ja. Menuchim: Und Sie haben eine Tochter? Mendel: Sie ist leider durch den Tod der Mutter und des Bruders Sam verwirrt geworden... 23 Szenenausschnitt 7 Mendel: Der Fremde antwortet nicht. Er schweigt und stochert mit dem Löffel auf dem Grunde seines Glases herum. Er schaut die ganze Zeit in sein Glas, als wollte er aus dem Tee die Antwort ablesen. Ich weiß, dass er sagen wird: Menuchim ist tot. Er ist jämmerlich umgekommen. Menuchim: Menuchim lebt. Mendel: Menuchim lebt? Menuchim: Menuchim lebt, er ist gesund, es geht ihm sogar sehr gut. Szenenausschnitt 8 Mendel: Ich habe das Gefühl, dass ich aufstehen muss, gerade werden, wachsen, groß und größer werden, über das Haus hinaus, um mit den Händen den Himmel zu berühren. Menuchim: Es war an einem Vormittag, die Sonne ist sehr hell, das Zimmer ist leer... Mendel: Du hast in einer Ecke geschlafen, neben dem Herd. Menuchim: Dann kommst du, hebst mich hoch. Dann singst du. Es klang wunderbar. Ich wollte, ich könnte es heute komponieren. Mendel: Sprich mir nach, Menuchim. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Menuchim: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Dann beginnen die Glocken zu läuten, ganz alte Glocken, wie große schwere Löffel schlagen sie an riesengroße Gläser. Mendel: Weiter, weiter. Begegnungen zwischen Mendel und seinen Söhnen Schemarjah und Jonas Szenenausschnitt 1 Jonas: Vater. Mutter. Wir sind angenommen. Mendel: Lass die Söhne einrücken, sie werden nicht verkommen. Szenenausschnitt 2 Jonas: Nein, ich will wirklich zum Militär. Mendel: Vielleicht kommst du ein halbes Jahr später frei. 24 Jonas: Nein, ich will nicht freikommen. Ich bleibe bei den Soldaten. Bei den Soldaten lernt man lesen und schreiben. Und trinken und reiten. Morgen gehe ich fort. Szenenausschnitt 3 Jonas: Nein, ich werde vorläufig beim Bauer Sameschkin sein, bis ich einrücken muss. Mendel: Sameschkin trinkt. Er stinkt nach Branntwein. Er ist Bauer. Er atmet die Luft von gefährlichen Leidenschaften und Pogromen. Jonas: Ich werde sein Pferdeknecht. Mendel: Pferde stinken nach Urin und Schweiß. Jonas: Ich mag den Geruch von Urin und Schweiß. Ich schlafe bei ihnen im Stall. Ich werde Samogonka trinken. Und wenn ich betrunken bin, werde ich die Mädchen schwängern. Mendel: Jonas, warum tust du das? Du bist mein Sohn, du bist meinen Lenden entsprossen. Szenenausschnitt 4 Schemarjah: Ich habe Nachricht von Kapturak, er versucht, heute Nacht eine Gruppe Deserteure über die Grenze zu bringen. Mendel: Du wirst uns sofort und so schnell wie möglich Nachricht zukommen lassen. Vergiss es nicht! Szenenausschnitt 5 Schemarjah: Kauft euch was, für die Reise. Bald schicke ich euch Schiffskarten, mit Gottes Hilfe. Ich umarme und küsse euch alle. Euer Sohn Schemarjahhier heiße ich Sam. Mendel: Nicht Sam, Schemarjah. Szenenausschnitt 6 Schemarjah: Ein kleiner Test, Vater, weißt du schon, was oldchap heißt? Mendel: „Vater“. Und oldfool heißt Mutter. Oder umgekehrt. Schemarjah: Essex Street? Mendel: Da wohne ich. 25 Schemarjah: Was sagt ein feiner Mann? Mendel: Good bye, how do jou please. Schemarjah: Gut, Vater! Ich habe den Eindruck, dass du dich hier schon zu Hause fühlst. Begegnungen zwischen Mendel und seiner Tochter Mirjam Szenenausschnitt 1 Mendel: Hoffentlich kommt er heil und gesund ins Ausland. Mirjam: Er ist ein Deserteur. Deserteure werden manchmal an der Grenze gefangen oder an Ort und Stelle erschossen. Szenenausschnitt 2 Mirjam: Sollen wir etwa in unseren Fetzen fahren? Mendel: Wer fährt wohin? Mirjam: Wir fahren nach