Über die Hälfte meines Lebens habe ich in Deutschland verbracht – ohne dass ich es gewollt hätte. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich habe das Herz nicht gehabt zu heiraten. Ich wollte keine Kinder. Ich wollte nicht, dass meine Kinder so etwas mitmachen müssen, was ich mitgemacht habe. Das Erlebnis ausgegrenzt zu sein - das tut so weh. Das ist es, was ich meinen Kindern ersparen wollte. Wenn ich nach den schönsten Momenten in meinem Leben gefragt werde, so muss ich sagen, dass ich solche Glücksmomente nie erlebt habe. Mendel Gutt wird am 10. Mai 1929 in Polen nahe Warschau geboren. Er ist Jude. Mit Kriegsausbruch 1939 und dem Einmarsch der Deutschen werden seine Eltern enteignet. Mit 10 Jahren endet für ihn die vierjährige Schulausbildung. Mit 11 Jahren muss er mit seiner Familie in das Ghetto von Warschau umziehen. Nach ein paar Monaten war uns das Geld ausgegangen und wir fingen an zu hungern. Ich hatte einige Kameraden: Wir taten uns zusammen und kamen in unserer Not auf eine unseres Erachtens großartige Idee: Wir buddelten vom Friedhof in der Gesia Straße ein Loch unter der Mauer durch und kamen durch diesen Tunnel auf der arischen Seite, dem Stadtgebiet der Polen und deutschen Besatzer, heraus. Auf dem Friedhof war ja kaum jemand unterwegs, da fiel der Einstieg nicht auf. Auf der anderen Seite musste man höllisch aufpassen. Gnadenlos wurden auch Jungs in meinem Alter, die entdeckt wurden, nachdem sie wie wir das Ghetto verlassen hatten und davon springen wollten oder sich nicht ausweisen konnten, erschossen. (Es kam vor, dass Ghettobäcker mal kein Mehl geliefert bekommen hatten, so konnten sie auch nicht immer Brot backen. Das Brot von außerhalb kostete uns 20 Zloty, im Ghetto verkaufte ich es um 100 Zloty, zu dem Preis, zu dem die Bäcker im Ghetto den Laib Brot abgaben. Durch diese Handelsspanne war genug Geld übrig, um draußen noch Hering oder Fleisch einzukaufen. Ich wollte meiner Familie helfen, uns vor dem Hungertod bewahren. Die Gefahr nahm ich in Kauf, ungeachtet der Vorhaltungen meines Vaters. Er rührte das geschmuggelte Brot nicht an und verbot mir weitere Schmuggelgänge.) Eines Tages sagte meine Mutter zu mir: „Hör mal zu! Du bist blond. Du sprichst einwandfreies Polnisch. Hau ab! Rette dich!“ Blond war arisch. Ich würde nicht sonderlich auffallen. Er versteckt sich in Warschau. Die Eltern und seine Schwester werden im KZ Treblinka vergast. Als 13-Jähriger wird er aufgegriffen und soll mit seinem Bruder in einer berüchtigten Munitionsfabrik arbeiten. Der Bruder bleibt. Er flieht und lebt 1 ½ Jahre in den Wäldern. Ich bin gewandert von Dorf zu Dorf, immer auf Feldwegen und kleinen Straßen, niemals auf der Hauptstraße. Wo ich nachts war, war ich nicht am Tag und wo ich am Tag war, war ich nicht nachts. Ich übernachtete in Scheunen und Kuhställen. Da konnte ich mich in der winterlichen Kälte schon mal mit Stroh zudecken, dass ich nicht so fror. Ich versuchte Lebensmittel zu organisieren, manchmal hatte ich bei Bauern mitgeholfen, die wussten nicht, dass ich Jude war. Kaum war ich eine Woche da, bin ich wieder abgehauen. Die Angst saß mir beständig im Nacken. Aber ich wollte unbedingt überleben! Mit 14 Jahren begibt er sich im Winter freiwillig in das Ghetto von Radom und lebt dort 2 -3 Monate unter dem Namen eines