Mendel Kremer: Apotheker, Agent, Journalist, Soldat und

Mendel Kremer: Apotheker, Agent, Journalist, Soldat und Spion
Es kann äußerst interessant werden, einen postalischen Beleg zu besitzen, über dessen
Absender im Internet so einiges zu lesen ist. So jedenfalls erging es mir, als ich eine
Ganzsache zu 20 Para der Deutschen Post in der Türkei näher unter die Lupe nahm.
Die postalischen Fakten waren schnell ermittelt: Diese Postkarte mit der Inschrift
„Reichspost“ war an den Schaltern der Deutschen Post in der Türkei ab Oktober 1900
erhältlich und war bis zum 31. Dezember 1905 gültig. Die vorliegende Karte trägt den
Stempel „JERUSALEM * 16/1 04 * DEUTSCHE POST“, der den gesamten Zeitraum über, in
dem das deutsche Postamt in Jerusalem bestand (1.3.1900 bis 30.9.1914), in Gebrauch war.
Bereits zwölf Tage später kam die Ganzsache an ihrem Bestimmungsort Frankfurt an. Auf
den Kartentext und den Empfänger komme ich später zurück.
Aber wer war der Absender?
Auf beiden Seiten der Karte ist jeweils ein unterschiedlicher Privatstempel mit dem Namen
„MENDEL KREMER“ vorhanden. Ferner ist den Stempeln im Sprachmischmasch
Französisch/Deutsch der Beruf „Apotheker“, die Geschäftsbezeichnung „Apotheke und
Drogerie“ sowie der Firmensitz „Jerusalem“ zu entnehmen.
Hier beide Seiten der Postkarte
Mendel Kremer wurde in den 1860ern in Minsk geboren und wanderte mit der Familie 1873
nach Palästina aus. Im Jerusalemer Viertel von Meah Sharim eröffnete er 1890 eine
Apotheke. Es gab 1898 dazu ein Werbeplakat, das im Bahnhofsgebäude von Jerusalem
angeschlagen war
Ganz offensichtlich war er in der Folgezeit zunächst ein Agent für die türkischen Behörden
und später für die Briten. Er galt als verhasster Informant, der auch seine Glaubensgenossen
den Behörden meldete
Mendel mit türkischen Orden
Mendel in türkischer Uniform
Theodor Herzl erwähnt Kremer in seinen Tagebüchern zweimal (im Zionistischen Tagebuch
1895/99, 6. Buch, Seite 690 und 694). Herzls Schreibweise für den Mann ist allerdings
„Krämer Mendel“ und nicht „Kremer Mendel“.
Die erste Notiz stammt vom 2. November 1898, als Kaiser Wilhelm II. in Jerusalem die
Delegation, bestehend aus Theodor Herzl, Isidor Bodenheimer, Moses Schnirer, Josef
Seidener und David Wolffsohn, empfing. Herzl war ja auf dem Ersten Zionistischen
Weltkongress im August 1897 in Basel zum Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation
gewählt worden. Das dort verabschiedete „Basler Programm“ hatte das Ziel, eine
Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina zu schaffen, weshalb unter anderem
Verhandlungen mit dem türkischen Sultan und dem deutschen Kaiser geführt wurden.
Herzl notierte, die Situation nach der Audienz betreffend:
„Man wollte uns jetzt wieder nicht zum Gitter hinauslassen. Aber draußen stand der Geheimpolizist und
angebliche Zionist Mendel Krämer, der uns seit Jaffa begleitet – mir scheint im Auftrag der türkischen
Regierung – und ließ uns öffnen.“
In einer Anmerkung schrieb Herzl an dieser Stelle:
„Mendel Krämer, jüdischer Geheimpolizist in türkischen Diensten. In der von Ben-Jehuda seit 1897
herausgegebenen Wochenschrift Hasqafah erschienen Briefe von ihm.“
Die zweite Notiz über Kremer fertigte Herzl am 5. November 1898, als er mit seiner
Mannschaft eine Passage auf dem kleinen englischen Frachter „Dundee“ bekam, der
Alexandria anlief, von wo aus es dann weiterging zurück nach Europa.