Amerika. Sam selbst hat es gesagt. Mendel: Sam! Wer ist Sam? Mirjam: Sam ist mein Bruder in Amerika und euer Sohn. Szenenausschnitt 3 Mendel: Ich habe Mirjam im Korn gesehen. Sie geht mit einem Kosaken. Szenenausschnitt 4 Mirjam: Um nach Amerika zu kommen, müssen wir zwanzig Tage und Nächte mit dem Schiff fahren. Du hast doch Angst vor dem Wasser, Vater? Mendel: Gott hat das bewegte Wasser geschaffen. Er hat es ausgeschüttet aus seiner unerschöpflichen Quelle und nun schaukelt es zwischen den festen Ländern. Nein, ich fühle keine Angst. Ich bin ein kleiner Jude auf einem riesengroßen Schiff. Szenenausschnitt 5 Mirjam: Vater, Mutter. Wir haben eine Nachricht von Menuchim. Mendel: Menuchim. 26 Mirjam: Mendel läuft und spricht. Jetzt kann er nach Amerika kommen. Szenenausschnitt 6 Mendel: Jonas und Menuchim sind noch in Russland! Jonas wird mit dem Pferd stürzen und in einem der Stacheldrähte hängen bleiben. Und Menuchim... Mirjam: Denk doch nicht immer das Schlimmste, Vater. Szenenausschnitt 7 Mirjam: Sie sind zusammen gegangen. Mac und Sam. Sie sind schöne Soldaten, sagten alle. Aber das verstehst du nicht. Mendel: Ich verstehe es wohl. "Bleib, Sam", hätte ich sagen müssen. Lange Jahre habe ich gewartet, um einen kleinen Zipfel vom Glück zu sehen. Jonas ist bei den Soldaten, und wer weiß, was mit Menuchim geschehen wird, aber du hast eine Frau, ein Kind, ein Geschäft. Mirjam: Mach dir keine Sorgen wegen des Geschäfts. Vega und ich führen das Geschäft. Mister Glück, der erste Direktor, hilft uns dabei. Mendel: Mister Glück. Ich habe gehört, dass du mit Mister Glück tanzen gehst, und. schwimmen. Ich habe gehört, dass Mister Glück nicht einrücken musste. Seine Herzklappen. Sie funktionieren nicht richtig. Ich habe gehört, dass Mister Glück immer zwischen dir und Vega sitzt. Dass er die rechte Hand in Vegas Schoß hält und die linke auf deinem Schenkel. Szenenausschnitt 8 Mirjam: Mendel Singer! Mendel: Warum lachst du so? Mirjam: Du bist mein Vater, dir kann ich es ja sagen. Ich liebe Mac, aber ich hab ihn betrogen. Ich habe mit Mister Glück geschlafen, ja, mit Mister Glück. Aber du gefällst mir auch, Mendel Singer, und wenn du willst, können wir auch... Mendel: Schweig, Mirjam... der Teufel ist in dich gefahren. Doktor. Sie können sie sicher gesund machen. Sam hat gesagt, dass die Medizin in Amerika die Beste der Welt sei. 27 Begegnungen zwischen Mendel und Gott Szenenausschnitt 1 Mendel: Der Allmächtige wird entscheiden, ob Menuchim wieder gesund und kein Epileptiker wird. Gepriesen sei Gott, dass unsere anderen Kinder gesund sind. Mendel: Du glaubst an den Rabbi, weil er Menuchim heilen könnte. Ich glaube nicht an Wunder im Bereich der Augen. Ich brauche niemand zwischen Gott und mir selbst. Szenenausschnitt 2 Mendel: Die Armen sind ohnmächtig. Gott wirft ihnen keine goldenen Steine vom Himmel, in der Lotterie gewinnen sie nicht und sie müssen ihr Los in Ergebenheit tragen. Dem einen gibt er und dem anderen nimmt Er. Er wölbt sich über die ganze Erde, vor ihm kann man nicht davonlaufen. So steht es geschrieben. Mendel: Wenn Gott ein Wunder tun will, wird er es dich nicht vorher wissen lassen. Wenn Menuchim geheilt ist, kann er nachkommen. Mendel: Der Herr erhört unsere Gebete, wenn wir nichts Schlechtes tun. Aber wenn wir etwas Schlechtes tun, kann er uns strafen. Szenenausschnitt 3 Mendel: Der Herr hat Mitleid mit dir gehabt. Mit mir hat er kein Mitleid. Mendel: Hast du einmal gesehen, dass Gott einem Mendel Singer geholfen hätte? Szenenausschnitt 4 Mendel: Ich will Gott verbrennen. Gott ist ein Betrüger. Mendel: Gott ist grausam. Mit dem Nagel seinen kleinen Fingers kann er den Mächtigen den Garaus machen, aber er tut es nicht. Nur die Schwachen vernichtet er gerne. Die Schwäche eines Menschen reizt seine Stärke. Der Der Gehorsam weckt seinen Zorn. Szenenausschnitt 5 Mendel: Alle Jahre habe ich Gott geliebt, und er hat mich gehasst. jetzt kann er mir nichts mehr tun. Er kann mich nur noch töten. Aber dazu ist er zu grausam. 