Verstorbenen. Das Ghetto wird aufgelöst und er hat Glück, dass er als Stallbursche des Lagerleiters vom KZ an der Szkolna Straße in Radom arbeiten darf. Im Juli 1944 wird dieses Lager aufgelöst. Mendel fährt als 15-Jähriger 2 – 3 Tage im Viehwaggon zum Vernichtungslager Auschwitz. Die Transporte der KZ-Häftlinge erfolgten in Viehwaggons: Sie wurden mit 60, 70, 80 Leuten vollgestopft. Man hatte einfach so viele reingepackt, wie stehend reingingen! Sitzen konnte keiner. Einer hielt sich am anderen fest. Umfallen konnte zunächst keiner. Es war entwürdigend, natürlich. Aber wir waren ja wie Vieh behandelt worden. Das kann man heute sagen: Wir waren schlimmer als Vieh behandelt worden. Der Boden war zwar mit Stroh bedeckt, verschmutzte aber zusehends. Keiner hatte sich darum gekümmert, wenn einer sein großes oder kleines „Geschäft“ unter sich machen musste. Es wurde nicht ausgemistet. Ohne Unterbrechung, ohne austreten zu dürfen, ohne sich die Beine vertreten zu können, ohne zwischendurch an die frische Luft zu kommen, sitzen oder sich lang ausstrecken zu dürfen, ohne Essen und Trinken ging die Reise mehrere Tage lang zum Vernichtungslager Auschwitz. Wenn ein Mensch neben einem zusammensackte und gestorben war, konnte man sich wenigstens setzen. Der Tod war für mich Fünfzehnjährigen seit dem Leben im Ghetto ständiger Begleiter. Auf der Rampe von Auschwitz wird er als arbeitsfähig selektiert und ins Konzentrationslager Vaihingen/Enz deportiert. Wir wurden ausgeladen und in eine Baracke eingewiesen, wo wir uns splitternackt ausziehen mussten. Zehn bis zwölf Personen legten ihre Kleider auf ein Wägelchen, es kam noch Schwefel drauf. Und ich hatte einen grünen Pullover. Ich hatte Angst gehabt, jemand klaute mir den grünen Pullover. Der war damals wichtig, weil es schon kalt war. Und ich wollte zu dem Wägelchen stürzen, - da bekam ich einen Kolbenschlag und wurde ohnmächtig. Nach einer halben Stunde wachte ich auf. Was war passiert? Die rechte Schädelhälfte und das rechte Auge, alles war kaputt. Ich lag da auf einer Bank. Ich kann mich an Einzelheiten nicht mehr erinnern, da ich eine Gehirnerschütterung hatte. Ich weiß nur, dass man mir mit Rollen Toilettenpapier den Kopf verbunden hatte. Ich weiß auch nicht mehr, wie lange es gedauert hatte, eine Woche oder zehn Tage, bis ich dann wieder arbeiten konnte. Mit seiner schweren Kopfverletzung arbeitet er am Rande des Steinbruchs der Baustelle „Stoffel“ als Kabelschlepper des großen Baukrans. Ein Kranführer steckt ihm Brot und Obst zu. Er wird auch einmal zur Beseitigung von Bombenschäden in Stuttgart eingesetzt. Da kam morgens eine Frau, die hat fürchterlich gejammert. Ihr Haus war bombardiert worden und war kaputt, aber der Keller schien noch ganz, er war ihr sehr wichtig. Wenn wir den brennenden Schutt wegräumten, wäre der Keller noch zu retten. Auf einmal wandte sich die Frau zu mir: „Ach Gott, nein, wie siehst du denn aus? Da hängt ja nur noch der Kragen!“ Sie hatte recht, mein blau-weiß-gestreiftes Häftlingshemd hing nur noch in Fetzen an mir. Aber es war besser als nichts in der herbstlichen Kälte. Wenn ich mir das heute überlege, war es unbeschreiblich! Dann hatte sie zu mir gesagt: „Komm mal her!“, hatte mir ein Hemd herausgeholt und mich aufgefordert: „Komm, zieh es an!