Er notierte, als er bereits an Bord war und seine Delegation später mit dem Gepäck
nachkam:
„Ich selbst blieb schon auf dem Schiffe, außerhalb des Bereichs der Mendel Krämer und aller der Leute, die
mir aus guter oder böser Absicht Schwierigkeiten bei der türkischen Missregierung bereiten konnten – um
das bedrohte Judenthum zu retten, um 30 Silberlinge zu verdienen, um sich bei einem Pascha oder bei
Rothschild einen Stein ins Brett zu legen.“
Es ist bekannt, dass Kremer für die Zeitung „Ha Herut“ und gelegentlich auch für andere
zionistische Blätter Artikel schrieb. Er sprach Türkisch und höchstwahrscheinlich auch
Arabisch. Tatsächlich wurde Kremer einer der wichtigsten Korrespondenten von „Ha Herut“,
soweit es die nicht jüdische Bevölkerung von Palästina betraf. Gelegentlich schrieb Kremer
auch für Ben-Jehudas Blatt „Ha Zevi“.
Bekannt sind seine Artikel über den muslimischen Boykott jüdischer Läden in Hebron („Ha
Zevi“ vom 23.11.1908) und über das Erdbeben in Italien im Dezember 1908, als man dort der
jüdischen Bevölkerung großzügig half („Ha Zevi“ vom 19.01.1909).
Das Zentrale Zionistische Archiv (CZA) der Harvard Universität in Cambridge, Massachusetts,
USA, verfügt über viele alte Fotografien von wichtigen Ereignissen der jüdischen Geschichte
in Israel. Auf mehreren CZA-Bildern ist ein beleibter Mann zu sehen, der eindeutig als
Mendel Kremer identifiziert ist. Die Abbildungen 3 bis 8 stammen aus diesem Archiv.
Dov Ganchovsky, israelischer Journalist und Chronist Jerusalemer Geschichten, nahm an,
dass Kremer tatsächlich ein Doppelagent war und manchmal auch der jüdischen Gemeinde
zur Seite stand. Neben seiner Tätigkeit als Apotheker war er für einige hebräische Blätter
tätig, die ihn mit hinreichenden Informationen für die türkischen Behörden versorgten.
Mendel mit dem Oberrabbiner Yaakov Meier 1925 in Jerusalem
während des Besuchs von Herbert Samuel, britischer
Hochkommissar für Palästina
Herbert Samuel und Rabbi Abraham Isaac Kook, im Hintergrund Mendel 1925 in Jerusalem
Ganchovsky schrieb auch, dass Kremer den Direktor der Britischen Palästina Bank warnte
und ihn aus Jerusalem heraus nach Jericho schmuggelte, als der türkische Pascha einen
Anschlag auf ihn plante. Die Tochter des Direktors habe diese Geschichte bestätigt. Ferner
meldete sich eine Frau, die sich als Enkelin Kremers bezeichnete, bei Ganchovsky und dankte
ihm, dass er die Ehre ihres Großvaters gerettet habe.
Es gibt zumindest noch einen weiteren positiven Bericht über Kremer, veröffentlicht in einer
britischen Zeitung im Jahre 1937. Demzufolge verabreichte Kremer im August 1902 in seiner
Apotheke drei Tage lang Medikamente an arme und kranke Personen gratis anlässlich der
Krönung Edward II. in London.
Mendel Kremer mit Kriegsveteranen in der russischen
Anlage anlässlich des 10. Jahrestages des Waffenstillstandes in Jerusalem 1927
Als Kremer 1938 starb, schrieb die Zeitung “Davar”, Jerusalem habe eine seiner
meistbekannten Personen verloren. Dieser Nachruf bezog sich auf Kremers Erfahrungen mit
Herzl und seine Tätigkeit für die türkische und britische Polizei. Letztere war bei der
Beerdigung anwesend.
Abschließend noch ein paar Worte zum Kartentext und dem Empfänger: In nicht ganz
korrektem Deutsch bittet Kremer um eine Preisliste von der Drogerie und
Chemikalienhandlung Johann Mathias Andreae. 1841 hatte Andreae (1816 – 1892) das
Geschäft im Esslinger-Haus am Hühnermarkt in Frankfurt eröffnet. Interessanterweise war
dieses Anwesen zuvor im Besitz von Goethes Tante Johanna Maria Melber geb. Textor.
Andreae hatte das Haus für 27000 Gulden gekauft.
Die Firma Andreae fusionierte 1923 mit der Noris Zahn & Co. GmbH, der späteren ANZAG
und heutigen Alliance Healthcare Deutschland.
Soviel zu einer an sich ganz gewöhnlichen Postkarte, mit der um eine Preisliste gebeten
wurde.
Peter F. Baer
Quellen: Wikipedia