28 Mendel: Ich fürchte mich nicht vor der Hölle. Der Teufel ist nicht so mächtig wie Gott, da kann er nicht grausam sein. (...) Der Teufel ist gütiger als Gott. Szenenausschnitt 6 Mendel: Gott war bei mir, er war mein Vater, er war mächtig und wohnte in einem prächtigen, vertrauten Saal, und er lächelte. Ich sagte „Guten Morgen, Vater“, und glaubte eine Antwort zu hören. Doch das war Trug. Jetzt weiß ich: Der Saal ist prächtig und kalt, der Vater ist mächtig und böse. Ich verfluche Gott, aber er herrscht noch über die Welt. Beziehung zwischen Menuchim und Deborah Szenenausschnitt 1 Deborah: Menuchim, Mendels Sohn, wird gesund werden. Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark. Menuchim wird gesund werden, aber es wird lang dauern. Der Rabbi hat es vorhergesagt. Menuchim: Mama. Szenenausschnitt 2 Deborah: Er ist mein geliebter Sohn. Menuchim. Deborah: Nur Menuchim bleibt mir. Er streckt die Arme aus, wenn ich hereinkomme, und sein Mund sucht immer noch meine Brust wie ein Säugling. Szenenausschnitt 3 Deborah: Seit Menuchims Geburt war Kummer in jeder Freude gewesen. Es gab keinen Frühling mehr und keinen Sommer. Deborah: Es ist kein Wunder geschehen, Menuchim. Du bist und bleibst ein Idiot. Du fährst nicht mit nach Amerika. Du bleibst hier. Szenenausschnitt 4 Deborah: Ich hör ihn oft rufen. Er ruft in meinem Schlaf oder beim Einkaufen, im Kino, beim Backen. „Mama, Mama“, ruft er. Dieses Wort wird er jetzt vergessen haben. Menuchim: Ich kann mich an Mutter erinnern. Es war warm und weich bei ihr, ich glaube, sie hatte eine tiefe Stimme und ihr Gesicht war groß und rund, wie eine ganze Welt. 29 Beziehung zwischen Geschwistern und Menuchim Szenenausschnitt 1 Jonas: Er ist nicht normal. Schemarjah: Er ist zum Lachen. Mirjam: Er gleicht einem Tier. Szenenausschnitt 2 Jonas: Er kann nicht laufen. Kann nicht mal stehen. Schemarjah: Unsere Freunde spotten, wenn er bei uns ist. Szenenausschnitt 3 Jonas: Er bringt Unglück. Schemarjah: Er ist ein Unglück. Szenenausschnitt 4 Jonas: Ja, da kann er mit Hundekot und Pferdeäpfeln spielen, er isst es auf. Es sind seine Freunde. Mirjam: Legen wir ihm in eine Ecke. Szenenausschnitt 5 Menuchim: An Mirjam, Jonas, Schemarjah erinnere ich mich nicht. Von Ihnen habe ich erst viel später gehört. 30 Das Nachgespräch in der Gruppe findet in einem Stuhlkreis oder einer u-förmigen Bankanordnung statt. Es gibt keine dummen Fragen und es gibt kein RICHTIG oder FALSCH im Gespräch über ein Theaterstück. Der Spielleiter ist als Moderator nötig, nicht unbedingt als Wissender. Fragen, die gestellt werden, sollten möglichst an die Gruppe weitergegeben werde. Es geht um das gemeinsame Erforschen. Hier also einige Anregungen für die Diskussion! In dem Roman „Hiob“ finden sich einige Themen, die auch für die Jugendlichen eine aktuelle Rolle in ihrem Leben spielen. Diese Themen gilt es herauszufiltern, um mit den Jugendlichen darüber zu diskutieren. • • • • • Wenn jemand so vom Leid verfolgt wird wie Mendel Singer, stellt sich schnell die Frage nach der Schuld. Was hat Mendel getan, um so eine