“ Darüber hatte ich mich natürlich sehr gefreut. Ich zog es an. Und das war mein Fehler! Nachts kamen wir zurück ins Lager nach Vaihingen/Enz und es fiel auf, dass ich leuchtete. Das Weiß des Hemdes hatte in der Dunkelheit gestrahlt. Sofort hatte man mich raus geholt: „Wo hast du das geklaut?“ Im Januar 1945 wird er zu Gleisausbesserungsarbeiten ins KZ Schwäbisch Hall/Hessental verlegt. Nach Auflösung des KZ Hessental geht es auf den Todesmarsch nach Dachau. Es hatte stark geregnet und es war Nacht. Man hatte uns in eine Scheune hineingetrieben. Wir waren 80 – 100 Personen. In der Scheune hatte man einen Schweinestall abgeteilt. Kühe waren dort ebenfalls untergebracht. Die Bäuerin fütterte die Schweine. Doch kaum war sie rausgegangen, da hatten wir schnell die Schweine weggetrieben und das gegessen, was die Bäuerin den Schweinen zugedacht hatte. Die Pampe bestand möglicherweise aus Kartoffeln und Rüben. Uns erschien es wie Dreck, aber der Hunger war stärker. Wir waren so gierig, wir haben kein Schwein mehr rangelassen! Vom KZ Allach aus fahren er und seine Freunde in Güterwaggons Richtung Tirol und bleiben mitten im Wald stehen. Auf einmal sah man keine Wachposten mehr, alles war ganz ruhig. Der Waggon stand. Er war nicht verriegelt. Ich, ein Fünfzehnjähriger, konnte noch ein bisschen kriechen. Viele andere konnten gar nicht mehr laufen. Und man hatte nur einen Gedanken: Was zu essen, was zu essen, was zu essen! Der Krieg ist zu Ende. Der todkranke Mendel wird von amerikanischen Besatzungstruppen aufgegriffen. In einem Lazarett bei Landsberg wird er aufgepäppelt und in einem Lager für „displaced persons“ verpflegt und unterrichtet. Mit 18 Jahren weiß er, dass von seiner Großfamilie nur noch ein Vetter am Leben ist. Er will mit 3 Freunden nach Amerika auswandern. Ich war schon im Auswanderungslager in Sachsenhausen bei Frankfurt. Und auf einmal hörte ich aus dem Lautsprecher: „Mendel Gutt in office.“ Ich sollte mich im Büro melden. Die ärztliche Untersuchung hatte ergeben, dass ich nicht ganz gesund war. Und das hatten sie mir gesagt: „Es tut uns leid, Sie können nicht nach Amerika, weil Sie auf einem Auge blind sind.“ Was ich nicht gewusst hatte: Die USA nahmen nur ganz gesunde Menschen. Es war ein furchtbarer Schmerz. Von Berlin aus gelangt der 22-Jährige nach Mannheim, wo er ab 1956 ein Tanzlokal betreibt. Mit 71 Jahren folgt er der Einladung der Stadt Vaihingen im Frühjahr 2001 zum Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Vaihingen/Enz am 07. April 1945. Dort trifft er seine ehemaligen Freunde wieder. Mit 75 Jahren stirbt Mendel Gutt in Mannheim am 6.12.2004. Über die Hälfte meines Lebens habe ich in Deutschland verbracht – ohne dass ich es gewollt hätte. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich habe das Herz nicht gehabt zu heiraten. Ich wollte keine Kinder. Ich wollte nicht, dass meine Kinder so etwas mitmachen müssen, was ich mitgemacht habe. Das Erlebnis ausgegrenzt zu sein - das tut so weh. Das ist es, was ich den Kindern ersparen wollte. Wenn ich nach den schönsten Momenten in meinem Leben gefragt werde, so muss ich sagen, dass ich solche Glücksmomente nie erlebt habe. (Die Texte stammen aus einem Interview, das Frau Isermeyer vom Verein KZ-Gedenkstätte Vaihingen im Jahr 2001 mit Herrn Gutt geführt hat.)
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