Strafe zu verdienen? Ist das Leid überhaupt selbstverschuldet oder einfach willkürlich auf Mendels Familie herabgekommen? Und in welchem Zusammenhang steht Gott mit den Schicksalsschlägen? Mendel scheint nur ein Beispiel zu sein, denn auch aktuell gibt es rechtschaffende Menschen, die mit schweren Schicksalsschlägen leben müssen, während andere Menschen, die unmoralisch und durchtrieben handeln, ungestraft bleiben. Bekommt also doch nicht jeder was er verdient? Innerhalb der Familie Singer existieren viele Erwartungen aneinander. Mendel erwartet beispielsweise von seinen Kindern, dass sie wie er das Leben frommer Juden führen. Deborah erwartet wiederum von Mendel, dass er die Familie gut versorgt und sich nicht immer zufrieden gibt. Erfüllt irgendeins der Kinder die Erwartungen des Vaters? Traut sich eins der Kinder entgegen der Erwartungen, seine eigenen Vorstellungen durchzusetzen? Nützen die Erwartungen überhaupt irgendjemandem? Wie gehst du selbst mit Erwartungen um? Fühlst du dich durch sie unter Druck gesetzt oder doch eher angespornt? Mendels Gebete verändern sich im Laufe des Romans. Zu Beginn sind sie ruhig, bestehend aus festen Mantras und Ritualen. Später, als Mendel auf Gott zornig ist, schimpft er gegen ihn und schreit seine Klage heraus. Gibt es einen „richtigen Ton“ beim Gebet? Bringt beten überhaupt etwas? Erhört Gott einen Menschen eher, wenn er seinen Worten Nachdruck verleiht? Was bedeutet diese Veränderung in Mendels Gebeten? All das Leid, das die Familie Singer erfährt, belastet vor allem Mendels Beziehung zu Gott und erschwert die Hoffnung und den Glauben. Mendel gesteht sich keine Hoffnung zu, setzt anfangs nur auf Gott und akzeptiert scheinbar die Strafen. Doch später wird er zornig und protestiert. Hoffnung scheint zu keinem Zeitpunkt in ihm zu keimen. Deborah und die Kinder aber haben Hoffnungen: Auf ein besseres Leben, auf Wohlstand, auf Gesundheit. Ist es sicherer seine Hoffnungen klein zu halten oder sich erst gar keine zu machen, um später nicht enttäuscht zu werden? Was bringt Hoffnung überhaupt? Hätte Hoffnung Mendels Verhalten beeinflussen können? Mendel ist gegen Ende des Romans, nachdem er seine Familie verloren hat, sehr alleine. Seine Freunde in New York versuchen an ihn heranzukommen und ihm Mut zu machen. Doch Mendel, der seinem Glauben nicht mehr treu ist, will 31 ihre frommen Worte nicht hören. Handeln die Freunde falsch? Wie unterstützt man jemanden am besten in seiner Trauer? Was will man selbst hören oder nicht hören, wenn man in einer Phase der Trauer und Verzweiflung steckt? Hier noch ein paar mögliche Fragen zum Stück! • • • • • • • • • • • • • Was passiert in dem Theaterstück? Welche Fragen hast du zur Geschichte? Hast du etwas nicht verstanden? Welches ist für dich der spannendste Moment? Gibt es eine Szene, die dir besonders in Erinnerung geblieben ist? Was passiert da? Gibt es eine Szene, die dir nicht gefällt? Woran liegt das? An welchem Ort spielt das Theaterstück? Wie ist das Bühnenbild? Welche Spielmöglichkeiten bietet es den Spielern? Wie hast du die Veränderung im Bühnenbild gegen Ende wahrgenommen? Ist dir das Licht aufgefallen? Hat es eine besondere Bedeutung? Wie sind die Kostüme? Sind Symbole in den Kostümen erkennbar? Was sagt das Kostümbild über die einzelnen Charaktere aus? Wie empfindest du die Mehrfachbesetzung? Kannst du die Rollenwechsel nachvollziehen? Wie gefällt dir, dass niemand die Bühne verlassen hat und dass so alle dauerhaft präsent sind? Kritik schreiben Wir freuen uns auf Feedback! Formulieren Sie nach dem Theaterbesuch ihre Meinung und schicken uns diese per Mail: [email protected] Bild 8 32 QUELLEN- UND LITERATURHINWEISE Ralf Stiftel: https://www.wa.de/kultur/lisa-nielebock-inszeniert-hiob-nach-josephroths-roman-bochum-5509540.html, gefunden am 8.9.15. Iris Radisch: „Zum Verzweifeln glücklich“, Die Zeit Nr. 34/2003, http://www.zeit.de/2003/34/KA-Sbib-34Die Zeit Nr. 34/2003, gefunden am 15.9.15. Soma Morgenstern: In: Joseph Roths Flucht und Ende. Erinnerungen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, S. 281ff.: In: Quelle: EinFach Deutsch, Joseph Roth „Hiob“ S.157. Marcel Reich Ranicki über Joseph Roth, Programmheft zur Inszenierung von „Hiob“ am Schauspielhaus Bochum, S. 19. Kekke Schmidt, Programmheft zur Inszenierung von „Hiob“ am Schauspielhaus Bochum, S. 7ff. Theaterpädagogische Materialmappe „Hiob“, Das Rheinische Landestheater Neuss, SZ 2012/2013: In: http://tinyurl.com/p6a6sp5, S. 24, gefunden am 30.9.15. Jan Kixmüller: Interview mit Susan Neiman „Eine Welt ohne Trost“. In: http://www.pnn.de/campus/653469/, gefunden am 17.09.2015. BILDANGABE Bild 1: Jana Schulz (Menuchim), Michael Schütz (Mendel Singer) Bild 2: Jana Schulz (Menuchim), Michael Schütz (Mendel Singer), Irene Kugler (Deborah), Damir Avdic (Jonas), Florian Lange (Schemarjah), Xenia Snagowski (Mirjam) Bild 3: Jana Schulz (Menuchim), Irene Kugler (Deborah), Michael Schütz(Mendel) Bild 4: Michael Schütz (Mendel), Jana Schulz (Menuchim) Bild 5: Damir Avdic (Jonas), Florian Lange (Schemarjah) Bild 6: Jana Schulz (Menuchim), im Hintergrund: Damir Avdic (Jonas), Irene Kugler (Deborah) Bild 7: Jana Schulz (Menuchim), Michael Schütz (Mendel Singer), Irene Kugler (Deborah), Damir Avdic (Jonas), Florian Lange (Schemarjah), Xenia Snagowski (Mirjam) Bild 8: Irene Kugler (Deborah), Xenia Snagowski (Mirjam) 33 SERVICE: Theater & Schule Vor- und Nachbereitungen: Sollte das Material Sie neugierig gemacht haben, so unterstützen wir Sie gerne bei einer Vor- oder Nachbereitung an Ihrer Schule. Nachgespräche: In den Nachgesprächen haben Sie Gelegenheit mit dem Produktionsteam ins Gespräch zu kommen. Wir sind gespannt auf die Eindrücke, Gedanken und die Kritik unserer Theaterbesucher! Theaterworkshops für Schulklassen: Beim Bühnenbasic-Workshop wird all das ausprobiert, was man zum Schauspielen braucht. Im Impro-Workshop entstehen die wildesten Geschichten aus dem Nichts und beim Bühnenkampf-Workshop lernt man Techniken, mit denen man sich richtig verprügelt, ohne sich dabei weh zu tun. Theaterscout: Wem es die Welt des Theaters angetan hat, kann aktiv werden und in seinem Umfeld über unser Programm informieren und als Scout Teil des Theaters werden. Informationen: In regelmäßigen E-Mails informieren wir Sie über die aktuellen Projekte des Jungen Schauspielhauses, über theaterpädagogische Veranstaltungen, laufende Inszenierungen und unser Fortbildungsangebot. Falls Sie diese Informationen erhalten möchten, melden Sie sich gerne bei uns: [email protected]. Ausführliche Informationen erhalten Sie selbstverständlich auf unserer Homepage: www.schauspielhausbochum.de. Bei Interesse an unseren Angeboten, setzen Sie sich bitte frühzeitig mit unserer Theaterpädagogik in Verbindung. IMPRESSUM Herausgeber: Schauspielhaus Bochum AöR Intendant: Anselm Weber Kaufmännischer Direktor: Dr. Matthias Nowicki Internet: www.schauspielhausbochum.de Redaktion: Franziska Rieckhoff Mitarbeit: Esra Gül, Kerstin Oppermann, Lina Meiners Herausgabedatum: September 2015
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